Sehnsucht

[164] Sehnsucht – Alle Sprache ist von Hause aus Rückblick, Geschichte, weil sie Gedächtnis ist. Also Vergangenheit. Soll die Sprache Zukunft werden, so muß sie eine Sehnsucht ausdrücken lernen. Eigentlich kann die Sprache gar nicht sagen, was noch nicht war. (Eine Wiederholung in der Zukunft, die Wiederkehr einer Erfahrung also, etwa ausgenommen.) Daher die Unklarheit,[164] die der Sehnsucht von Anfang anhaftet. Kommt die Sehnsucht aber zu Worte, zur Klarheit, dann hat die Zukunft auch schon zu werden angefangen. Wie ein Haus, dessen Plan auf dem Papiere steht, schon angefangen hat, zu werden. Was in der armen Sprache des Menschen nicht Gedächtnis, nicht Erinnerung an die Vergangenheit ist, was die Zukunft ausdrücken möchte, ohne die Macht der Worte (die immer Gedächtnis sind): das ist die Sehnsucht, die auch Mystik werden kann.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 164-165.
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