Die Entstehung des Llyn Tegid oder Bala-See.

[184] In Merionetshire liegt ein See mit steilen Ufern, von Baum- und Buschwerk dunkel bekleidet, den die Engländer Bala-See und die Waliser Llyn Tegid nennen. Er ist ungefähr zwei Stunden lang, und an manchen Stellen vierzig Faden tief. Gebirge schließen ihn ein; und der luftige Gipfel des Arran Fowddwy bespiegelt sich in dem stillen Bergsee.

Tief unter dem Waßer hat der alte Schiffer, wenn der klare Herbstmond scheint, Thürme und Mauern gesehn; und oft in stürmischen Decembernächten kann er am Schaumwirbel der Oberfläche noch den Ort unterscheiden, wo die höchste Spitze emporragt und wenn der Sturm eine Weile ruht, haben schon Manche eine feine Stimme rufen hören: »Edifar! Edifar!« (Reue! Reue!).

In dem Thale, wo nunmehr der See ist, lebte zu der Zeit, da Cambrien noch seine eignen Fürsten hatte, ein sehr stolzer Fürst. Aber all' seine Schätze, Schlößer und Wälder waren durch Sünde erworben, durch Mord und Raub; und da er seinen Fürstensitz zuerst betrat, da hörte er eine Stimme von den entfernten Bergen rufen: »Edifar a ddaw! Edifar a ddaw!« (die Reue kommt! die Reue kommt!)

»Wann wird sie kommen?« fragte der Fürst.[184]

»Nach dir im dritten Geschlecht!« erwiderte die Stimme und zugleich donnerte es stark, daß es in allen Bergen widerhallte.

Der halsstarrige Fürst lachte, als er die Stimme gehört hatte, fuhr in seinem bösen Lebenswandel mit Plündern und Rauben fort und lachte immer, wenn er die Orgel und den Gesang aus der Kirche hörte.

Viele, viele Jahre vergiengen. Da ward eines Nachts ein alter Harfner aus den benachbarten Bergen aufs Schloß bestellt. Es ward nemlich ein Fest daselbst gefeiert, weil dem ältesten Sohn des Fürsten auch ein Sohn geboren worden war. Als der arme Harfner in die Halle trat, da war da solch ein Glanz und eine solche Menge von stolzen und schönen Damen und Herren, als er nie zuvor gesehen. – So kam Mitternacht heran. Es ward mit dem Tanzen eine Pause gemacht und man ließ den alten Harfner in seiner Ecke ganz allein sitzen. Da – plötzlich – hörte er halb singend und halb flötend sich in's Ohr rufen: »Edifar! Edifar!« Er kehrte sich um und sah einen kleinen Vogel, der in der Luft flatterte und ihm winkte, mitzukommen. Er folgte, so schnell ein alter, schwacher Mann nur kann. Er wußte zwar nicht, was das bedeute; allein ihm war, als müße er folgen. Endlich waren sie aus all' den Gängen und Hallen des Schloßes heraus und draußen in dem klaren, kalten Mondenschein. Der alte Mann blieb unschlüßig stehen. Aber da sah er den kleinen Vogel zwischen sich und der Mondscheibe und er winkte ihm so bekümmert und rief dabei wieder sein »Edifar![185] Edifar!« so traurig, daß er nicht anders konnte und ihm aufs Neue folgte. So giengen sie durch Sümpfe, durch Wälder und Dickicht, der kleine Vogel flog immer voran und zeigte ihm die besten Wege an. Aber wenn er auch nur einen Augenblick stehen blieb, so rief der Vogel wieder: »Edifar! Edifar!« und das in einem Tone, der ihn an den Todesschrei seiner kleinen, lang gestorbnen Gwenhwyar erinnerte, den sie ausstieß, da sie in Glas Llyn, dem blauen See, ertrank und Niemand sie retten konnte.

So erreichten sie die Spitze des Berges, und der Harfner war müde und erschöpft. Er blieb stehn ... aber der kleine Vogel sang nicht mehr. Er lauschte, – aber er hörte Nichts, als das Rauschen eines Bergquells zu seinen Füßen und die Glocke eines Schaafes von weit herauf. Nun dachte er, Alles sei nur Gaukelei gewesen; er schalt sich daß er solch ein Narr gewesen und gefolgt sei und wandte sich um nach dem Schloß zurückzukehren, um zu dem nächsten Tanz früh genug da zu sein. Aber wie erstaunt war er, als er – beim Umdrehn – Nichts mehr vom Schloße gewahren konnte! Alles was er unter sich sah, war das weite, ruhige Waßer eines Sees, auf dessen mondbestralter Fläche seine Harfe schwamm![186]

Quelle:
Rodenberg, Julius: Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen und Lieder. Hannover: Rümpler, 1857, S. 184-187.
Lizenz:
Kategorien: