XIII. Von allen verlassen.

[309] Ein Vierteljahr in Italien: Venedig, Neapel, Sorrent, Rom, Florenz. – Benachrichtigung über das Defizit der Festspiele und quälende Sorgen darum. – Heimreise über München nach Bayreuth. – Aufruf zur Begründung eines allgemeinen Patronatvereins. – Resultatloser Besuch des Hofrats Düfflipp in Bayreuth. – Entwurf der ›Parsifal‹-Dichtung.


Dies waren die ›Bühnenfestspiele des Jahres 1876‹. Wollte man mir deren Wiederholung zumuten?

Richard Wagner.


Der Meister äußerte im Verlauf des folgenden Winters, seine Hauptempfindung während der ganzen Aufführungen sei ›Nie wieder, nie wieder!‹ gewesen. Nur mit diesem inneren Zuruf, dieser Beschwichtigung, habe er die bis zuletzt sich häufenden Widrigkeiten mit Aufgebot aller Selbstbeherrschung ertragen können. Wem zuliebe hatte er in seinem vorgerückten Alter, das eher der völligsten Ruhe und Schonung bedurfte, diese ungeheueren Anstrengungen auf sich genommen? Wer hatte ihm dafür gedankt? ›Wie glänzend der äußere Hergang in jenen sonnigen Sommertagen des Jahres 1876 sich ausnahm, durfte nach allen Seiten hin ungemeines Aufsehen erwecken. Es er schien sehr wahrhaftig, daß so noch nie ein Künstler geehrt worden sei; denn hatte man erlebt, daß ein solcher zu Kaiser und Fürsten berufen worden war, so konnte niemand sich erinnern, daß je Kaiser und Fürsten zu ihm gekommen seien. Dabei mochte doch auch wiederum jeder annehmen, daß, was den Gedanken meines Unternehmens mir eingegeben, nichts anderes als Ehrgeiz gewesen sein könne, da meinem rein künstlerischen Bedürfnisse es doch gewiß genügt haben müßte, meine Werke überhaupt aufgeführt und mit stets andauerndem Beifall aufgenommen zu sehen. Es mußte mir deutlich werden, daß mehr die Verwunderung über das wirkliche Zustandekommen der Unternehmung die Teilnahme der höchsten Regionen mir zugewendet hatte, als die eigentliche Beachtung des Gedankens, der das Unternehmen mir eingab. Somit konnte es auch in der Gesinnung meiner hohen Gönner mit der so ungemein beneidenswert mich hinstellenden Bezeugung jener Anerkennung für [309] vollkommen abgetan gelten. Hierüber mich zu täuschen durfte nach der Begrüßung meiner hohen Gäste mir nicht beikommen, und es konnte mir nur das Erstaunen darüber verbleiben, daß meinen Bühnenfestspielen überhaupt eine so hoch ehrende Beachtung widerfahren war.‹

Und so verhielt es sich in der Tat. Der Festjubel war verrauscht, Patrone und Festspielgäste weithin zerstreut; ein jeder hatte nach Maßgabe seiner Empfänglichkeit und seines Verständnisses erhebende Eindrücke mit sich davongetragen; nur wenige aber verspürten etwas von einer Verpflichtung gegen ihn selbst und das nun schweigend dastehende Haus, in welchem soeben das Unsägliche, Unbeschreibliche verwirklicht worden war. ›Daß ein großes Defizit blieb, daß sechs Jahre vergehen würden, ehe dieses Haus seine Türen wieder öffnen konnte, das ahnte damals noch niemand.‹1 Aber weshalb ahnte es niemand, da doch die äußerst schwierigen Umstände, unter denen die große reformatorische Kunsttat sich vollzog, für keinen Mitempfindenden ein Geheimnis geblieben war? Es konnte doch nicht während der Festtage selbst daran erinnert und etwa eine Subskription unter den Teilnehmern derselben eröffnet werden! Statt dessen schlug da draußen noch monatelang eine sogenannte ›Kritik‹, d.h. in Wahrheit eine Herunterreißung, Beschimpfung und Schmähung des Werkes, ihre hochgehenden Wogen; und was erst als schamlos oberflächliches Zeitungsfeuilleton das ummittelbare Echo jener Tat gebildet, wurde dann von den verschiedenen Verfassern dieser Berichte in Buchform gesammelt und trat in Gestalt ganzer Broschürenschwärme nochmals an das Tageslicht. Darunter jene berüchtigten ›Nüchternen Briefe aus Bayreuth‹ aus der Feder eines damals beliebten Berliner Modeliteraten2, die es bis auf 15 Auflagen brachten und auf deren leichtfertig frivoles Geplauder dieselbe Mitwelt begierig lauschte, die den Anrufen des Meisters gegenüber sich gleichmäßig taub und stumm bewies. Das eine vermochte jene ›Kritik‹ dem lesenden Publikum nicht beizubringen, was sie selbst nicht besaß: einen Begriff und eine Vorstellung davon, was denn eigentlich die besondere Grundlage und der wirkliche Zweck jener merkwürdigen Aufführungen in der kleinen bayerischen Stadt gewesen sei. Man diskutierte hin und wieder, ob der nächste Sommer eine Wiederholung derselben bringen würde oder nicht, ohne das entfernteste Bewußtsein dessen, was es mit dieser etwaigen Wiederholung für eine Bewandtnis habe und daß erst in einer regelmäßigen Wiederkehr des vereinzelten Kunstereignisses die ihm zugrundeliegende Idee zum vollen Ausdruck gelangte! Und so war es denn nicht mehr als ein vereinzelt auftauchender Lichtblick, wenn z.B. der Berichterstatter der Kölnischen Zeitung, der noch zur Zeit der Grundsteinlegung jene traurige Broschüre über das ›Gründertum in der Musik‹ vom Stapel gelassen3, mitten in allem mattherzigen eigenen Hin- und Hergerede [310] fast wider seinen Willen in die Worte ausbrach: ›Wer solche Bahnen zu brechen vermag, ist ein Genie, ein Prophet, und in Deutschland ein Märtyrer dazu!‹

Am 14. September, mittags ein Uhr, begab er sich in Begleitung seiner ganzen Familie und seines treuen Barbiers und Faktotums Schnappauf4, als dienstbaren Reisebegleiters, zu einem dreimonatlichen Aufenthalt in den Süden; der ›amerikanische Marsch‹ mußte ihm die Mittel dazu gewähren. Abends acht Uhr in München eingetroffen, nahm er für die eine daselbst zu verbringende Nacht im Hotel zu den ›Vier Jahreszeiten‹ Quartier. Anderen Morgens wurde die Reise fortgesetzt: über den Brenner weiter hinab nach Süden. Um 11 Uhr abends Ankunft in Verona, wo eine Hotelkonfusion weniger Ärger als Lachen und Heiterkeit erregte: ging es nun doch endlich der ersehnten Ausspannung und Zerstreuung entgegen. Um ein Uhr zu Bett, frühmorgens dann in bester Laune Besichtigung der Stadt, der Piazza dei Signori, der Piazza d'Erbe, der Arena, dann ein Frühstück à l'Italiana am Ufer der Etsch. Das war am Tage nach der Ankunft, am Sonnabend, den 16. September; leider machten sich schon am darauffolgenden Sonntag die Nachwirkungen der vorausgegangenen übermäßigen Anstrengungen empfindlich geltend. ›Ich brachte‹, meldet er an Feustel, ›den ganzen gestrigen Tag im Bette zu und hatte nachts noch einen starken Fieberanfall, so daß ich mich heute‹ (18. Sept.) ›erholen muß, um morgen nach Venedig zu gehen.‹5 Dieser ›Erholung‹ diente unter anderem eine in ganzer Familie nachmittags unternommene Spazierfahrt nach der Collina Massima, von der erst nach Sonnenuntergang die Heimkehr erfolgte. ›Fidi hat heute dem Kutscher, weil er immer die Pferde hieb, die Peitsche weggenommen‹ heißt es in den eben erwähnten, abends nach der Rückkehr geschriebenen Zeilen an Feustel, die außerdem noch so viele liebenswürdige Züge enthalten, sogar die Erwähnung eines, vermutlich durch den Adressaten empfohlenen, Zeitungsromanes im ›Bayreuther Tagblatt‹, um dessen Fortsetzung bis zum Schluß er darin bittet. ›Der gute Vetter Groß bekümmert sich wohl dann und wann um meine Herren Hunde?‹ Von diesen letzteren hatten die Kinder bei der Abreise mit Tränen Abschied genommen. ›Jetzt muß ich nur eine gründliche Ruhe unter den Zerstreuungen haben, welche nur eine andere Umgebung bietet. Bald gedenke ich mich wieder mit den Angelegenheiten des nächsten Sommers zu beschäftigen; jeden Augenblick aber bin ich bereit, das Nötige zu besorgen, um an den Ihnen hinterlassenen Besorgungen nach Pflicht und Kraft mich zu beteiligen.‹

Um 11 Uhr früh wurde dann am Dienstag die Weiterreise nach Venedig [311] angetreten, wo er um 1/24 Uhr nachmittags zu achttägigem Verweilen eintraf und in dem, Feustel im voraus als Adresse angekündigtenHôtel de l'Europe abstieg. Gleich am ersten Abend gab es eine jener in der Lagunenstadt so gebräuchlichen Serenaden durch volkstümliche Sänger, Arbeiter am Arsenal: heitere und ernste, religiöse Gesänge, auf den Wunsch von Frau Wagner auch jene uralt venezianische Tasso-Melodie, die Eanzone del Tasso, die einst in der ›Tristan‹-Zeit der Meister hier nachts mit solcher Ergriffenheit vernommen6 und auf deren Klänge Liszt seine symphonische Dichtung aufbaute. Es erfreute ihn, im Verlauf dieser acht Tage den Seinigen, insbesondere den Kindern, die Reize der bella Venezia zum ersten Male zu zeigen, sie auf den Markusplatz zu führen, mit ihnen durch die Kanäle und auf den Lido zu fahren und den einst von ihm bewohnten Palazzo Giustiniani zu besuchen, in welchem der zweite Akt des ›Tristan‹, das Nachtgespräch der Liebenden, komponiert war. Selbst jenen, damals von ihm zu seiner Verwunderung entdeckten, ausgesprochenen Verehrer und frühesten italienischen Anhänger, den venezianischen Musiklehrer Luigi Tessarini7, traf er nach so langer Zwischenzeit wieder an. Weniger befriedigend gestalteten sich die Versuche, aus den dortigen Theatervorstellungen irgend eine gelegentliche Anregung davonzutragen. Auch blieben erneute Anfälle von Unwohlsein nicht aus; einige Regentage bekamen ihm nicht gut. ›Im übrigen‹, heißt es in einem an Hill gerichteten Schreiben vom 23. September, in Anknüpfung an die hinter ihm liegenden gemeinsamen Erlebnisse des Sommers, ›bin ich sehr der Ruhe bedürftig und möchte am liebsten nie mehr von Aufführungen usw. hören.‹ Trotzdem empfand er seine anordnende Tätigkeit in bezug auf das Bayreuther Unternehmen nur als zeitweilig suspendiert, und er hatte die für den nächsten Sommer in Aussicht gefaßten Wiederholungen der Festspiele noch keineswegs aufgegeben. Nur die unfügsamsten, anspruchsvollsten Elemente wünschte er, wenn irgend möglich, zur Vermeidung entbehrlicher Irritationen aus der künstlerischen Körperschaft auszuscheiden, um sich statt dessen mit einem ›ihm ganz vertrauten, innig zugehörigen Personale zu umgeben, mit welchem er jederzeit wahrhaftig umgehen könne‹. Auch war es Hill gewesen, der ihn – zum Ersatz Scarias – auf Siehr aufmerksam gemacht und durch diese Empfehlung sein volles Vertrauen für fernere Ratschläge gewonnen hatte. In diesem, streng vertraulichen, Sinne spricht er sich daher in diesem Briefe ganz so aufrichtig gegen ihn aus, wie er es sonst wohl nur in mündlicher Unterredung, um sich das Herz zu erleichtern, getan haben würde. ›Mit Betz ist es wohl – seinem Benehmen nach! – ganz aus. Ich traue selbst Niemann nicht mehr, namentlich wenn er erfährt, daß Unger, welchen ich jetzt wieder für ein Jahr studieren lasse, den Siegfried behält.‹ Wir haben diese [312] Äußerungen über zwei, künstlerisch sonst von ihm so hochgeschätzte Mitwirkende hier nicht unterdrückt, weil wir ein Mißverständnis derselben durch den Leser für ganz ausgeschlossen halten: auf das unumwundenste hat er späterhin in seinem ›Rückblick auf die Bühnenfestspiele‹ die hohe Bedeutung ihrer Leistungen anerkannt und gewürdigt. Es bekundet sich darin aber unwidersprechlich, wie sehr er doch unter so mancher Anmaßung von dieser Seite zu leiden gehabt, die er sich für die Zukunft gern erspart gesehen hätte!! Trotzdem fügte er sich im voraus geduldig in die erneute Aussicht auf ähnliche bevorstehende Belästigungen, als ihm Hill bald darauf in einem hübschen ergebenen Briefe seinerseits anempfahl, die Besetzung der einzelnen Partieen so viel als irgend möglich unverändert zu belassen.

Fast gleichzeitig erreichten ihn während eben dieses Venediger Aufenthaltes ein Brief des Königs und einer von Feustel. Der erstere erfreute ihn durch die darin ausgedrückte gleichmäßige Wärme und Begeisterung: er ersah daraus von neuem, daß sein erhabener Beschützer nicht bloß an den empfangenen Eindrücken festhielt, sondern daß er vor allem den Bayreuther Gedanken erfaßt hatte. ›Der König hat mir nach Venedig ganz herrlich geschrieben. Er ermahnt mich zur Ausdauer und Fortsetzung, welcher er alles übrige hintansetzen werde.‹8 Hingegen meldete der Brief Feustels als Ergebnis der ersten ungefähren, vorläufigen Aufstellung der gesamten Bilanz des Unternehmens eine Schuldenlast von ungefähr 120000 Mark! Die Sorge um ihre Tilgung verfolgte den Meister auf seiner ganzen, ›Erholungs‹-Reise. Wer sollte sie ihm abnehmen? War es doch so, als ob er, der Jahre lang seine physischen, moralischen und geistigen Kräfte dem großen Reformationswerke aufgeopfert und bei beständigen entschädigungslosen Reisen und Aufenthalten auch seine finanziellen Mittel nicht geschont, das alles bloß seiner ausschließlichen persönlichen Genugtuung, gleichsam zu seinem Vergnügen auf sich genommen hätte! Und doch war, nach seinem Gefühl, die Lage der Dinge vor und nach der erfolgten Tatsache der Bayreuther Aufführungen eine wesentlich verschiedene! Eben deshalb hatte ihm so viel daran liegen müssen, sie um jeden Preis überhaupt nur erst zustande zu bringen. ›Es war etwas anderes‹, schreibt er in diesem Sinne an Feustel, ›einem allgemein angezweifelten Unternehmen im voraus Vorschüsse zu verschaffen, als einem zum Erstaunen aller Welt durchgeführten eine energische Teilnahme zuzuwenden, wenn auch (sehr natürlich) diese nur bei einer geringen Anzahl wirklich Begeisterter und zugleich Vermögender vorausgesetzt werden darf.‹ Den hierfür zu verfassenden Aufruf an die Patrone im allgemeinen behielt er sich für die erste größere Rast auf seiner Reise vor, um ihn alsdann Feustel zuzusenden und dem Rapport des Verwaltungsrates anfügen zu lassen. Neben diesem Aufruf gedachte [313] er außerdem sich an einige der vorzüglichsten Patrone im besonderen mit der Bitte zu wenden, sich an die Spitze einer von ihm persönlich ausgehenden Subskription zu stellen.

In Bologna bereitete ihm – als ›Ehrenbürger‹ der Stadt9 – der dortige Syndikus bei seiner Ankunft einen feierlichen Empfang. Nach zweitägigem Verweilen daselbst bildete Neapel das nächste Reiseziel. Am Freitag, 29. September, traf er um 10 Uhr abends hier ein. Ein langes Ausruhen mußte ihn und die Seinigen von einer ununterbrochenen, mehr als zwanzigstündigen Fahrt erholen, woran sich dann anderen Tages ein kleiner Spaziergang, nachmittags Siesta und Lektüre, abends eine entzückende Kahnpartie auf dem Meere und eine Promenade auf der Chiaja anschloß. Bereits am 1. Oktober ging es dann über Castellamare nach Sorrent, um dort für einen sechswöchigen Aufenthalt eine passende Wohnung zu suchen. ›Leider half mir niemand zu einem guten Unterkommen, und mußten wir alles mit großen Beschwerden und Opfern erkaufen.‹10 Er fand ein hübsches Häuschen neben einem großen Gasthof (Hotel Vittoria) und kehrte einstweilen, nach einer genußreichen Fahrt voll prächtiger landschaftlicher Ausblicke, abends – für einige Übergangstage – wieder nach Neapel zurück. Was ihn hier in erster Reihe zu wohltuender Zerstreuung fesselte, war das Vergnügen an dem berauschend lebendigen, tollen Treiben auf Straßen und Plätzen: volkstümlich im üppigsten Sinne des Wortes. Spazierfahrten in die Umgebung, auf und über den Posilipo, nach Capo di Monte, auf der Via Vittore Emanuele, Besuche des Nationalmuseums und eines Volkstheaters, abendliche Spaziergänge auf der Chiaja bei wundervollstem klaren Mondschein füllten von früh bis spät diese wenigen Tage aus. Am 5. Oktober erfolgte die dauernde Übersiedelung nach Sorrent. Noch bei der Abfahrt unterhielt ihn der Anblick schwimmender Bettler, im Meere die Sous mit dem Munde auffangend: unter ihnen ein Junge, durch seine braune Farbe, seine Schönheit und Behendigkeit sich auszeichnend, ›wie direkt aus der Werkstatt der Natur‹. Auf dem Schiffe wiederum Volkssänger, Guitarristen und Fiedler, mit ihren schönen Naturstimmen, heiteren und klagenden Liedern; dazu das dunkelblaue Meer und die alles begrenzenden blauen Linien der Berge. Hier endlich fand sich dann die erwünschte gleichmäßige Ruhe. ›Es gefällt uns hier vorzüglich‹, schreibt er darüber an Feustel, ›nur war es Zeit, in ein Akkordverhältnis mit einem Hotel zu treten, da sonst aller Aufenthalt rasend kostspielig ist.‹ Als Lektüre diente ihm die französische Ausgabe von Sismondis Geschichte der italienischen Staaten, die ihn im höchsten Grade fesselte und, mit einigen Unterbrechungen, noch bis zum Beginn des neuen Jahres beschäftigte.11 Gelegentliche [314] Ausflüge von hier aus mit der ganzen Familie, ein Eselritt nach dem Deserto, Spaziergänge nach den romantischen Schluchten, eine Fahrt nach Capri, um 8 Uhr morgens unternommen mit abendlicher Heimkehr bei Sternenregen und Meeresleuchten, weiterhin eine Partie nach Pompeji fügten sich anmutig ein, und gewiß würde der Aufenthalt seinen Zweck nicht verfehlt haben, wenn ihn immitten einer lieblichen Natur, weit entfernt von der nordischen Heimat, nicht doch immer wieder die sorgenvollen Gedanken an den Stand seines Unternehmens umschwärmt hätten. ›Wir leben hier‹, heißt es in einem Schreiben, das Frau Wagner (12. Oktober) in Beantwortung eines Briefes von Hill an diesen richtete, ›wir leben hier mit den Kindern ganz wie zu Hause, sehr ruhig und regelmäßig, und können noch spät abends der Luft und des Landes uns erfreuen, – wenn nur das »Qualhall«, wie unser Meister es nennt, nicht wäre, d.h. die vielen, vielen Sorgen, um zum, »Walhall« zu gelangen!‹

Gegen die Mitte des Monats begann er eine Art von Brunnenkur mit Vichy-Wasser und täglichen Spaziergängen in der Morgenfrühe, die ihm an diesen herrlichen Ufern wohl zu bekommen schienen. Leider erwies sich das hübsche Häuschen, in dem er zunächst sich eingemietet, nach kaum zehn Tagen Aufenthalt als etwas feucht, und es war wenig erfreulich, anstatt des im übrigen angenehmen und behaglichen Heims, mit seiner Terrasse und seinem Olivenhain, in den dritten Stock des großen Hotels ziehen zu müssen. Die Frage, ob er die Aufführungen im nächsten Jahre wieder aufnehmen solle, beschäftigte ihn unausgesetzt. Keiner der deutschen Fürsten, welche doch nicht ermangelt hatten, die ausübenden Künstler mit ihren Ordensverleihungen auszuzeichnen, fand sich veranlaßt, ihn zu befragen, was für ihn zu tun, wie ihm bei seinem Werke beizustehen oder zu helfen sei. In diesem Sinne hatte er sich gleich in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Sorrent an Feustel ausgesprochen: ›Es bedürfte nur eines Anstoßes, um darüber aufzuklären, daß meine Bemühungen nicht nur durch Ordensverteilungen an die Mitwirkenden, sondern doch auch direkt mir durch Anerkennung zu lohnen seien, als welche ich natürlich nie etwas anderes verstehen können werde, als Teilnahme an der Deckung der Kosten, die doch unmöglich mir zur Last gelassen werden dürfen.‹ In bezug auf die unter den Patronen des Unternehmens besonders zu bevorzugenden Gönnern nennt er in diesem Schreiben (vom 6. Oktober) den schlesischen Grafen Magnis v. Ullersdorf, der sich ihm bereits zu fernerer Betätigung bereit erklärt habe und der dieses Versprechen in der Folge auch in der würdigsten Weise einlöste.12 ›Ich werde aber zuvor mit Herrn v. Radowitz auch [315] hierüber mich in das Vernehmen setzen, um womöglich sofort ein Komitee hierfür zustande zu bringen. Des weiteren gedenke ich den Rat meiner Freunde darüber einzuholen, ob ich für eine Entschädigung mich an den Kaiser wende. Hiermit wäre vielleicht auch der Weg betreten, um die von mir zu petitionierende fernere Unterstützung der Bayreuther Bühnenfestspiele als Reichsregierungsvorlage an den Reichstag zu bringen. Hierin klar zu werden, bedarf es nun einiger Zeit, welche glücklicherweise jetzt noch gar nicht verloren ist, da erst im November wohl alles beisammen und zu Geschäften aufgelegt ist.‹13

Nichtsdestoweniger tat er einstweilen auf dem Wege privater Anknüpfungen die ersten Schritte für die Erfüllung seiner Wünsche und Absichten, indem er sich (10. Oktober) an die Abfassung eines An- und Aufrufes an seine Patrone machte, weiterhin an den Grafen Schleinitz (13. Oktober) und an den soeben erwähnten Freund und Gönner Radowitz wandte (14. Oktober), um nach beiden Richtungen hin eine Schilderung der augenblicklichen Lage des Unternehmens zu geben. In einem ausführlichen, an den König gerichteten Schreiben, dessen Abfassung ihn mehrere Tage (18. bis 21. Oktober) in Anspruch nahm, machte er diesem den Vorschlag, durch einen geeigneten Vertreter im Bundesrat die Festspiele dem Reich zu empfehlen, oder seinerseits das Ganze zu übernehmen.14 Was von außen her an ihn herantrat, war nicht eben tröstlicher Art, vielmehr ausschließlich jene – an absurden Mißverständnissen und böswilligen Schmähungen reichen-Broschürenauslassungen der Herren Lindau, Schletterer und Konsorten, die ihm zum Überfluß noch durch die Buchhändler ins Haus gesandt wurden! Alles Anerkennende blieb hier in den Grenzen des Nichtssagenden, Unbedeutenden, der Rest unbegreiflich durch Einsichtslosigkeit und Perfidie, geeignet zur Aufwühlung aller im Publikum vorhandenen schlechten Triebe der Verhöhnung und Begeiferung des Geleisteten, unfähig, nur einen Schritt in das erschlossene Gebiet einer idealen deutschen Kunst mitzutun. Von Paris her kam die Kunde, der Trauermarsch aus der ›Götterdämmerung‹ habe in den Pasdeloupschen Konzerten einen sonderbaren Erfolg gehabt, an den sich im Publikum tobende Kämpfe zwischen [316] Zischern und Applaudierenden und nicht weniger als zwei Duelle (!) geschlossen hätten. Selbst jene Ordensauszeichnungen aber, mit denen die fürstlichen Herrschaften seinem Personal gegenüber so freigebig gewesen waren, hatten für ihn nur die unangenehmsten Rückwirkungen, indem die dabei zu kurz Gekommenen sich für übergangen hielten und sich beschwerdeführend an ihn wandten. Dies betraf sowohl einige Orchestermitglieder15, wie u.a. auch den Architekten Brückwald: dieser war ungerechter Weise leer ausgegangen, während Brandt von verschiedenen Seiten mit Auszeichnungen überhäuft war; weshalb ihn denn auch der Meister in einem Schreiben an Hofrat Düfflipp (31. Oktober) ausdrücklich und in voller Überzeugung zur entsprechenden Anerkennung empfahl. Von Frau Lucca kam die Einladung, der soeben vorbereiteten Aufführung des ›Rienzi‹ in Bologna persönlich beizuwohnen. Unmöglich konnte er sich neben allen ihn bedrückenden schweren Sorgen auch noch auf derartige Verlockungen einlassen. ›Ich verlange ganz und gar nicht nach Triumphen und Erfolgen, ich will nichts als Erholung und Ruhe. Zu diesem Zweck habe ich mich beeilt, nach Sorrent zu gelangen, um hier in größter Zurückgezogenheit zu verweilen, niemand sehend als meine Familie. Ich bewundere von Herzen Ihre unermüdliche Energie und wünsche Ihnen die größte Befriedigung derselben; meinerseits bedarf ich keiner weiteren Genugtuung als der, welche Sie mir in Bayreuth‹ (S. 298) ›in so reichem Maße erteilten, indem Sie mich damit zugleich ehrten und erfreuten.‹16

In den letzten Wochen dieses Sorrentiner Aufenthaltes erschien von Neapel her Malwida von Meysenbug, um für sich und – Nietzsche in seiner Nähe Quartier zu machen und in den zunächst liegenden Villen eine passende Wohnung zu suchen. Der Meister war gerade mit einem offenen Brief an Professor Monod beschäftigt, welchen dieser bald darauf in seiner Pariser Revue zum Abdruck brachte. Es handelte sich darin um seine angebliche Verachtung alles Französischen und die aus diesem künstlich genährten Mißverständnis seiner wahren Ansichten durch gewissenlose Schürer und Hetzer abgeleiteten Gegensätze zwischen ihm und dem französischen Publikum. ›Meine Bayreuther Bühnenfestspiele‹, heißt es in diesem Schriftstück, ›sind von Engländern und Franzosen richtiger und kenntnisvoller beurteilt worden, als von [317] dem allergrößten Teile der deutschen Presse. Ich glaube, diese Erscheinung dem verdanken zu müssen, daß eben gebildete Franzosen und Engländer durch eine eigene selbständige Kultur dazu ausgerüstet sind, gerade auch das Eigene und Selbständige an einem ihnen bisher fremden Kulturprodukt zu erkennen. Sie, hochgeehrter Freund, liefern mir für diese Annahme die zutreffendste Bestätigung. Sie suchten und erwarteten das andere, der französischen Kultur bisher Abliegende, Originale, Selbständige, welches Sie mit dem von Ihnen Besessenen vergleichen und mit dessen Anregung Sie sich bereichern könnten. Wie lohnend dünkt mich nun mein Erfolg! Was hätte ich Ihnen dagegen bieten können, wenn ich mich damals in Paris den Forderungen des französischen Operngeschmackes akkommodiert und mir dadurch eine Stellung und vielleicht Erfolge bereitet hätte, wie mancher Deutsche vor mir sie schon gewann?‹ – – Kaum fünf Minuten vom Hotel Vittoria entfernt fand sich die Villa Rubinacci als geeigneter Aufenthalt für die ›Idealistin‹ und ihre Begleiter, deren Wohlergehen sie nach ihrer selbstlosen Gewohnheit in unermüdeter Sorge, gütig und liebevoll wie eine Mutter, ihre Zeit und Kräfte widmete. Es waren dies außer Nietzsche ein 20 jähriger Schüler desselben, der ihm von Basel aus gefolgt war, und ein neugewonnener Freund, ein gewisser Dr. phil. Paul Rée, dem Meister durch sein kaltes pointiertes Wesen äußerst wenig sympathisch. ›Zwischen beiden Villen herrschte ein liebenswürdiger heiterer Verkehr; man tat so, als ob alles beim alten wäre. Wagner und er‹, behauptet Nietzsche selbst, ›hätten sich gebärdet, als ob sie sehr glücklich wären zusammenzusein, im Grunde aber habe man sich – nichts zu sagen gehabt.‹ Dem Meister und den Seinigen fiel hauptsächlich das eine auf, daß der junge Freund, bereits in Bayreuth stumm, in sich gekehrt und zurückhaltend, vollends sehr angegriffen schien und ziemlich ausschließlich mit seiner Gesundheit beschäftigt sich zeigte. Übrigens kam es – trotz der nahen Nachbarschaft – kaum zu mehr als einem zwei- oder dreimaligen Zusammensein. Das Wetter wurde in den ersten Novembertagen täglich rauher und unfreundlicher; der Nordwind blies unter grauem Himmel kalt über die weite Wasserfläche, das schwarzblaue Meer trieb seine schaumgekrönten Wellen; am 6. Nov. wurde der Beschluß gefaßt, den so liebgewonnenen Aufenthalt, anstatt, wie ursprünglich beabsichtigt, in etwa vierzehn Tagen, schon am folgenden Vormittag abzubrechen.

Ein freundliches Lebenszeichen aus Deutschland in diesen letzten Sorrentiner Tagen war ein Brief Heckels aus Mannheim, worin ihm dieser meldete, er habe sich dem Verwaltungsrat gegen die Erlassung eines Zirkulars wegen Deckung des Defizits ausgesprochen. ›Die Mittel aufzubringen, ist unsere Sache, und ich bin der Meinung, daß dies durch Briefe und persönliche Besuche bei den wirklichen Freunden geschehen soll.‹17 Des weiteren sei ihm [318] der Gedanke gekommen, ob es nicht vielleicht zu ermöglichen wäre, daß im Jahre 1877, statt der bisherigen drei, vier Aufführungen des ›Ringes‹ stattfänden, um die Einnahme der ersten Aufführung zur Deckung des Defizits zu verwenden. Mit Recht konnte ihm darauf der Meister (3. Nov) dankend erwidern, daß er wirklich der erste sei, von dem ihm in dieser Angelegenheit einmal ein sympathisches Lebenszeichen zukomme. ›Herr Feustel hat sich bisher durch nichts anderes vernehmen lassen als durch Schreckberichte über das anwachsende Defizit, gegen welches man nun einzig von mir Rettung anspricht. Gut! Ich habe mein Zirkular aufgesetzt und zugeschickt; ich habe in Berlin, und beim König v(on) B(ayern) angefragt – ohne noch Antwort zu erhalten. Ihr Gedanke einer vierten Aufführung für das Defizit ist, unter solch elenden Umständen, gewiß der anständigste; nur wird man mit der Bezahlung gewisser Rechnungen nicht so lange warten können. Da ich nun überhaupt nichts wie Elendes seit der Beendigung meiner Festspiele erfahren, und es bei mir so steht, daß mir eigentlich sehr große Lust zur Wiederholung und Fortsetzung gemacht werden müßte, wenn ich meinen grenzenlosen Widerwillen gegen jedes Befassen damit überwinden sollte, – so warte ich nur eigentlich noch auf eine recht niederträchtige Erfahrung, die mich entscheidet, alles abzubrechen, und im buchstäblichsten Sinne. Ich werde dann vollständig verstummen und lautlos alles, was da ist, den Gläubigern der Unternehmung übergeben, ganz wie bei einem legalen Bankerott. – Wirklich der einzige – aber der allereinzigste sind Sie, der mir eine edle Sorge um mich und die Sache zeigt!‹18 Bei späterer Veröffentlichung dieses Briefes hielt es der Empfänger desselben für angezeigt, mit Bezug auf die vorstehenden Äußerungen bei den Lesern seiner Schrift einer ›Verkennung Feustels‹ vorzubeugen. Wenn nach den Festspielen, fügt er in diesem Sinne hinzu, Feustel weniger die Empfindungen berücksichtigte, die den Meister nach einem solchen Ereignis und seiner Aufnahme durch die zeitgenössische Öffentlichkeit erfüllen mußten, sondern die geschäftliche Erledigung in den Vordergrund stellte: so sei er hierzu durch den Ernst der Lage gedrängt worden, welche ein energisches Vorgehen der Gläubiger erwarten ließ. ›Er (Feustel) teilte mir‹, fährt er fort, ›seine Befürchtungen brieflich mit und meinte, meine Auffassung der Sache könne bei Wagner nur falsche Hoffnungen wecken; denn auf Nachzahlungen der Patrone sei doch kaum zu rechnen. Es bleibe daher Pflicht der wahren Freunde Wagners (!), ihm den Ernst der Lage vollständig zum Bewußtsein zu bringen, wenn nicht die schlimmsten Folgen eintreten sollten.‹ Von einer Verkennung seines selbstlos treuen Finanzverwalters konnte von Wagners Seite ebensowenig die Rede[319] sein, als von einer Täuschung über den ›Ernst der Lage‹. Bloß auf die vorhandenen Faktoren in jener Öffentlichkeit kam es an, die zur Linderung derselben beitragen konnten, damit dem Künstler das zu leisten übrig bliebe, was seine Sache war, und seinen Gönnern, Freunden und Patronen das ihrige. ›Ich bin fest überzeugt, daß die Menschen vorhanden sind, welche gern die uns nötige Summe zusammenbringen wollen und können; jedoch kenne ich denjenigen nicht, der mit dem gehörigen Zeuge hierzu sich an die Spitze des Vorganges stellen sollte Vielleicht könnte dies durch die Vorstände der älteren Wagner-Vereine geschehen, denen es jetzt leichter fallen dürfte, ihre Stimme zu erheben, als vordem, da die Sache noch selbst gänzlich angezweifelt wurde.‹19 Das einzig Richtige war demnach in der Tat der ursprüngliche Heckelsche Gedanke: durch brieflichen und persönlichen Verkehr werktätig für ihn einzutreten, alles Andere ein Mißbrauch seiner Kräfte, ein Hindrängen zum Unmöglichen. Die Erfahrung sollte dies bestätigen. ›Mit meinem Befinden‹, heißt es daher am Schluß jenes an Heckel gerichteten Schreibens, ›steht es unter solchen Umständen nicht zum besten: mein innerer Kummer und meine Unruhe der Ungewißheit sind zu groß. Dagegen freue ich mich über das gute Gedeihen meiner Frau und Kinder in der schönen Umgebung.‹

Mit den Reizen dieser ›schönen Umgebung‹ war es – nach dem Vorstehenden – nun aber ebenfalls zu Ende. Es galt dem Abschied von den Ufern, an denen man im Lauf der letzten vier Wochen trotz aller lastenden Sorgen schon ganz heimisch geworden war. Ein letzter Abend, mit Malwida allein verbracht, schloß die Sorrentiner Episode ab; anderen Tages ging es wiederum nach Neapel und von hier aus (nach eintägigem Verweilen und einer Fahrt nach St. Elmo, mit köstlichsten Eindrücken vom dortigen Volksleben) mit ganzer Familie nach Rom. Abends um 10 Uhr hier eingetroffen, verbrachte er eine Nacht in dem ihm empfohlenen Hotel Costanzi; da es ihm aber zu teuer war, verließ er es schon am folgenden Morgen, um in das – nach kurzem Suchen – schnell gefundene Hotel d'Amerique (Via Babuino 79) überzusiedeln, welches von nun an die unterzeichnete Adresse seiner römischen Briefe bildet. Spaziergänge und Ausfahrten auf den Monte Pincio, nach dem Kapitol und Palatin, Besichtigung des Forums bei herrlichstem Wetter mit den Kindern, der Villa Borghese u.s.w. füllten mit ihren berauschenden Eindrücken die ersten Tage aus; am 10. November wurde nach einem wenig erfreuenden Besuch der Peterskirche, an Luthers Geburtstag, des geistesverwandten Reformators gedacht und ihm bei Tische ein Hoch ausgebracht. Auch gab es manchen geselligen Verkehr mit der von Venedig aus befreundeten Gräfin Voß, Prof. Helbig u.a., ein Frühstück beim deutschen Botschafter Herrn v. Keudell und die Bekanntschaft mit einem jungen, den Meister durch [320] seine Begabung lebhaft interessierenden italienischen Musiker (und Lisztschüler) Giovanni Sgambati. Der überwältigende Eindruck der sixtinischen Kapelle mit den Michelangeloschen Fresken, die Sibyllen von Rafael und die Farnesina, Ausflüge nach dem Palazzo Farnese, der Villa Ludovisi, den Thermen des Caracalla würden in ihrem reichen Wechsel wohl eine bessere Stimmung haben aufkommen lassen, wären nur die Nachrichten aus Deutschland ein wenig mehr hoffnungerweckend gewesen! Aber nichts weiteres drang von hier aus zu ihm, als etwa der Hohn der deutschen Presse. ›Diese Menschen‹, sagte er einmal anläßlich einer solchen Erfahrung, ›wissen, daß sie recht haben, daß wir keine Kunst haben, noch haben können, daß ich ein Tor bin.‹ In dieser Stimmung erfüllte ihn die Betrachtung der reichsten Kunstschätze Roms doch nur mit vollendeter Bitterkeit.

Vergegenwärtigen wir uns beispielsweise den Verlauf eines solchen römischen Tages. In der Frühe des 21. Novembers begab er sich abermals in den Vatikan. Beim Eintritt in die Sixtina sprach er die bedeutsamen Worte: ›Das ist wie in meinem Theater; hier merkt man, daß nicht gescherzt wird.‹ Am Nachmittag besuchte er die Villa Albani, die ihm von allen bisher gesehenen Palästen weitaus am besten gefiel. Heimgekehrt, hatte er zu erfahren, der Postbote habe den seit bald vier Wochen erwarteten Brief eines einflußreichen Berliner Freundes seiner Bedienung nicht einhändigen wollen. Der augenblicklich zur Post gesandte Diener richtete nichts aus, da er die erforderliche Paßkarte nicht mitgenommen; nun machte er sich selbst auf den Weg mit Papieren, die ihn – nach der Ansicht der römischen Post – immer noch nicht in erwünschter Weise legitimierten, und zerbrach dabei in Eile und Ärger den Wagenschlag. Endlich – eine Minute vor Postschluß – erhielt er den Brief, um daraus zu erfahren, daß man in Berlin – nichts für ihn tun könne! Eine ganze Verkettung charakteristischer Momente liegt für uns in dieser Folge von Begebenheiten eines einzigen Tages: von der äußersten Idealität einer hohen Kunst, als seinem eigentlichen Lebenselement, bis zu dem Grade einer schroffen Realität, wo diese schon selbst wieder in das Phantastische umschlägt. In etwas anderen Beziehungen, aber in genau gleicher Weise hatte sich ganz dieselbe Folge von Vorfällen schon tausendmal in seinem Leben ebenso zugetragen wie heute, von den Zeiten seines frühesten Pariser Dranges durch fast alle Perioden seines drangsalvollen und enttäuschungsreichen Künstlerlebens, – mit dem einzigsten Unterschiede, daß er nicht mehr wie damals direkt vom Hunger bedroht war! Dazu war er in Deutschland 63 Jahre alt geworden! Es zeigt sich darin für den teilnehmenden Betrachter klar und unwiderleglich nicht allein die Identität der Persönlichkeit durch alle ihre Lebensstufen, sondern auch die in diesem unveränderten Charakter bedingte völlige Identität ihrer Erlebnisse, ihrer Hoffnungen und Enttäuschungen, ihres gesamten Verhältnisses zu ihren Zeitgenossen. Um seine Verstimmung zu vollenden,[321] mahnte ein gleichzeitig eingetroffener Brief Feustels, es sei Zeit zur Heimkehr. In seiner zwei Tage später geschriebenen Antwort darauf (vom 23. November) gibt er eine ausführliche Darlegung der Verhältnisse. Es wolle ihm scheinen, daß – ohne sein Verschulden – in der Sache viel verspätet worden sei. Dagegen erkläre er sich seinerseits immer noch zur tätigen Unterstützung jedes ihm vorgeschlagenen Schrittes bereit.

›Unter allen Umständen‹, heißt es in diesem zusammenfassenden historischen Dokument, ›dünkt es mich nun aber zu spät, um mit Sicherheit die Wiederholung der Festspiele im nächsten Sommer vorzubereiten, oder überhaupt noch daran zu denken. Ich konnte, um einmal zum Ziele zu gelangen und der Welt zu zeigen, um was es sich handele, in diese finanziellen Wirren und Trügnisse eintreten; allein darin fortgesetzt zu verharren, jeder Chance, z.B. infolge von Verleumdungen der Zeitungen, stets wieder preisgegeben zu bleiben, um immer wieder von neuem mich Beängstigungen hingegeben zu sehen, von denen ich, der ich nie einen finanziellen Zweck hiermit verbinde, gar nichts erfahren sollte, – dies muß ich fürderhin gänzlich von mir abweisen. Große Gebrechen der Ausführung meines Werkes sind einzig durch die finanzielle Unsicherheit und die hierauf sich gründenden Zweifel an dem rechtzeitigen Zustandekommen der ganzen Unternehmung seitens der mit der Ausführung Beauftragten zu erklären geblieben. Wir müßten jetzt bereits wieder über die Mittel zur Ausbesserung und Erneuerung verfügen können. Ich würde mich des weiteren nicht zu getrauen haben, gewisse schwierig gewordene Künstler meines Personals20 jetzt zu erneuerter Mitwirkung aufzufordern, ohne ihnen zugleich ein sehr bedeutendes Honorar dafür zuzusichern; dies aber könnte doch zum mindesten nur auf der Grundlage einer vorausgegangenen vollständigen Deckung des Defizits der diesjährigen Vorstellungen geschehen. Auch eine vierte (Extra-)Vorstellung hierfür, sobald sie im voraus meinen Sängern und Musikern auferlegt würde, möchte sie leicht zurückschrecken, da es wohl Gott versuchen hieße, selbst nur auf die Wiederholung der glücklichen Umstände zu rechnen, welche uns in so kurzer Zeit hintereinander die ungestörten drei Aufführungen ermöglichten. Ich sehe mich daher zu dem Schlusse gedrängt, abzuwarten, ob auf irgend welche Anregung hin die Gelder zur Deckung des Defizits rechtzeitig herbeigeschafft werden. Ist dies bis zum 1. Januar nicht geschehen, so fällt die nächstjährige Wiederholung der Bühnenfestspiele hinweg, und es wird dann weiter abzuwarten sein, ob von den richtigen Orten her der Sache nachgefragt und Hilfe herbeigeschafft wird. Ich übergehe es, bei dieser Gelegenheit auf meine Person näher hinzuweisen [322] und ausführlicher auf meinen Gesundheitszustand aufmerksam zu machen; muß Ihnen jedoch versichern, daß selbst in Italien und unter allen Eindrücken, welche hier zu gewinnen sind, ich mich mit einer unheilbar scheinenden Verstimmung meines ganzen Nervensystems hinschleppe, was nach allem Vorangegangenen wohl nicht zu verwundern ist, wenn man erwägt, daß ich nun seit vielen Jahren an der Ausführung einer sommerlichen Brunnenkur u. dgl. verhindert worden bin.‹21

In demselben Schreiben wird nun aber auch im ernstesten Sinne die denkbare Möglichkeit in das Auge gefaßt, daß die Festspiele überhaupt gar nicht wieder zur Ausführung gebracht würden. ›Dieser Fall träte nämlich dann ein, wenn das Defizit nicht rechtzeitig genug durch Beisteuern gedeckt würde, die Zahlungen aber nicht länger mehr hinausgeschoben werden könnten; für welchen Fall nichts anderes übrig zu bleiben scheint als daß das Unternehmen bankerott erklärt, und demnach das vorhandene Eigentum – nach Bericht hierüber an die Patrone – an die Gläubiger übergeben werden würde. Dem Könige von Bayern würde demnach zu überlassen sein, was ihm gehört; was sonst an Wert vorhanden ist, an die Meistbietenden ausgeliefert und mit dem Ertrage die übrigen Schulden bezahlt werden. Ich wenigstens sehe nicht ein, welchen anderen Ausgang es nehmen sollte, namentlich da ich für meine Person an dem Erfolge jeder meiner Bemühungen verzweifeln muß, und Konzerte u. dgl. zu geben jetzt wohl niemand, der meine überstandenen Anstrengungen kennt, mir mehr zumuten wird.‹ Über diesen Punkt hatte er sich jedoch trotz aller Ausführlichkeit seiner Darlegung noch in einem weiteren Schreiben (vom 29. November) gegen allerlei aufgekommene Mißverständnisse zu verwahren. ›Unter dem in das Auge gefaßten Bankerottverfahren hatte ich nichts anderes im Sinne als die Bezahlung der Schulden durch die Besitzobjekte. Die Schreiner und Tapezierer Bayreuths um ihr Geld zu bringen, ist mir hierbei nicht eingefallen, und wenn ich das Wort »Bankerott« hierbei gebrauchte, so war es, um damit aufrichtig meine Lage zu bezeichnen, der ich mich und meine künstlerische Unternehmung willig für bankerott zu erklären nicht anstehe. Dagegen würde ich von dieser Erklärung an meinen in Bayreuth gelegenen Besitz, sowie meine Einnahmen, über welche Sie ja die beste Auskunft geben können, ganz von selbst zur Tilgung der Schulden bestimmt wissen wollen, worüber ich Sie ersuche keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen.‹

Es erübrigt uns noch die Aufzählung einzelner römischen Begegnungen und seitens der dortigen Gesellschaft ihm erwiesenen Aufmerksamkeiten während dieses kaum vierwöchentlichen Aufenthaltes. Am Sonntag, 19. November wurde ihm zu Ehren in den Räumen des Palazzo Caffarelli durch den [323] deutschen Botschafter Herrn v. Keudell eine Soiree in größerer Gesellschaft veranstaltet, bei welcher der bereits erwähnte Sgambati (S. 321) ein Quintett eigener Komposition (für Pianoforte und Streichquartett) zum Vortrag brachte. Je wahrhafter diese Komposition den zuhörenden Meister interessierte, desto mehr mußte es ihm auffallen, wie verloren, unbeachtet und jeder Ermunterung bar der tüchtige Musiker mit dem Ernst seiner Intentionen und seines Könnens unter seinen Landsleuten dastand. In ihrer Unterhaltung war von der Neigung der italienischen Komponisten zumdolce far niente die Rede: diesem stellte nun Wagner im Hinblick auf den deutschen Musiker als charakteristische Eigenschaft dessen penibile dir niente, sein mühsames Nichtssagen, gegenüber. An einem ferneren musikalischen Abend bei Herrn v. Keudell (22. November) kam es zu weiteren Vorträgen zweier unedierter Sgambatischen Quintette (in F moll und A dur) und der Meister versprach ihm, dieselben in Deutschland publizieren zu lassen. Bereits anderen Tages schrieb er deshalb an Dr. Strecker als Vertreter der Schottschen Verlagshandlung. ›Schon durch Liszt auf diesen Komponisten und ausgezeichneten Klavierspieler im bedeutendsten Sinne aufmerksam gemacht, hatte ich jetzt die wahrhaft große Freude, einmal ein großes und originelles Talent kennen zu lernen, welches, da es in Rom nicht sehr am Platze ist, ich gern der größeren musikalischen Welt vorführen möchte. Er soll nach meinem Rate alsbald von Wien aus Deutschland bereisen und dort seine Kompositionen aufführen, wovon ich mir, nach den Langweiligkeiten der neuen deutschen Kammermusik (selbst von Brahms etc.), einen vortrefflichen Erfolg erwarte.‹22 Am 25. November empfing er die Deputation der Regia Academia di Santa Cecilia, die ihm das Diplom eines, ›socio illustre‹ dieser Gesellschaft überreichte. Abends wurde er von der deutschen Künstlerschaft Roms durch ein heiteres Fest im Hauptsaal des Palazzo Poli (hinter der Fontana Trevi) gefeiert. Auf die ihm gehaltene Ansprache erwiderte er in ergreifender Gegenrede. Daran schloß sich am 30. November ein festlicher Empfang im Kreise der italienischen Künstler, wobei sich u.a. ein Mandolinenorchester zu Gehör brachte und schöne Lieder Sgambatis zum Vortrag gelangten. Es erfreute ihn, diesem letzteren, den er mit besonderer Befriedigung unter seine Protektion genommen, die Bereitwilligkeit des Schottschen Hauses zum Verlag seiner Kompositionen bereits melden zu können, und da ihm an demselben Abend der begabte italienische Dichter Cossa vorgestellt wurde, dessen originelles dramatisches Produkt ›Nerone‹ er soeben in Venedig durch eine Theatervorstellung kennen gelernt, riet er den beiden, als Dichter und Musiker sich zu einer gemeinschaftlichen Arbeit zusammenzutun und empfahl ihnen dazu ein bestimmtes Sujet aus Sismondi. Trotz alledem fühlte er sich [324] in dieser ganzen Zeit doch immer nur auf Augenblicke erheitert. Er litt unter der Sciroccoluft, fühlte sich nicht wohl, und behauptete, ganz Rom käme ihm vor wie ein Karneval, in welchem alles unerwartet, unzusammenhängend und im Grunde unerfreulich auf ihn eindränge. Man wird dies nicht unbegreiflich finden, wenn man an der Hand der obigen Daten erwägt, daß mitten zwischen all diesen festlichen Empfängen der oben mitgeteilte (zweite) Brief an Feustel geschrieben wurde, in welchem er sich dazu erbötig erklärt: von allen Befreundeten im Stich gelassen, mit seinem eigenen Privatvermögen für die Deckung des Defizits einzustehen! In den ersten Novembertagen machte er auch die erstmalige Bekanntschaft des Grafen Gobineau, damals französischen Gesandten in Stockholm. Es war eine einmalige flüchtige Begegnung, aber sie bildete die Grundlage zu seiner späteren näheren Befreundung mit diesem originellen Denker.

Am Sonntag, den 3. Dezember, 11 Uhr vormittags ging es fort nach Florenz, wo er abends eintraf und zunächst im Hotel du Nord Wohnung nahm. Von hier aus begab er sich am 4 auf dringende Einladung nach Bologna zur Aufführung seines ›Rienzi‹. Durch den Syndikus der Stadt und das Direktorium feierlich empfangen, wohnte er abends mit seiner Familie der Aufführung im Teatro Communale bei, die einen festlichen und heiteren Verlauf nahm und jedenfalls die zuletzt von ihm erlebte Wiener Aufführung bei weitem übertraf. Tags darauf bereiteten ihm seine dortigen Freunde und Verehrer ein Bankett, wobei sich die freudig erregte Begeisterung in warmen Begrüßungsworten Luft machte. Er erwiderte, da er des Italienischen nicht hinreichend mächtig war, in französischer Sprache und knüpfte seine Ansprache an die beiden Wahlsprüche der Stadt: ›Bononia docet‹ und ›Libertas‹.23 In Begleitung eines großen Teiles der Tischgesellschaft begab er sich alsdann auf den Bahnhof zur Rückkehr nach Florenz. Leider erwies sich das dort von ihm bezogene Hotel als unmöglich, so daß er am folgenden Tage gezwungen war, ein anderes Unterkommen für sich und die Seinigen zu suchen. ›Soeben erst‹, meldet er (7. Dezember) an Feustel, ›habe ich mich in Florenz für meinen letzten Aufenthalt in Italien einrichten können, da ich es den werten Bolognesen nicht abschlagen konnte, der letzten Aufführung des »Rienzi« beizuwohnen; alles hat mich dort sehr erfreut, wenn auch außerordentlich angegriffen. Auch wohne ich heute in Hotel New-York, da das früher gewählte unpassend war.‹ Er dankt ihm in dem gleichen Briefe für seine geneigten neuesten Mitteilungen. Von dem inzwischen in Bayreuth zum Druck gegebenen Zirkular an die Patrone fügte er ein revidiertes Exemplar bei und empfahl es zu schleuniger Versendung. ›Ich muß diese Basis für ein weiteres Vorgehen haben. In München gedenke ich selbst noch zu weiterer Rücksprache zu verweilen; [325] melde Ihnen auch, daß ich, für den erdenklichen Fall der Wiederholung (der Festspiele) im nächsten Sommer nichts für deren Ermöglichung meinerseits verabsäumt habe.‹ Er hatte in erster Reihe (vom 30. November, noch aus Rom) an Niemann geschrieben. ›Wollen Sie mir zusagen und etwa auf sechs Wochen noch einmal zu mir kommen? Ich stelle dieselbe Frage an Betz. Schön wäre es, durch eine Wiederholung, welche jetzt viele Schäden abstellen würde, das Ganze noch einmal in möglichster Reinheit hinzustellen. Ich muß dies rein von Ihrem Willen, sowie etwa auch von Ihrer Macht über Betz, abhängen lassen.‹24

Kaum vierzehn Tage währte dieser ›letzte Aufenthalt in Italien‹, doch lebte er in der Erinnerung des Meisters noch lange fort, und wir haben ihn noch in späteren Jahren mit wärmerem Enthusiasmus von Florenz als von Rom sprechen hören, insbesondere von den wiederholt von ihm besuchten Uffizien. Sogar von einer gänzlichen Übersiedelung hierher konnte unter diesen Eindrücken zeitweilig die Rede sein; doch faßte er seine darauf bezüglichen Entschlüsse in den Satz zusammen: er fühle sich als Deutscher, in Deutschland sei seine Lebensaufgabe; dort erwerbe er sich, gut oder schlecht, seine Existenz, hier müßte er Rentier sein, wobei er sich sehr sonderbar vorkommen würde. Nichtsdestoweniger ist in einem vom 9. Dezember datierten Briefe an Heckel von seinen ›unausgesetzt schlaflosen Nächten‹ die Rede. Diese wurden einzig durch die nagenden Sorgen verursacht, welche ihm der äußerlich auferlegte Zwang, die Festspiele kommendes Jahr bloß um des Defizits willen zu wiederholen, verursachte: es war ihm durchaus unmöglich und seinem Innersten widerstrebend, eine Kunsttat, die ihren Quell und Ausgangspunkt nur dem eigenen freien Entschluß verdanken konnte, mit irgend einer finanziellen Kombination in Verbindung zu setzen. Es war nach einer solchen bis 4 Uhr morgens von ihm durchwachten Nacht, daß er, um sich einige Erleichterung zu verschaffen, jene Zeilen an Heckel richtete, dessen Erwiderung auf seinen Brief aus Sorrent, ganz im Sinne der Freunde vom Verwaltungsrat gehalten, ihn buchstäblich erschüttert hatte. ›Daß auch Sie es über das Herz bringen, mich und meine Lage keiner weiteren Beachtung zu würdigen und nur in der Weise meiner anderen Freunde von jener Sache zu mir zu sprechen, tut mir sehr leid. Kein Mensch weiß Rat zu schaffen; ja selbst meine Aufforderung an die Patrone soll nur, mit »Vorsicht«25 versandt werden, weil die Zeiten zu [326] schlecht seien; dennoch aber sollen die Aufführungen so schnell wie möglich wieder angekündigt werden. Was man sich alles nur von mir erwartet! – Dagegen melde ich Ihnen nun ganz bestimmt, daß ich den nächsten Sommer zur möglichen Wiederherstellung meiner Gesundheit einzig benutzen werde, – wozu ich, meiner aufreibend sich steigernden Unterleibsleiden wegen, eine sehr ausgedehnte Brunnenkur in Marienbad u.s.w. zu verwenden gedenke. Befinde ich mich wiederhergestellt, so wollen wir sehen, was sich im übernächsten Jahre zustande bringen läßt. Wird das Defizit währenddem nicht gedeckt, und zwar ohne jede weitere Bemühung meinerseits, so gedenke ich das ganze Theater einem Unternehmer zu übergeben, vielleicht selbst dem Münchener Hoftheater, mich selbst aber nie weiter darum zu bekümmern. – Hier, lieber Freund, hören meine Kräfte auf. Mein bisher durchgeführtes Unternehmen war eine Frage an das Publikum: »Wollt ihr?« Nun nehme ich an, daß man nicht will, und bin demnach zu Ende. Ich bitte Sie, nach diesen Erklärungen von jetzt an die Sache einzig aufzufassen.‹26

Ausfahrten nach San Miniato, nach Fiesole und Pisa, immer in Begleitung der Familie, taten das ihrige, seinen Gedanken eine wohltätig ablenkende Richtung zu geben. Vor allem war es ihm eigen, sich nicht allein an den Objekten selbst, sondern an der Freude der Seinigen darüber zu erfreuen, insonderheit Siegfrieds, auf dessen früh entwickelte Anschauung die Wunderwerke italienischer Bau- und Bildnerkunst mit ihren großen Raumverhältnissen und reichen Details schon damals einen sichtlichen Eindruck machten. Auch an dessen großer Selbständigkeit und Sicherheit hatte er ein dauerndes Wohlgefallen und erzählte noch späterhin Standhartner einmal davon, wie er mit ›Fidi‹ in Florenz zu einem ›dortigen Angermann‹ gegangen, und wie ihn dieser, obwohl er ein ganzes Seidel tapfer ausgetrunken, ohne Zagen und Schwanken durch ein Labyrinth verwundenster Straßen nach Hause geführt habe Beim Besuche der Uffizien und der Galerie Pitti ließ er sich gern und wiederholt von dem originellen alten Baron Liphardt27 begleiten, der sich damals als Kunstkenner und -Liebhaber in Florenz aufhielt und ihn durch seine Kritik der Aufstellung und Benennung der Kunstschätze sehr ergötzte. Anregenden Verkehr und wechselseitige Abendbesuche gab es mit Frau Jessie Laussot und dem ihr nahebefreundeten Professor Karl Hillebrandt; auch mit der sehr angenehmen Marchesa Tanari und dem Syndikus Tacconi. Noch am Tage vor seiner Abreise gab er den dortigen Freunden, Baron Liphardt, Prof. Hillebrand und dem Syndikus ein letztes Frühstück, wobei es sehr hübsch und lebhaft herging und woran sich nachmittags ein Quartett des jungen Buonamici, eines Schülers von Bülow28 anschloß, gut komponiert und sehr gut gespielt. Dann schlug die Stunde des Abschiedes von Florenz und von Italien überhaupt. [327] Für das Erholungsbedürfnis viel zu früh; doch – ›der Amerikanermarsch war draufgegangen‹. Über Bologna ging es ohne weiteren Aufenthalt in einem Zuge zurück; am 18. Dezember abends traf er in München ein. Hier erfuhr er durch Hofrat Düfflipp, der König sei nicht abgeneigt, die Angelegenheit der Festspiele vor dem Reichstag vertreten zu lassen und er, Düfflipp, werde demnächst nach Bayreuth kommen, um mit Feustel geschäftlich über diese Dinge zu verhandeln. Am 20. Dezember abends – Ankunft in der winterlichen fränkischen Heimat, die er vor einem Vierteljahr verlassen, Empfang mit Fackeln und festlicher Begrüßung, Bewillkommnung durch die Freunde vom Verwaltungsrat und Einzug in die traute Umgebung seines lange vereinsamten Hauses.

Nach allen überstandenen Reiseunruhen begannen nun stille, friedliche Weihnachtstage. Er setzte zunächst – zum Schutz und zur Ablenkung gegen alle quälenden Ansprüche – die auf der ganzen italienischen Reise gepflegte Lektüre Sismondis mit Befriedigung fort, dessen Theorie über Zivilisationen ihm zusagte und die er in seinen Gedanken ausarbeitend erweiterte. Von Niemann war noch keine Antwort eingetroffen, wohingegen Betz nunmehr in einem ausführlichen Schreiben die Erklärung abgab: er könne und wolle die Partie des Wotan nicht mehr übernehmen; er sei seiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Am Tage vor Sylvester erschien, unangemeldet und überraschend, plötzlich Hans Richter: er habe es, so sagte er, in Wien nicht mehr aushalten können und drei aufeinanderfolgende freie Abende dazu benutzt, um einen Tag in Wahnfried zu verbringen. Wirklich reiste er schon um die Mittagszeit des 31 wieder ab. Welches die Wünsche des Meisters in bezug auf die Fortführung seines Lebenswerkes waren, das teilte er privatim in einem Briefe vom 2. Januar dem treuen Wiener Freunde Dr. Standhartner mit. ›Aus einem tiefen und schweren Mißmute mache ich mich eben wieder zu einigem versuchsweisen Experimentieren auf. Dieser Tage erlasse ich (zunächst an die bestehenden Wagner-Vereine) einen Aufruf zur Bildung eines ständigen – allgemeinen – Patronatvereines zur Pflege und Erhaltung der Bühnenfestspiele: nur Mitglieder dieses Vereines (nicht das eigentliche Publikum und Journalistengesindel) haben das Recht des Zutrittes. Von hier aus an den Reichstag u.s.w. Ich bin sehr angegriffen und will durchaus diesen Sommer für – oder gegen meine Unterleibsleiden verwenden. Nur auf einer bedeutenden und soliden Basis, mit Anlage zu einer Schule für die Darsteller u.s.w. gedenke ich das Unternehmen weiter zu führen.‹

Was hier vertraulich für den alles verstehenden Freund in wenigen Sätzen angedeutet ist, führt das darin erwähnte Schriftstück: ›An die geehrten Vorstände der Richard Wagner-Vereine‹ in großen Zügen eingehender aus. ›Wenn ich‹, so heißt es in dieser offiziellen Bekanntmachung, ›am Schluß der vorjährigen Aufführungen meiner Bühnenfestspiele in Bayreuth durch die [328] Wahrnehmung des befriedigenden Eindruckes derselben auf die große Mehrheit ihres Publikums die förderlichste Anregung zur Wiederholung und Fortsetzung des Beginnens gewinnen konnte, so durfte es mir andererseits doch auch nicht entgehen, daß ich, um den ursprünglichen Charakter der Unternehmung rein zu erhalten, mich von neuem um den Wiedergewinn der ersten Grundlage derselben zu bemühen hatte‹, nämlich: nur dem Wollenden und Fördernden das in diesen Ausführungen Gegebene darzubieten. ›Noch sind wir erst in der Ausbildung des neuen Stiles begriffen; wir haben nach jeder Seite hin Mängel zu beseitigen und Unvollkommenheiten, wie sie einer so jungen und dabei so komplizierten Unternehmung notwendig anhaften mußten, auszugleichen. Diese, wie ich hoffe, für die deutsche theatralische Kunst bedeutungsvollen Übungen dürfen nicht vor solchen angestellt werden, welche ihnen mit feindseliger Unverständigkeit zusehen; sondern wir müssen wissen, daß wir mit Gleicheswollenden und Gleichesfördernden uns in Gemeinsamkeit befinden, um so in richtiger Wechselbeziehung die einzig wirksame Hochschule für dramatisch-musikalische Darstellung zu bilden, welche man andererseits in verschiedener Weise, aber immer erfolglos, zu gründen versucht hat. Meine hierauf bezügliche Tendenz haben diejenigen Männer von Anfang an richtig verstanden, welche infolge meiner ersten Aufforderung sofort zur Bildung von Vereinen zur Förderung derselben schritten. Konnten diese Vereine, da sie nicht eben den vermögendsten Teil des Publikums in sich schlossen, die materielle Unterstützung des Unternehmens nicht bis zur Erreichung des letzten Zieles steigern, so bildeten sie hiergegen, vermöge ihrer deutlich ausgesprochenen Tendenz, die moralische Grundlage der Unternehmung. An diese bisher wirksamen Vereine wende ich mich daher jetzt mit dem Wunsche, durch sie an die weiteren Freunde meiner Kunst die Aufforderung zur Bildung eines Patronatvereins zur Pflege und Erhaltung der Bühnenfestspiele in Bayreuth erlassen zu sehen.‹ Einem näher zu verabredenden Plane gemäß würde dieser Verein zu jeder der drei alljährlichen Aufführungen tausend Zuschauerplätze für je hundert Mark zu besetzen haben, und ein jeder solcher Platz nur einem, den Statuten desselben gemäß aufgenommenen Mitgliede des Vereins überlassen werden. Da des weiteren aber von je es in seiner Absicht gelegen hätte, eine größere Anzahl von Freiplätzen an Unbemittelte, namentlich Jüngere, Strebsame und Bildungslustige zugewiesen zu sehen, so dürfte seines Erachtens an diesem Punkte sehr schicklich und würdig der Weg zu einer Verbindung mit den obersten Reichsbehörden selbst aufzufinden sein. Durch eine erfolgreiche Dotation von seiten des Reiches würde auch die Idee einer Naturalisierung der ganzen Unternehmung zum großen Ruhme derselben verwirklicht und somit zum ersten Male einem theatralischen Institut der Stempel einer nationalen Bedeutung auch in bezug auf seine Verwaltung aufgedrückt sein.

[329] Der Aufschrift nach an die Vorstände der bisher bestehenden einzelnen alten Wagner-Vereine gerichtet, empfahl das Schriftstück bestimmt und deutlich als nächsten, alsbald zu tuenden Schritt auf der neuen Bahn: eine Zusammenkunft von Vertretern der Einzelvereine behufs Organisation des neuen Gesamtvereins. Vom Neujahrstage 1877 datiert, gelangte es doch aber nicht zu sofortiger Versendung. Mit seiner Idee einer Schulgründung, um sich die ihm fehlenden Sänger erst zu erziehen, wären die Freunde vom Verwaltungsrat schon zufrieden gewesen; nur baten sie dringend um die Erlaubnis, an die Vorarbeiten zur Ankündigung der Festspiele gehen zu dürfen. Gerade diese ihnen zu erteilen widerstrebte dem Meister: nur keine Festspiele um des Defizits willen, auf der nur durch die äußerste Not ihm geboten gewesenen unzulänglichen Grundlage der bloßen Neugiersbeteiligung! Man dränge ihn, so klagte er, jetzt zu den Festspielen, wie Napoleon III. seinerzeit zu dem Kriege gedrängt worden sei. Zu hoch stand ihm sein großes Reformationswerk, um durch irgend welche Nötigung von außen her beeinflußt zu werden. Erst mochten diejenigen, denen es zukomme, auf die Tilgung des Defizits und die Schaffung einer neuen Grundlage dafür bedacht sein. Mit Bitterkeit hatte er es zu empfinden, daß auf seinen ersten, noch im Dezember versandten Aufruf an seine Patrone nicht eine einzige tatbereite Erwiderung eingelaufen war. Auch Hofrat Düfflipp, der auf seiner letzten Durchreise durch München ihm so bestimmt seinen baldigen Besuch in Bayreuth angekündigt, zögerte von Woche zu Woche mit der Ausführung desselben, während die Kreditoren des Unternehmens, eben jene Leute, die es mit ihren Leistungen und Lieferungen im vorigen Sommer so wenig eilig gehabt, es nun ihrerseits an ungestümem Fordern und Drängen nicht fehlen ließen. Unter den traurigen Erfahrungen des Jahresbeginns nach den Festspielen darf auch ein, dem Meister sehr nahegehender Todesfall nicht unerwähnt bleiben, dem ein zweiter, nicht minder betrübender wenige Wochen später auf dem Fuße folgte. Am 5. Januar starb in Leipzig Professor Hermann Brockhaus, unter seinen Schwägern derjenige, der ihm zeitlebens am nächsten gestanden; am 31. der so nahebefreundete ehrwürdige Kirchenrat Dittmar. Von seinen Berliner Sängern, denen er noch im Dezember geschrieben, antwortete zuerst Niemann durch eine telegraphische Depesche, in welcher er wegen seines langen Schweigens um Verzeihung bat und sich, wenn es sein müsse, für den Sommer zur Verfügung stellte. Dagegen beharrte Betz dabei, seine von ihm selbst als unzulänglich empfundene Mitwirkung als Wotan fortgesetzt zu versagen. ›Er kommt mir zu Hilfe‹, sagte der Meister nach Durchlesung seines Briefes; denn einen neuen, würdigeren Vertreter der Hauptrolle seines Werkes zu schaffen, wäre in den wenigen Monaten bis zur Wiederaufnahme der Proben doch nicht gut möglich gewesen Nichtsdestoweniger wandte er sich (12. Januar) noch einmal im herzlichsten Tone eines edlen Vertrauens bittend und überredend [330] an ihn. ›Ich werde aufs äußerste gedrängt, mich über die diesjährige Wiederholung der Bühnenfestspiele zu erklären; meinen Entschluß konnte ich zuletzt nur noch von der Möglichkeit Ihres Wiedergewinnes abhängen lassen. Wie soll ich nun zu diesem Wiedergewinn gelangen? So will ich es denn, mein lieber Freund, von Ihrer Beugsamkeit abhängen lassen, ob wir unser Werk fortsetzen. Denn ohne Sie muß ich dies für unmöglich erklären.‹29

In der zweiten Hälfte des Monats Januar erschien denn auch endlich der langerwartete Kabinettsekretär Düfflipp. Seine Ankunft war telegraphisch angekündigt: er kam abends spät in Bayreuth an, schien sehr freundlich gesinnt und erinnerte selbst daran, daß es nun zehn Jahre her seien, daß er in Triebschen zuletzt, ebenfalls im königlichen Auftrag, der Gast des Meisters gewesen. Desto unergiebiger waren die am folgenden Tage (22. Januar) gepflogenen Beratungen, zu denen Feustel hinzugezogen war; um die Mittagszeit erschienen auf die Einladung des Meisters auch Bürgermeister Muncker und Adolf Groß. Somit war alles für eine entscheidende Beschlußfassung vorbereitet. In erster Reihe sollte diese der Tilgung des Defizits gelten. War dieses durch König oder Reich gedeckt, so erklärte sich der Meister seinerseits im nächsten Jahr (1878) zur Wiederaufnahme und Fortführung der Aufführungen auf erneuerter und fester Basis erbötig. Ein zweiter Vorschlag seinerseits ging darauf hinaus, daß der König das Theater zu Aufführungen mit verstärktem Münchener Personal für Rechnung des Hoftheaters so lange übernehmen sollte, bis sämtliche königliche Zuschüsse gedeckt seien Selbst der dritte mögliche Fall war vorgesehen, daß, ebenfalls zum Zweck der Zurückzahlung dieser königlichen Vorschüsse, ein Unternehmer, wie Pollini, die Aufführungen in seine Hand nehmen sollte. Weiter konnte er in seinen Anträgen und Zugeständnissen doch nicht gehen! Jeder dieser Vorschläge zielte, der erste auf die vornehmste, ihm erwünschteste Weise, auf das gleiche Endergebnis ab: das Unternehmen von der drückenden Last zu befreien, die jetzt auf ihm ruhte, um es dann wieder ganz in seine Hände zu nehmen oder, wenn die Gleichgültigkeit der Zeitgenossen ihn dazu nötigte, nachdem er jahrelang seine äußersten Kräfte daran gesetzt, es – für immer fallen zu lassen. Und doch blieb es unklar, weshalb sich eigentlich der Münchener Abgesandte hierher bemüht hatte! Er ging mit keinem Vorschlag seinerseits aus sich heraus, er akzeptierte auch das ihm Vorgelegte nicht und schien von seiten des Königs zu nichts Positivem autorisiert. Er dankte anderen Morgens auf das verbindlichste für alle ihm erwiesene Freundlichkeit und reiste wieder ab, wie er gekommen war. Nichts war durch sein Eintreffen, durch die gemeinschaftlichen-Berkatungen an der Sachlage geändert: der Künstler, der durch die außer ordentlichste, von ihm und seinen Getreuen geleistete Kunsttat des vorigen [331] Sommers das große, ja ungeheuerste Beispiel eines nationalen Aufschwunges gegeben, blieb nach wie vor sich selbst überlassen, von allen aufgegeben, sein ›Beispiel‹ unverstanden, und selbst sein König, wenn er durch seinen Abgesandten im rechten Sinne vertreten war, schien vor der Hand nur das eine Interesse zu haben: nicht – zu helfen und beizustehen, sondern wieder in den Besitz seiner Vorschüsse zu gelangen.

›Dies waren die Bühnenfestspiele des Jahres 1876. Wollte man mir deren Wiederholung zumuten?‹ schrieb der Meister zwei Jahre später in seinem Rückblick auf deren gesamten Verlauf.

In jenen Tagen, kurz nach der Abreise des Hofrats Düfflipp, kam er von sich aus zum ersten Mal auf den Gedanken, zur Deckung des Defizits in England Konzerte zu geben und sich zu diesem Behuf von neuem aus seiner kaum gewonnenen Ruhe zu reißen. Doch war ihm dies immerhin noch eher möglich und denkbar, als die Wiederaufnahme der aufreibendsten produktiven Arbeit an neuen Festspielaufführungen, sobald dieselben nicht, ihrer wahren Bestimmung gemäß, reformatorischen Kunstzwecken, sondern zur bloßen Ausgleichung finanzieller Schwierigkeiten dienen sollten. Das einmalige ›Beispiel‹ war gegeben, er selbst hatte den Vorschlag alljährlicher Wiederholungen gemacht; es war von außen keine Erwiderung gekommen, selbst nicht auf den Anruf an seine Patrone. Er mußte sich fragen, ob er, mit den wenigen bedeutenden Ausnahmen, überhaupt ›Patrone‹ gehabt hätte oder nur ›Zuschauer auf teuer bezahlten Plätzen‹. Es ist charakteristisch für die Art, wie er sich von dem Druck zu befreien suchte, daß er bemüht war, seine Gedanken von all diesen ihm aufgedrängten äußeren Sorgen abzulenken, den inneren Halt allein in sich selbst zu suchen und zu finden. Wie in allen Lagen seines Lebens leistete ihm hier die abendliche gemeinsame Lektüre, der unmittelbare Verkehr mit großen Geistern der Vergangenheit, die unvergleichlichsten Dienste der Befreiung von allen Tagesgespenstern der Sorge und Enttäuschung. Um die Mitte Januar hatte er den in Sorrent zuerst aufgenommenen Sismondi beschlossen, immer befriedigter von dieser bedeutenden Bekanntschaft. Wie alles von ihm Unternommene, hatte er auch diese Lektüre mit ungeheurer Lebhaftigkeit und der ihm eigenen Produktivität des Ausbauens und Weiterdenkens betrieben. Unmittelbar daran schloß sich für mehrere Wochen Thukydides' mit Begeisterung gelesene Geschichte des peloponnesischen Krieges. Das war die Labung, die Erquickung, deren er bedurfte. Die Schilderung der Einschließung von Pylos führte dann weiter auf die ›Ritter‹ des Aristophanes, als gewaltsame Diversion, mit vollständigem Vergessen und idealer Heiterkeit – denen sich dann weiterhin, immer als Komplement zum Thukydides, auch die phantasievoll übermütige ›Friedens‹-Komödie anschloß. Und weiter: ganz wie damals in München bei der ersten Aufnahme des ›Schul‹-Planes es ihm dringend nötig erschien, ein eigenes öffentliches Organ zu begründen, durch [332] welches er sein Lebenswerk vor der herrschenden fremden, verständnislosen Beurteilung zu sichern gedachte, beschäftigte ihn auch jetzt wieder der nie aufgegebene, im bisherigen Drange aber nicht zur Ausführung gelangte Gedanke der ›Bayreuther Blätter‹. Als ihr Redakteur war ursprünglich und schon seit Jahren30 Nietzsche ins Auge gefaßt, der sich bereits auf die Realisierung dieses weitblickenden ›Reformations-Journales‹ gefreut hatte.31 Vieles, ja das Meiste, was dieser seitdem in seinen selbständig unternommenen Unzeitgemäßen Betrachtungen niedergelegt, hätte bereits – als ›bayreuthisch‹ gedacht und empfunden, in das Reformationsjournal gepaßt und gehört. Wir wissen nun, welche Wendung es seitdem mit diesem begabtesten unter seinen bisherigen Schülern genommen; auch dem Meister hatte dies nicht entgehen können. In einem schönen Weihnachtsbriefe, von dem wir nicht wissen, ob er sich erhalten hat oder nicht, hatte ihn dieser erst kürzlich noch der Treue seiner Gesinnungen versichert, doch aber durchmerken lassen, daß er in seinen neuerlichen Gedankengängen von der Lehre Schopenhauers sich zu entfernen beginne. Es war dies das erste Symptom der ferneren Unstetigkeit seiner ›Entwickelung‹, wenn von einer solchen fernerhin bei ihm überhaupt noch die Rede sein kann Dagegen waren – noch vor dem Eintreffen Düfflipps – zu einer Beratung über die neuzubegründenden Blätter Richard Pohl und Hans von Wolzogen, gleichzeitig mit dem Fürsten Rudolf Lichtenstein, auf wenige Tage (13. und 14. Januar) des Meisters Gäste gewesen – beide mit der Absicht einer dauernden Übersiedelung nach Bayreuth, zur Verwirklichung des einstweilen bloß Gedachten und Geplanten.

Und mehr als das! Wie einst in den Zeiten der größten Verlassenheit nach den qualvollen Wiener ›Tristan‹-Experimenten, da wo niemand die Lust und Kraft dazu in ihm erwarten konnte, das Verlangen nach der Konzeption und Ausführung seiner ›Meistersinger‹ aufstieg, so regte sich jetzt in ihm – wiederum von allen verlassen – das eigene schöpferische Selbst. Ihn erfaßte die Sehnsucht nach der Ausführung seines ›Parsifal‹. Waren doch die ganzen Bühnenfestspiele des vorigen Jahres nur als eine große Störung und Unterbrechung mitten in den Drang neu sich regender schöpferischer Tätigkeit eingetreten (S. 234)! Nun aber fühlte er die Zeit dafür gekommen. Es war bald nach der Abreise Düfflipps und ihren gänzlich erfolglosen Beratungen, daß in aller Trostlosigkeit der äußeren Verhältnisse die Phantasie ihre Schwingen in ihm regte. Eines Tages (25. Januar) sagte er zu seiner Frau zu deren höchster, freudigster Überraschung: ›Ich beginne den Parzival‹ (so hieß er damals noch) ›und lasse nicht eher von ihm ab, bis er fertig ist.‹ Und nun entfaltete sich in ihm, mitten in allem äußeren Ungenügen, von Tag zu Tage beglückender, jenes geheimnisvolle innere Weben und Walten der [333] ersten Entstehung eines übergroßen Neuen. Wer kann dem Genius, selbst mit allen Mitteln äußerer Vernachlässigung und Unterdrückung, etwas anhaben, wenn ihm der Trost dafür, die Rettung und Erhaltung seiner selbst, unversieglich und unerschöpflich aus eigener Seele quillt? Alles, was bis dahin in seinem tiefsten Innern verschlossen gelebt, keimte und offenbarte sich, von Tag zu Tag fester und greifbarer; weit, weit über seine frühere, bloß andeutende Skizze hinausgehend. Vor 15 Jahren hatte er, an eben jenen, ›Meistersingern‹, zum letzten Male gedichtet. Täglich mehr und mehr schossen nun die edelsten, feinsten und zartesten Krystalle der neuen Schöpfung zu einem Ganzen zusammen. Über die Hauptschwierigkeit des Gegenstandes fühlte er sich hinausgehoben, seit es ihm, im Sinne dramatischer Gestaltung, mit einem Schlage klar geworden war, daß es sich zur schließlichen Lösung nicht um jene problematische, an Amfortas zu richtende bloße ›Frage‹ des Mitleids handle, sondern vielmehr um eine Tat, eine Handlung, um den ganz plastischen Vorgang der Wiedergewinnung der geraubten Lanze. Somit um einen echten alten, wie durch Verschüttung vergessenen mythischen Zug: um die Wiederbringung des in winterlicher Leidensnacht abhanden gekommenen Sonnenstrahls, vertieft und verdichtet durch spätere christliche Deutung. Mit dieser verschmolz sich dann, zu völliger Neuschöpfung eines verschollenen Mythus, der in den kärglichen Überresten der altgriechischen Telephussage erhaltene, dort so fragwürdige Zug von dem Speer, dessen Berührung die von ihm selbst geschlagene Wunde heilt32; sowie aus weit entlegener altindischer Überlieferung dessen Schweben über Parsifals Haupte.33 Bei fortdauernd grauem Himmel, feuchter Luft und unfreundlichstem Wetter strahlte ihm fortgesetzt die innere Sonne des Schaffens, immer in den Morgenstunden, gleichsam als die produktive Fortsetzung des Traumes; zuweilen unterbrach er sich beim Ankleiden, oder bei Tische, um Zusätze zu seiner Skizze zu machen. Daß die Blumenmädchen des zweiten Aufzuges keine Teufelinnen, sondern dahinsterbende Pflanzenwesen seien; daß Kundry nicht weinen, nur lachen und schreien, toben, wüten und rasen könne, und hundert andere einzelne unsterbliche Züge der Dichtung – das alles waren Entdeckungen, die – in der Parzival-Skizze von 186534 noch gar nicht enthalten – sich plötzlich in hellem Lichte als [334] Eingebungen ihm zeigten. In der ersten Februarwoche war der erste Akt, am letzten Tage des Februar der ganze in Prosa dialogisierte Entwurf des Bühnenweihespiels vollendet, und es lag nun zu nächst für die Ausführung der Dichtung als solcher bloß noch die Übertragung in die endgültige Fassung in Versen vor ihm.

Mit Mühe hatte er sich die freie Muße dazu ermöglicht, und schon drohte wieder die äußere Sorge ihn davon abzudrängen. Da niemand auf der weiten Welt sich veranlaßt fühlte, ihm die Last des ›Defizits‹ vom vorigen Jahre abzunehmen, hatte der ursprünglich vorübergehend in ihm aufgetauchte Gedanke, es durch große Konzertveranstaltungen in London zu decken, inzwischen bestimmtere und festere Gestalt angenommen, und es entstand aus dieser verlockenden Vorspiegelung der Plan jenes Unternehmens, das ihm in seiner weiteren Ausführung nur neue Beunruhigungen, Belästigungen, Enttäuschungen und Verluste eintragen sollte!

Fußnoten

1 A. v. Schorn, ›Zwei Menschenalter‹, S. 329.


2 Paul Lindau.


3 Vgl. S. 16/17 des vorliegenden Bandes.


4 Als dieser einmal in Bayreuth in einem Wohltätigkeitskonzert mitwirkte, besang ihn der Meister in den heiteren Reimen: ›Schnapp' auf, mein Herz, und singe dem Schröpfer aller Dinge.‹


5 Briefe an Fr. Feustel, Bayr. Blätter 1903, S. 200


6 Band III (II2) des vorliegenden Werkes, S. 193.


7 Ebendaselbst S. 195.


8 Briefe an Friedrich Feustel, Bayreuther Blätter 1903, S. 201.


9 Vgl. S. 21 u. 33 des vorliegenden Bandes.


10 Briefe an Friedrich Feustel, Bayr Blätter 1903, S. 201.


11 J. Ch. L. de Sismondi, Histoire des républiques italiennes du moyen-âge (Paris 1840, 10 Bde.).


12 Dies geschah (Anfang Juli 1877) durch die bare Einsendung von 5000 Mark für seine Person und sei nen Patronatsanteil (vgl. Bayreuther Blätter 1898, S. 188). Hätten alle Patrone so gehandelt, so hätten die Festspiele ihren regelmäßigen, nur nach dem Ermessen des Meisters zeitweilig unterbrochenen Verlauf nehmen können, und der ›Ring des Nibelungen‹ wäre vor der Auslieferung an die Theater bewahrt geblieben.


13 Briefe Richard Wagners an Friedrich Feustel, Bayreuther Blätter 1903, S. 201.


14 ›Das Nächstliegende‹, läßt er sich darüber in einem Briefe an Feustel (23. November) vernehmen, ›erschien mir immer noch eine Aufforderung an die bisherigen Förderer meiner Unternehmung: ich verfaßte eine solche und übersandte sie Ihnen (etwa 8. oder 10. Oktober) mit der Bitte, dieselbe Ihrem Berichte an die Patrone beizufügen. Zu gleicher Zeit schrieb ich aber auch in sehr ausführlicher Weise an den König von Bayern, und fügte in den Hauptzügen den Plan einer Verfassung bei, nach welchem das Theater mit allem Zubehör gegen Übernahme sämtlicher darauf lastenden Schulden vom Staate erworben und dem Stadtmagistrat von Bayreuth zur Verwaltung übergeben werden sollte.‹ (Briefe an Fr. Feustel, Bayreuther Blätter 1903, S. 202.)


15 Der König hatte den Konzertmeistern Grützmacher und Fleischhauer, sowie dem Oboisten Wieprecht besondere Verdienstmedaillen zukommen lassen, wodurch sich ein Berliner Hornist zurückgesetzt fühlte!


16 Das französisch geschriebene Original (vom 14. Oktober 1876) beginnt mit den charakteristischen Worten : ›Carissima, Amica! Di tanti palapitiaccordez moi un long repos! Je ne veux absolument pas de triomphes, ni de succès, ni rien que de repos, de la tranquillité‹ etc. Er erklärt sich darin noch bereit, ihr über die für Bologna beabsichtigten Auslassungen sein Urteil auszusprechen; als sie aber acht Tage später ihn beim Worte nahm und ihm in der Tat ein Verzeichnis dieser Striche mit der Bitte um sein Gutachten unterbreitete, fand er sich selbst hierzu unfähig und erklärte ihr dies in einem Schreiben vom 22. Oktober (Liszts Geburtstag).


17 ›Auch schrieb ich den Herren wiederholt‹, heißt es weiter in jenem Heckelschen Briefe (vom 30. Oktober), ›daß, wenn die Stadt Bayreuth als solche nichts zur Deckung des Defizits beitragen kann, wenigstens die Bürgerschaft unter sich eine nennenswerte Summe aufbringen müßte.‹ (E. Heckel, Erinnerungen, S. 114/15.)


18 Briefe Richard Wagners an E. Heckel (Berlin, S. Fischer, 1899), S. 115/16.


19 Brieflich an Feustel, 23. November 1876 (Bayreuther Blätter 1903, S. 202/3).


20 Es sind Betz und Niemann gemeint, die er, nach dem einmal ihm gebrachten Opfer einer Mitwirkung gegen bloße Aufenthaltsentschädigung, nicht wieder engagieren konnte, ohne ihnen große Anerbietungen zu machen.


21 Brief an Friedrich Feustel (Bayreuther Blätter 1903, S. 202 ff.).


22 Bekanntlich sind infolge dieser Empfehlung die beiden obigen Quintette tatsächlich im Schottschen Verlag erschienen und haben sich eine große und allgemeine Beliebtheit erworben.


23 Vgl. zu dem letzteren auch Ges. Schr. IX, S. 348.


24 Vgl. hierzu den vollständigen Text dieses Briefes in den ›Bayreuther Blättern‹ 1901, S. 181/82.


25 Heckel erwähnt hierzu, Feustel habe ihm das Zirkular an die Patrone in einigen Exemplaren übersandt mit der Bitte, er solle ›vorsichtigen‹ Gebrauch davon machen. ›Ich konnte mir‹, fügt er seinerseits hinzu, ›nicht verhehlen, daß dieses Rundschreiben nur die Sache an die Öffentlichkeit zerren würde, ohne aber bei der Ungunst der Zeiten Erfolge zu erzielen. Ich hielt es daher für meine Pflicht, Wagner nicht zu verschweigen, daß ich die Berechtigung mancher Bedenken Feustels anerkannte. Erst durch seine Antwort erfuhr ich, wie sehr die Angelegenheit ihn erschütterte.‹ (Heckel, Erinnerungen, S. 117.)


26 Briefe an Heckel, S. 118.


27 Aus Livland.


28 Vgl. S. 85 dieses vorlieg. Bandes.


29 Vgl. den vollständigen Text dieses Briefes im Anhang dieses Bandes.


30 Vgl. Band IV (III1) des vorliegenden Bandes, S. 386.


31 Ebendaselbst S. 341.


32 Eine schöne Wiedererzählung der halbverschollenen (bloß durch die darauf bezügliche Anspielung in Goethes ›Tasso‹ dem deutschen Bewußtsein wach erhaltenen) Telephussage findet der Leser in voller epischer Ausführlichkeit – mit all ihren romanhaft reichen Verzweigungen – in der im Berliner Museum käuflichen Beschreibung des Telephusfrieses vom pergamenischen Altar. Darin u.a. auch den, der ›Tristan‹-Dichtung verwandten Zug ›von einem Kahn, darinnen siech ein kranker Mann elend im Sterben lag‹: Telephus, der unerkannt und schwer verwundet in Feindes Land steuert, um dort durch die Berührung der Lanze des Achilleus von seiner Wunde geheilt zu werden.


33 Vgl. Band III (II2) des vorliegenden Werkes, S. 119 Anm.


34 Vgl. Band IV (III1) des vorliegenden Werkes, S. 115.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 309-336.
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