Selbstmord

[180] Selbstmord – Die Frage, ob der Selbstmord erlaubt sei oder nicht, ist in einem so hohen Grade dumm, daß jeder Versuch einer Beantwortung dumm werden muß. Man könnte mit gleichem Rechte fragen, ob eine Eiche erlaubt sei. Und hält man den Selbstmord für etwas Seltenes, einen Fall gegen die Regel, so mag man mit gleichem Rechte fragen: ob ein Kalb mit sechs Füßen erlaubt sei. Und stellt man mir entgegen, daß der Selbstmord kein Naturprodukt sei, sondern eine menschliche Handlung, so frage ich zunächst, ob menschliche Handlungen nicht unter die Äußerungen der lebenden Natur fallen, und frage sodann, ob Fortpflanzung, ob Keuschheit, ob Weingenuß, ob Abstinenz erlaubt sei. Von wem erlaubt? Von Gott? Vom Gesetz?

Eine andere Frage wäre ernsthaft zu stellen: wie ist Selbstmord möglich? Welches Motiv kann stärker sein als der Instinkt der Selbsterhaltung, der bei der Masse der Menschen mit dem Leben, dem Ichgefühl oder Bewußtsein zusammenfällt?

Der Mensch ist zum Selbstmorde fähig, weil ihm bewußtere Motive stärker werden können als der Instinkt der Selbsterhaltung. Aber es ist nicht ganz richtig, wenn man den Tieren die Fähigkeit zum Selbstmord abspricht. Nehmen wir zuerst einen extremen und erfundenen Fall.

Eine Katze, die im Wasser unweigerlich ersaufen würde, klammert sich an die Steine einer senkrechten Ufermauer. Von allen Seiten nähern sich ihr Menschen oder Gespenster mit glühenden Eisenstangen. Die glühenden. Stangen sind so dicht aneinander, daß die Katze weder darüber noch daneben, noch zwischen ihnen durch entschlüpfen kann. Nun bringen die Menschen oder Gespenster die Glut näher und näher an die Katze heran. Die Katze wird nicht gestoßen, nicht gebrannt. Sie wird nur näher und näher an den Rand der Mauer gedrängt. Und wer[180] kann sagen, ob sie im letzten Augenblicke mit freiem und bewußtem Willen losgelassen hat oder nicht.

Man wird mir eine Nutzanwendung auf den menschlichen Selbstmord erlassen. Aber auch der mittelbare Selbstmord der Tiere ließe sich unter das Schema dieser Katze bringen: der Vogel, der im Jammer um seine Jungen den Feind vom Neste ablockt und so zum Opfer fällt; das gefangene Tier, das in Todesangst sich ein Glied ausreißt und als Krüppel zugrunde geht; das Tier, das in der Hungersqual Nahrung zu sich nimmt, die den Tod herbeiführt. Wie bei der Katze des Schemas- ist der stärkere Instinkt der, einem höchst positiven Schmerze zu entgehen, auf jede Gefahr.

Da ist es nun merkwürdig, daß die Natur des Menschen, ohne Willensakt und ohne Bewußtsein, ein Schutzmittel gegen übergroßen Schmerz gebildet hat. Stürmt auf den Menschen ein unerträglicher Schmerz ein, ein Schmerz, den die Lebenskraft nicht ertragen kann, so schützt sich die Natur durch plötzlichen Tod oder durch den Scheintod, der in diesem Falle Ohnmacht heißt.

Ist der Tod als Folge der Krankheiten – durch Erstickung, wie oft bei Diphtherie, durch eine Art Vergiftung, wie bei Cholera usw. – nicht auch so eine Flucht vor einer unerträglichen Schädigung? Ist der natürliche Tod, der allein diesen Namen verdient, der Alterstod, nicht ebenfalls eine Resignation der letzten Lebenskraft, die eher verhungert, als sich mit elenden Surrogaten des Stoffwechsels zu begnügen? Gibt es also nicht Übergänge zwischen dem Selbstmorde und dem Tode?

Und weil der sogenannte Selbstmord doch auch kein unnatürlicher Tod ist, weil es immer natürlich zugeht – dieweil der Mensch eben im Leben wie im Sterben immer mit zu der Natur gehört –, darum bin ich geneigt, den neuen, nicht ganz einwandfrei gebildeten Ausdruck Freitod – im D. W. noch nicht gebucht – dem altern und an die Sprache des Strafrechts erinnernden Worte Selbstmord vorzuziehen. Selbstmord ist bei uns erst seit dem 17. Jahrhundert, seit Harsdörffer, gebräuchlich; franz. suicide (noch neuer das schlecht gebildete, pleonastische,[181] zweimal reflektierte se suicider) gar erst seit dem 18. Jahrhundert; noch Jean Paul konnte die Umformung Selbermord wagen; immer knüpft die Vorstellung an die des Verbrechens an, wie es denn im Französischen bis nach der Mitte des 18. Jahrhunderts homicie de soi-même hieß. Freitod erinnert mich, wie Freitreppe, Freistatt, an etwas, das ins Freie führt, das Freiheit gewährt.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 180-182.
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