618. Chumm flingg.

[98] Zwei Brüder Regli und anderes arbeitsames Volk in Meien gehen miteinander am Vorabend des ersten Wilditages, das heisst am Abend des 10. August, in das hintere Meiental, um am Morgen bei Zeiten an ihren Wildheuplätzen gerüstet zu sein. Da sagt der eine der beiden Brüder: »Morgen wird mein letzter Tag sein; vor wenigen Minuten hat es mir von der Höhe herab gerufen: Chumm flingg!« Diesen Ruf habe ich verstanden.« Man achtet wenig auf seine Aussage. Fröhlich trennt sich das Volk; die einen steigen auf der Südseite, die andern auf der Nordseite des Tales die stotzigen Höhen hinan.

Der nächste Tag bricht an; mit Jauchzen begrüssen ihn die Wildheuer an den beiden Bergabhängen; die blankgewetzten Sensen glitzern im goldenen Licht der aufgehenden Sonne und legen das duftige Gras in dünnen Mahden nieder; ein warmer Föhnhauch chittelet (rüttelt leise) im Droslengebüsch der Planggen und in den alten Fenstern der Berghäuschen in den tiefer liegenden Berggütern und dörrt das gut gereifte Futter auf dem trockenen warmen Boden in Stunden. Am gleichen Abend noch bei Sonnenuntergang können sie es auftristnen. Unser Regli trägt als erster eine tüchtige Bürde auf das hiefür bestimmte Tristbett. Der schmale Pfad führt ihn am Rande eines fürchterlichen Abgrundes an einem überhängenden Nossen vorbei, wo er sich mit dem Gesicht gegen die Bergwand kehren muss, um nicht anzustossen; wohlmeinend mahnen ihn die Kameraden zur Vorsicht. »Das ist doch mein letzter Gang,« meinte er, »von dorther hat's gerufen: Chumm flingg!« Er kehrte nicht mehr zurück, und auf der entgegengesetzten Seite des schmalen Tales fangen die Wildheuer an zu lärmen und den Hang hinab zu rennen. Jetzt ist es klar; der Arme ist an jener Stelle verunglückt. Alle eilen hinzu und finden Reglis Leichnam zerschmettert am Fusse des Felsens.

Der Kern der Erzählung, der Todfall des Wildheuers Regli, ist Tatsache.


Josef Baumann, Meien, u.a.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 98.
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