1345. Die Zwerglein auf dem Rosstock.

[210] a) Dem Hirtenbüblein in der Gisler Alp gaben die braven Kühe wenig Arbeit; sie hatten sich, gut gesättigt, in das fette Gras gelegt und widmeten sich dem Wiederkauen und der Ruhe; die eine oder andere mochte auch mit den Fliegen ein Scharmützel bestehen. Tiefblau und wolkenlos wölbte sich der Himmel über dem Kranz der Berge. Von einem sehreckenden Gewitter auch nicht das geringste Anzeichen oder Vorbot. So schlenderte denn der Bub in der Alp herum und kam auf die Kulm und noch höher bis nahe an den Rosstock. Da droben bemerkte er Leute. Neugierig ging er hinauf um zu sehen, was diese da trieben; an Fremde, an Touristen dachte damals noch niemand. Als er näherkam, glaubte er, es seien Knaben. Er rückte noch mehr in die Nähe und versteckte sich hinter einen grossen Stein. Jetzt sah er, dass es Zwerge waren, die mit goldenen Kegeln und Kugeln spielten. Herrlich glänzten und schimmerten diese im Licht der Sonne. Nachdem er eine Zeitlang zugeschaut hatte, wurde er von den Zwergenmännchen entdeckt. Sie sagten ihm, er solle eiligst heimkehren und das Vieh versorgen. Der Knabe gehorchte und sprang behend die Abhänge hinunter. Unterdessen bedeckte sich der Himmel mit dunklen Wolken. Rasch wurde das Vieh in den Stall getrieben. Kaum war das geschehen, so brach ein furchtbares Hagelwetter los.


Johann Stadler.


b) Ein anderes Mal hörte ein Mann von Bürglen namens Herger, der über den Kinzig wollte, vom Rosstock her lärmen; er ging dem Lärmen nach und kam bis ganz nahe an den Rosstock und erblickte oben auf der Spitze eine Schar Zwerglein, die in einer »Treelmuttä« spielten. Von Zeit zu Zeit warf das eine oder andere eine Handvoll Geld hoch in die Lüfte, und es kam immer wieder schön in die Mutte zurück. Auf einmal verschwand alles. Herger ging jetzt auf jenen Platz los, konnte aber aller Teilen nichts finden.


Karl Gisler.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 210-211.
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