Vorwort.

Die seit dem Erscheinen des ersten Bandes begonnene Ausgabe von Händel's Werken hat längere Zeit meine unausgesetzte Thätigkeit in Anspruch genommen und ist eine der Hauptursachen gewesen, daß dieser zweite Band so spät nachfolgt. Ein anderes Hemmniß lag in der Arbeit selber. Wenn irgend ein Theil des Händel'schen Lebens zusammenhangslos, verwirrt und unbefriedigend aussah, so war es der hier beschriebene mittlere Abschnitt, welcher in den bisherigen Berichten nichts zu enthalten schien, wodurch das Anziehende einer aufstrebenden Jugend oder die großartige ruhige Thätigkeit des reisen Alters ersetzt werden könnte. Und doch ist derselbe für das Gesammtverständniß Händel's von größerer Bedeutung, als der erste und der letzte; ja man darf behaupten, daß selbst eine höchst einsichtige Schilderung der Lehr- und Wanderjahre von 1700–1720, sowie der großen Oratorienzeit von 1740–1759 uns noch über den Haupttheil der Entwicklung dieses Künstlerlebens im Unklaren lassen und zu der Wurzel vieler schweren Irrthümer über Händel's Kunst nicht gelangen würde. Es galt daher, die hier vielfach entstellten und verhüllten Züge in Händel's Bilde aus den allerersten Quellen wieder zu erkennen, neben dem musikalischen also auch das englische Schriftthum der damaligen Zeit im weitesten Umfange zu untersuchen: eine Arbeit, die Mühe und Zeit erforderte, aber auch lohnend gewesen ist. Die Ergebnisse derselben lege ich hiermit der Oeffentlichkeit vor, hoffend daß meine deutschen Leser unbefangen und weitherzig genug sein werden, um Neues aufzunehmen, selbst wenn es mancher bisher gehegten Ansicht über Händel's Kunst widersprechen sollte.[3]

Die zwanzig Jahre 1720–40 sind in dem dritten Buche, welches diesen Band füllt, vollständig beschrieben, mit Ausnahme des letzten Abschnittes oder der Jahre 1737–40: denn hier bricht endlich die oratorische Thätigkeit so gewaltig durch und ist als der Anfang eines ganz neuen Wirkens selbst in allgemein geschichtlicher Hinsicht so sehr in die Bewegung der folgenden Jahre verflochten, daß sie nur in dem vierten oder letzten Buche ihre richtige Darstellung finden kann. Ein dritter Band wird das vierte Buch enthalten und damit dieses Werk beschließen.

Etwaige Berichtigungen oder Zusätze zu den beiden ersten Büchern werde ich im Schlußbande mittheilen, und dort auch dasjenige berücksichtigen, was Dr. Eckstein in Halle und Alexander W. Thayer in Boston mir freundlichst mitgetheilt haben. Wir müssen um so mehr bestrebt sein, in diesem Gebiete alles genau und sicher zu erkennen, weil von denen, welche die nächste Ursache und die kräftigste Anregung hatten, Händel's Leben und Kunst zu beschreiben, nichts zu hoffen ist. Einen neuen Beweis davon liefert das Machwerk »A sketch of the life of Handel etc. by G.A. Macfarren, London 1859«, verfaßt und »mit einer besonderen Besprechung der im Krystallpalast zur Gedächtnißfeier Händel's aufzuführenden Werke« versehen, lediglich um bei dem genannten musikalischen Feste verhandelt zu werden. Wissenschaftliche oder überhaupt nur edle und künstlerische Zwecke mußten einem Schriftsteller fern liegen, dem die Werke Händel's noch immer so unbekannt sind, daß er mehrere derselben verwechselt oder unter verkehrten Titeln anführt, und der sein Buch aus der Biographie von Schölcher flüchtig zusammen schrieb, zum Danke dafür aber diesen trefflichen, von reiner Liebe zu Händel beseelten Mann auf alle Weise herunter zu setzen bemüht ist. Angesichts eines solchen Treibens mußte mir die wohlwollende Aufnahme, welcher sich der Anfang meines Werkes über Händel bei meinen Landsleuten zu erfreuen hatte, doppelt ermuthigend sein.


Am 1. October 1860.

Chr.
[4]

Quelle:
Chrysander, Friedrich: G.F. Händel. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1860.
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