695. Das Abenteuer des Nachtschwärmers.

[143] Kaspar, – die Geschichte spielt in den vierziger Jahren des letztverflossenen Jahrhunderts – ein junger Lediger aus dem Holzerberg in Bürglen, hatte eines Abends seiner Liebsten in dem sehr hoch gelegenen Berggut Schindleren einen Besuch abgestattet und befand sich auf dem Heimweg. Wie er in die Kornmatt kam und dabei einen Hag übersprang, da krachte es dicht hinter seinem Rücken, gerade wie wenn noch ein Zweiter über den Hag setzen würde. Doch Kaspar achtete dessen wenig, schritt furchtlos durch die Kornmatt abwärts, öffnete unten das Türli und betrat die holperige Berggasse. Kaum hatte er einige Schritte auf ihr zurückgelegt, als schon wieder ein Zweiter das lotterige Türli hinter ihm zuschletzte, grad so wie er es selber getan. Das fällt dem Kaspar doch auf; er späht umher und wartet, aber nichts regt sich, niemand lässt sich blicken. Doch es ist ja stockfinster; der Verfolger hat sich vielleicht versteckt. Es kommt die Stelle, wo der Nachtbub die Gasse verlassen muss, um gegen den Holzerberg abzuschwenken. Er ergreift die oberste Haglatte, setzt[143] über den Zaun hinweg und lenkt seine Schritte durch die Wiese, und wieder braschlet's im Zaune, als ob noch einer darüber springen würde. »Aha, das ist der Bitzi Mariä« (ein Nachbar), denkt Kaspar, »aber der soll nur kommen!« Und er stellt sich, klatscht herausfordernd in die Hände und ruft laut: »Ja, ja, Mariäli, wennd eppis mit d'r ischt, sä chumm nur, ich probiëre's scho mit'r«. Aber von diesem Augenblicke an, bis er zuhause im Holzer ankam, wusste Kaspar gar nichts mehr von sich, und doch war es noch ein weiter und schwieriger Weg, namentlich durch das Steintal. »Jäh, das isch denn eis, das wahr isch!«


Kath. Müller, Altdorf, 75 J. alt.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 143-144.
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