An G. G. Gervinus.

Vom Leben Händel's überreiche ich hier den ersten Band, die Bildungsgeschichte. Wie weit mein Händelbild dem Ihrigen entspricht, wird nun darauf an kommen. Aber der äußere Umriß, die Abgränzung des Stoffes dürfte so ziemlich Ihre Billigung haben. Denn Sie fanden es gerathen, statt der Monographie über Händel, an der ich arbeitete, eine enger gefaßte Biographie herauszugeben und das übrige Material seiner Zeit für eine allgemeinere Geschichte zu verwerthen; auch theilten Sie meine Hoffnung, so am ersten könne etwas Zeitgemäßes und für die Verbreitung Händel'scher Kunst Förderliches gethan werden. Größere monographische Arbeiten dürften auch schwerlich einen ihrem Umfange entsprechenden Nutzen haben, da sie so leicht verleiten die Geschichte für den Helden zuzuspitzen. An Beispielen fehlt es nicht. Die streng historischen Beweise sind nur da zu führen, wo die Geschichte wirklich in voller Breite zur Sprache kommt, wo jeder Künstler eine seiner inneren Bedeutung entsprechende Berücksichtigung findet: dann steigt die wahre Größe von selbst empor. An einer derartigen Aufgabe[3] mich einmal zu versuchen, werden Arbeiten und Neigungen gleichmäßig antreiben, und meinen Sie nicht auch, daß für eine Geschichte der Musik in den drei letzten Jahrhunderten Palestrina der passende Anknüpfungspunkt wäre? – Hier aber habe ich es ausschließlich mit dem Leben, der Kunst, der historischen und künstlerischen Umgebung Händel's zu thun, und in diesen Dingen der Wahrheit auf den Grund zu gehen, war mein alleiniges Bestreben. Was Ihnen dabei an Vergleichungen, an Vor- und Rückblicken, an allgemein geschichtlichen Zügen begegnet, beurtheilen Sie gütigst als Fingerzeige, als Andeutungen der historischen Stellung, die nur dann ohne Schaden für das Verständniß noch gedrängter hätten gegeben werden können, wenn sich die geschichtlichen Untersuchungen der Tonkunst in einem weniger barbarischen Zustande befänden, als leider der Fall ist. Denn was ist Geschichte der Musik? Ein Trümmerhaufen, von dem neun Zehntel mit Staub bedeckt sind, das letzte Zehntel aber nach Geschmacksrücksichten unter den »Liebhabern« Obdach hat.

Meine Quellen sind immer an dem Orte sichtbar geworden wo sie in die Darstellung einfließen. Was ich über diejenigen Schriftsteller denke, welche ich als meine Vorgänger respectiren muß, habe ich zum Theil gesagt, zum Theil für mich behalten; durchweg mehr bestrebt ihre guten Nachrichten zusammenzuleiten, als ihre Fehler aufzuzählen, habe ich doch stellenweise, wo die Irrthümer wie trockene Holzscheite geschichtet lagen, nicht umhin können ein kleines Feuer zu unterhalten. Gedruckte Ausgaben der Händelwerke werden Sie nur sehr spärlich angeführt finden. Ich denke, wer mir eine gewissenhafte Untersuchung der Originalhandschriften zutraut, und das darf ich wohl beanspruchen,[4] wird mir eine beständige Verweisung auf die vorhandenen Drucke gern erlassen; dadurch allein sind einige hundert Noten gespart. Wäre ich zu meiner Sicherstellung gezwungen die Citate noch massenhafter zu geben, so würde das Gewicht der Noten den Text nur um so mehr belasten, und da ich ohnehin mit Schwierigkeiten aller Art zu ringen hatte, dürfte ich nicht hoffen von der leicht verständlichen einfachen Haltung, der ich nachstrebte, irgend etwas erreicht zu haben.

Vielleicht fällt Ihnen auf, daß ich das anonym erschienene Büchlein Memoirs of the life of the late George Frederic Handel, London 1760. 8, von dem bisher nur so obenhin die Rede war, bei jedem Schritte sorgfältig zu Rathe gezogen habe. So überaus unvollkommen es auch ist, besitzt es doch wesentlich alle Vorzüge, die derartigen Berichten von Zeitgenossen eigen zu sein pflegen. Der Verfasser – John Mainwaring, ein theologischer Gelehrter, damals 25 Jahre alt – that von seinem Eignen wenig mehr hinzu, als eine recht lebendige, etwas breitläufige Rede, er schrieb die über Händel's Leben bekannt gewordenen Nachrichten und die Ansichten über seine Kunst so zusammen, wie sie dem England von 1760 vorstanden. Die abgerundeten, ausgebildeten, nicht selten ausgeschmückten Geschichten zeigen, wie vielfach Händel's Leben schon in mündlicher Erzählung umgelaufen war. Mainwaring's Schrift war durchaus kein Erzeugniß besonderer Pietät, sondern ein reines Buchhändlerunternehmen, das sich nicht einmal Händel's ausschließliche Verehrer als Käufer dachte, vielmehr die große Zahl derjenigen Engländer die sich die Erscheinung des ausländischen Tonmeisters klar zu machen wünschten. Wie merkwürdig ihnen dieser Mann[5] vorkam, auch seinen Widersachern, können wir uns kaum noch lebendig genug vorstellen; hier will ich nur daran erinnern, daß von allen großen Musikern, die vor Händel lebten, keiner mehr als eine Leichenrede, ein akademisches Programm, ein Carmen, einen Nachruf in der Zeitung, ein Conterfei, einen Artikel im Lexikon davon brachte. Wirklich ist Mainwaring's Büchlein die erste Biographie irgend eines Tonkünstlers; auch in dieser Hinsicht, auch für die Würdigung der Musiker als geistig bedeutender Menschen war Händel's Erscheinung entscheidend. Für eine höhere Auffassung seines Wesens ist durch Mainwaring freilich nichts gethan, doch hat er in aller Unschuld manchen geistig und historisch bedeutsamen Zug bewahrt. So umstellt er den Händel von seiner Kindheit an mit einer Schaar treuer Freunde, die wie gute Engel über all da sind, wo es etwas zu bewachen, zu rathen, zu lenken giebt. Gute Freunde ergreifen die Partei des Sohnes gegen den alten Vater, wissen das Anerbieten des preußischen Hofes abzulehnen, rathen zu einem einstweiligen Aufenthalte in Hamburg, bringen ihn nach Italien, bereden ihn zu einer Carnevaloper, laden ihn nach England ein, führen ihn nach Hannover, und so weiter durch's ganze Leben; Orte, Zeiten, Personen wechseln, aber diese treue Schutzmannschaft ergänzt sich immer wieder und läuft nach und nach aus in die Bewunderung des ganzen England, der ganzen Welt. Zu einer solchen Auffassung kam Mainwaring nicht aus eignem Nachdenken, er gab die Erzählungen einfach in der Gestalt in welcher sie vorlagen. Wie viel sachlich dabei zu ergänzen und zu berichtigen bleibt, wird schon dieser erste Band zeigen, aber auch wie sehr eine solche Anschauung aus[6] dem Charakter Händel's und seiner Zeit hergenommen ist. An dem Buche läßt sich noch die ziemlich gleichmäßige Beachtung der verschiedenen Lebensabschnitte loben, dabei hält sich das Urtheil immer hübsch unparteilich; und ist das Bekenntniß, gewisse Dinge im Händel müsse man, an natürlicher Erklärung verzweifelnd, kurzum für göttliche Erleuchtung halten, nicht ein tapferer Ausspruch in Voltaire's Zeitalter? Dennoch ist es sehr zu bedauern, daß sich unter Händel's persönlichen Bekannten keiner fand, der die runden schlagartigen Ausdrücke über sein Leben, über Vorgänger und Zeitgenossen, so wie sie aus seinem eignen Munde kamen, in ein Buch bringen mögen; namentlich, daß beide Johann Christoph Schmidt, Vater und Sohn, die ihn aus persönlichem Umgange durch sechzig Jahre kannten, nur zum Notenschreiben die Feder zu führen wußten: sonst hätten wir schon seit hundert Jahren ein Leben des Meisters, ein Händelbuch haben können in einer Treue Fülle und Frische, wie ein solches von keinem zweiten Künstler dagewesen wäre, und die Pilgerfahrten nach Händel's Spuren von einem so spätgebornen und geringen deutschen Landsmanne, wie ich bin, wären mehr als überflüssig gewesen. Niemand kann dieses lebhafter wünschen, als ich selber, denn was an historischer Kunde einmal verklungen ist, läßt sich mitunter durch Anderes ersetzen, aber in ursprünglicher Gestalt nie völlig wiedergewinnen. Was jetzt in Mainwaring, Hawkins, Burney, (Coxe und anderswo zerstreut ist, zeigt nur wie diel Material vorlag. Uns Späteren würde auch bei vollständigster und treuester Ueberlieferung der Lebensnachrichten in der allseitigen Würdigung der Tonwerke immer noch eine bedeutende Aufgabe bleiben.[7]

Händel's Werke sind es denn auch, deren volleres Verständniß alle unsere jetzigen Bestrebungen müssen bewirken helfen. Wer jemals von Händel erfaßt ist, der wird den Wunsch theilen, seine Schöpfungen aus dem Ganzen heraus und als Ganzes kennen zu lernen, zu hören und gedruckt zu besitzen. Fast alle sind in der Handschrift des Meisters noch vollständig erhalten, und eine erneuerte Untersuchung hat über Erwarten bestätigt, wie so vieles noch unbekannt oder ungenügend bekannt ist, welche Reihe von Kunstwerken uns die nächsten Erben Händel's zu beschreiben, zu drucken, zu verbreiten übrig gelassen haben. Besonders in Deutschland fehlte den Händelwerken bisher das, was einem Baume fehlt der auf der Schattenseite steht. Ich wiederhole nur Ihren Gedanken, wenn ich sage, daß wir arbeiten in der Hoffnung, sie werden endlich auch hier für die Kunst vollgedeihlich ausschlagen. Treulich der Ihrige.


Am 1. Januar 1858.


Friedrich Chrysander.[8]

Quelle:
Chrysander, Friedrich: G.F. Händel. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1858.
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