IX.

Wien: Tannhäuser und Lohengrin.

[208] Ankündigung der Festspiele für 1876. – Ausarbeitung des Probenplans. – Nach Wien: Proben und Aufführung des ›Tannhäuser‹. – Feindselige Haltung der Wiener Presse. – Proben und Aufführung des ›Lohengrin‹. – Zurück nach Bayreuth. – Schlimme Verhandlungen mit Scaria.


Fühle ich mich durch die innige Teilnehmung meiner künstlerischen Genossen einzig und wahrhaft gestützt, so glaube ich nun auch der Anteilnahme von außen vertrauensvoll entgegensehen zu können.

Richard Wagner.


Aus dem Monat Juli holen wir hier noch der Vollständigkeit wegen eine unerwähnt gebliebene Tatsache nach: die – mitten in die Vorproben hineinfallende – Ankunft und Aufstellung der großen Bronzebüste des Königs vor dem Hause Wahnfried (ca. 22. Juli). Bereits im Januar d. J. hatte der königliche Freund durch Hofrat Düfflipp im voraus die Absicht dieser Zusendung angekündigt; doch hatte die Herstellung des für den 22. Mai bestimmt gewesenen Freundschaftsmonumentes eine etwas längere Zeit, als vorhergesehen, in Anspruch genommen. Mit der reinen und hoheitvollen Idealität und jugendlichen Schönheit der Gesichtszüge vergegenwärtigt es uns das Antlitz des königlichen Gönners recht aus der Zeit ihrer ersten Begegnung. So wacht es noch heute und bis in fernste Zeiten vor der Heimstätte des Künstlers, als wollte es mit abwehrendem Blick den Andrang des Profanen von ihm fern halten; als ein dauerndes Symbol jenes einzig dastehenden, mit nichts ähnlichem zu vergleichenden, treuen königlichen Schutzes über dem Leben eines deutschen Genius, wie er einst in höchster Not an diesen herantrat, um ihn vor dem drohenden Untergang zu bewahren und, über alle zeitweiligen eigenen Irrungen hinaus, seinem hohen Schützerberuf die Treue zu halten wußte! So grüßt es noch heute und bis in fernste Zeiten einen jeden Eintretenden, wenn er, das Gittertor öffnend, die Allee zu dem Hause hinausblickt!

Und doch war es auch diesem Schutze nicht möglich, dem ringenden Künstler das Profane, den herrschenden Geist seiner Zeitumgebung völlig fern zu halten. In tausend Gestalten drängte – und drängt es sich noch heute![208] – an dem ehernen Bildnis vorbei jenem Hause zu, dem nur das Reinste und Höchste sich nahen sollte. Der Besuch Direktor Jauners während eben derselben Probezeit (wenige Tage vor dem Eintreffen der Büste!) stand mit mancherlei geschäftlichen Beziehungen der K. K. Hofoper zu dem Meister in Zusammenhang, die – durch seine Vorgänger gröblich vernachlässigt – durch Jauners Verdienst endlich zu einer, im Großen und Ganzen befriedigenden, Regelung gelangt waren. Es war damit zugleich aber auch ein Vorschlag verknüpft, an dessen Erfüllung der Wiener Direktion alles gelegen schien: an der persönlichen Einstudierung des ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ in der Hofoper mit den vorhandenen, nicht hervorragend geeigneten, zum Teil durch Unfertigkeit und Manier eher abschreckenden Kräften. Dabei sollte denn auch die sog. ›Pariser‹ Bearbeitung der Venusbergszene zum ersten Male auch in Wien zur Vorführung gelangen. Für den Meister bedeutete dies angesichts der bevorstehenden großen Aufgaben des nächsten Sommers, für die er seine Kräfte durch äußerste Ruhe zu schonen gehabt hätte, die Zumutung einer nicht geringen Anspannung, ja einer Verschwendung derselben, zu einem – wenig Dank versprechenden Zweck. Er suchte daher das Projekt in jeder Weise von sich abzuwehren; dennoch wollte dies auf die Dauer nicht gehen, und so drückte denn diese Wiener Einladung mit allen damit verbundenen Mühen und Beunruhigungen dem bevorstehenden Winter geradezu ihren Stempel auf. Ein ganzes Martyrium knüpfte sich für ihn daran, bei allem äußeren Glanz der Vorgänge. Mit seinen beschwerlichen und doch unfruchtbaren Bemühungen erinnerte es ihn an die schlimmsten Zeiten des Pariser ›Tannhäuser‹.

Die sonnig-klaren Herbsttage veranlaßten ihn dazu, zur kurzen Erholung und Zerstreuung nach allen vorangegangenen Anstrengungen der Proben, gegen die Mitte September mit seiner Familie, Frau und Kindern, einen Ausflug in das schöne Böhmen zu unternehmen und manche frühe Jugenderinnerung wachzurufen. Über Münchberg begab er sich, am Sonntag, 12. September, zunächst nach dem Gute Conradsreuth, um daselbst einer Einladung des befreundeten Baron Staff Folge zu leisten, der dem hohen Gaste zu Ehren abends sein ganzes Haus festlich illuminierte. Anderen Tages ging es über Hof zunächst nach Karlsbad. Abends bei herrlichem Mondschein hier eingetroffen, nahm er im ›Goldenen Schild‹ Quartier, wo er vor 41 Jahren, auf jener frohen Sommerreise 1834, gewohnt hatte. Nachdem er den Seinigen die Karlsbader Sehenswürdigkeiten, den Sprudel und Hirschensprung gezeigt und eine Wagenfahrt durch den Ort und seine Umgebung unternommen, ging es weiter nach Teplitz – reich an aufsteigenden Erinnerungen aus goldener Jugendzeit bis in die Kapellmeisterperiode hinein. Zwar der Gasthof zum ›König von Preußen‹1 lohnte ihm seine Anhänglichkeit mit einer schlechten [209] Nacht und unbefriedigender Verpflegung, weshalb er in das Kurhaus und ›Kaiserbad‹ übersiedelte; desto ergiebiger waren die Ausflüge in die Umgebung, die Besteigung der Schlackenburg, wo einst das, ›Liebesverbot‹ skizziert wurde2, ein Spaziergang nach Schönau mit Erinnerungen an ›Rienzi‹ und ›Tannhäuser‹3 u.s.w. Über Aussig führte die weitere Fahrt am 16. September nach Prag, wo er mit den Seinen anderthalb Tage verweilte4, um am 18 über Eger den Heimweg anzutreten und am Sonntag, den 19., nach genau achttägiger Abwesenheit wieder einzutreffen.

Über Unger hatte er bereits vor seinem Ausflug Günstiges vernommen, als dieser eines Tages mit Professor Hey, Seidl und Zumpe in Wahnfried zu Tische war: er schien sich gut in seine Aufgabe hineinzuarbeiten. Kurz nach der Rückkehr des Meisters bestand dieser nun im Festspielhause ein Probesingen, welches zur Zufriedenheit ausfiel. Ihm wurde jetzt endgültig die Rolle des ›Siegfried‹ zuerteilt, wiewohl sich inzwischen Niemann – von seinen begangenen Unbesonnenheiten einlenkend – erbötig erklärt hatte, alle drei Partieen (Siegmund und die beiden Siegfriede) zu übernehmen. Es blieb jetzt bei Unger und handelte sich zunächst darum, diesen aus seinen voreilig eingegangenen Düsseldorfer Engagementsverpflichtungen zu befreien. Bereits hatte sich der Meister zu seinen Gunsten brieflich an den dortigen Direktor Scherbarth gewandt, um ihn beizeiten davon in Kenntnis zu setzen, daß der Sänger auch zu dem, von jenem vorgeschlagenen späteren Termine (1. November) nicht eintreffen werde. ›Gewiß taten Sie mir leid‹, wiederholte er ihm nun unterm 3. Oktober in einer eingehenden Darlegung des Sachverhaltes, ›Ihnen dies anzeigen zu müssen, weil ich die Ihnen hierdurch bereitete, Ihrerseits so ganz und gar nicht verschuldete, Verlegenheit unmöglich übersehen konnte. Deshalb tröstete ich Sie auch mit dem Gedanken der Annahme, es habe Sie eine Kalamität betroffen, wie sie uns oft durch das Schicksal beschieden ist, z.B. Herrn Unger habe einer der Krankheits- oder sonstigen Unfälle betroffen, wie sie in seinem Kontrakt als von dessen Erfüllung entbindend vorgesehen sind. Betrachten Sie es so und müssen Sie sich hierfür zu helfen suchen, so würden Sie der festen Erklärung gegenüber, daß Herr Unger ununterbrochen seine [210] Studien fortsetzen und nicht zu Ihnen kommen wird, die richtige Stimmung und den rechten Entschluß finden. Denn, wie ich Ihnen das schon sagte, handelt es sich hier um den entscheidenden Wendepunkt einer ganzen Lebenslaufbahn, und zwar eines Sängers, der bereits im reifsten Alter hierfür angelangt ist. Ich kann das nicht mit ansehen, daß hier etwas zu retten ist, was – gerade von jetzt an – für immer verloren geht, wenn ihm nicht die richtige Pflege zu teil wird, und ich bin um so fester entschlossen, hierfür einzutreten, da es sich weder von meiner noch von Herrn Ungers Seite um irgend einen pekuniären Gewinn handelt. Der letztere hat sich während seiner Studienzeit kümmerlich zu behelfen, und meinerseits wird bei meiner ganzen Unternehmung nur an Anstrengungen und Opfer mit grundsätzlichem Ausschlusse jeder nur erdenklichen Entschädigung gedacht. Da alles hiermit Gemeinte nur zu Herrn Ungers Gunsten ausschlagen kann, so ist es recht gut denkbar, daß er, am Ziele angelangt, auch in die äußere günstige Lage kommen dürfte, sich Ihnen erkenntlich zu zeigen, was er Ihnen gern verspricht. Verfolgen Sie ihn jetzt, worauf wir gefaßt sein müssen, so werden Sie jedoch nicht verwundert sein dürfen, wenn wir uns durch Anwendung aller Rechtsmittel gegen sofortige Entschädigungs-Zumutungen wehren, da namentlich meine Unternehmung bis jetzt nur durch den guten Willen und den Eifer Weniger gedeiht, keineswegs aber mehr als das Allernötigste zur Durchführung abwirft.‹ Es ist uns nicht näher bekannt geworden, wie sich der Düsseldorfer Direktor zu dieser bestimmten Erklärung verhalten und welche Schritte er dagegen ergriffen habe. Tatsache ist nur, daß Unger, trotz großer Ängstlichkeit in betreff seines ›Kontraktbruches‹, nicht nach Düsseldorf, sondern für ein volles halbes Jahr nach München ging, um von da ab ununterbrochen bei seinem Gesanglehrer Professor Hey den nötigen Studien für die Durchführung der ihm anvertrauten Partie obzuliegen.

Einen besonderen Erfolg hatte seine bestimmt erfolgte Ankündigung der nächstjährigen Bühnenfestspiele gehabt. Zwar die noch so lückenhafte Zahl von Patronen seines Unternehmens mehrte sich ganz und gar nicht, auch fanden keine Zuwendungen kleinerer oder größerer Beträge für dasselbe von außen her statt: dagegen liefen so zahlreiche Bewerbungen Unbemittelter um freien Eintritt zu den Aufführungen ein, daß es ihm beim besten Willen unmöglich war, sie einzeln zu beantworten. Er ließ dieselben einerseits notieren, andererseits verwies er die Bittsteller durch eine öffentliche Bekanntmachung (vom 4. Oktober) im ›Musikal. Wochenblatt‹5 nochmals auf den Beitritt zu einem der bestehenden Wagner-Vereine, als welchen bei Verteilung der Freiplätze die erste Beachtung zuzuwenden sein würde. ›Als besonders tätig empfehle ich für Anmeldungen in diesem Sinne den Mannheimer Wagner-Verein, [211] sowie für geschäftliche Besorgung gut geeignet den Wagner-Verein in Bayreuth selbst.‹ Auch vereinzelte Fälle eines rührenden Interesses seitens Unbemittelter fanden sich, wie der an Heckel mitgeteilte: ›Ein Kantor Fischer in Zwickau hat kürzlich 62/3 Patrone bei sich geworben, 6000 Mark geschickt, und angefragt, ob er dafür einen Freiplatz erhalten kann (!!!)‹ – Um die gleiche Zeit begannen ihm die von Direktor Jauner in Wien dringend gewünschten Aufführungen des ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ an der K. K. Hofoper doch schon große Bedenken und Sorgen zu machen. ›Ich schrieb kürzlich dem Direktor Jauner‹, heißt es in einem Briefe an Levi vom 9. Oktober, ›mit dem Bemerken, daß ich für die jetzt – mit dem Wiener Personal – vorbereiteten Aufführungen des Tannhäuser gar kein Herz hätte.‹ Auch gegen Zumutungen aus München hatte er sich zu wehren. Sein auf eine bloße Privataufführung für den König bezügliches Anerbieten vom vorigen Frühjahr (S. 169) hatte in den dortigen Kreisen die Hoffnung aufkommen lassen, er würde vielleicht auch in der bayerischen Hauptstadt, ähnlich wie in Wien und Berlin, ein großes Konzert oder etwa eine Aufführung des ›Tristan‹ mit dem Voglschen Paar dirigieren. ›Lassen Sie mich‹, lautet seine Antwort, ›über meine Abneigung gegen Bruchstück-Aufführungen in Konzerten nichts weiter sagen! Auch eine Theateraufführung des Tristan selbst zu dirigieren würde mich viel zu sehr angreifen, weshalb ich dies auch schon seit längeren Jahren mir vertrauten Dirigenten überlassen habe. Auf der anderen Seite tut es mir wohl sehr leid, meine so erfreulich angeknüpfte Bekanntschaft mit den trefflichen Vogls für jetzt nicht weiter ausbilden zu können. Hätte ich beide doch in Wien! Wie gerne studierte ich z.B. mit ihm den Tannhäuser! Einem bloßen flüchtigen Gastspiele für einige Aufführungen des »Tristan« war ich entgegen.‹ In betreff seines Verhältnisses zu München und seiner vorausgesetzten Abneigung gegen das dortige Publikum hatte Levi es für gut befunden darauf hinzuweisen, daß daselbst im Lauf der letzten zehn Jahre eine ganz neue, begeisterungsvolle Generation herangewachsen sei und nur noch einige abgelebte ›Greise‹ durch die Tradition der vormaligen Konflikte beeinflußt wären. Mit Bezug hierauf erwidert ihm dann der Meister, es sei gewiß nicht das Münchener Publikum, und innerhalb desselben auch nicht einmal die ›Greise‹, mit denen er nichts zu tun haben wolle; im Gegenteil sei ihm das ganze Münchener Publikum – von den Kindern bis zu den Greifen – sehr wert: nie habe er sich über dasselbe zu beklagen gehabt. ›Ganz gewiß sind es auch nicht die Künstler, weder Sänger noch Musiker, aber – es sind Gespenster dort, denen ich nicht mehr begegnen mag! – Nun, das nächste Jahr wird uns wohl alle freundlich zusammenbringen, dann fürchten wir uns selbst vor Gespenstern nicht. Schönsten Gruß an Herrn und Frau Vogl! sie sollen mir treu und gut bleiben!‹

Nicht ebenso leicht ließ sich die Wiener Unternehmung abschütteln. Über [212] diese teilt er sich wenige Tage später (11. Oktober) an Hans Richter mit: ›Ich dachte schon, ich käme davon los, weil es mir mit den Vorarbeiten, Dekorationen, Ballett u.s.w. zu hinken schien; auch weil ich offen meine Herzensbeschwerde über die Besetzung (vor allem des »Tannhäuser« selbst) zu erkennen geben mußte – (auch Frau Wilt als Elisabeth!!!). Im Ganzen muß ich wohl auch bekennen, daß die Sache mir gerade jetzt sehr zur Unzeit kommt! – Nun aber scheint es doch, daß man auf die Durchführung unserer Abmachungen in einem freundlichen Sinne rechnet, und somit – sehen wir, was wir zustande bringen. Ich höre, Sie nehmen bereits Venus und Tannhäuser vor. Vergessen Sie nur nicht, unseren verehrten Schweden‹ (Labatt6) ›darauf aufmerksam zu machen, daß er das zweite Finale ganz singen muß. Da wird es Not geben mit dem A im Adagio: »Erbarm dich mein!«, auch mit dem leidenschaftlichen Satze im Schlußallegro! – Doch muß ich erklären, daß ich hier nichts gestrichen lasse, und daß, falls Labatt erklärt, daß er es nicht kann, ich aus diesem Grunde allein schon erklären muß, daß ich zu einer »Mustervorstellung« des Tannhäuser mit ihm mich nicht zu begnügen vermag. Ich fürchte also, es gibt noch schwere Nüsse zu knacken! – Mit »Lohengrin« wirds leichter gehen: hier will ich eben nur alle Striche wiederhergestellt sehen; hat Signor Müller solch eine Löwenstimme, so wird das wohl auch gehen. – Nun bitte ich, halten Sie sich recht dazu, die Sachen herauszubringen: denn über den Dezember hinaus hält mich niemand in Wien fest.‹ Ebenfalls in demselben Monat Oktober ward der umfassende Probenplan für den nächsten Sommer mit allen Einzelheiten von Tag zu Tag und Stunde zu Stunde auf das Genaueste von ihm ausgearbeitet, – das erste derartige Dokument in der gesamten deutschen Kunstgeschichte. Er sollte baldmöglichst zur Versendung an seine mitwirkenden Künstler gelangen, damit diese auf Grund desselben mit Sicherheit ihre Einrichtungen für die Sommermonate treffen könnten. Das gedruckte Begleitschreiben dazu enthielt zugleich das Anerbieten seinerseits: wo die Gewährung eines besonderen Urlaubes Schwierigkeiten bereiten sollte, sich durch angelegentliche Bewerbung darum bei den betreffenden Behörden verwenden zu wollen. ›So möge denn‹, heißt es am Schlusse des Dokumentes, ›durch Ihre liebevolle, nur dem Gelingen des Werkes zugewendete Teilnahme und Mitwirkung eine künstlerische Tat zutage treten, wie sie keine der heutigen Autoritäten, sondern nur eine freie Vereinigung wahrhaft Berufener der Welt vorführen konnte!‹

Nachdem auch dieser letzte vorbereitende Schritt geschehen, ging der Meister seinem, Direktor Jauner gegebenen Versprechen gemäß nach Wien, um die beabsichtigten unverkürzten Aufführungen seines ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ [213] in seine leitende Hand zu nehmen. Da es sich diesmal um einen Aufenthalt von fast zwei vollen Monaten handelte, trat er die Reise mit seiner ganzen Familie an, und konnte aus beiden Gründen, wegen der längeren Zeitdauer seines Aufenthaltes und der größeren Zahl der aufzunehmenden Personen, von der ihm angetragenen Gastfreundschaft Standhartners keinen Gebrauch machen. Der Aufbruch erfolgte am 30. Oktober und zwar ging die Reise über München, wo ihn bei seiner Ankunft um 8 Uhr abends Lenbach mit seiner Gemahlin, Professor Hey und Unger am Bahnhof begrüßten. Er verbrachte die Nacht im Hotel Marienbad, besuchte anderen Tages Lenbachs Atelier und seinen alten Nachbar in der Brienner Straße, den Grafen Schack7, konferierte mit Hofrat Düfflipp und nahm das Mittagsmahl mit Lenbach. Genau 24 Stunden nach seiner Ankunft trat er dann abends die weitere Reise nach Wien an, wo er früh morgens um 6 Uhr eintraf. Der treue Standhartner empfing ihn und geleitete ihn in das ›Grand Hotel‹, wo er die ganze Zeit über zu wohnen beabsichtigte. Leider traf er hier eine so schlechte Wirtschaft, daß er schon am Tage nach seiner Ankunft den Entschluß faßte, umzuziehen. ›Ich bin etwas erkältet und durch die schlechte Unterbringung im früher bestimmten Hotel ermüdet und aufgehalten‹, schreibt er darüber (4. Nov.) an Feustel. ›Seit gestern bin ich nun gut untergebracht im Hotel Imperial, und gedenke morgen die Proben fortzusetzen.‹ Es geht daraus hervor, daß er sich bereits gleich nach seiner Ankunft (3. Nov.) in die Proben hatte stürzen müssen, die vom 5. November ab ihren regelmäßigen Verlauf nahmen. Er hatte es hier mit den ersten Sängern eines kaiserlichen Theaters zu tun, und mußte ihnen doch von Grund aus alles Elementarste ihrer Kunst auseinandersetzen. Zehn Tage später, am 14. November, erfolgt eine ergänzende Nachricht an die gleiche Adresse: ›Hier leide ich an großer Ermüdung und wenig Freude an der Sache. Vormittags sehr anstrengende Proben, wo ich den Leuten alles vormachen muß; hierauf gänzliches Umkleiden, Bettruhe; gegen Abend ein ganz kleiner Ausgang (ohne Angermann!). Abends ein Theater – sehr schlecht! – oder ermüdende Unterhaltung. Einzig tröstlich, daß es vorwärts geht und ich hoffen darf, medio Dezember spätestens wieder zu Hause zu sein. Die Kinder freuen sich schon auf den Tag der Abreise. Tausend Grüße, lieber Freund, und mindestens fünfhundert an den guten Groß!‹8

Also: Erkältung, Ermüdung, täglich anstrengende Proben, bei denen er selbst ›den Leuten alles vormachen muß‹, größte Schonung und Pflege seiner Kräfte, das ist der Hauptinhalt dieser Novemberwochen. ›Sonst nichts, wie die peinlichsten Klagen und Eröffnungen über – die bekannten Zustände.‹ ›Recht sehr würde es mich freuen, von Ihnen überhaupt wieder einmal etwas zu erfahren: es fehlt mir dieses gute Lebenselement!‹9 Der redliche Wille [214] der mitwirkenden Künstler und der gute Wille der Direktion war nicht zu verkennen, aber die Untauglichkeit des vorhandenen Personals für die besondere Aufgabe, der Kampf mit der eingewurzelten Schlaffheit und üblen Operngewohnheiten erschwerte ihm die Arbeit auf Schritt und Tritt. Darin lag der Kernpunkt für die enorme Schwierigkeit all solcher Bemühungen auf dem Terrain des ›Operntheaters‹, welchem sich das junge ›Kunstwerk der Zukunft‹ mühsam erst zu entwinden rang! ›Es ist vielen bekannt‹, so erzählt späterhin Anton Seidl als Zeuge dieser Anstrengungen, ›wie eindrucksvoll, wie mit verschiedenen Stimmarten er den Sängern ihre Partieen vorsingen konnte, wie wunderbar er phrasierte; es ist aber auch bekannt, wie wenige dies ihm nachahmen konnten! Es erfüllte mich immer mit Trauer, wenn ich ihn eine Menge Lebenskraft vergeuden sah, indem er vielen Sängern ihre Partieen nicht nur vorsang, sondern bis ins Minutiöseste vorspielte, und daran gedenke, bei wie wenigen er auf guten, empfänglichen Boden stieß. Ich erinnere nur an die Einstudierungen von »Tannhäuser« und »Lohengrin« in Wien im Jahre 1875. Er mußte da aus einem schlechten Raoul einen Tannhäuser machen, einen Telramund aus einem Sänger bilden, der vorher noch nie oder selten eine halbwegs größere Rolle gesungen hatte, und doch – als der Meister nach ziemlich geglückter Arbeit erklärte, daß man Nachsicht üben solle, da er mit vorhandenen Kräften rechnen müßte, fielen sie wie heulende Wölfe und bellende Beißhunde über ihn her, zum Dank für sein aufopferndes Bemühen!‹10

Nicht anders verhielt es sich mit der szenischen Erscheinung des Werkes, es war und blieb das herkömmliche, spezifische Operndekorationswesen. Über den Ausfall der Bemühungen der Wiener Direktion, die prachtvollen, einst für den Pariser ›Tannhäuser‹ angefertigten Dekorationen für den Zweck ihrer Aufführungen zu gewinnen, sind wir des Näheren ununterrichtet geblieben: genug, sie waren nicht zu erlangen gewesen.11 So war die Szenierung des Venusberges trotz alles Glanzes und aller Üppigkeit wenig angemessen; obgleich man eigens für diesen Zweck die – seit 30 Jahren noch immer hervorragende – Ballettmeisterin Lucile Grahn aus München hatte kommen lassen, wo sie schon einmal (1867) die choregraphische Leitung der neuen Venusbergszene in Händen gehabt, blieben die Gliederverrenkungen der Satyrn und Faune lächerlich und eine Menge choregraphischer Motive einfach unverständlich. Und dies war für das Ganze von desto üblerer Wirkung, als eine korrekte [215] und unverkürzte ›Tannhäuser‹-Aufführung unter des Meisters Mitwirkung – im Jahre 1875 doch nur auf Grund der Pariser Tannhäuser-Partitur, als der in seinem Sinne einzig gültigen, ausgeführt werden konnte12 und eben diese auf die Venusbergszene ein hervorragendes Gewicht legte. Stundenlang verweilte er auf der Bühne und erteilte jedem einzelnen, ermüdet und doch unermüdlich, seine Weisungen über Stellung, Mimik und Aktion. Es gelang ihm, den Einzug und die Begrüßung der Gäste auf der Wartburg, im bisherigen Wiener Arrangement ein Muster von Unnatur und Ungeschmack, so lebendig, so reich und mannigfaltig, im engsten Anschluß an jede Nüancierung der Musik, mit so interessanten Details und doch so vollendeter szenischer Einheit darzustellen, daß sich der ganze Vorgang abspielte, als erlebe man ihn wirklich. Im Sängerkriege selbst wurde die Partie des Walter von der Vogelweide gestrichen, ebenfalls in Gemäßheit der Pariser Partitur. Dem Sänger des Tannhäuser war, wie erwähnt, mit seiner Rolle eine Aufgabe gestellt, deren dramatische Anforderungen, sobald sie ernstlich erfaßt wurden, seine Kräfte bei weitem überstiegen. Dennoch machte der in seine alten Rechte wieder eingesetzte, verzweiflungsvolle Ausbruch tiefster Zerknirschung im Finale des des zweiten Aktes: ›Zum Heil den Sündigen zu führen‹, auch aus seinem Munde einen erschütternden Eindruck. Allerdings mußte ihm die Ausführung dadurch erleichtert werden, daß der Meister die Ritter und Sänger pausieren und nicht, der ursprünglichen Intention gemäß, den Gesang Tannhäusers durch flüsternde oder jäh einfallende Akkorde unterbrechen ließ! Zu den nötigsten Wiederherstellungen gehörte die Ergänzung des Gebetes der Elisabeth, welches damals in Wien in der allgemein gebräuchlichen rohen Verkürzung um den mittleren Vers gesungen worden war; auch die Schlußszene ward durch die Wiederaufnahme des Chores der jüngeren Pilger zu breiterem und befriedigenderem Ausklingen gebracht.

Unter all diesen Vorbereitungen entzog er sich – mannigfachem Zureden [216] von verschiedenen beteiligten Seiten folgend! – keineswegs völlig der Teilnahme an den künstlerischen Leistungen der österreichischen Kaiserstadt. So wohnte er gleich am Tage nach seiner Ankunft (2. Nov.), erkältet und ermüdet, wie er war, in einer Loge des Hofopernhauses der von Hans Richter geleiteten Aufführung des Verdischen Requiems bei, – mit welchem Grade von Befriedigung, darüber fehlt jede nähere Auskunft. Sogar Bizets ›Carmen‹, welche damals durch das grelle Hervortreten der neueren französischen Manier die Wiener als Novität interessierte, mußte er (6. Nov.) über sich ergehen lassen; Goldmarcks ›Königin von Saba‹ aber (10. Nov.) und ein von ihm angehörter Akt der ›Afrikanerin‹ (12. Nov.) riefen ihm die schlimmen Zeiten des Pariser ›Tannhäuser‹ ins Gedächtnis zurück, wo er nach neunjähriger Zurückgezogenheit in der Schweiz auch diese schlechtesten Sachen sich angesehen, um Sänger zu prüfen, und sich völlig – wie jetzt! – im Zustande der Schuld empfunden habe. Wenn er in Wien leben und dauernd mit dem Theater zu tun haben müßte, nie wieder würde er eine Feder anrühren, um Noten zu schreiben, so sehr scheine ihm alles entweiht! Der Besuch einer Vorstellung der ›Zauberflöte‹ (15. Nov.), die er seinen Kindern zeigen wollte, soll ihm angeblich den Wunsch entlockt haben, hier gelegentlich auch einmal ein Werk Mozarts oder Webers, die ›Zauberflöte‹ oder ›Don Juan‹, den ›Freischütz‹ oder auch ›Fidelio‹ mit den Sängern einzustudieren13; eine Äußerung, deren Echtheit dahingestellt bleiben und gerade unter den mühevollen Verdrießlichkeiten der Einstudierung des ›Tannhäuser‹ besonders zweifelhaft erscheinen muß. Am 18. Nov. nahm er an einer der regelmäßigen Hellmesbergerschen Quartettsoireen teil, bei welcher auch Brahms in einem Klavierquartett eigener Komposition mitwirkte. Die vorzüglichste Gesamtleistung dieses Abends war die klare und beseelte Wiedergabe des gewaltigen Beethovenschen A moll-Quartettes op. 132. ›Richard Wagner, der mit seiner Gemahlin in der ersten Reihe der Sperrsitze Platz genommen hatte, gehörte zu der Zahl Derjenigen, die dieser hervorragenden Leistung am meisten applaudierten.‹14 Auch sprach er am Schlusse des Abends dem Konzertgeber seinen warmen Dank für den großen Genuß aus.

Ruhebedürftig durch die fortgesetzte Arbeit an den Proben, mit ihren unablässigen Anspannungen und Ärgernissen, begrenzte er seinen gesellschaftlichen Verkehr auf einen engen Kreis persönlicher Freunde, wie Standhartner, Semper, Gräfin Dönhoff, Fürst Rudolf Lichtenstein und Fürstin Marie Hohenlohe, geb. Wittgenstein; doch schlug er auch die Einladung des Herzogs von Meiningen, als freundlichen Gönners, nicht aus, als ihn dieser am Tage der zweiten Orchesterprobe zu sich zum Diner aufforderte. Er sah auch[217] Makart wieder, der ihn mit Lenbach wenige Tage vor der Aufführung besuchte, mit dem Bedauern, dieser nicht mehr beiwohnen zu können, da beide Freunde für diesen Winter eine Reise nach Ägypten vorhatten. Einen fortdauernden Grund zur Verstimmung gab ihm die durch nichts berechtigte, anspruchsvolle Forderung seines Berliner Verlegers Fürstner15, an den – durch einen neuerdings geschlossenen Spezialvertrag zwischen dem Meister und der Wiener Direktion vereinbarten – Tantièmen für die nachkomponierten Tannhäuser-Szenen partizipieren zu wollen!! Es gab Korrespondenzen über Korrespondenzen, ohne daß dem Manne sein Standpunkt begreiflich zu machen war, wonach ihm bloß das Verlagsrecht der Partitur, keineswegs aber das Aufführungsrecht zustand.

Drei Wochen nach seiner Ankunft war durch rastlose Betätigung seinerseits der ›Tannhäuser‹ so weit gediehen, daß schon für den 22. November die erste Vorstellung angesetzt werden konnte. Da sich kurz vorher das durch nichts begründete Gerücht verbreitete, er werde dieselbe persönlich dirigieren, sah er sich zur Widerlegung desselben durch ein an die Direktion gerichtetes Schreiben vom 18. November veranlaßt, welches von dieser der Öffentlichkeit übergeben wurde. ›Worin meine Mitwirkung bei dieser Aufführung bestehen konnte, haben Sie und sämtliche ausführende Künstler erfahren, und wissen demnach, daß mein Platz hierfür zwischen dem Orchester und der Bühne war. Da ich diesen unmöglich auch vor dem Publikum einnehmen kann, kehre ich bei der Aufführung schicklicherweise dahin zurück, wohin jeder um sein Werk, nicht aber um seine Person besorgte Autor gehört, nämlich dahin, wo ihn das Publikum über dem Gelingen seines Werkes vergißt. Nie habe ich mich, seit längeren Jahren, mehr an dem Studium meiner dramatischen Werke beteiligt, als wenn ich namentlich auch einen mir durchaus vertrauten Orchester-Dirigenten zur Mithilfe hatte; diesem seinen Ehrenanteil an dem Gelingen des Ganzen zu entziehen, dünkte mich überdies eine Ungerechtigkeit, welche ich am wenigsten meinem so sehr befähigten jungen Freunde, dem Hofopern-Kapellmeister Hans Richter, erweisen möchte. Lassen Sie mich daher bei dem verhofften Erfolge des bevorstehenden Abends gänzlich außer aller Beachtung, und möge dafür den werten Künstlern der reichliche Lohn für ihre mir bewiesene große Ergebenheit in keiner Weise durch Ablenkung der Aufmerksamkeit des Publikums verkürzt werden.‹

Wiederholungen der Vorstellung waren nur wenige in Aussicht genommen; um so mehr schien ein Sitz-oder Stehplatz eine Lebensfrage für Tausende zu werden. Das Haus war am Aufführungsabend in allen Räumen zum Erdrücken [218] überfüllt. Richard Wagner hatte mit den Seinigen in einer Parterreloge Platz genommen. Unter den auswärtigen Teilnehmern befand sich, auf seine besondere Einladung, auch Tichatschek, einst – vor dreißig Jahren – selbst der Träger der Hauptrolle. Die musikalische Welt der Kaiserstadt war in fieberhafter Aufregung und mit dem ganzen fessellosen, jubelnden Überschwang des süddeutschen Blutes feierte man den hochberühmten Meister in seinem, trotz aller sonst gewohnten Verunstaltung, populärsten Werke. Die Unzulänglichkeiten auch der heutigen Aufführung kamen demgegenüber nicht in Betracht. Der schwächliche Labatt blieb seiner Rolle alles schuldig, Frau Materna war mit all ihren hervorragenden künstlerischen Eigenschaften doch nicht gerade zur Venus berufen. Aber über all diese Mängel hinweg tat das Werk seine unvergleichliche Wirkung. Den stürmischen Rufen nach jedem Aktschlusse dankte er von seiner Loge aus. Als er am Schlusse durch tausendstimmigen Jubelruf zum Erscheinen auf der Bühne und zu einer Ansprache an das Publikum gedrängt wurde, sprach er die wenigen Worte: ›Es werden nun im Mai fünfzehn Jahre, daß ich bei Ihnen, in Wien, zum erstenmal meinen Lohengrin hörte und mich Ihrerseits einer so überaus warmen Aufnahme zu erfreuen hatte. Diese Freude hat sich für mich heute gewissermaßen wiederholt, und es bewegt mich Das, in meinen Bemühungen fortzufahren, Ihnen meine Werke, soweit es die vorhandenen Kräfte gestatten, immer näher zu führen.‹ Einen ihm aus dem Orchester dargebrachten Lorbeerkranz überreichte er seiner Elisabeth, Frau Ehnn, die während der Proben allerdings durch den persönlichen Verkehr mit dem Meister unendlich an überzeugendem Ausdruck gewonnen hatte. War ja auch für alle übrigen Mitwirkenden dieser unmittelbare Verkehr von dem wohltätigsten Einfluß gewesen. Um so sprechender für die Tendenz planmäßiger Aufwiegelung und Verhetzung seitens einer gewissen kritischen Clique der Donaustadt war die Art und Weise, in welcher die großen Wiener Zeitungen sofort aus seinen eigenen Worten gegen ihn Kapital zu schlagen versuchten. Die Erwähnung der ›vorhandenen Kräfte‹ sollte einzelne Sänger verletzt und völlig gegen ihn verstimmt haben; es habe darin seinerseits eine unerhörte Anmaßung gelegen, eine Beleidigung der mitwirkenden Künstler und so sei diese Äußerung auch von ihnen aufgefaßt worden. Für den 25. war die zweite Aufführung angesetzt; in einer am Vormittag abgehaltenen kurzen Probe unterließ er es nicht, zu völliger Besänftigung jeder etwaigen Empfindlichkeit und gekränkten Eigenliebe, dem versammelten Personale die besondere Versicherung zu geben, daß er stets die ›Sache‹ und nie die ›Person‹ im Auge habe. Es war dies nur ein neuer Beweis für seine Herzensgüte, die auch den leisesten Schatten einer künstlich erzeugten Mißstimmung zwischen ihm und seinen Künstlern verwischen wollte.16 Er fügte[219] hinzu, daß er diese sie betreffende Erklärung ihnen mündlich kundgebe, nicht aber gedruckt und öffentlich, weil er ›die Presse verachte‹. In den Zeitungen wurde Alles wortgetreu referiert; nur statt: ›er verachte die Presse‹, war zu lesen: ›er hasse die Presse‹. ›So etwas wie Haß‹, bemerkte dazu der Meister, ›vertragen sie sehr gern, denn »natürlich kann nur. Der die Presse hassen, welcher die Wahrheit fürchtet!« Aber auch solche geschickte Fälschungen sollten uns‹, fährt er fort, ›nicht davon abhalten, ohne Haß bei unserer Verachtung zu bleiben: mir wenigstens bekommt dies sehr erträglich.‹17

Sofort nach der zweiten Aufführung des ›Tannhäu ser‹ wurden am Vormittag des 26. November die Vorbereitungen zum ›Lohengrin‹ aufgenommen. Am 29. beging er in heiterer Stimmung in Sempers Familienkreise dessen 71. Geburtstag: beiden alten Freunden war es eine Wohltat, sich nach vorübergehender Spannung völlig wiedergefunden zu haben und es wurden manche Erinnerungen an gemeinsame Dresdener Erlebnisse ausgetauscht, namentlich in der Revolutionszeit. Im übrigen brachten diese Tage doch wieder mancherlei Verstimmendes: die dritte Vorstellung des Tannhäuser, für den 29. angesetzt, kam nicht zustande, weil Labatt sich krank meldete; ob aus Unfähigkeit oder bösem Willen, oder wirklichem Unwohlsein, war schwer zu entscheiden. Der Eindruck von Gounods, statt dessen eingeschobener, Oper ›Romeo und Julia‹ war so widerwärtig, daß er nur dem, einige Tage zuvor von einem Wilbrandtschen Trauerspiel empfangenen verglichen werden konnte; dazu waren auch die ersten Erfahrungen am ›Lohengrin‹ nicht die erfreulichsten. Alles dies vereinigte sich in seinem Innern zu dem ernstlichen Wunsch, nicht länger in dieser peinigenden Situation zu verharren, vielmehr sich an der zweifelhaften Genugtuung des Tannhäuser als ›Mustervorstellung‹ genügen zu lassen, vom Lohengrin gänzlich abzusehen und sich zu seiner wahren Erleichterung sofort zur Abreise nach Bayreuth anzuschicken. Er bat Direktor Jauner, ihn zu besuchen, um ihm diese Eröffnung zu machen: der Schrecken des so wohlgesinnten Mannes bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit war aber so groß, daß er genügte, um den kaum gefaßten Beschluß wieder fallen zu lassen und das Joch wieder auf sich zu nehmen. Bis zur Mitte Dezember dauerten diese Peripetieen und erneueten Zweifel, und er mußte sich sagen: wenn er jetzt Wien verließe, so würden die daran sich knüpfenden Folgen gar nicht im voraus zu bestimmen sein. Dabei hörten die täglichen Gemeinheiten [220] der Wiener Presse nicht auf. Ein neu aufgebrachter Zeitungsklatsch gefiel sich in der Aussprengung der gerüchtweisen Behauptung: er habe das Bayreuther Unternehmen aufgegeben, und stehe im Begriff, sein dort errichtetes Haus zu verkaufen!! Dies alles prägte sich in bitterster Empfindung so tief seinem Gedächtnisse ein, daß er noch vier Jahre später in einem an Jauner gerichteten Briefe gelegentlich einer erneuten Einladung desselben darauf zurückkommt. ›Glauben Sie, daß die sechs Wochen im Winter 1875 als angenehme Erinnerungen in meinem Gedächtnisse leben? Selbst wenn ich mich gar nicht um Ihre Aufführungen bekümmern, keiner Probe beiwohnen und bloß auf gut Glück bei den Vorstellungen Figur machen wollte, würde ich, wenn ich nur über die Straße gehen oder etwa einem Betteljungen ein Wort sagen würde, im Kot herumgezogen werden, und – wie die Freunde nun einmal sind – Alles von diesen mir wiedererzählen lassen müssen. Nein, lieber Freund! Als ich am letzten Abend nach Ihrem üppigen Souper von Ihnen schied, wußte ich, daß ich nie wieder Wien betreten würde!‹18

Durch diese ganze Periode zogen sich nun aber außerdem noch die beständigen Fürstnerschen Unannehmlichkeiten. Eigensinnig beharrte dieser Mann auf den von ihm gestellten unerhörten Forderungen. Da er bei dem Meister kein Entgegenkommen fand, wandte er sich an die Direktion, und ließ vor der dritten Aufführung durch seinen Wiener Vertreter, einen dortigen Rechtsanwalt Dr. Kotzoll, Einsprache erheben: dieser verlangte, daß weitere Aufführungen des ›Tannhäuser‹ unterbleiben sollten, bis das Gericht gesprochen haben würde!! Die Direktion konnte auf dieses Verlangen nicht eingehen, da sie die Partitur rechtmäßig von ihrem Urheber erworben, und verwies den Advokaten an die Finanzprokuratur, welche die beiden Wiener Hoftheater in ähnlichen Fällen zu vertreten habe. Dr. Kotzoll sprach hierauf mit dem Meister selbst, der ihm nur wiederholen konnte, daß Fürstner nur der Verlag der Partitur, nicht aber die Bewilligung der Aufführung zustehe. ›Alles Material zur Instruktion des Advokaten habe ich vorrätig‹, schrieb er darüber an Feustel, ›wen aber wähle ich zum Anwalt? Können Sie, als Hauptstütze für mich, hierfür das Nötige einleiten, um sofort nach meiner Ankunft an die Sache gehen zu können?‹ Ein volles Jahr mußte unter den gehäuften Unannehmlichkeiten dieser Angelegenheit vergehen, mitten unter den Festspielarbeiten ließen ihm die daraus erwachsenden Belästigungen keine Ruhe, bis er endlich in einem Briefe an Standhartner (vom 2. Januar 1877) melden konnte, der ›Prozeß gegen den p. p. Fürstner sei mit Glanz gewonnen‹. Wieviel Ärger aber hatte er inzwischen durch die sich steigernden Anmaßungen jenes Mannes zu erleiden gehabt, [221] der soweit gegangen war, tatsächlich unter allerlei chikanösen Bedrohungen (Sistierung der Aufführungen u. dgl.) die Auszahlung eines Tantièmenanteils bei der Wiener Direktion durchzusetzen, die er dann nach gefallener Entscheidung wieder zurückzuzahlen hatte! – – –

Die Anspannungen, denen sich der Meister in täglicher Arbeit an den Vorbereitungen des ›Lohengrin‹ ausgesetzt sah (erste Probe am Freitag, 26. Nov.), wären geringer gewesen, wenn er es über sich vermocht hätte, in irgend einer Beziehung es sich leichter zu machen. Gerade dies war aber bei ihm durchaus nicht möglich, da er bei jeder Gelegenheit einzig darauf bedacht war, das von ihm gemeinte ›Beispiel‹ zu geben. So arbeitete er denn mit dem ihm zur Verfügung gestellten unvollkommenen Material genau mit derselben Hingebung, als wenn es das kostbarste, gediegenste gewesen wäre; immer nur bestrebt, dessen klaffende Mängel durch seine eigene geistige und moralische Einwirkung zu ersetzen. Was er unter diesen Umständen schließlich, mit den ›vorhandenen Kräften‹, durch unermüdliche persönliche Unterweisung für ein herrliches, bis in das kleinste Detail harmonisches Ensemble ermöglichte, war erstaunlich und stellte seine dramaturgische Genialität in das hellste Licht. Wir heben hier einige, den Wienern bis dahin gänzlich fremde Einzelheiten hervor. So mußte der Herold bei den – sonst ins Publikum hineingesungenen – Rufen zum Gotteskampf die ganze Bühne bis in die äußerste Tiefe hinabschreiten und seine Stimme nach der Wald- und Flußregion ertönen lassen, von wo allein ein Retter für Elsa erscheinen kann. Der Chor bei der Ankunft des Schwanenritters gewann unter seiner Leitung eine völlig hinreißende Gewalt. Da schwand alles übliche verlegene Dastehen und sorglose in die Luft Hineinfechten, mit wachsendem Eifer griff jeder Einzelne in die Aktion ein. Auch der Vortrag des Chores nahm unter der drastischen Anweisung Wagners: ›sie sollten nicht mitschreien, sondern singen, so schön als möglich singen, als wenn sie lauter Solopartieen vorzutragen hätten!‹, alsbald eine überraschende Färbung an. Beim Zweikampf wurde die Illusion mächtig dadurch erhöht, daß – zugleich mit historischer Treue – ein um die Kämpfen den sich schließender Ring von Reisigen dieselben dem Auge des Zuschauers fast ganz entzog. Im zweiten Akte gelangte besonders das, selbst in mittleren Aufführungen so fesselnde Bild der Szene im Burghof zu vorzüglicher malerischer Gesamtwirkung. Der entscheidende Wendepunkt für das Drama ›Lohengrin‹, das große Ensemble: ›in wildem Brüten muß ich sie gewahren‹, war in Wien bereits durch Hans Richter vorbereitend in seine Rechte eingesetzt, doch blieb dem Meister zur ›unverkürzten‹ Aufführung noch Vieles zu ergänzen übrig. Und zwar waren es, neben dem zauberisch schönen Mittelsatz des Brautzuges, wieder gerade die für den Fortgang und die folgerecht natürliche Entwickelung der dramatischen Handlung wichtigen, trotzdem aber bei den sonstigen Aufführungen der ›Oper‹ Lohengrin geflissentlich ausgelassenen Teile; wie z.B. [222] das so charakteristisch notwendige Erscheinen der vier mißvergnügten Edlen, an denen Telramund den Rückhalt findet, welcher einzig sein späteres Auftreten, sowie den nächtlichen Überfall erklärt u.s.w. Doch war dies alles, wie gesagt, nicht ohne die größte persönliche Anstrengung, im Überwachen und Antreiben nach allen Richtungen zu erreichen, so daß er dem Abschluß sich entgegensehnte. ›Müde, abgehetzt und abgeärgert, schreibe ich Ihnen spät abends diese Zeilen‹, so beginnt eine geschäftliche Mitteilung an Feustel vom 11. Dezember. ›Wir kommen, so Gott will, Mittwoch Vormittag 11 Uhr zurück; mich drängt es sehr zur Rückkehr. Ich bin sonst hier mit Manchem – zumal mit der Direktion – sehr zufrieden; wir sind die besten Freunde. Nur wünschte ich jetzt, daß Alles ein Ende habe. Montag Abend: Generalprobe von Lohengrin. Dienstag Abend mit Westbahn – geht es fort! Möge ich Sie alle wohl und freundlich gesinnt antreffen!‹19 Dieser Plan, auf Tag und Stunde vorausberechnet, erfuhr nur dadurch einen Aufschub, daß die für Dienstag angesagte Aufführung tatsächlich einen Tag später, am Mittwoch, den 15., stattfand.20 Mit aus diesem Grunde, weil er sich nach getaner Arbeit überflüssig fühlte und es ihn nach weiteren Wiener Triumphen nicht gelüstete, wäre es ihm, dem völlig Erschöpften und von Kräften Gebrachten, eine Befreiung gewesen, wenn er gleich nach der Generalprobe (13. Dezember) hätte abreisen dürfen. Aber der bloße Gedanke daran war für den Direktor ein neuer Schrecken; er flehte ihn an zu bleiben, worauf der Entschluß abermals verändert ward.

Der Aufführung am 15. ging noch ein festliches Mahl bei Direktor Jauner voraus. Um 1/27 begann dann die Aufführung, in ihrer Gesamtheit von dem ungeheuersten, gewaltigsten Eindruck, so daß ihre enthusiastische Aufnahme noch diejenige des ihr vorausgegangenen ›Tannhäuser‹ übertraf. Wagner wohnte ihr, fast unsichtbar, im zweiten Rang mit den Kindern bei, seine Gemahlin in einer Parterreloge mit Graf und Gräfin Dönhoff. Nach dem ersten Akte bereits brach ein stürmischer Jubel aus, ohne daß der Meister sich zeigte; am Schlusse gab es eine Begeisterung und Hingerissenheit, wie man sie in der Hofoper selten erlebt. Nachdem das ganze Personal immer wieder sich gezeigt, begab er sich auf die Bühne, um den Mitwirkenden zu danken; diesen Moment benutzte Direktor Jauner, um den Vorhang unversehens aufziehen zu lassen, und nun erhob sich ein endloser Jubel des Publikums und der Künstler, in deren Namen ihm der Direktor eine kostbar ausgestattete, in ihrem Wortlaut [223] von überströmender Begeisterung und Ehrerbietung zeugende Dankadresse überreichte. In der Tat bekundete sich ein, den Meister selber erheiternder Gegensatz zwischen der, von allen Wiener Zeitungen beständig wiederholten Unwahrheit, er sei mit der Direktion, mit den Sängern zerfallen und überworfen und dieser spontanen, von dem gesamten Personal ihm dargebrachten öffentlichen Ovation. ›Es darf wohl bei dieser Gelegenheit bemerkt werden‹, schreibt ein Berichterstatter über diese Aufführung21, ›daß alles, was von gewissen Zeitungen über Verstimmung des Opernpersonals gegen R. Wagner, über »Beleidigungen« und »Hofmeistereien« einzelner Sänger durch den Meister u. dgl. verbreitet wurde, giftige Lüge einer verrotteten Clique ist, welche es dem größten Künstler der Gegenwart nicht verzeihen kann, daß er sich nicht schmeichelnd an sie herandrängt, daß er auch wohl die Unberufenen von sich abwehrt. Mit wem ich nur sprach, von den Solisten, vom Chor und Orchester, sie waren eine Liebe und Bewunderung für den Meister; sie sagten es offen heraus, Wagners längere Anwesenheit an unserer Hofoper sei von unendlich wohltätigem Einfluß auf unser ganzes Opernwesen; manche Sänger hätten jetzt erst gelernt, daß es noch etwas Höheres gäbe, als den ephemeren Beifall des großen Haufens für stimmliche Kraftäußerungen: es wäre ihnen wie Schuppen von den Augen gefallen, worin denn eigentlich wahre dramatische Kunst bestehe, und wie man sich zu benehmen hätte, um fort und fort zu interessieren, wenn man auch zufällig keine Rouladen, Triller, Fermaten etc. in den Mund zu nehmen hat.‹ Den immer erneuten jubelnden Beifallsausbrüchen erwiderte der Meister schließlich mit warmen, herzlichen Abschiedsworten: er wälzte darin die ganze Verantwortung für das Gelingen auf die Schultern der Sänger und des Orchesters ab; er dankte jedem Einzelnen mit förmlicher Rührung; er ›entschuldigte‹ sich endlich beim Publikum, wenn er neulich (nach der Tannhäuser-Aufführung!) ›ein bischen zu vertraulich gewesen‹. ›Und das ist der Mann‹, fügt der Berichterstatter hinzu, der diese Worte reproduziert22, ›den man so gern als das Muster des Dünkels, der Selbstvergötterung hinstellt!‹ Wenn übrigens der Meister nach dieser Aufführung wirklich glücklich war, so wissen wir, daß sich dieses Gefühl nicht allein auf das verhältnismäßige Gelingen bezog, sondern recht hauptsächlich auch darauf, daß es nun wirklich zu Ende war. Über die Nachwirkung seiner aufopfernden Tätigkeit auf das Wiener Operninstitut gab er sich, nach unzähligen früheren Erfahrungen, keinen Täuschungen hin. ›Als ich vor einigen Jahren‹, sagt er später im Rückblick auf diese überaus anstrengungsvollen Tage, ›zwei meiner Opern dem Wiener Sängerpersonale einstudierte, beklagte sich der Haupttenorist23[224] bei einem meiner Freunde über das Unnatürliche meines Verlangens, er solle für sechs Wochen tugendhaft werden und alles ordentlich ausführen, während er doch wisse, daß er, sobald ich wieder fort wäre, nur durch das gewöhnliche Opernlaster der Schluderei werde bestehen können. Dieser Künstler‹, fügt er hinzu, ›hatte recht, die Tugend als eine lächerliche Anforderung zu verklagen.‹24

Bei seinem Scheiden gab er dem Chorpersonal der Wiener Hofoper noch das Versprechen, in nicht ferner Zeit eine Vorstellung des ›Lohengrin‹, in welchem gerade der Chor so Vorzügliches geleistet, daß er gegen sonst nicht wiederzuerkennen war, zum Benefiz für denselben persönlich zu dirigieren, und kehrte sodann – nach fast siebenwöchentlicher Abwesenheit – in das winterlich stille Bayreuth zurück. Mancherlei Gutes und Schlimmes erwartete ihn hier, um die wenigen Wochen bis zum Abschluß des Festspielvorjahres und zum Eintritt in das entscheidungsvolle Festspieljahr auszufüllen. In einem freundlichen Briefchen an seinen musikalischen Beistand in der Nibelungenkanzlei, Zumpe, damals Musikdirektor in Salzburg, worin er ihm den ›Fliegenden Holländer‹ für die dortige Oper bewilligt, referiert er (21. Dezember 1875) demselben auch über die seitherigen Schicksale seines Bayreuther Kollegen Anton Seidl. ›Diesem ists leider sehr schlecht ergangen: er wurde in Pest in das Militär gesteckt und kam erst los, nachdem er 10 Tage finstern Arrest mit 4 Tagen Fasten u.s.w. überstanden. Dazu starb seine Mutter und hinterließ ihn gänzlich arm Jetzt ist er in München und studiert dem Unger den Siegfried ein. So blieben nur noch Fischer und Rubinstein hier zurück.‹ Von den beiden letztgenannten hatte sich Franz Fischer nicht allein in hohem Grade sein Wohlwollen, sondern u.a. auch das Verdienst einer sehr sorgfältigen Durchsicht aller bisherigen Kopiearbeiten erworben, weshalb ihn der Meister in heiteren Reimen als ›Zumpe-Seidlschen Fehler-Verwischer, Zukunftsmusik-Kapellmeister Fi scher‹ feierte.25 Um die Weihnachtszeit hatte sich auch Fischer nach München begeben, von wo der kleine Bayreuther Künstlerkreis, die von Wagner selbst so genannte ›Nibelungenschmiede‹, bestehend aus Hey, Unger, Seidl und Fischer, der verehrten Meisterin zu ihrem Geburtstage, dem 25. Dezember, ein Glückwunschgedicht entsandte, welches von Wagner mit zwei munteren Vierzeilen erwidert wurde.26

[225] Mit Verdrießlichkeiten und Unannehmlichkeiten war übrigens die, in das Festspieljahr überleitende Jahreswende so reich als nur irgend möglich gesegnet. Sogleich nach seiner Rückkehr aus Wien begannen die Verhandlungen mit Feustel, einerseits über die Angelegenheit mit Voltz und Batz (S. 160), andererseits über den drohenden Prozeß mit Fürstner, dessen Hartnäckigkeit dem Meister die neue unangenehme Notwendigkeit in Aussicht stellte, sich abermals von Bayreuth fort, nämlich in Person nach der Reichshauptstadt zu begeben, um die Sache an Ort und Stelle zum Ziele zu führen. Recht erhebliche Widerwärtigkeiten bereitete ihm ferner der Sänger Scaria durch abenteuerlich rücksichtslose Entschädigungsforderungen für seine Mitwirkung als ›Hagen‹ im nächsten Sommer. Er verlangte für den Monat August allein den unerhörten Betrag von 7500 Mark, und außerdem für jeden Tag des Monates Juli 250 Mark! Hierauf antwortete ihm offiziell der Verwaltungsrat, außerdem auch noch der Meister selbst in einem vertraulichen Briefe vom 30. Dezember. ›Stünde hinter mir, wie Sie irrtümlich anzunehmen scheinen, ein reicher Mann oder gar Monarch, so würde ich nicht anstehen, im Geheimen Ihre Forderung zu gewähren‹, – und dies zwar, weil er wahres Talent hochschätze und gar keinen Preis für seine Leistungen kenne. Andererseits könne er aber bei seiner so gewagten Unternehmung nur mit offenem Buch für alle Mitwirkenden verfahren und würde demnach jedem der Künstler, welche mit wahrer Aufopferung sich ihm zur Seite stellten, fast eine Beleidigung antun, wenn er einem einzelnen, der sich aus Reihe und Glied stellte, sich unterwürfig zeigen wollte. Bereits hatte er in dem eben verflossenen Sommer, und zwar gerade mit Scaria, eine dahin zielende Erfahrung gemacht. Eine diesem Sänger für die sehr kurze Zeit seiner Mitwirkung gezahlte Vergütung war von ihm geheim gehalten worden; als sie dennoch bekannt wurde, war unter den übrigen Künstlern ein Mißbehagen entstanden, welchem man nur auf seine besonderen Vorstellungen keinen Ausdruck gab. Noch weniger schön war es freilich von Scaria, daß er es für seiner nicht unwürdig hielt, jene ihm zugegangene geschäftlich kurze Mitteilung des Verwaltungsrates in Wiener Zeitungen zu veröffentlichen und dabei über die von ihm tatsächlich gestellten Forderungen falsch zu berichten.27 Noch immer gab ihn der Meister nicht auf. Er kannte die bewährte Macht seines moralischen Einflusses auf seine Künstler, deren er schon so manchen im guten zum Guten zurückzulenken gewußt. ›Wenn er geneigt wäre, seine gegen mich begangene Übereilung gut zu machen‹, schreibt er am 1. Januar darüber an Frau Materna, ›würde er sich vielleicht veranlaßt finden, jenen falschen Bericht, als habe man ihm in Bayreuth für [226] drei Monate 2000 Fl. abgeschlagen, der Wahrheit gemäß zu korrigieren.‹ Und am 15. Januar wendet er sich in der gleichen Angelegenheit an Direktor Jauner: ›Da Herr Scaria zögert, mit seiner Antwort auf mein Schreiben mich bekannt zu machen, ich aber andererseits für den schlimmsten und von mir so gern abgewendeten Fall mich vorsehen muß, ersuche ich Sie nun, mit Übergehung alles des Unschicklichen und tief Bedauerlichen, was in dieser Angelegenheit vorgefallen ist, sich zu meinem künstlerischen und geschäftlichen Sachwalter gütigst machen zu wollen und als solcher ein Abkommen mit Herrn Scaria zustande zu bringen, welches mir auf ihn fernerhin rechnen zu können ermöglicht.‹ Aber schon fünf Tage später (20. Jan.) hatte er aus Jauners Antwort mit Bedauern zu ersehen, daß dessen Bemühungen fruchtlos gewesen waren. Es war ihm daraus ersichtlich, daß Scaria zu ihm, wie der Meister es ausdrückte, in kein anderes Verhältnis, als das zu einem Impresario oder einer Theaterintendanz treten wolle, ›nur noch mit der Ausnahme, daß er meiner Unternehmung keinen Kredit gibt.‹ Das von ihm verlangte Geld wäre zu beschaffen; die als Bedingung seiner Zusage gesetzte Vorausbezahlung aber sei eine Beleidigung für das Ganze, und werde als solche auch von den übrigen Genossen des künstlerischen Unternehmens aufgefaßt. Und trotz diesem formellen Verzicht auf die Mitwirkung des halsstarrigen und unehrerbietigen Künstlers treffen wir ihn noch am 10. Juli wieder mit ihm in gütlicher Korrespondenz – so viel war ihm an dem richtigen Vertreter für seinen ›Hagen‹ gelegen! – Es ist bekannt, daß Scaria die ihm zugedachte Partie nicht gesungen hat, daß die ersten Bayreuther Festspiele – ohne seine, dem Meister so erwünschte Mitwirkung vor sich gingen!! – –

Das waren – wie gesagt – die Erfahrungen an seinen eigenen Künstlern, die ihn in das neue Jahr 1876 hinüberleiteten! Glücklicherweise bildete Scaria unter diesen, im Großen und Ganzen genommen, doch nur eine bedauernswerte Ausnahme: mit der Mehrzahl unter ihnen war es leichter zu verhandeln! Ein schöner, vertrauensvoller Brief an Unger vom 1. Januar bietet zu der eben berührten Schattenseite etwas von der Lichtseite dieses Verkehrs. Und doch zeigt er uns in erster Linie immer wieder nur sein eigenes, großes, gütiges, liebevolles Herz, mit dem er auch aus der Ferne auf die ihm Ergebenen, zu ihm Gehörigen einwirkte, um sie zu edlen weitgesteckten Zielen heranzuziehen. ›Damit ich an diesem Neujahrstage doch auch etwas Freundliches vornehme, schreibe ich Ihnen noch am Schluß des Tages auf Ihren heute erhaltenen guten Brief. Ich kann wohl sagen, daß ich seit dem Abschlusse unserer Vorproben nur Widerwärtiges erfahren habe. Ein tröstlicher Blick ist es dagegen, den ich auf Sie werfe: Sie stehen – mit Hey – in meinem Buche der Hoffnungen eingetragen. Seit Schnorrs Tode wußte ich, daß ich vereinsamt und auf ein Neues, Unbekanntes angewiesen war. Ich hoffte nicht, dieses mir fertig entgegentreten zu sehen, sondern vermeinte immer, es mir erst [227] herausbilden zu müssen. Um den Rechten zu erkennen, bedurfte es für mich nicht der guten und ausreichenden Begabung, sondern ich mußte auf den Charakter, den höheren Ernst desjenigen rechnen können, den ich fortan als mir bestimmt erkennen sollte. Nun machen Sie mir in beider Hinsicht große Freude!‹ Er wünscht ihm, daß ›Siegfried‹ ihm bald ›bis in die kleinste Muskel festsitzt‹, und gedenkt mit Teilnahme auch Schlossers (als Mime): ›Möge Hey doch auch diesen etwas vornehmen.‹ ›Meinen guten Seidl halten Sie ja recht warm: ich glaube nicht, daß es viele solche wie ihn gibt.‹ Das war der Ton, in dem er mit den Seinen verkehrte; wer, der ein lebendig schlagendes Künstlerherz in der Brust trug, konnte ihm widerstehen?

Fußnoten

1 Band I des vorliegenden Werkes, (S. 207/4. Aufl.).


2 Band I des vorliegenden Werkes, S. 207.


3 Ebendaselbst S. 445/46.


4 Eine Erinnerung an diesen kurzen Prager Aufenthalt brachte kürzlich die Prager Bohemia. ›Ich war damals noch ein junger Mensch‹, erzählt daselbst ein, »alter Abonnent« jenes Blattes, als mir durch Zufall ein Teplitzer Blatt in die Hand kam mit der Nachricht: Wagner sei von dort nach Prag abgereist. Um jeden Preis wollte ich den Meister sehen! Spornstreichs lief ich von Hotel zu Hotel; im »Schwarzen Roß« fand ich ihn einlogiert und erblickte ihn hernach auch persönlich im Café Français. Er ging von da durch die Zeltnergasse nach dem Großen Ring; ich immer wie ein Schatten hinterdrein. Sie betraten die Teinkirche: Wagner erklärte den Seinen die Bilder und Grabstätten. Dann ging es zurück zum Kleinen Ring etc. Leider nahmen die heimlich von mir Verfolgten nunmehr einen Wagen, der sie allzu schnell meinem Gesichtskreis entführte. (›Bohemia‹ Nr. 327 v. 26. Nov. 1904.)


5 Musikalisches Wochenblatt vom 8. Oktober 1875.


6 Leonhard Labatt (1838–97) war schwedischer Abkunft, aus Stockholm gebürtig, von 1868 bis 1882 eines der geschätztesten Mitglieder der Wiener Hofoper, trotzdem aber nur ein äußerst mäßiger ›Tannhäuser‹.


7 Bd. IV (III1) d. vorlieg. Werkes, S. 41/43.


8 Bayr. Bl. 1903, S. 198/99.


9 ›Mit unserer Sache scheint es ja unbedenklich vorwärts zu gehen?‹ heißt es in demselben Brief vom 14. November. ›Gestern ließ auch ein Fürst –skiA1 wegen Patronatschein anfragen; verwiesen an Sie. Heckel meldete mir 4 Stück‹ u.s.w.


10 Anton Seidl, ›Über das Dirigieren‹ (Bayreuther Blätter 1900), S. 293.


11 Vermutlich waren dieselben, wie hinsichtlich der Kostüme bereits berichtet (Band III, S. 313 Anm.), stückweise im Dienste der Meyerbeerschen ›großen Oper‹ verwendet worden!


12 Fünf Jahre früher hatte sich Herbeck um diese Partitur beworben, und Wagner ihm darauf (1. April 1870) geantwortet: ›Ihre Anfrage wegen der neuen Szenen zu Tannhäuser setzt mich in ein besorgliches Nachdenken Allerdings sind Wien und Berlin die einzigen Orte, wo namentlich die Balletszene gut aufgeführt werden könnte. Damit ich vor meinem Tode auch den Tannhäuser noch ganz nach meinem Sinn einmal aufführen könne, habe ich mir daher vorgenommen, es abzuwarten, bis einem dieser Theater es einmal in den Sinn käme, mich aufzufordern, den Tannhäuser auf ihm korrekt zu bringen. Hierzu gehört allerdings nicht nur die Vortrefflichkeit des Ballets, sondern namentlich ein Darsteller für die so sehr exzentrische Rolle des Tannhäusers, wie ich ihn jetzt, nach Schnorrs Tode, leider in Deutschland nicht kenne. Ob sich solch einer noch bei meinen Lebzeiten finden wird, muß ich nun ruhig abwarten: ohne ihn unternehme ich aber jedenfalls keine Tannhäuser-Aufführung; ohne mich aber lasse ich meine neuen Szenen nirgends aufführen. Wenn also die Münchener Theaterintendanz eine Kopie dieser Szenen Ihnen ablassen wollte, sollte sie – – –!‹ Daß er von dem letzteren Teil dieses Vorsatzes durch das Andrängen Jauners abgegangen war, hatte er nun durch doppelte Mühe bei den Proben zu büßen!


13 Musikalisches Wochenblatt, 1875, S. 626, auf Grund einer Äußerung des Wiener Fremdenblattes.


14 Musikalisches Wochenblatt vom 17. Dezember 1875.


15 Adolf Fürstner in Berlin, Nachfolger jenes unglücklichen Dresdener Verlegers CFF. Meser (in den Verlagsrechten des ›Rienzi‹, ›Fliegenden Holländer‹ und ›Tannhäuser‹), der dem Meister in früheren Jahren durch seine geschäftliche Unbeholfenheit so andauernde Unannehmlichkeiten bereitet. (Vgl. z.B. Band II, S. 146/47. 188, Band III (II2), S. 102. 330.)


16 Sehr passend drückten sich die Leipziger ›Signale‹ bei späterer Veranlassung (nach der im folgenden Frühjahr von ihm selbst dirigierten Lohengrin-Aufführung) aus. ›Alle, welche bei dieser Gelegenheit beleidigt zu werden hofften, gingen zu ihrer nicht geringen Enttäuschung leer aus. Wenn es sich für Wagner der Mühe verlohnte, so könnte man sagen, er habe sich damit auf sinnreiche Art gerächt.‹


17 Der vorausgehende Passus lautet: ›Diese Herren Zeitungsschreiber – die einzigen, welche in Deutschland ohne ein Examen bestanden zu haben angestellt werden! – leben von unserer Furcht vor ihnen; Unbeachtung, gleichbedeutend mit der Verachtung, ist ihnen dagegen sehr widerwärtig.‹ (Ges. Schr. X, S. 178.)


18 Brieflich an Direktor Jauner, 5. September 1879. Das hier gemeinte ›Souper‹ bei Jauner ist das vom 3. März 1876, nach der ›Lohengrin‹.Aufführung zu Gunsten des Wiener Opernchors (vgl. S. 236).


19 Bayreuther Blätter 1903, S. 189/90.


20 In diese Tage völliger Erschöpfung und äußersten Überdrusses an allem und jedem, was mit der Wiener Unternehmung in Zusammenhang stand, fällt (12. Dezember, 2 Uhr mittags) die von den Biographen Hugo Wolfs so oft mit allen Einzelheiten berichtete einmalige kurze Begegnung des Meisters mit dem enthusiastischen kleinen Konservatoristen, die Heckel (Erinnerungen, S. 99) versehentlich in die Tage des Wiener Konzertes im März 1875 verlegt.


21 Dr. Theodor Helm in ›Musikal. Wochenblatt‹ 1876, S. 21.


22 Siehe die vorige Anmerkung!


23 Es kann nur Labatt gemeint sein, da der Sänger des Lohengrin, ein Herr Müller, keineswegs ein ›Haupttenorist‹ genannt werden konnte; er war vielmehr, trotz guter Stimmmittel, noch wenige Jahre zuvor ein geradezu stümperhafter, ›halb bemitleidenswerter, halb lächerlicher‹ Lohengrin gewesen, und allein der Zauber der meisterlichen Unterweisung hatte ihn zu allgemeiner Überraschung weit über seine sonst geringen Kräfte erhoben: er hatte demnach alles dem Meister selbst zu verdanken.


24 Ges. Schr. X, S. 199.


25 Als Inschrift in eine Partitur des ›Siegfried‹ mit dem Datum: ›Bayreuth, 28. Februar 1876‹ (vgl. R. Wagner, Gedichte, S. 176).


26 Gedichte, S. 116. Ebendaselbst S. 117 findet sich das humoristische Dankesgedicht an den Dresdener Hoftheaterchor, der sich unter dem Datum: ›Dresden, am Weihnachtstag 1875‹ mit einem Huldigungsbriefe an ihn wandte; und auf S. 118 das Gedicht. ›Es lebe die Polizei‹ an Bürgermeister Muncker, mit welchem er diesem eine Geldsumme zur Verteilung an die einzelnen Diener der Gerechtigkeit, der heiligen Hermandad von Bayreuth, am Neujahrstage übersandte, datiert vom 31. Dezember 1875.


27 Nach unserer subjektiven Überzeugung führt bereits jene auf S. 143/44 dieses Bandes erwähnte höchst taktlose und ärgerliche Notiz der ›Wiener Presse‹ auf niemand anderes als auf Scaria als intellektuellen und moralischen Urheber zurück.


A1 Nach dem Verzeichnis der ausgegeben Patronatscheine der russische Fürst Viktor Barjatinsky.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 208-229.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon