Die Fragmente und der Prozess des Schaffens

[164] Mit der Gewohnheit oder Vorliebe Mozarts, ein »Sprungbrett« zu benutzen, hängt die Tatsache zusammen, daß von ihm so viele Fragmente und »Incipits« vorhanden sind – vermutlich nur ein kleiner Bruchteil aller, die er niedergeschrieben hat, aber immerhin mehr als hundert. Man hat diese Fragmente gewaltig mißverstanden. Konstanze, die Witwe, führt den Reigen der Mißverständnisse an; sie war der Meinung, Mozart habe sich hier, für späteren Gebrauch, eine Anzahl melodischer »Einfälle« notiert, sie dann aus irgendeinem Grunde liegen gelassen, und sie brauchten nur »von einer Meisterhand ausgearbeitet und vollendet zu werden«, um zu lukrativen Verlagsartikeln zu werden. Nun ist es wahr, es gibt eine Reihe von Werken Mozarts, die er aus äußeren Gründen einfach nicht fertig gemacht hat. Das bekannteste Beispiel ist das Requiem, das zu vollenden ihm eine vollwichtige Tatsache nicht erlaubt hat: sein Tod. Ein beklagenswertes Beispiel ist die große Messe in c-moll, für deren fragmentarischen Zustand mehrere Gründe angeführt werden können: sie verdankte ihre Entstehung einem Gelöbnis, wenn Mozart seine Konstanze glücklich heimgeführt haben werde – und Mozart hatte seine Konstanze nun einmal. Ihre[164] Komposition fiel in die Zeit, da Mozart sich für das Freimaurertum zu interessieren begann; und sie fiel in eine Zeit der Krise in Mozarts Schaffen, in die Jahre zwischen 1782 und 1784. In keiner Zeit häufen sich die Fragmente so sehr als in diesen Jahren – Ansätze zu Fugen und Fugati, zu kontrapunktischen Versuchen. Davon wird die Rede sein in einem besonderen Kapitel.
Aber es gibt auch Beispiele genug für die Tatsache, daß Mozart ein »galantes« Werk hat liegen lassen, weil die äußere Veranlassung es zu vollenden sich verflüchtigte. Eins der betrüblichsten ist die Sinfonia concertante für Violine, Viola, Violoncello und Orchester (K. Anh. 104), vermutlich entworfen für drei Spieler des Mannheim-Münchner Orchesters, die sich um 1779 nicht mehr zusammenfanden. Das gleiche gilt für das Konzert für Klavier und Violine (K. Anh. 56), im November 1778 für den Geiger Fränzl und sich selber begonnen – aber, da ein paar Wochen später das Mannheimer Orchester nicht mehr existierte, ein herrlicher Torso geblieben. Weshalb Mozart die »Ode auf Gibraltar« (Anh. 25) nicht fertig machte, wissen wir bereits: er konnte es nicht über sich gewinnen, den »übertriebenen und schwülstigen« Text mit seiner Musik zu bekleiden. Der größte Teil der Incipits aber besteht aus »Sprungbrettern«, aus »Anläufen«. Es ist bezeichnend, daß aus den ersten zwei Jahrzehnten seines Schaffens verhältnismäßig nur wenige vorhanden sind. Da benutzt er zu solchem Zweck die Werke anderer Meister, ganz abgesehen von der pädagogischen Gewöhnung durch den Vater, ein Begonnenes auch zu Ende zu führen. Er braucht nicht mehr als den Beginn: – für die angemessene Fortführung, den »filo« der Gedanken, die Bestimmung des Charakters weiterer Sätze, sorgten dann seine Phantasie und sein blitzschnell wählender Geschmack. Für die konzertante Sonate für zwei Klaviere (K. 448)
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[165] hat Mozart sich zweifellos des Incipits von Johann Christian Bachs Klavierkonzert op. 13, 2, veröffentlicht 1777, erinnert:
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Gerade daß er hier den Dualismus im Themenbeginn bei Bach vermeidet, ausgedrückt durch f und p – ein Dualismus, in den er sonst selbst sehr verliebt ist –, ist ein Beweis des Zusammenhangs. (Man vergleiche etwa den Themenbeginn der Sonate für Klavier K. 309, vom November 1777!) Oder man erinnere sich des Violinkonzerts in D-dur (K. 218) und seiner Beziehung zu einem Violinkonzert, ebenfalls in D-dur von Boccherini, das Mozart 1770 in Florenz durch seinen jugendlichen Freund Thomas Linley gehört haben mag! Die Themen, auch manches aus der Figuration, arbeiten in seinem Unterbewußtsein weiter und feiern fünf Jahre später eine Auferstehung im mozartischen Geist. Das bekannteste, berühmteste Beispiel aber ist das Fugenthema zur Ouverture der »Zauberflöte«. Mozart muß es bei dem Wettspiel gehört haben, das im Dezember 1781 oder Januar 1782 zwischen Clementi und ihm in der Wiener Hofburg vor dem kaiserlichen Zuhörer stattfand. (Er konnte es freilich auch aus einem Quartett in Piccinnis »Barone di Torreforte«, das A. della Corte zitiert [»Piccinni«, Bari 1928, p. 54] in Erinnerung haben.) Mozart selber berichtet (16. Jan.), daß Clementi zu beginnen hatte, »präludierte und eine Sonate spiellte«. Und Clementi bestätigt den Zusammenhang in der Erstausgabe seiner Sonate: »Cette sonata, avec la toccata qui la suit, a été jouée par l'auteur devant Sa Majesté Joseph II en 1781, Mozart étant présent« und betont in späteren Ausgaben nicht ohne Bitterkeit seine Priorität: »tulit alter honores.« Nun hat Mozart in diesem Falle viel mehr aus dem ersten Satz Clementis benützt als das Incipit – Beweis, wie gut er aufgepaßt hat und wie gut sein Gedächtnis funktionierte; und doch ist dies »Plagiat« Mozarts wie weniges geeignet, die Wesenlosigkeit des Begriffes Plagiat klarzumachen. Denn was bei Clementi eben nichts anderes ist als ein bemerkenswerter[166] Einfall – bemerkenswert auch im historischen Sinn, denn das Thema ist ein verspätetes »Canzon-francese«-Thema –, füllt sich bei Mozart mit Inhalt, wird hochsymbolisch durch polyphone Behandlung und polyphones Erlebnis, erhebt sich in die Sphäre der Ewigkeit.
Im allgemeinen aber werden dem späteren Mozart, in seinem letzten Lebens- und Schaffensjahrzehnt, mehr die eigenen Einfälle zum »Sprungbrett«. Er schreibt sie nieder; er beginnt ein Werk oder einen Satz, aber bald genügen sie ihm nicht mehr, manchmal schon während des Niederschreibens, manchmal nach 16 oder 32 Takten, und manchmal erst nach 100 oder mehr. Nirgends ist bessere Gelegenheit, in das Geheimnis seines Schaffens – im wesentlichen ein undurchdringliches und ewiges Geheimnis – einen Einblick zu erhalten. Mozart hat natürlich auch in fertigen Kompositionen noch kleinere oder größere Änderungen vorgenommen. Besonders reich an solchen sind die sechs Haydn gewidmeten Streichquartette, die nicht nur in der Handschrift viele Korrekturen aufweisen, sondern auch Änderungen in den gestochenen Stimmen – alle von Mozart selber herrührend. Ein paar Verbesserungen sind sehr bekannt geworden, so der kleine Meisterzug in Donna Annas Arie »Or sai chi l'onore ...«, in der durch Vertauschung zweier Noten aus einer Konventionalität eine wilde Drohung wird; oder die im Finale des D-dur-Quintetts (K. 593), wo das ursprünglich auf chromatischer Skala herabkletternde Thema durch leichten Griff erst seine Natürlichkeit und seinen Charme gewinnt. Aber das sind Züge, die sich bei jedem Komponisten finden. Ihre eigentümlichen Methoden daneben haben nur Mozart und Beethoven. Bei Beethoven ist es fast die Regel, daß er mit dem ersten Einfall eines Motivs oder Themas nicht zufrieden ist. Das bezeichnendste Beispiel ist der Beginn des Liederzyklus »An die ferne Geliebte«, wo es endloser Umbildungen bedurfte bis das Thema in vollendeter Gestalt hervortrat. Meist ist der erste Einfall Beethovens zu simpel, zu roh wie ein nur halb behauener Stein, und bedarf der weiteren Behandlung, Glättung, Ziselierung, um alle charakteristischen, ausdrucksvollen Züge zu gewinnen. Bei Mozart ist es anders. Wenn er einen Satz gleichsam auf einer zu tiefen Ebene der Erfindung begonnen[167] hat, modelt er nicht erst lange an dem Thema herum, sondern beginnt auf einer höheren Ebene von neuem. Manchmal merkt er den Fehlgriff schon nach dem ersten Takt, so etwa im langsamen Satz des D-moll-Quartetts (K. 421), wo er beginnt:
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um dann sofort von neuem anzuheben:
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Nichts ist geblieben als Taktart, Tonlage und homophoner Beginn. Gerade die Quartette enthalten noch mehrere solcher Beispiele. Besonders bedeutsam für »Einfall« und Endgültigkeit aber werden die Klavierkonzerte. Für das Larghetto des c-moll-Konzerts (K. 491) hatte Mozart ursprünglich folgendermaßen begonnen:
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Das genügt ihm nicht, der Einfall muß einfacher, ruhiger, stabiler werden, um den gewaltigen, dämonischen Ecksätzen ein Gegengewicht zu geben:
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[168] Manchmal braucht Mozart lange, ehe er seines »Irrtums« inne wird. Im Klaviertrio in E-dur (K. 542) beginnt er das Finale folgendermaßen:
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und führt es aus 65 Takte lang. Er setzt zweimal an und gelangt zu einem Fugato, bis er merkt, daß der Satz zu unruhig wird, zu wenig abschließend und abrundend; und ohne die weit gediehene Arbeit erst lange auszustreichen, beginnt er von neuem:
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mit einem fast kindlichen Thema, durch dessen Durchführung aber das Werk seine Stabilität, seine Einheit gewinnt. Beethoven wird meist feiner, komplizierter in seinen zweiten und dritten Gedanken, Mozart fast immer einfacher. Es gibt freilich auch Fälle, in denen er ein Werk scheinbar als Torso liegen läßt, um es künftig, bei besserer Zeit, wieder vorzunehmen und zu vollenden. Das scheint der Fall zu sein bei dem Streichtrio in G-dur (Anh. 66), das er ausgeführt hat bis in die Durchführung hinein. Für uns ist es der Beginn eines Meisterwerkes, wir begreifen nicht, daß Mozart es nicht über sich[169] gebracht hat, es abzuschließen, was für ihn die Arbeit weniger Stunden gewesen wäre. Aber es ist wahrscheinlich, daß er es zugunsten des Divertimento in Es-dur (K. 563) hat liegen lassen, eines seiner herrlichsten Werke: – nunmehr war es ihm in zu kleinen Dimensionen angelegt, und er hatte alles gesagt, was er in dieser Form und Besetzung zu sagen hatte.
Wenn Mozart den rechten Anfang gefunden hat, so ist er der rechten Fortführung und des rechten Abschlusses sicher. Eine »Idee« – wir hoffen, es ist nicht nötig zu betonen: eine musikalische Idee, nicht etwa ein »Programm« – des ganzen Werkes ist ihm halb bewußt, halb unbewußt gegenwärtig, ob es sich nun um eine Sonate, eine Messe oder eine Oper handelt. Die Einheit eines Mozartschen Werkes ist musikalisch, nicht programmatisch. Und eine Sonate, ein Quartett, eine Sinfonie ist bei ihm nicht aus einzelnen Sätzen zusammengesetzt, sondern durch eine geheime Gesetzmäßigkeit verbunden, der unser Gefühl unmittelbar zustimmt. Es kommt bei Mozart nicht vor, daß er Sätze austauscht, wie etwa Beethoven in der Kreutzersonate, deren Finalsatz ursprünglich zu einer andern Sonate in A (op. 30) gehörte und deren Variationen ebenfalls aus einer ganz andern Region stammen als der unvergleichliche erste Satz. Es kommt bei Mozart auch nicht vor, daß, wie in Beethovens Waldsteinsonate, ein Mittelsatz aus einer Sonate herausgenommen wird und dann als Andante favori ziemlich heimatlos in die Welt gesandt wird. (Womit nicht etwa gesagt sein soll, daß die Waldsteinsonate durch den neuen Mittelsatz nicht erst ihre zwingende Einheit, ihre innere Vollendung gewonnen hätte.) Nur das D-dur-Menuett K. 355, das wirklich heimatlos in Mozarts Werk umherirrt, könnte ursprünglich als dritter Satz der letzten Klaviersonate Mozarts (K. 576) zugehört haben – und – wer weiß? vielleicht wirklich ohne Trio. Das größte Geheimnis im Geheimnis der Instrumentalwerke Mozarts ist jedoch die Einheit der einzelnen Sätze, das, was Leopold mit »il filo« bezeichnet hat, der »Faden«, die Folge und der Zusammenhang der Gedanken. Dieser Zusammenhang ist weniger ostensibel als bei den meisten andern großen Komponisten, wie etwa bei Beethoven, der viel mehr mit Kontrasten arbeitet als Mozart, dessen Sätze und Satzfolgen viel häufiger[170] aus einem einzigen motivischen Keim erwachsen sind. Und Beethoven – wie auch sein Vorgänger Haydn, beide in bestimmtem Sinn Revolutionäre, hatten es viel mehr not als Mozart, ihren Werken eine merkbare, nachweisbare Einheit zu geben – ihr Werk mußte aus sich selbst gerechtfertigt werden können. Mozart war ein Traditionalist. Man versteht ihn nicht ganz, nicht ganz seine Grazie, seinen Humor, seine Kühnheit, wenn man nicht sein Verhältnis zur Tradition kennt, nicht weiß, wo er ihr folgt, wo er mit ihr spielt, wo er von ihr abweicht. Es ist sein Glück, sein historisches und sein persönliches als Künstler, daß er sich noch innerhalb eines gegebenen Rahmens bewegen darf, daß er organische – nicht willkürlich gemachte, daß er gewachsene – nicht gewaltsam hervorgetriebene Formen benutzt. Eine Aria ist eine Aria; eine Sonate ist eine Sonate; ein Sonatensatz hat sein bestimmtes Gesetz, das Mozart niemals durchbrechen wird. Je nach der Besetzung scheiden sich die Formen: ein Klavierkonzert wird niemals weniger oder mehr als drei Sätze haben, indes ein ausgewachsenes Streichquartett oder Streichquintett eben vier Sätze haben muß, mit einem Menuetto, und ein Divertimento zwei Menuetti. Warum solche Gegebenheiten nicht benutzen, warum solche Schranken niederreißen, wenn man sich mit Freiheit in ihnen bewegen kann? Wenn man diese Gegebenheiten kennt und fühlt, wird erst der Geist, die »Originalität« – und in diesem Sinn darf von Originalität auch bei Mozart gesprochen werden –, die Persönlichkeit, die Kühnheit Mozarts offenbar.
Jedes Instrumentalwerk des gereiften Mozart – und wie frühe ist er gereift! – könnte als Beispiel dienen; aber wir wählen eins der allerunscheinbarsten, die Klaviersonate K. 332, komponiert im Sommer 1778 in Paris, jedem klavierübenden Kind bekannt:
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[171] Einer der Musiker, die sich in Deutschland nach einer Periode »poetisierender« Befassung mit dem musikalischen Kunstwerk wieder mit Musik befaßt haben, August Halm, hat von diesem Thema gesagt, nachdem er es »zwar willenlos« genannt, aber dennoch »guter Musik« zugerechnet hat (»Von zwei Kulturen der Musik«, 1913, p. 224):
»Es ist hübsch, von einer bescheidenen und feinen Gefälligkeit. Es hat Selbsterkenntnis, will nicht über sich hinaus, und darum ist es nicht windig noch hohl. Aber ohne notwendige Struktur, nicht auf Notwendigkeit hin erdacht, wirkt es mit seinem Sich-ergehen im Hin und Her wie zufällig. Der Gegensatz seiner Richtungen richtet nichts aus, er bedeutet weder eine beherrschte noch eine gefühlte Kraft, und darum überhaupt keine Kraft.« Aber warum Mozart zum Vorwurf machen, daß er keine Beethovenschen Themen erfindet? Und warum muß ein Thema »auf Notwendigkeit hin erdacht« sein und »etwas ausrichten« können? Der Reiz dieses Sonatenbeginns beruht darin, daß er kein Beginn ist, sondern wie ein zweites Thema, lyrisch und gesangvoll, wie vom Himmel gefallen. Es folgt ein Nachsatz wie ein lieblicher Naturklang, mit den Hornquinten in der linken Hand, und dann erst das, was analytische Ausgaben den »Epilog« nennen, eine Drohung in d-moll, voll von Mollspannung, aus der das zweite Thema sich löst wie eine lichte Erscheinung, aus Ariels Gefolgschaft. Einfall folgt aus Einfall; die Durchführung beginnt wieder mit einem neuen, »unthematischen« Einfall, und in der Rekapitulation wiederholt sich die ganze »kraftlose« Folge auf einer neuen Ebene hinreißender Anmut. Niemand wird ergründen können, wie in diesem Satz eine melodische Blüte der andern sich zugesellt, und jeder wird ihre Natürlichkeit, Notwendigkeit, Gewachsenheit fühlen. Nichts gewonnen sein wird hier auch mit der Suche nach einem Vorbild, da man keines finden wird, weder in Deutschland noch in Italien noch in Paris; weder bei Philipp Emanuel oder Johann Christian Bach oder Wagenseil, noch bei Rutini oder Galuppi, noch bei Schobert oder Raupach. Im übrigen hat gerade Beethoven den Zauber dieses aus der Luft gegriffenen Anfangs innig gefühlt und ihn auf seine Weise genutzt, bis in[172] seine späten Tage: im ersten Satz der Waldsteinsonate; in der Es-dur-Sonate op. 31, 3; in der A-dur-Sonate op. 101, die den Zyklus der fünf »Letzten Sonaten« eröffnet.
Dies ist der »filo«, der »Faden«, dem Mozart folgt und der so sehr abhängt vom rechten Beginn: der Beginn muß »auf der Höhe« sein. Dies ist der »filo«, den Mozart vor der Niederschrift im Kopfe hat: alle äußeren Beobachter seines Schaffens stimmen darin überein, daß er eine Komposition zu Papier brachte, wie man einen Brief schreibt, wobei er sich durch keine Störung oder Unterbrechung irritieren ließ – die Niederschrift, die »Fixierung«, war eben nichts weiter als Fixierung des fertigen Werks, ein mechanischer Akt. Das Verfahren Mozarts dabei läßt sich leicht verfolgen, dank dem häufigen frischen Schnitt seiner Kielfedern und der wechselnden Farbe seiner Tinte: sie verdickte sich offenbar rasch und mußte sehr oft verdünnt oder erneuert werden. Nie schreibt Mozart Teile oder Abschnitte eines Satzes nieder, die er gleich in allen Stimmen fertig machte, sondern immer ein Ganzes. Skizze und Reinschrift verschmelzen zu einem einzigen Akt der Niederschrift, es gibt bei Mozart keine Brouillons. Bei einer Opernpartitur etwa – nicht bloß einer Aria oder einem kürzeren Ensemble, einem Quartett oder Sextett, sondern auch einem ausgedehnten Finale – schreibt er die erste Violine, die Singstimmen, den Baß von Anfang bis Ende nieder; dann erst füllt er die Nebenstimmen aus, und man kann Zug um Zug verfolgen, wie ihn auch bei solcher halb mechanischer Arbeit die Lust der Erfindung im einzelnen, des »Einfalls«, niemals verläßt. (Natürlich, wo Bläser konzertierend im Orchester hervortreten, gehört auch ihre Fixierung dem früheren, ersten Prozeß der Niederschrift an.) In einem Werk der Kammermusik, einer Sinfonie, fixiert er erst die Hauptstimmen, die melodischen Fäden von Anfang bis Ende, er springt gleichsam von Linie zu Linie und »übergeht« oder »überholt« erst in einem zweiten Stadium der Arbeit den Satz mit den Füllstimmen. Diesen ersten Prozeß der Fixierung eines Ganzen will er allerdings ohne innere Hemmung durchführen – und nun gibt es freilich im ersten und letzten Sonatensatz Stellen, die auch ein Mozart nicht erledigen kann, wie man einen Brief schreibt.[173] Das sind in der Sonatenform die Durchführungen und im letzten Satz, wenn er Rondoform hat, die Stellen kontrapunktischer Verwickelung, aus der das Rondothema mit neuer Kraft der Überraschung sich loslösen soll. Wenn einmal sämtliche Fragmente der Instrumentalkompositionen Mozarts gedruckt vorliegen, wird man erkennen, daß die meisten vor der Durchführung (wie Anh. 80, ein Streichquintett in B-dur) oder während ihr abbrechen, weil Mozart versäumt hat, die Wegräumung dieses Hindernisses durch eine kontrapunktische Skizze vorzubereiten. Und, gewitzigt, bereitet er sie in vielen Fällen vor. Nur wenige dieser Skizzenblätter sind erhalten; aber das ist kein Beweis, daß sie nicht vorhanden waren. Erst in jüngster Zeit ist eins zum Vorschein gekommen, auf dem Mozart sich die kontrapunktische Kombination des Allegros der sogenannten Prager Sinfonie klargemacht hat, bevor er an die Aufzeichnung der Partitur ging. Glaubt man wirklich, daß ein Satz wie das Finale der Jupitersinfonie ohne gründliche Vorbereitung, nicht bloß der Phantasie, sondern auch schriftlicher Fixierung einiger Stellen, hat in Partitur gebracht werden können? Es bleibt auch so noch des Wunders genug.
Mozart hat als »galanter« Komponist begonnen, und die Aneignung des Kontrapunkts hat ihm Mühe gemacht. Zweimal, gelegentlich der Komposition von Streichquartetten, spricht er von »mühsamer Arbeit«, er selber straft die Naivlinge Lügen, die glauben, er habe seine Werke aus dem Ärmel geschüttelt. Mozart und der Kontrapunkt, Mozart und die Polyphonie – das ist ein eigenes Kapitel.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 164-174.
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