1524. Häägglä mit einem Gespenst.

[297] Der Gitzitresch aus dem Maderanertal war auch einer von jenen gewissenhaften Wahrheitsfreunden, welche, damit die Wahrheit nicht zu Schaden komme, lieber etwas, oft ein ganz Erkleckliches, aus dem Eigenen hinzutun. Einst tat er einen Fehltritt und rollte einen steilen Abhang hinunter und war schon zu äusserst an einem fürchterlichen Abgrund angelangt, als er sich noch im letzten Augenblick mit der rechten Hand an einem dürren Hundedreck festklammern und vor dem tödlichen Sturze retten konnte. – Eines Abends betrat er zu Linthtal im Kanton Glarus eine Berghöhle. Neugierig stapfte er weiter und drang immer tiefer ein. Endlich, als er in Linthtal die Morgenbetglocke läuten hörte, sah er wieder Heiteri und kam durch das Spinnenloch an der Axenfluh am Urnersee an das Tageslicht. Er war auch in der Unterwelt und sah die Verdammten an Strassen-, Damm- und Eisenbahnbauten allerlei Sisyphusarbeiten verrichten, leider konnte uns niemand mehr nähern Aufschluss geben.

Also dieser Gitzitresch! Der ging als junger Lediger in das Schächental z'Gass. Eines Abends streckte ihm unter einer grossen Linde grad vor dem Gut Lehn bei Trudelingen eine unbekannte Menschengestalt die Hand über den Hag entgegen zum Häägglä und er nahm sie an. Aber gar bald merkte er, dass er da »bim Lätzä ighänkt«, die Hand des Gegners war anzufühlen wie ein Balg, und aus der Linde schüttete es wie mit einem riesigen Zuber Wasser auf den Gitzitresch herab. Schleunigst liess er die gespenstige Hand fahren. Seine eigene Hand aber war angeschwollen und schwarz, und er musste sie segnen lassen.

Das erzählte Gitzitresch selber meinem Gewährsmann »firni gwissni Wahrheit«. Wir aber haben auch hier ein Beispiel, wie ältere Sagen oft als eigene Erlebnisse weitererzählt werden.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 297-298.
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