630. Der Sigrist und der Leichenzug.

[105] Pünktlich um 4 Uhr morgens pflegte der Sigrist von Silenen Ave zu läuten. Das war wie eine Uhr. Er konnte auch jeden Todfall in der Pfarrei voraussagen.

Eines Morgens hatte er sich, was noch nie vorgekommen, verschlafen. In der Eile zog er an dem einen Fusse nur den Schuh an und lief so zur Kirche. Als er wieder aus dem Gotteshause kam, begegnete ihm zur ungewohnten Stunde ein Leichenzug. Der Letzte im Zuge war von gleicher Grösse wie der Sigrist und trug an einem Bein Strumpf und Schuh, am andern Bein jedoch nur den Schuh. Der Sigrist ahnte sofort, was solches zu bedeuten habe, und verkündete zuhause seinen baldigen Tod. Und richtig! er hatte das letzte Mal zu beten geläutet! Noch am nämlichen Tage erkrankte er, und am dritten Tage war er eine Leiche.


Jos. Maria Zberg.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 105.
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