X.

Wieder in Bayreuth.

[406] Klimatische Belästigungen – Beginn der Instrumentation des ersten Aktes. – Gobineaus ›Renaissance‹, Schelling. – Neumanns Plan zu einer Berliner ›Nibelungen‹-Aufführung. – Konflikte mit Hülsen. – Humperdinck in Bayreuth. – Brandt und die Verwandlungsmusik. – ›Erkenne dich selbst!‹ – Beschäftigung mit Gobineau; Abendlektüre: Cervantes, Shakespeare, Calderon. – Interesse für die Buren in Transvaal. – Besuche; Unwohlsein. – Vollendung der Partitur des ersten Aktes. – Nach Berlin.


Es ist kein Kleines, die Weltgeschichte zu durchlaufen und hierbei Liebe zum menschlichen Geschlechte bewahren zu wollen. Hier kann einzig das unzerstörbare Gefühl der Verwandtschaft mit dem Volke, dem wir zunächst entwachsen sind, ergänzend eintreten: wir haben Mitleiden und bemühen uns zu hoffen, wie für das Los der eigenen Familie.

Richard Wagner.


Wieder in Bayreuth! Wieder in den grauen Nebeln, in der herbstlichen Rauheit der nordischen Heimat! Wieder in den trauten Räumen des selbst erwählten, selbsterrichteten Ruhesitzes, in den Räumen von Wahnfried, das er so liebte, nach dem es ihn selbst in der Ferne verlangte, aus dem ihn nur die Unbilden des Klimas mit Gewalt vertreiben konnten! In diesen Räumen, die er so gern schmückte und mit den neugewonnenen Trophäen seines Aufenthaltes im Süden ausstattete! Frau Wagner übernahm die Arbeit dieser Einrichtung, und die große gelbseidene gestickte Decke aus Neapel, sein letztes Geburtstagsgeschenk, breitete sich nun stolz über der Tür des Saales aus, wo sie noch heute ihren Platz hat. ›Ganz Neapel segle da auf ihn zu!‹ rief er aus und nannte den herrlichen Schmuck das ›Liebespanier‹ oder ›Isoldes Segel‹. Als aber gleich nach der Ankunft am ersten Abend (in Gegenwart Wolzogens und Joukowskys) jemand von den Anwesenden auf den Gedanken verfiel, sich die Wände des Raumes mit prächtigen Gobelins geziert zu denken, da konnte er außer sich geraten, und das ›nicht Gut, noch Gold, noch herrische Pracht‹ trat in seinen Worten mächtig ins Leben. Nein, keine nichtssagende [406] Pracht war in seiner Umgebung geduldet; jedes Stück, das er um sich sah, mußte die allerpersönlichste Bedeutung haben, mit seinem Dasein innig verschmolzen sein und einen Teil seiner Erinnerungen bilden. Er sprach dies nicht so unter Zitation der ›Götterdämmerung‹ aus, wie wir es hier getan, aber es war dem Sinne nach das, was sich in seinem Unwillen, seiner Abneigung gegen einen sinnlos äußeren fürstlichen Luxus aussprach, den der hohe Geistesfürst in seiner Umgebung nicht duldete.

Wir sprachen soeben von der Rauheit des heimischen Klimas, während allerdings gerade in den ersten Tagen nach der Ankunft eine für die vorgerückte Jahreszeit höchst exzeptionelle drückende Hitze herrschte, dabei aber doch ein starker Wind und andauernd grauer Himmel. Dies Ungewohnte der klimatischen Bedingungen verursachte eine starke Reizbarkeit; auch stellte sich gleich bei einem der ersten Ausgänge der alte Brustkrampf wieder ein Geschäftliche Ärgernisse durch unerhörte Prätensionen seiner Bevollmächtigten Voltz und Batz kamen dazu: mit diesen war er längst auf den Punkt gelangt, daß er sie als Spekulanten erkannt hatte, die seine Willigkeit, einen Teil seiner Geschäfte auf sie abzuwälzen, mißbrauchten Leider war sein Kontrakt mit ihnen1 bereits abgeschlossen, bevor er noch die Bekanntschaft Feustels und dessen Schwiegersohnes Adolf Groß gemacht! Sonst wäre es wohl überhaupt nicht dazu gekommen. Am liebsten hätte er die mit ihnen geschlossenen Stipulationen ganz wieder aufgehoben; doch hing dies nun nicht mehr von ihm und seiner einseitigen Willenserklärung ab. Zu einem freiwilligen Zurücktritt aus der ihnen einmal verliehenen Rechtsstellung waren jene Herren nicht zu bewegen, sondern nur zu einem Rückkauf der ihnen zedierten Rechte gegen die Summe von 100000 Mark. Er hatte also nur die Wahl zwischen einer einmaligen und einer allmählichen Übervorteilung; gegen beides empörte sich sein Rechtsgefühl vergebens, und er blieb nach wie vor darauf angewiesen, in jedem einzelnen Falle die wahrgenommenen Ausschreitungen zu restringieren, und dabei beständigem Ärger ausgesetzt, – einem wirksamen Bundesgenossen des heimischen Klimas. Er empfand die anhaltende Nässe gleichsam wie den Einfluß feindseliger Elementarwesen, wie sie ihm zuweilen im Traume erschienen: bei einem solchen Klima, sagte er, sei allerdings nur das Deutschland so eigene Kneipenleben bei Lampenlicht möglich, wobei aber die Leute verkämen Grauer Himmel, Windwüten, Lichtlosigkeit dauerten fort, bis weit in den Dezember hinein, so daß auf den dennoch erzwungenen Spaziergängen seine anfängliche Heiterkeit fast immer in ihr Gegenteil umschlug: er behauptete, es sei der Monsun, die äußerste Steigerung des vom Äquator herausdringenden Südwindes, der mit seinem unaufhörlichen Wehen die Nebel doch nicht verscheuchen könne. Wie ein Gespenst stand die Sorge [407] vor einer Wiederkehr der Gesichtsrose vor ihm. Diesen Winter wolle er hier noch ausharren, im nächsten Winter aber über Sevilla und Palermo nach Venedig gehen, um dort den Palazzo Loredano zu beziehen, Deutschland nur mehr als ›Musikhalle‹ anzusehen. Doch wurden die Betrachtungen über die ernste Frage, ob er den Schwerpunkt seines Lebens wirklich außerhalb Wahnfried verlegen sollte, von ihm selbst nur als höchst betrübend empfunden.

Unter diesen Umständen hatte er, seinem Vorsatz gemäß, am 23. November, kaum eine Woche nach seiner Ankunft die Arbeit an seiner Partitur wiederaufgenommen. Selbst in diese wollte er sich unter den bezeichneten Umständen nicht finden; die allgemeine Mißstimmung beunruhigte ihn so, daß er mit dem Geleisteten nicht zufrieden war: er möchte sein Werk, sagte er in dieser Stimmung, am liebsten ganz neu komponieren. Trotzdem machte er sich daran, war aber unter den Voltz und Batzischen Einwirkungen nicht dazu aufgelegt, fühlte sich zerstreut, verschrieb sich und mußte wiederholt radieren. Seine bestgeschriebene Partitur, sagte er bei solcher Gelegenheit, sei die vom ›Lohengrin‹ gewesen. Er betrachtete einmal den Schluß der ›Götterdämmerung‹: so etwas Kompliziertes würde er doch nie wieder machen. Ging er dazwischen aus, so war es der Nässe wegen ohne Freude, oder er wurde wieder von dem, was er seinen ›Krebs‹ nannte, auf der Brust gepackt. Er arbeitete nun nicht mehr ausschließlich in den Vormittagsstunden, sondern auch abends. Als einmal davon die Rede war, daß er die Melodie Beethovens ›fortge setzt‹ habe, stellte er dies entschieden in Abrede: das sei etwas ganz in sich Abgeschlossenes. ›Ich hätte nicht komponieren können, wie ich es getan, wenn Beethoven nicht gewesen wäre; aber was ich verwendet und erweitert habe, das sind vereinzelte Züge bei dramatischen Vorgängern, wie selbst Auber, indem ich an etwas ganz anderes mich hielt, als die Oper.‹ Zuweilen klagte er, daß er Instrumente brauche, die er gar nicht habe er müßte welche neu erfinden, und zwar nicht etwa, um mehr Lärm zu machen, sondern um das auszudrücken, was er wollte. So, während er Amfortas zum Bade geleitete, wobei er sich für den Abgang zu dem See schließlich für Posaunen und Trompeten entscheiden wollte; so seltsam es wäre, es würde sich schon gut machen, wie damals die Trompeten und Flöten in der ›Faust‹-Ouvertüre. Nie habe er sich für seine Instrumentation in den Wirkungen getäuscht Wohl sei es ihm früher vorgekommen, daß er die Begleitung seiner Sänger etwas überladen habe; nie aber habe er sich in der Instrumentation an und für sich geirrt. So freute er sich in jedem einzelnen Falle, wenn er ›heute nur Gutes gemacht‹ habe; er war dann übermütig entrückt, ganz im Zauberbann seiner Kunst, und konnte von innigsten Gefühlsäußerungen zum wildesten Scherz übergehen.

[408] Daß er bereits in den Münchener Tagen mit vielem Interesse in Gobineaus ›Renaissance‹ gelesen habe, erwähnten wir schon (S. 404); er hatte dort die drei ersten Teile des Buches mit Eifer durchflogen und aus dem Beginn des vierten Teiles den Ausspruch Michelangelos über Leo X. zitiert, wonach dieser nicht die Kunst, sondern den Luxus liebe: ›Papst Leo X. liebt nicht die Künste; er liebt den Luxus, und das ist etwas ganz anderes. Alles, was glänzt und ihm Lobsprüche einbringt, scheint ihm seines Schutzes würdig, und für ihn sind die Künste Werkzeuge der Eitelkeit. Was sie ausdrücken, danach fragt er nicht. Der erste der Sterblichen, der dem Luxus huldigte, hat vielleicht angefangen, den Weg zu ebnen, auf dem die Künste in die Welt gekommen: aber der zweite hat diese wieder über den Haufen geworfen, um den Schwulst und die Lüge an ihre Stelle zu setzen‹ Der Gestaltenreichtum, die Wahrheit und Unmittelbarkeit der Darstellung, vermöge deren hier der Historiker in echt Shakespearescher Weise die Personen für sich selbst reden und handeln läßt, fesselten ihn Schritt für Schritt und Zug für Zug, das ganze weitangelegte und groß durchgeführte Werk hindurch. Einzelne Abschnitte daraus, wie die Szene von Properzias Tode oder die zwischen Tizian und Aretin, brachte er selbst gelegentlich abends zum Vortrag. Eben die Anschauung der Renaissanceperiode in Kunst und Geschichte, die die seine war und die an den erinnerungsreichen Hauptstätten der italienischen Kultur jederzeit zu ihm gesprochen, ja im Gegensatz zu der bisherigen allgemein üblichen blinden Verherrlichung jenes Zeitraumes seinem künstlerischen Gefühl sich aufgedrängt hatte, sie lag diesem großen dichterischen Komplex in all seinen Teilen zugrunde. Mit wahrer Ergriffenheit las er die letzte Szene zwischen Michelangelo und Vittoria Colonna. So viele Züge seines eigenen Wesens, die unbedingte Wahrhaftigkeit, verbunden mit großer Energie und übermäßiger Heftigkeit des Temperamentes und das in der Verbindung beider begründete Leiden erkannte er in Michelangelo wieder und bewunderte die Feinfühligkeit, mit welcher Gobineau die Stellung des Künstlers zu jener Periode zum Ausdruck gebracht. Weniger konnte ihn das, mit nicht minder großem Zug und weitem Atem angelegte dreiteilige epische Kunstwerk des ›Amadis‹ ansprechen, aus dem einfachen Grunde, weil es damals noch nicht vollendet war und der Autor, als er den ersten Teil seines Gedichtes in einer kleinen Auflage für seine Freunde drucken ließ, das Beste davon, nämlich die Fortsetzung, noch für sich zurückbehalten hatte, indem er es noch in seinem schaffenden Geiste mit sich herumtrug. Der bloße erste Teil konnte dem Meister begreiflicherweise weniger sagen.2 Von der französischen Poesie mit ihren Reimkünsten und ihrem unrhythmischen, silbenzählenden Versbau [409] war er ja von jeher wenig erbaut; auch erinnerte ihn gerade die ser erste Teil des Ganzen durch den leichten Ton der Erzählung in fast empfindlicher Weise an die Künste des Ariost, mit denen er nicht gern etwas zu tun hatte. So legte er sich vergeblich die Frage vor, weshalb der Dichter gerade jene mannigfachen Zaubergeschichten in den Kreis seiner Dichtung gezogen hätte, da sie entschieden der Provence und ihrer Mohren-Bevölkerung angehörten und mit ihren nichtssagenden bunten Bildungen die echten Züge der nordischen Sage überwuchert hätten.

Zwischen beide Gobineausche Dichtungen hatte sich für ihn noch eine andere Lektüre eingeschaltet. Es war dies Konstantin Frantz' unglückseliges dreiteiliges Buch über ›Schellings positive Philosophie‹.3 Mit welcher warmen Befriedigung hatte er erst das Jahr zuvor desselben Autors umfangreiche Studie über den ›Föderalismus‹ mit seinen weitschauenden politischen und nationalökonomischen Ausblicken begrüßt! Wir kennen die Einschränkungen, unter denen er diese seine Freude dem Verfasser selbst gegenüber brieflich ausgesprochen (S. 227 ff.) und die Erwägungen, die ihn dazu bestimmten, sich doch nicht so ohne weiteres in den ›Bayreuther Blättern‹ öffentlich darüber zu äußern Inzwischen hatte er dennoch jenes Buch selbst in mehreren Exemplaren sich kommen lassen, um es privatim unter seine, Freunde zu verteilen, damit es durch die Fruchtbarkeit und überzeugende Klarheit seiner politischen Gedanken einen möglichst weitreichenden Nutzen stifte. Unterdessen aber war der Politiker als unablässig wirkender fruchtbarer Literat – in seinem Mitteilungsdrange unglücklicherweise unter die Philosophen gegangen, und hatte er schon in seiner ursprünglichen Eigenschaft vom Meister wegen seiner Hinneigung zu fremdartigen Bundesgenossen beklagt werden müssen, so konnte er sich diesmal, als philosophischer Betrachter der Dinge, in keine schlimmere Gesellschaft begeben, als die, welche schon seit frühen Zeiten offenbar seines Horizontes sich bemächtigt hatte.

Es war an einem Novemberabend, kaum vierzehn Tage nach seiner Ankunst in Bayreuth, daß er den Kreis seiner jungen Freunde, Wolzogen, Rubinstein, Jäger und den soeben von München her anwesenden Porges im Saale von Wahnfried um sich hatte und ihnen seinen Unwillen, ja seine Entrüstung über diese Lektüre lebhaft zum Ausdruck brachte. Er habe zuweilen geglaubt, Schopenhauer sei zu schroff, indem er diese seine philosophierenden Zeitgenossen kurzweg als Charlatane behandle; aber es sei ganz richtig und das von ihnen Vorgebrachte die reine Windbeutelei. Zum Beleg dessen gab er einen allerdings unglaublichen Passus daraus zum besten: die Existenz Gottes bewiesen durch ihre Unmöglichkeit. ›Wenn er – Schelling – nur [410] glaubt, daß er den lieben Gott er wischt hat, dann ist für ihn alles gut. »In der Tat, was konnte der in Kants und Schopenhauers strenger Begriffsschule Erzogene zu einem philosophischen Schriftsteller sagen, der in seitenlangen Auseinandersetzungen über den«vollkommenen Geist‹, den ›an sich seienden Geist‹, den ›für sich seienden Geist‹ und den ›bei sich seienden Geist‹ sich ergeht: wie der an sich seiende Geist nur für sich sei, so sei der für sich selbst seiende Geist nicht an sich. Er sei vielmehr der ›außer sich, von sich weg seiende Geist‹. Beide vereinigen sich im Begriff des bei sich seienden Geistes oder des im An-sich für sich seienden Geistes! Auf solchen Wegen mittelst künstlicher abstrakter Begriffstaschenspielereien schließlich ganz überraschend mit an, für, bei und außer sich zum kirchlichen Trinitätsbegriffe zu gelangen, das sollte dann für eine ›Offenbarungs-Philosophie‹ gelten, um derentwillen ein Friedrich Wilhelm IV. ihren Urheber einst – nach Hegels Abgang – in seine Residenz berief: ›nicht als gewöhnlichen Professor, sondern als den von Gott erwählten und zum Lehrer der Zeit berufenen Philosophen‹. Zu einigen dieser Taschenspielereien hatte bereits der junge Schopenhauer, lange vor der Aufstellung und Durchführung seines eigenen Systems, seine kritischen Randglossen gemacht; z.B. zu dem höchst problematischen: ›Gott oder dem Absoluten ist das Sein wesentlich, oder vielmehr: Gott selbst ist wesentlich das Sein, und es ist kein Sein außer Gott! » Oder: Wir könnten nicht sagen: das Sein Gottes;«denn das Sein Gottes wäre selbst Gott, weil dieser eben nichts anderes ist, denn Sein‹. ›Hier bemüht er sich‹, hatte Schopenhauer dazu bemerkt, ›den Begriff Gott einzuführen, oder vielmehr nur den Namen: denn was er damit meint, ist von dem, was der Name ursprünglich bezeichnet, gänzlich verschieden: er hat nicht den Mut, auch diesen leeren Namen fallen zu lassen, sondern will, daß er vorkomme, wenn auch in ganz anderer Bedeutung.‹4 Der gute Wille, auf diese Anschauungen seines alten politischen Freundes einzugehen, bewog ihn, volle drei Wochen lang sich in dessen neues Buch zu vertiefen; aber das Ergebnis blieb immer das gleiche. Es bestand allein in dem tiefen Kummer, so gute und fähige Köpfe, wie Frantz, sich dermaßen in den Nebel der Konfusion verrennen zu sehen; es sei nun doch kein Wort mehr mit ihm zu reden. So seien wir Deutsche,[411] zum Tiefsinn angelegt und jeder nun so, als ›Original-Genie‹, eine Raupe für sich ausbildend, die ihn zum Imbezillen und dann tückisch mache. Selbst der ›Amadis‹ – so wenig, wie gesagt, dessen bloßer erster Teil ihn befriedigte – erschien ihm durch den Kontrast akzeptabler, als er ihm sonst erschienen wäre, da er auf diese unfruchtbaren Bemühungen folgte: den kargsten Traktat hätte er danach mit Vergnügen lesen können.

Wiederum war die stille Zeit gekommen, in der es trotz Nässe und Ärger von außen hauptsächlich nur innere, geistige Vorgänge in Wahnfried gab: den Wechsel zwischen Arbeit und Lektüre. Von dem unerfreulichen Eindruck der Konstantin Frantzschen Verwirrung erholte er sich gern, indem er den Kindern abends Raimundsche Lustspiele vorlas, wie den ›Bauer als Millionär‹. An der soeben erscheinenden, durch die Fürstin Wittgenstein inspirierten, Ramannschen Liszt-Biographie berührte es ihn äußerst peinlich, daß bei Lebzeiten eines Menschen alle seine Beziehungen in dieser Weise öffentlich besprochen werden dürften. Dagegen erfreute es ihn, von seinen Briefen an Uhlig nun auch die letzte Serie in sauberer Abschrift geliefert zu erhalten; er las sie mit größtem Interesse und erneute mit Staunen die Wahrnehmung, wie völlig gleichartig die Stellung seiner Kunst gegenüber der Öffentlichkeit und seine des Künstlers Empfindungen darüber damals und jetzt waren. Eine Reihe von Abenden wurde bei diesen Briefen verbracht; mit den Kindern gemeinschaftlich aber Cervantessche Novellen, zunächst ›Preziosa‹, gelesen. ›Wenn wir die Nöte in solch einer Existenz, wie die des Cervantes gewahren‹, sagte er dabei, ›so können wir uns sagen, daß es dem Weltwillen auf etwas ganz anderes ankam, als ihn in Ehren und Wohlstand gelangen zu lassen.‹ In diesem Sinne wies er immer wieder auf die ›moralische Bedeutung der Welt‹, mit dem Endziel der Resignation, d.h. der Erkenntnis der Tragik des Daseins hin. In bezug auf die Erzählung selbst hob er die Vorliebe des Dichters für die Zigeuner hervor, gleichsam um in ihrem Lagerleben und dessen ausführlich dargelegten Satzungen die Sehnsucht nach einer Zuflucht außer der Welt zu befriedigen. Der junge Edelmann, der sich aus Liebe zu Preziosa ihnen zugesellt, will das Maultier opfern, auf dem er sich zu ihnen flüchtete, um die Spuren seiner Flucht zu verwischen; der Zigeuner tritt für das unschuldige Tier ein und erklärt es für eine ›große Sünde‹, ihm das Leben zu nehmen; er will es dagegen in seinem Aussehen so verwandeln, daß niemand es wiedererkennen soll. Am Ende müsse der Maulesel doch dem Kavalier zuliebe sein Leben lassen, wie sei das ergreifend und sinnreich!›Alles wird gesehen, gesagt, aber nichts ausgesprochen‹ Mit wachsender Freude daran wurde die Novelle ›Rimorete und Contado‹ an zwei aufeinanderfolgenden Abenden gelesen und häufig durch lautes Gelächter der Zuhörenden unterbrochen. ›Ich sehe das Auge, welches dies alles sah‹, sagte er von diesem liebenswürdigen Muster-und Meisterwerk, dem gegenüber in [412] seiner ›Leichtfüßigkeit‹ alle spätern Nachbildungen des gleichen Sujets armselig und prosaisch plump erscheinen mußten. Viel weniger Vergnügen machten ihm die Türkengeschichten, wie z.B. die Erzählung ›der großmütig Liebende‹; sie wurde auch nicht bis zu Ende gelesen. Ein neues Heft des Generalstabswerkes über den deutsch-französischen Krieg vergegenwärtigte ihm die Heldentaten von Belfast: ›es ist unmöglich‹, rief er aus, ›das nicht zu bewundern, und wozu sind alle diese Kräfte aufs Spiel gesetzt worden?‹ Er kam auf seine früher gehegte, von Berlin aus ihm durchkreuzte Absicht zurück, eine Trauermusik für die in diesen Kämpfen Gefallenen zu komponieren;5 er habe diese Absicht noch keineswegs aufgegeben und würde dann jene Antwort des sterbenden Feldwebels: ›Herr Leutnant, ich sterbe für Deutschland‹ als Motto an die Spitze setzen. ›Ich sterbe für Deutschland!‹ rief er aus, ›was ist das für ein ekstatischer Zustand!‹ – Die Reichstagsdebatten über die Judenfrage entlockten ihm den Ausspruch, daß alles Reden und alle Maßregeln unnütz wären, solange der Besitz da sei. Hier könnte nur der Weltfriede helfen; solange man aber, einer gegen den andern, auf dem Wehrfuß stünde, so lange würden auch die Juden mächtig sein. Ein öffentlicher Vortrag des Berliner Vegetarianers R. Springer über ›Religion und Kunst‹ hatte in den Berliner Zeitungen ein starkes Echo hervorgerufen ›Ja‹, rief er dazu, ›wir wandeln auf dieser Oberfläche unserer Zivilisation, wie die Götter in Walhall, und denken nicht an die Nacht und Gräßlichkeit unter uns.‹

Inzwischen hatte Direktor Neumann von Leipzig aus mit allem Eifer die Angelegenheit eines großen Nibelungengastspiels in der Reichshauptstadt betrieben. Bereits nach Venedig hatte er dem Meister die Mitteilung machen können, daß die Hindernisse, welche sich der Idee zuletzt in den Weg gestellt hatten, beseitigt seien. Er hatte die Genehmigung des Leipziger Stadtrates dafür erhalten; die Pforten des Berliner Viktoriatheaters standen ihm offen, und es war ihm gelungen, eine auserlesene Künstlerschar dafür anzuwerben. In gleicher Zeit bewarb sich allerdings die Hamburger Oper (Pollini) durch Vermittelung ihres Kapellmeisters Sucher um das gleiche Vorrecht eines solchen Berliner Gesamtgastspiels für den ›Ring des Nibelungen‹; da aber in bezug auf dieses Unternehmen Neumann die Priorität hatte, entschied er sich ohne Bedenken für letzteren und gab ihm dies von München aus brieflich zu verstehen, indem er sich mit seinem Vorhaben einverstanden erklärte. Am liebsten hätte Direktor Neumann es seinerseits nun gesehen, die Aufführung nicht im Viktoriatheater, sondern im kgl. Hoftheater geben zu dürfen. Er begab sich daher aus eigenem Antrieb nach Berlin, behufs Rücksprache mit Herrn von Hülsen. ›Als die Nibelungenaufführungen für Berlin aus dem [413] Stadium eines Projektes herausgetreten waren‹, so erzählt er selbst,6 ›hielt ich es für meine Pflicht, dem Generalintendanten der kgl. Schauspiele, dessen Wohlwollens ich mich stets zu erfreuen hatte, hiervon Mitteilung zu machen. Ich habe bei dieser Unterredung mit meiner Meinung nicht zurückgehalten, daß ich es mit seiner Stellung als Chef der ersten deutschen Bühne unvereinbar, ja geradezu unerklärlich fände, sich diesem unzweifelhaft größten musikalisch-dramatischen Werke gegenüber so schroff und ablehnend zu verhalten‹. Sehr charakteristisch war die Antwort der Exzellenz: ›Sie haben mich überzeugt! Wenn ich die Aufführungen der Nibelungen in Berlin nicht verhindern kann‹ (dies wäre ihm nach wie vor das liebste gewesen!) ›dann ist es mir schon lieber, sie kommen in mein Haus, als in das Viktoriatheater.‹ In einer mehrstündigen Konferenz zwischen Neumann und Hülsen wurde nun die kombinierte Besetzung des großen Werkes teils mit Leipziger, teils mit Berliner Kräften entworfen; Hülsens dabei geäußerte immer wiederkehrende Befürchtungen bezogen sich schließlich nur noch auf die technische Seite, nämlich die (von ihm selbst so bezeichneten7) ›entsetzlichen Mängel‹ der Bühne des von ihm geleiteten kgl. Opernhauses. Zur Beseitigung dieses Hindernisses schlug ihm Neumann eine gemeinschäftliche Besichtigung der Bähne mit Karl Brandt als gewiegtem Kenner und seinem Leipziger Bühneninspektor Römer vor. Einstweilen wollte Herr von Hülsen das ›großartige Projekt‹ seinem allergnädigsten Herrn, dem Kaiser, vortragen, um der allerhöchsten Genehmigung sicher zu sein Natürlich ließ diese nicht lange auf sich warten, und mehr als die von Hülsen vorgeschobenen technischen Bedenken begann nun dem geschäftigen Vermittler, wie er selbst erzählt, ein anderer Umstand ernstliche Sorge zu machen: nämlich, wie sich der Meister dazu stellen würde. ›Obwohl mir nämlich von seiner Seite in bezug auf die Wahl des Theaters keine Verpflichtung auferlegt war, hatten wir bei unseren Verhandlungen doch nie der kgl. Oper gedacht. Es widerstrebte mir nun, ihn mit einer vollzogenen Tatsache zu überraschen. Nachdem die Verwirklichung des Projekts durch die (inzwischen erfolgte) Zustimmung des Kaisers nahegerückt erschien, hielt ich es für meine Pflicht, mich der Zustimmung des Meisters zu versichern. Ich meldete mich also bei ihm telegraphisch an und reiste ohne Verzug nach Bayreuth.‹

Es war am Sonntag, den 28. November, daß Direktor Neumann in Wahnfried eintraf, um Richard Wagner über die neueste Wendung zu unterrichten, welche das gemeinsame Projekt genommen. Sein ausführlicher Bericht darüber hat den einzigen Fehler, daß er zu sehr in direkter Rede gehalten ist und in Worten und Wendungen, die bei weitem mehr nach dem Erzähler, als nach Wagner klingen. Das Tatsächliche dagegen ist richtig wiedergegeben. [414] Die Meldung, daß Herr von Hülsen ihm das kgl. Operntheater mit Orchester und Chor und wen er von den Sängern wolle, für den ›Ring‹ angeboten habe, konnte nach allem Vorausgegangenen keinen sehr großen Eindruck mehr auf den Meister machen. ›Was man in der Jugend wünscht, das hat man im Alter die Fülle‹, sagte er kurz darauf über diese Angelegenheit. ›Wäre diese Aufforderung mir gekommen, als ich in Dresden Kapellmeister war, wie hätte mich das erregt! Und wie gleichgültig läßt es mich jetzt!‹ – ›Denke Dir‹, so habe er (nach Neumann) zu Frau Wagner gesagt, ›Neumann will die Vorstellungen im Opernhause geben; Herr von Hülsen will die Gnade haben, mit ihm den »Ring« aufzuführen!‹ Die wahren Gesinnungen des Herrn Intendanten waren ihm nur allzu bekannt; und darin lag auch deutlich ausgedrückt, daß die jetzt von ihm an den Tag gelegte scheinbare Bereitwilligkeit ihm nur dazu dienen sollte, aus der Not eine Tugend zu machen, weil die Mittel seines Widerstandes endlich erschöpft waren und er die Aufführung an einer anderen Bühne nach seinen eigenen Worten nicht mehr ›verhindern‹ konnte, wie er dies 1853 mit dem ›Tannhäuser‹ im Krollschen Theater,8 späterhin durch Unterdrückung des ›Ringes‹ in Hannover getan,9 und es ihm zuletzt noch, vor zwei Jahren, auf allerlei Umwegen, selbst durch eine auf den Leipziger Rat ausgeübte Pression (S. 92) gelungen war, die gleiche gehässige Obstruktionspolitik zu betreiben! Es wäre nicht zu verwundern gewesen, wenn der Meister daraufhin eine Aufführung des ›Ringes‹ im kgl. Hoftheater nun seinerseits kurzweg abgeschlagen hätte. Er tat dies nicht, sondern ließ seinem Unternehmer volle Freiheit, indem er ihm bloß sein persönliches Erscheinen zur Aufführung für das Viktoriatheater zusagte, für die kgl. Oper aber verweigerte. Sehr erfreute ihn Neumanns Referat über Seidls bewährte Tüchtigkeit. Auch hat Neumann ganz recht, seinen Bericht über diesen Besuch damit zu schließen, daß er ›im besten Einvernehmen mit dem Meister und seiner hochherzigen Gemahlin‹ abgereist sei, die Vergleichung zwischen seiner Klugheit und Energie und dagegen der böswilligen Beschränktheit des Berliner Herrn Intendanten mußte sehr zu seinen Gunsten ausfallen! Sogar die gewünschte Ermächtigung, die Aufführungen, wenn es ihm so gut und vorteilhaft dünke, in die kgl. Oper zu verlegen, war ihm, unter der obigen einschränkenden Bedingung, erteilt worden. Einzig die bis zu offenem Zynismus gesteigerte dünkelhafte Selbstüberhebung des Herrn von Hülsen sollte das so gut Eingeleitete schließlich doch noch verderben! Sehr lehrreich in dieser Beziehung ist der von Neumann in seinen ›Erinnerungen‹ mitgeteilte Briefwechsel zwischen ihm und Herrn von Hülsen, auf den wir hier, ohne näheres Eingehen, den Leser bloß verweisen können!

[415] In der Frühe des 5. Dezember erhielt er während der Arbeit an seiner Partitur jenes Telegramm des reichshauptstädtischen K. Generalintendanten, das nach allen vorausgegangenen mündlichen und schriftlichen Auseinandersetzungen über diesen Punkt mit seinem daran haftenden roten Zettel für die ›bezahlte Antwort‹ direkt wie eine Frivolität sich ausnahm: ›Geehrter Meister! Gibt gemeinschaftliche Aufführung des »Nibelungen«-Zyklus mit Direktor Neumann im Opernhause mir nachher das Recht, die »Walkyre« (sic!) gegen übliche Tantieme in mein Repertoire aufzunehmen? Antwort frei. von Hülsen.‹ Die Depesche trug den Vermerk: ›aufgegeben in Berlin, 5. Dezember 1880, 8 Uhr 30 Minuten, abgefertigt in Bayreuth 9 Uhr 15 Minuten vorm.‹ Zwei Stunden später saß ihr Absender mit Angelo Neumann in seinem Büreau und ließ die Bemerkung fallen: ›Jetzt müßte aber die Antwort kommen.‹ Auf Neumanns Frage: ›welche Antwort?‹ erwiderte er, er habe früh morgens um 8 Uhr jene Depesche abgesandt. Worauf Angelo: ›Das tut mir leid, Exzellenz, das hätten Sie nicht tun sollen. Wagner kann, wie ich Ihnen schon gestern bemerkte, darauf nicht antworten, und Sie werben sehen, erwird nicht antworten.‹ Herr von Hälsen meinte: ›Antworten muß er.‹ Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: ›Das wäre ja eine Unart‹, worauf Neumann entgegnete, ob denn der Herr Generalintendant glauben könne, daß sein Telegramm, welches nichts andres enthielte, als daß ›Rheingold‹, ›Siegfried‹ und ›Götterdämmerung‹ verfehlt und wertlos seien, für ihren Autor eine Schmeichelei bedeute?? Der geschäftskundige Vermittler zeigte mehr künstlerisches Ehrgefühl, als der germanische Edelmann. So groß ist die Gefahr für einen solchen, wenn er seinerseits in die Lage versetzt wird, als ›Intendant‹ mit Werken der Kunst einen organisierten, von oben her mit allerhöchster Autorität gedeckten Handel zu betreiben und den schaffenden Künstler als ›Lieferanten‹ der ihm für sein Publikum nötigen ›Ware‹ zu betrachten! Gar vielsagend war dabei die zugrunde gelegte Fiktion, wenn in dem heute noch gültigen – Hülsenschen Intendantenjargon dieser Künstler, dem Grundsatz: ›divide et impera!‹ gemäß, nach einem einzelnen Teil seiner schaffenden Tätigkeit als bloßer ›Komponist‹ bezeichnet wird. So war man es zu Webers Zeiten gewohnt und versuchte es gleichermaßen auch jetzt noch am Dichter der ›Nibelungen‹ und des ›Parsifal‹! ›Wagners nur allzu verständliches Schweigen auf die Hülsensche Depesche‹, berichtet Herr Neumann weiter, ›verstimmte den Generalintendanten so sehr, daß er sozusagen in letzter Stunde den mühsam ausgearbeiteten Plan fahren ließ. Er stellte dem Kaiser vor, in welch unmögliche Lage man gerate, wenn der Meister nach diesem »Affront« als Ehrengast den Aufführungen beiwohnen würde, und der gütige Monarch gab ihm daraufhin ganz freie Hand zur Erledigung der Angelegenheit.‹ So blieb denn die kgl. Hofoper von der ehrenvollsten künstlerischen Aufgabe freiwillig ausgeschlossen, die nun dem Vorstadttheater [416] zufiel. Dem Meister selbst, der nach allem Vorausgegangenen nicht anders handeln konnte, als er es tat, gab diese aus freien Stücken selbst herbeigeführte Demütigung des Mannes, der sich dreißig Jahre lang übel gegen ihn benommen, nur Veranlassung zu Betrachtungen über das Thema der geschichtlichen Gerechtigkeit. ›Jede Tat, sie sei gut oder schlecht, hat ihre Folgen; ob das Individuum sie erlebt oder nicht, das ist dabei gleichgültig. Hätt man aus, so erlebt man es. Es ist etwas Erhabenes in dieser Gerechtigkeit des Schicksals, denn dieses – das Schicksal – nicht die Menschen sind gerecht!‹

Mit dem Aufgeben des ›unter uns,‹ der großen idealen Hoffnung des Meisters für die Aufführung des ›Parsifal‹, hatte nun auch das ›unter uns‹ für die ›Bayreuther Blätter‹ keinen Sinn mehr. Auch diese sollten nunmehr, da der Patronatverein sich als Illusion erwies, von dieser ihrer ursprünglichen Grundlage sich ablösen; und hatten mit dem tatsächlichen Bestande des Vereines seit ›Religion und Kunst‹ ohnehin wenig mehr gemein. Zahlreich waren die einlaufenden begeisterten Zustimmungen bisher unbekannter eifriger Leser, die sich anheischig machten, hinfort der ›Verbreitung‹ der hier durch den Meister aufgestellten Ideen leben zu wollen. ›Heil uns, daß wir »Religion und Kunst« erlebt!‹ hieß es in einer derselben Gewiß lag hier noch manches Mißverständnis zugrunde, insbesondere in der einseitigen Erfassung des Vegetarianertumes Wolzogens regelmäßige Besuche in Wahnfried gaben häufige Veranlassung zu belehrenden Besprechungen dieser Art, zu Ausführungen darüber, daß ›wir in unseren Blättern keinerlei Spezialitäten, wie etwa die der Vegetarianer, vertreten könnten, sondern immer nur das Ideal hochzuhalten hätten und es denen da draußen überlassen müßten, ihre Spezialitäten zu verfechten.‹ ›So könnten wir auch an der Juden-Agitation keinen besonderen Anteil nehmen.‹ Dagegen wäre zu hoffen, daß sich um die erweiterten. ›Bayreuther Blätter‹ wohl eine Gemeinde bilden könnte, welche durch Kritik des Bestehenden (z.B. der Universitäten!) die Zeiten nach dem unvermeidlichen vollsten Untergang vorbereitete. Als Basis für alle weiteren Betrachtungen wünschte er seine Auffassung eines ›Verfalles‹ der geschichitlichen Menschheit betrachtet zu sehen; nur von dieser Grundlage aus sei die Hoffnung auf eine Erneuerung möglich und denkbar, zu allernächst aber die Begründung einer menschenwürdigen Ethik. Geistig würden die Menschen immer ungleich sein, aber man könne auf eine größere moralische Gleichheit hinzielen. ›Wir würden nichts erreichen; wir konnten aber vorbereiten‹ Nach dem Beispiel der Schopenhauerschen Parerga wärde es gelten, den großen allgemeinen Gedanken auf Einzelnes anzuwenden: auf die Geschichte, die Literatur, das Unterrichtswesen. Dazu müsse man kritisch verfahren, und es würden als Mitarbeiter Personen vorausgesetzt, die viel Witz und Geist besäßen; nur die Ansichten wirklich genialer Menschen könnten interessieren. [417] Daraufhin arbeitete Wolzogen ein Programm für die zu erweiternden Blätter aus, um zur Mitarbeit einzuladen; ein Programm, welches doch wieder nicht ohne Bedenken durchlesen werden konnte: die Verarbeitung der weiten Ausblicke des künstlerischen Weisen durch seine Schüler mußte schwer annehmbar erscheinen, und nur das Scherzwort eines ›Abonnements auf den Verfall der Menschheit‹ (Wolzogen hatte mit seinem Programm eine Aufforderung zum Abonnement verbunden) konnte die gedrückte Stimmung in eine ungemein heitere verwandeln.

Von den in ›Religion und Kunst‹ niedergelegten Gedanken beschäftigte ihn, in seinen Unterhaltungen gern wiederkehrend, viel der Gedanke an eine Auswanderung. Wenn man noch jung sei, meinte er, hätte man gar nichts anderes zu tun. Auch rühmte er die, Fähigkeit zu kolonisieren als eine Haupteigenschaft der angelsächsischen Rasse. Und wieder kam er, in enger Verbindung mit diesen Vorstellungen, auf den einen begeisterten Menschen zu sprechen, der das von ihm Angedeutete mit religiösem Bewußtsein ins Werk setzen sollte. ›Leider müßte der ein Vermögen haben.‹ Mit größter Freude hörte er dann zu, als Rubinstein am Klavier das Es dur-Quartett von Beethoven vortrug. Weniger befriedigte ihn die Wahrnehmung, daß Wolzogen mit seiner Frau das System des Vegetarianismus in seiner Häuslichkeit praktisch adoptiert hatte, weit er sich, wenn auch nur durch ein Mißverständnis seiner Lehre, gewissermaßen dafür verantwortlich fühlte; es kam sogar zu einer väterlich ernsten Auseinandersetzung über diesen Gegenstand, wie er einst auf Triebschen Nietzsche davon abgebracht hatte. Eingehende Gespräche entspannen sich über die Boers in Afrika, welche er gern von den Deutschen gegen die Engländer unterstützt gesehen hätte; er sprach den Wunsch aus, Wolzogen möchte Herrn von Weber auffordern, eine Art Aufruf zugunsten der Boers im Transvaalland für die ›Blätter‹ aufzusetzen, so daß die bevorstehenden Auswanderungen dahin gelenkt würden. ›Unterdessen‹, so berichtet Joukowsky in seinen Erinnerungen über diese Zeit, ›waren alle meine Habseligkeiten aus Neapel in Bayreuth eingetroffen, und ich richtete mich einstweilen behaglich im »Hotel Reichsadler« ein. Ich begann gleich mit den Arbeiten für den »Parsifal«. Es war für mich keine leichte Aufgabe, die Wünsche Wagners zu verstehen, besonders da mir jede Kenntnis der szenischen Anforderungen fehlte. Ich beschränkte mich darauf, die Walddekoration des 1. Aktes, das Innere des Gralstempels, den Zaubergarten und die Blumenaue als Bilder zu malen, wonach die Dekorationsmaler sich richten konnten. Der Gralstempel fiel gleich im ersten Entwurf zu Wagners Zufriedenheit aus; die Waldlandschaften gelangen auch nach mehreren Wiederholungen; aber der Zaubergarten wollte nicht gelingen, und ich habe nicht weniger als sieben Exemplare davon ausgeführt, bis der definitive zustande kam, welcher mich übrigens nie befriedigt hat. Trotz der großen Schwierigkeit dieser ungewohnten [418] Arbeit ist diese Zeit vielleicht die glücklichste meines Lebens gewesen; denn sie gab mir, was sonst nur das Glück der Liebe gibt: das Befreitsein vom eigenen Ich. Es war künstlerische Arbeit, aber ganz ohne Eigenliebe; mein einziges Bestreben war, Wagners Gedanken so vollständig als möglich zu erfassen. Das Leben in Wahnfried war eine schöne vie de château; zu allen Mahlzeiten und den ganzen Abend war ich immer mit anwesend; die ganze übrige Welt, alle früheren Beziehungen waren für mich in den Hintergrund getreten: ich vergaß Vaterland, Familie, alles was mir sonst lieb und teuer war, um ganz in der Kontemplation dieses einzigen Geistes aufzugehen. So stark kann die Wirkung des wahren Genies auf empfängliche Menschen sein.‹

Am 6. Dezember um die Mittagszeit hatte man die allseitige große Freude einer Wiederbegrüßung Heinrichs von Stein, den teils die Sehnsucht nach dem verehrten Hause, teils das Verlangen hierher getrieben hatte, nach seinem Zögling Siegfried sich umzusehen. Dieser letztere war, wie es in jenem an Stein gerichteten Briefe des Meisters hieß, über die plötzliche Abreife seines Mentors fast im Traum erhalten worden, und man gab sich allseitig der Hoffnung hin, das so wohl eingeleitete Verhältnis noch in der Weise aufrecht zu erhalten, daß der erziehende, Freund alle Jahre auf einige Monate nach Wahnfried käme, um nach dem Rechten zu sehen, und später Siegfried zu ihm nach Halle, wo Stein auf den Wunsch seines Vaters sich habilitieren sollte. Hier wollte er u.a. Schopenhauer dozieren, auf direkten Antrieb des Meisters, der es für durchaus notwendig erklärte, die Lehre des Philosophen jeder Kulturbestrebung und somit auch der Erziehung zugrunde zu legen. In welchem Sinne, darüber belehrte sein soeben im Dezemberstück der ›Bayreuther Blätter‹ erschienener Aufsatz: ›Was nützt diese Erkenntnis?‹ Gern veranlaßte er in den täglichen Unterredungen den jungen Freund dazu, sich selbst belehrend über einen ihm vertrauten Gegenstand auszusprechen, und es kam ihm dabei nicht darauf an, ihm mit Teilnahme auch auf bisher unbetretenen Pfaden zu folgen, wie er sich denn eines Abends von ihm das arithmetische Problem des Rechnens mit unbekannten Größen erklären ließ. Kam es dann zwischen Meister und Schüler zu Kontroversen, so waren auch diese von dem Geiste der entschiedenen Hochachtung getragen, den der junge Denker ihm durchweg, selbst in seinen idealistischen Irrtümern einflößte. So, als Stein einmal bei Tische anläßlich Marats und der französischen Revolution die Meinung vertrat, daß man um einer Idee willen selbst vor dem Opfer von Menschenleben nicht zurückschrecken dürfe. Der Meister opponierte ihm mit Carlyles Charakteristik der französischen Revolution als einer ›tollgewordenen Trivialität‹; sie sei nicht als Beispiel heranzuziehen, und wo in der Tat einmal alles darauf ankomme, die Idee durch ein Menschenleben zu besiegeln, würde man dann zuerst sich selbst zu opfern haben. Er beklagte [419] es, wie weit die Verirrung der Menschen gehen könne, wenn sie in Grundirrtümern befangen blieben: der sanfte Melanchthon habe die Verbrennung des Michel Servet gutgeheißen, und die protestantischen Theologen seien für die Sklaverei eingetreten, weit in der Bibel nichts dagegen stünde. Viel, sehr viel hatte es zu sagen, daß er sich dazu herbeiließ, am Vorabend von Steins Abreise aus eigenem Antrieb ihm den ›Parsifal‹ vorzulesen und damit seinem diesmaligen kurzen Aufenthalt die Krone aufzusetzen. Man trennte sich, indem man sich im voraus auf ein baldiges Wiedersehen freute. Wiederholt äußerte er sich den Seinigen gegenüber dahin, für wie bedeutungsvoll er es hielte, wenn Stein wirklich seinen Plan für die Erziehung des Knaben durchführte Inmitten aller sonstigen trüben Erfahrungen hinsichtlich seines Verhältnisses zur Welt und seinen Freunden empfand er diese Beziehung als eine besonders hoffnungsvolle. Er freute sich seiner ritterlichen stolzen und reinen Natur und indem er ihn unwillkürlich mit Nietzsche verglich, behauptete er, daß gegenüber dem einstigen Triebschener Zögling ihre vornehmere Geburt Stein und Wolzogen entschieden zustatten käme. Einstweilen sollte in Ermangelung eines eigentlichen Hauslehrers ein Bayreuther Professor den Unterricht übernehmen; doch entsprach dies an sich keineswegs seinem eigentlichen Wunsch: er wünschte dieses Amt vielmehr durch einen direkt dem Hause und der Familie Attachierten ausgeübt und es verstimmte ihn, bei seinen zahlreichen Freunden es immer mit so ungeschickten Menschen zu tun zu haben, die ihm nichts dafür Passendes verschaffen konnten.

Während die Partitur des ›Parsifal‹ noch kaum bis zur Hälfte der ersten Szene vorgeschritten war und er sich daran freute, wie schon die soeben von ihm instrumentierte Stelle ›schon nah' dem Schloß wird uns der Held entrückt‹ ausgefallen sei, fand aber auch schon am 21. Dezember, fünf Uhr nachmittags, eine der ersten entscheidenden Konferenzen mit seinem getreuen Bayreuther Generalstab vom Verwaltungsrat, den Freunden Feustel, Groß und Muncker, statt, in welcher die wichtigsten Fragen wegen der bevorstehenden Aufführung geregelt wurden. Die Freunde blieben zum Abendbrot, ihre Frauen kamen dazu, und Joukowskys Sänger Pepino, der sein anfängliches Heimweh nach Italien auffallend rasch überwunden, sang dazu sehr hübsch in der Halle, nach ihm auch Jäger. Das Weihnachtsfest nahte heran, mit seinen mannigfach vorbereiteten Überraschungen. Joukowsky hatte dazu mit vieler Liebe und Sorgfalt ein großes lebendes Bild, die heilige Familie, angeordnet ›Daniela von Bülow saß als Madonna, Siegfried als Christusknabe, ein Kreuz hobelnd, Blandine, Isolde und Eva schwebten als musizierende Engel über ihnen, ich stand als St. Joseph, den himmlischen Klängen lauschend, daneben!‹ So erzählt Joukowsky, der am Festabend selbst, um besser anordnen zu können, Pepino statt seiner aufgestellt hatte; das herrlich gelungene Bild, für den Meister das Teuerste umfassend, was er sein eigen [420] nannte, sprach ihn tief und ergreifend an; er wünschte es durch den liebevollen Anordner gemalt und dadurch für die Dauer festgehalten zu sehen. An einem der folgenden Tage machte es ihm Vergnügen, einen soeben in Bayreuth sich produzierenden Taschenspieler zur Ergötzung einer eingeladenen Kinderschar seine Künste in einer Privatvorstellung in Wahnfried zeigen zu sehen. Der geschickte Mann übertraf unter diesen Umständen sich selbst, und Wagner schenkte ihm zur Erinnerung sein Portrait mit der Unterschrift: ›Herr Meunier kann mehr als ich.‹ Von Leipzig aus erschien auf des Meisters Ruf Anton Seidl zu kurzem Besuch. Das Gespräch bei Tische bezog sich auf das bevorstehende Unternehmen Angelo Neumanns in Berlin, und Wagner gab seinem Ärger darüber Ausdruck, daß es in den von der Generalintendanz beeinflußten Blättern der Reichshauptstadt doch nun heiße: Herr von Hälsen sei zurückgetreten und niemand erfahre, daß Er – der Meister – nicht gewollt habe, daß die Aufführung im kgl. Hoftheater stattfinde. ›Der Kapellmeister Seidl ist bei uns‹, heißt es in einem von Neumann in seinen ›Erinnerungen‹ veröffentlichten Briefchen, welches Frau Wagner damals (26. Dezember) an ihn richtete, ›und es war meinem Manne und mir eine, Freude von ihm berichten zu hören, sowie ihm alles Gute berichten zu können, welches Sie über ihn uns mitgeteilt hatten.‹10 Nicht unangenehm aufregend wirkte während dieser Tage der Anwesenheit Seidls ein Telegramm des rührigen und einsichtigen Direktors, worin er weitere Unternehmungen mit dem ›Ring‹ in London, Petersburg und Amerika in Aussicht stellte und sich zu diesem Zweck und für die genannten Orte die sofortige Bewilligung eines dreijährigen ausschließlichen Aufführungsrechtes erbat. Die ebenfalls telegraphische Antwort lautete: ›Etwas stürmisch! Doch bin ich nicht abgeneigt, indem ich mich auf völlige Zufriedenstellung Ihrerseits verlasse.‹11 Auf alle, Fälle wurden ihm durch die vorauszusetzenden namhaften Erträge dieses Vorhabens wichtige finanzielle Sorgen abgenommen, die ihn sonst – wie wir sahen – in so vorgerücktem Alter noch fast dazu gebracht haben würden, in eigener Person die anstrengende Reise über den Ozean anzutreten! Und da doch einer seiner Hauptzwecke dabei war, sich die Mittel zur Schonung und Pflege seiner Gesundheit und freier Bewegung zu sichern, so lag allerdings ein ganz ungeheuerliches Opfer in dem bloßen Gedanken, um dieser Schonung und Pflege willen gerade ein Stück dieser Gesundheit daransetzen zu sollen ›Ich will schändlich lange leben‹, sagte er einmal in voller Heiterkeit, ›fünfzehn Jahre über das natürliche Alter, um die verlorene Zeit einzuholen.‹ Dazu konnte ihm ein so geschickter und energischer Vertreter seiner Interessen nur förderlich sein.

So kam das neue Jahr 1881 in leidlich guter Stimmung heran. Es [421] war in den ersten Tagen desselben, daß er zu seiner Frau die scherzenden Worte sprach: ›wenn Du mich gut hältst, gut kleidest, gut nährst, dann komponiere ich noch »die Sieger«. Die Schwierigkeit liege hier in der Lokalität und der Sprache. Im Christentum sei alles erhabene Simplizität; im Buddhismus so viel »Bildung«, und die Bildung sei unkünstlerisch.‹ Die Arbeit an seiner Partitur rückte stetig weiter fort, und mit ihr auf der ganzen Linie die Vorbereitungen zur Aufführung. Eine Skizze der Kundry des zweiten Aktes, durch Joukowsky ihm überbracht, fand seine volle Zustimmung. ›Eigentlich zwar‹, sagte er, ›müsse sie, wie eine Tizianische Venus, in nackter Schönheit daliegen; da dies nicht möglich, müsse es durch Pracht ersetzt werden.‹ Mit Interesse besuchte er auf seinen Spaziergängen das Atelier des befreundeten Malers, um von seinen Skizzen für den Zaubergarten Notiz zu nehmen; doch war dieser immer noch nicht geglückt. Am 8. Januar hielt, laut getroffener Übereinkunft, der junge deutsche Musiker, dessen Bekanntschaft er in Neapel gemacht, Engelbert Humperdinck, seinen Einzug in Bayreuth, um zunächst im ›Schwarzen Roß‹ Quartier zu nehmen und sich dann dem Meister persönlich zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig aber waren auch, am selben 8. Januar, Heckel, Richard Pohl und Friedrich Schön zu Beratungen über die äußeren Umstände der Aufführung im Sinne des Meisters eingetroffen. Wagner empfing seine werten Gäste, nachdem er ihnen gleich nach ihrer Ankunft einen heiteren Abend gewidmet, andern Tages im Frack, in aller Feierlichkeit; dann zogen sie sich zu einer Konferenz mit den Herren des Verwaltungsrates, Feustel, Groß und Bürgermeister Muncker, zurück, auf welcher sie das jetzige Verhältnis des Patronatvereins zu den Aufführungen, die nun doch ›für Geld‹ gegeben werden sollten, eingehend feststellten, um die Resultate dieser Beratungen, nachdem sie einigermaßen feste Gestalt gewonnen, abends dem Meister zu unterbreiten. Er war damit zufrieden und erklärte von ihrem Zusammensein: es sei nicht die übelste Art der Gesellschaft, wo ein gemeinsames Interesse besprochen würde. Außer den genannten Herren: Schön, Heckel, Pohl, Feustel, Groß und Muncker waren auch Wolzogen, Joukowsky, Rubinstein und der neue Ankömmling Humperdinck dazu anwesend; Wagner selbst heiter und gegen alle ungemein freundlich und gütig. Die Beratungen dauerten noch einige Tage fort; eines ihrer Ergebnisse war u.a. die Herstellung sogenannter ›Garantiescheine‹ mit dem Endzweck, daß vermögende Gönner der Sache, die zu direkten größeren Spenden nicht geneigt wären, durch Unterzeichnung derselben zu einem Anteil an der Tilgung eines etwaigen erneuten ›Defizits‹ sich bereit erklärten, um wenigstens diese Last im voraus von den Schultern Dessen fernzuhalten, dem das Defizit der ersten Bühnenfestspiele so schwere Sorgen aufgeladen. Auch war damals, da die Vereinbarung mit Schott hinsichtlich des Druckes von Partitur und Klavierauszug noch nicht getroffen war, von einer Herausgabe des Werkes [422] ›auf Subskription‹ die Rede; ein Gedanke, der dem Schöpfer des Werkes nur willkommen sein konnte, weit dann alle Verfügungsrechte darüber in seinen Händen blieben.

Inzwischen hatte der junge Humperdinck, um nicht länger im Gasthof zu wohnen, sich um ein dauerndes Unterkommen für sich bemüht und dasselbe ganz in Nähe seines bisherigen, des schwarzen Rosses, entdeckt. ›Bei Angermann, in dem sagenhaften, längst vom Erdboden verschwundenen Kneiplokal‹, so erzählte er selbst, ›fand ich eine geräumige Wohnung, groß genug, um eine zahlreiche Familie samt Dienerschaft beherbergen zu können. Ich begnügte mich mit zwei freundlichen Zimmern; ein Teil der übrigen wurde später für die sog. »Parsifalkanzlei« verwendet. Bald nach meiner Ankunft gab's zu tun; aus der Hand des Meisters empfing ich die ersten Bogen seines Manuskripts: schönes dreißigreihiges Pariser Partiturpapier mit bläulichen Noten dicht bedeckt. Wie sauber und zierlich und dabei doch schwungvoll die Züge der Handschrift verliefen, mit welcher Sorgfalt, fast wie »gestochen«, die Notenreihen gesetzt waren, davon weiß jeder, der einmal eine Wagnersche Originalpartitur gesehen hat. Dabei keinerlei Abkürzungen, wie sie sonst im Gebrauch sind, keinerlei Weglassungen, weder in den Instrumentenbezeichnungen, noch in den Angaben der Schlüssel, der Tonarten, der Vortragszeichen – kurz, es fehlte nicht das geringste Detail. Man sollte denken, daß diese subtile Art der Niederschrift sehr zeitraubend gewesen sein müsse. Und doch verging fast kein Tag, ohne daß – »ganz frisch noch die Schrift und die Tinte noch naß« – etliche Bogen Notenpapier in der zwischen Wahnfried und Angermann pendelnden Mappe den Weg zu mir fanden. Dabei pflegte Wagner nur wenige Stunden des Tages der Partiturarbeit zu widmen, und so sehr ich mich bemühte, mit meiner Abschrift gleichen Schritt zu halten, gelang es mir nie, ihn gänzlich einzuholen. Bald glaubte ich die Lösung dieses Rätsels gefunden zu haben, und zwar in dem Skizzenbuch, in das mir von Zeit zu Zeit ein Blick vergönnt war. Dieses, eine Art Miniaturpartitur, enthielt gleichsam in nuce das vollständige Skelett der Komposition, mit genauer Berechnung und Angabe der Einteilung der Partitur in Seiten und Taktlinien‹ (S. 245 f.). Bei jenem ersten Zusammentreffen in Neapel hatte der Meister mit Humperdinck davon gesprochen, daß alle die alten großen Meister der Malerei auch erst hätten Farben reiben müssen, ehe sie anfangen durften, selbständig zu arbeiten, und ihn daraufhin aufgefordert als Kopist seiner Partitur bei ihm einzutreten. ›Bald fand ich heraus‹, schreibt nun Humperdinck, ›daß das »Farbenreiben« keine üble Beschäftigung für mich sei, und gern bekenne ich, in den wenigen Bayreuther Wintermonden mehr erfahren, begriffen und gelernt zu haben, als vielleicht mancher andere in ebensoviel Konservatoriumsjahren. Die Abende wurden häufig in Wahnfried verbracht, wo der Meister, umgeben von den Seinigen, nach des Tages Mühen im Umgang [423] mit den Geistesheroen der Vergangenheit seine Erholung suchte. Mit Vorliebe pflegte er aus den Werken Calderons, Lope de Vegas, Shakespeares, Goethes vorzulesen; an andern Abenden wurde musiziert. Bachs Orgelpräludien und -fugen, Quartette von Beethoven, die Rubinstein aus der Partitur vorspielte, waren seine Lieblinge; dazwischen setzte er sich wohl selbst an den Flügel, um eine Loewesche Ballade vorzutragen; am interessantesten aber war es, wenn er Szenen aus Mozartschen Opern, z.B. der »Entführung«, mit köstlicher, Frische und Charakteristik wiedergab. Auch mit mir beschäftigte er sich zuweilen, indem er Symphonien der Klassiker, die ich im Bayreuther Musikverein zu dirigieren hatte, mit mir am Klavier durchnahm und über Form, Inhalt und Vortragsweise in anregen der Weise sich ausließ.‹12

Ja, viel Neues, Überraschendes, Belehrendes gab es hier für den neu in den Bayreuther Kreis eintretenden Jünger zu erfahren. Unter den uns gütigst von ihm mitgeteilten Notizen aus seinen Tagebuchaufzeichnungen findet sich so manches, das wir hier mit seiner Erlaubnis und genauester Datierung dem Leser mitteilen dürfen. Dazu gehört gleich aus den ersten Tagen seiner Anwesenheit die Geburtstagsfeier Joukowskys (13. Januar), die dem Meister Veranlassung gab, seine ganze Güte zu zeigen. Zum gleichen Tage erschien in den Nachmittagsstunden der alte Kampfgenosse, Maschinendirektor Karl Brandt. Gegen Feustels Ansicht, der sich nur zu lebhaft der zahlreichen Beschwerden und Kollisionen erinnerte, die durch Brandts eigenmächtige und herrschsüchtige Natur bei den ersten Aufführungen im technischen Personal hervorgerufen waren, hatte der Meister sich dennoch wieder mit vollem Vertrauen an ihn gewandt,13 da hinsichtlich seiner bewährten Tüchtigkeit doch niemand an ihn heranreichte. Es gab viele Erinnerungen an die überstandenen Nibelungennote, vor allem aber viel Praktisches, Technisches, viel ›Hand und Fuß‹ in bezug auf die szenische Verwirklichung. Gar seltsam war es nun, den von Klingsor geschleuderten Speer im zweiten Akte besprechen zu müssen, wie er mit Drähten gehalten werden sollte, – der heilige Speer, der bisher nur als etwas rein Geistiges, Seelisches in der Phantasie des Künstlers existiert hatte! Es war dem Meister teils peinlich, andererseits doch aber wohl zumute, daß es nun wieder ernst wurde. ›Dieser kalte Brand!‹ rief er in humoristischem Groll. Die Verwandlungsmusik des ersten Aufzuges wurde am Klavier durchgegangen, diesmal nicht als erschütterndes inneres Erlebnis, sondern einfach nach ihrer Zeitdauer für die Wandeldekoration! Es erwies sich, daß sie für den rein technischen Bedarf um einige Minuten zu kurz war. ›Ich soll jetzt wohl gar meterweise komponieren!‹ rief er aus, stellte aber doch eine entsprechende Verlängerung in Aussicht; [424] infolge deren ein großer Teil der Verwandlungsmusik (Posaunenchor und Glockensolo-Takte, die in der ursprünglichen Skizze nicht enthalten waren) neu entstand Tags darauf besuchte der technische Freund das Theater und erfreute den Meister durch seine staunende Freude darüber, wie wohlerhalten und in wie gutem Zustande er dort alles angetroffen. Das war das Verdienst Adolf Großens, der schon damals mit Argusaugen darüber wachte, und des dafür angestellten Personals. Dann wiederum gab es Beratungen zwischen Brandt und Joukowsky, dem Fachmann und dem ›Dilettanten‹ (der diese seine Eigenschaft in bezug auf alle Bühnentechnik nie verleugnete) über die szenische Realisierung des von ihm Entworfenen, und wiederum Besprechungen mit dem Meister selbst, über die Beleuchtung der Taube am Schluß, und von Wagners Seite immer nur ein heiter befriedigtes Lachen darüber, daß, wo Brandt erschiene, alles ›blutiger Ernst‹ würde Wegen zeitiger Verteilung der Blumenmädchenpartien schrieb er (22. Januar) an Lilli Lehmann, indem er ihr in einer Art von Klavierauszug (Seidls Arbeit) die betreffende Szene übersandte. ›Sehen Sie sich diese Geschichte genau an: sie ist kein Spaß, ich verlange nicht weniger als sechs Sängerinnen ersten Ranges von gleicher Stimme und Stimmlage, und dazu hübsch schlank gewachsene Frauenzimmer: dann aber noch (mindestens) zwölf oder sechzehn junge hübsche Chorsängerinnen von erster Qualität. Sehen Sie es sich an! Wollen Sie mir diese Bande rekrutieren?‹ In ihrer prompt erfolgenden Antwort berühmte sie sich dessen, daß die Künstler der Kgl. Hofoper gegen Herrn von Hülsens Absicht, den ›Ring‹ in dem dafür nicht ausreichenden Opernhause zu geben, opponiert hätten, und nannte dies eine ›deutsche Tat‹. Auch über das Neumannsche Unternehmen war sie so schlecht orientiert, wie dies eben nur in Berlin möglich war. ›Was Ihr getan habt‹, erwidert ihr Wagner sogleich (unter dem Datum des 25. Januar14), ›zeigt viel esprit de corps! Doch allen Respekt davor, glaube ich, daß – hätte ich Hülsen günstig geantwortet – er Euch schon zu beruhigen gewußt haben würde. So ist's, mein Kind! Und zur Steuer der ewigen Wahrheit teile ich es Ihnen mit, während es sonst mich unterhält, das Gefasel und Gelüge in den Zeitungen unbeachtet zu lassen!‹

Inzwischen freute er sich der ersten fertig geschriebenen dreißig Partiturseiten, die schon ein gewisses Gewicht ausmachten, und arbeitete, um schneller weitermkommen, auch abends. ›Jede Seite‹, sagte er, ›fordert eigentlich eine neue Erfindung.‹ Er sehnte sich aus dem epischen Teil der ersten Szene heraus zum Eintritt des Dramas, bei Parsifals Pfeilschuß; gerade am [425] 22. Januar, dem Tage des Briefes an Lilli Lehmann, war er soweit gekommen. Kurz zuvor hatte Humperdinck, nach Seidls Vorgang, die Leitung des Bayreuther Musikdilettanten-Vereins übernommen. Es galt zunächst einer Aufführung von Mozarts Es dur-Symphonie, die der Meister mit ihm am Klavier bis ins einzelne für Tempo und Vortrag durchging. Er ließ sich eingehend über die Schwierigkeit aus, das Adagio richtig zu nehmen und zeigte, wie es gewöhnlich in Konzerten gespielt werde Darauf aber spielte Rubinstein den ersten Satz der Sonate op. 106, und die, Freude daran war grenzenlos. ›Was könne man Dem an die Seite stellen? Wie in die Werkstatt des Wesens der Dinge sei man da eingeführt, man sehe alles im Innern der Welt sich regen und rühren. Welche Rufe der Leidenschaft, bis diese Werkstatt sich öffnet! Selbst Shakespeare sei damit nicht zu vergleichen, denn was dieser schaffe, hänge zu sehr mit dem Elend der Welt zusammen, da sei alles Realität, furchtbares Gleichnis des Lebens, wahre Spektren des Daseins, – hier aber alles idealisiert, reine Verklärung! Wer das in Begriffe sich umsetzen könnte, der hätte die Schlüssel des Welträtsels! Aber so etwas sei auch nur für Klavier zu denken, es vor der Menge zu spielen barer Unsinn! In der Symphonie läßt Beethoven die andern spielen, hier spielt er selbst! Und das alles in Form einer Sonate, das – eine Sonate!‹15 Dagegen wollte er in dem Adagio derselben Sonate wenig eigentlich Beethovensches finden, vielmehr den Beginn der ganzen ›modernen‹ Musik, Schumann, Brahms usw. ›Wie anders op. 111!‹ rief er aus. Von Mozarts Einsamkeit sprach er: wie allein so einer dasteht! und daß nach ihm alte die ordinären Werke, ›Dorfbarbier‹, ›Donauweibchen‹ usw. entstanden seien. ›Ja, Schule!‹ rief er ironisch, ›jetzt, nach dreißig Jahren sehen sie sich den »Lohengrin« an, wie der ungefähr gemacht sei!‹ Wiederum spielte einmal Rubinstein das A moll-Quartett von Beethoven zu seiner größten, Freude: ›keiner weiß, was darin alles ist!‹ Als Rubinstein erklärte, die IX Symphonie erst durch das Programm verstanden zu haben und einer der Anwesenden sein Erstaunen zu erkennen gab, daß ein Musiker dessen bedurft habe, rief er lebhaft: ›Ja, ge rade ein Musiker! Der erste Satz z.B., der eigentlich keine Melodie hat und mit diesen Quinten beginnt, das sagt dem eigentlichen Musiker nichts: viel eher wirkt es – gespenstisch – auf den phantasievollen Laien.‹ Er selbst und Liszt hätten viel zum Verständnis und zur Verbreitung der letzten Werke Beethovens beigetragen. Und er erzählte, mit Erläuterung durch drastische Beispiele, wie diese Werke ›seinerzeit‹ aufgefaßt worden wären.

Einmal beim Kaffee erklärte er Joukowsky, was die ›Welt-Schuld‹ zu bedeuten hätte: sie sei durch Geburt und Dasein kontrahiert, gerade wie man eine Schuld von seinem Vater erbt, und einzig die Entsagung sei imstande [426] sie zu tilgen. ›Keiner stirbt eher, als er muß; und das gibt den Zusammenhang, die Verkettung von allem, ergibt auch die kontrahierte Schuld. Die Erkenntnis aber, die Vorstellung, ist sündlos, außer wenn sie vom Willen geleitet ist. Aber es ist entsetzlich, wie der Wille im beständigen Begehren ist; wenn das Kind vom Mutterleibe sich ablöst, begehrt es gleich mit der Heftigkeit, mit welcher Dschingis-Khan die Welt erobern wollte.‹ Und nicht minder entsetzlich sei es, daß der Mensch, das einzige Wesen, dem die Natur die Fähigkeit der Sympathie, des Mitleidens erteilt, dieselbe geflissentlich in sich ertöte. Dagegen pries er, im Anschluß an die ›Sündlosigkeit‹ der Erkenntnis, das erhabene Glück der Beschäftigung mit der Kunst, und zwar nicht im Dienste dieser oder jener Macht, sondern um ihrer selbst willen; es sei das Beste, was einer tun könne. ›Die Kunst sei die Verklärung der Erkenntnis, wie die Religion die Verklärung des Willens.‹ Eine Skizze, die Joukowsky vom Gral entworfen, fand seine volle Approbation. Es war seltsam, daß am Nachmittag des gleichen Tages von München her Skizzen desselben Gegenstandes kamen, die auf die Bitte von Frau Wagner durch Herrn von Bürkel besorgt worden waren und sich als gänzlich unbrauchbar erwiesen. Es zeigte sich darin recht handgreiflich, daß die wahre ›Beschäftigung mit der Kunst‹ nur in seiner Nähe und in seinem Umgang möglich war, und die tüchtigsten Kräfte von auswärts her nur neben der Sache hintappten, ohne das Rechte zu finden; sogar wenn es sich um ein Objekt handelte, das durch die Sagenüberlieferung, und insbesondere durch die ›Parsifal‹-Dichtung selbst, dem nachschaffenden Künstler doch wie unmittelbar an die Hand gegeben war. Das ist es auch, was Joukowsky in seiner Rückerinnerung an diese traumhaft göttliche Zeit mit einem so schönen Wort als das ›Befreitsein vom eigenen Ich‹ bezeichnete, als eine künstlerische Arbeit, aber ›ohne Eigenliebe‹ verrichtet, und aus dem bloßen Bestreben hervorgegangen, den Gedanken des Meisters ›so vollständig und so rein wie möglich zu erfassen‹. – Auf der Durchreise erschien bald darauf von München her Freund Levi; wiederum wurde abends musiziert, und der Meister trug einige Balladen von Loewe vor, um, wie er sagte, zu zeigen, was an uns Germanen verloren gegangen sei. Immer wieder freute er sich dieser Erzeugnisse, in denen ›die Poesie mehr wirke, als die Musik‹. Er sang ›Herr Olaf‹ und ›der Wirtin Töchterlein‹ und sah dabei so schön, so kindlich strahlend erhaben aus. Schon in Neapel hatte er den Seinigen den Gedanken ausgesprochen, Levi zum Dirigenten des ›Parsifal‹ zu erwählen, wobei er allerdings den Wunsch hegte, daß dieser vorher die Taufe annähme. Es war bei dieser Gelegenheit, daß er ihm zu dessen überraschtem Erstaunen seine Absicht aussprach, mit der Hinzufügung: ›ich möchte, es gelänge mir die Formel dafür zu finden, daß Sie sich ganz unter uns und zu uns gehörig empfinden.‹ Doch ließ ihn das umschleierte Gesicht Levis für diesmal davon abbrechen; er wußte nur allzuwohl, [427] wie schwer der bescheidene Freund, der, als Sohn eines Rabbiners mit allen Traditionen des Judentums verwachsen, dennoch den hl. Augustinus als Reiselekläre bei sich führte, an diesem seinem Judentum trug, und begnügte sich für diesmal, seinen Handkuß bei der Verabschiedung mit einer herzlichen Umarmung zu erwidern. Doch warf er ihm anderen Tages seine Trübseligkeit vor: ›ich denke, von Menschen, wie wir, so freundschaftlich aufgenommen zu werden, das sollte genügen, um heiter zu sein. Oder – seid Ihr abergläubisch, habt Ihr Seelengeschichten?‹ Er sprach dann von Rubinstein, wie dieser immer wieder mit sich selbst beschäftigt sei und dies bei allen guten Eigenschaften nicht loswerden könnte; er wies darauf hin, wieviel besser Levi daran sei, der einen bestimmten Wirkungskreis habe, und riet ihm zu einem ›weitherzigen Leichtsinn‹.

Sehr geplagt war er in diesem ganzen, Frühjahr, fast drei Monate hindurch, durch eine Entzündung an den Fingerspitzen, die ihm das Schreiben erschwerte und ihn zuweilen ganz daran hinderte. Es waren besonders die beiden Damen, die jeden Augenblick an harte Gegenstände stoßen, ohne daß man es merkt, die ihm aber nun bei jeder dieser Berührungen empfindliche Schmerzen bereiteten und ihn dadurch in eine reizbare Stimmung brachten.16 In diesen rauhen Bayreuther Januartagen gedachte er oft daran, wie wohl ihm im vorigen Jahre Italien, besonders aber Siena, getan, und seine Gedanken schweiften viel nach dem Süden. Alles Gute und Anziehende, das er von Andalusien vernommen, tauchte in seiner Phantasie auf, und immer wieder kam das Gespräch darauf, daß er den nächsten Winter in Sevilla zubringen wolle. Die von Dr. Landgraf verschriebene Teersalbe bewog ihn zu der Klage darüber, daß er statt der sanften Blumendüfte des Südens nur noch schlechte Gerüche zu ertragen habe, und es ergab sich, daß Teer nicht das richtige Heilmittel war Vorübergehend schien es, als wäre das ›Panaricium‹ am Finger kuriert; er konnte wieder arbeiten, klagte aber über Unruhe und Aufregung. Gerade um die Zeit von Levis Besuch quälte ihn wieder dasselbe Leiden. Draußen anhaltende Kälte, so daß ihn die Witterungsbeobachtungen des ›Bayreuther Tagblattes‹ sehr lachen machten, welche einerseits meldeten, die Hafen hätten doppeltes Fell bekommen, und acht Tage darauf, die Stare seien da. Er stand vor dem Globus und wurde durch die Vorstellung erheitert, daß unser Europa, wäre nicht der Golfstrom bei [428] Panama zurückgedrängt, eine Eismasse wäre. Die Kälte nahm Anfang Februar wieder zu: die ›Hafen‹ behielten Recht, und der Meister erging sich in Betrachtungen über die Einheit in der Natur, die solche Vorkehrungen träfe. Das anhaltend üble Wetter brachte ihn in seinen Gesprächen wiederholt auf andalusische oder venezianische Projekte, etwa wie Röckel in seinem Buch über seine dreizehnjährige Gefangenschaft im Zuchthaus erzählt, daß in den schlimmsten Tagen des Hungers er in seinen Träumen sich in den hervorragendsten Pariser Restaurants die auserlesensten Leckerbissen bestellt habe, zu deren Genuß es aber nie gekommen sei. Sehr gereizt durch den Zustand seiner Finger, die ihm alle Manipulationen erschwerten, entschloß er sich zu einer kleinen Operation, die Dr. Landgraf daran vollzog, aber ohne jeden Erfolg. Die von einem andern Arzt, Dr. Heß, empfohlenen Kautschukfinger mußten erst bestellt werden; als sie eintrafen, taten sie ihm für den Augenblick wohl, was denn auch genügte, ihm sofort die herrlichste Stimmung wiederzugeben. Schon die nächsten Nächte aber waren durch quälende Schmerzen völlig schlaflos, und er konnte am Tage nicht schreiben. Dr. Landgraf meinte, es seien die Gummifinger, die erhitzend gewirkt hätten; er nahm sie wieder ab und verordnete Umschläge. In dieser angenehmen Abwechselung verging der ganze Monat Februar, und es blieb nur erstaunlich, daß er nach einer ganz schlecht verbrachten Nacht morgens dennoch heiter und guter Dinge sein konnte und, soweit es die Schmerzen gestatteten, an die tägliche Arbeit ging.

Man muß sich diese Voraussetzungen recht lebhaft vorstellen, wenn man sich die trotz allem ununterbrochene rege Tätigkeit seines Kopfes während dieses Monats vergegenwärtigt. Es ist die unerschöpfliche Lebens- und Schaffenskraft des Genius, die sich über alle Hindernisse und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur hinwegsetzt. ›Parsifal langweilt mich; ich möchte etwas anderes machen‹, sagte er bald nach Levis Besuch. Viel lieber wurde er jetzt Symphonien schreiben; jeden Augenblick müsse er des Dramas wegen die schönsten Themen weglegen, die ihm gerade durch den Kopf gingen. Aus einer ähnlichen Stimmung, in der er sich nach Instrumentalkompositionen sehnte, sei der ›Tristan‹ entstanden (vergl. S. 144). Und schriftstellern würde er gern; nur könne er sich nicht vorstellen, daß er wieder zum Dichten käme. ›Ich habe genug Rätsel aufgegeben‹, fügte er hinzu. Am 30. Januar hatte er Humperdinck die ersten fünfzig Seiten Partitur zur Kopie überreicht; das Instrumentieren mache ihm jetzt keinen Spaß, es sei nur ein Kombinieren ohne Ende; er wolle lieber ›schriftstellern‹. Es drängte ihn zur Aussprache neuer Gedanken. ›Ich möchte‹, hatte er zu Levi gesagt, ›es gelänge mir, die Formel zu finden, daß Sie sich ganz unter uns und zu uns gehörig empfinden.‹ Bereits schwebte seinem Geiste dabei der Aufsatz ›Erkenne Dich selbst‹ vor, die erste der von ihm als eine ganze Folge geplanten ›Ausführungen [429] zu Religion und Kunst.‹ So machte er sich in den Vormittagstunden mit Freude an seinen Aufsatz, während er dennoch abends an seiner Partitur zu schreiben fortfuhr. Gerade der Verkehr mit Levi und Rubinstein hatte ihn wieder ernstlich über das Problem einer Erlösung des Judentums von dem ihm anhaftenden Fluch nachdenken lassen. Ob diese Erlösung überhaupt möglich sei? Ihr Wesen verurteile sie zum Haften an der bloßen Realität der Welt: ›so haben sie das Christentum entweiht, d.h. für diese Welt hergerichtet; und von unserer Kunst, die ihrem Wesen nach nur eine Flucht vor dem Bestehenden sein kann, werden sie eine Welt-Eroberung erwarten‹. ›Wer vor etwa dreißig Jahren, ihre Unbefähigung zur produktiven Beteiligung an dieser unserer Kunst in Erwägung brachte und dies Unterfangen nach achtzehn Jahren zu erneuern sich angeregt fühlte, hatte die höchste Entrüstung von Juden und Deutschen zu erfahren; es wurde verderblich, das Wort »Jude« mit zweifelhafter Betonung auszusprechen. Was auf dem Gebiete einer sittlichen Ästhetik den heftigsten Unwillen erregte, vernehmen wir jetzt plötzlich‹ (zur Zeit der Judendebatten in der Reichshauptstadt und einer beginnenden Agitation gegen den fremden Eindringling) ›in populär rauher Fassung vom Gebiete des bürgerlichen Verkehres und der staatlichen Politik her laut werden.‹ ›Was den Juden die jetzt so verderbliche Macht unter uns und über uns gegeben hat, scheint aber von niemandem gefragt, oder erwogen werden zu müssen; oder, wird danach geforscht, so hält man vor den Ereignissen und Zuständen etwa des letzten Jahrzehnts, oder vielleicht noch einige Jahre früher, an. Zu einer weiteren und tieferen Einkehr in sich selbst, d.h. hin zu einer genaueren Kritik des Geistes und Willens unserer ganzen Natur und Zivilisation, die wir z.B. eine »deutsche« nennen, verspüren wir noch nirgends eine hinreichende Neigung.‹

Erkenne dich selbst! ist daher der Ruf, der hier an das Bewußtsein des Deutschen sich richtet. Während auf der einen Seite der Jude als das erstaunlichste Beispiel von ›Rassen-Konsistenz‹, der ›plastische Dämon des Verfalles der Menschheit in triumphierender Sicherheit‹ uns entgegentritt, und dazu ›deutscher Staatsbürger mosaischer Konfession, der Liebling liberaler Prinzen und Garant unserer Reichseinheit,‹ – finden wir uns auf der anderen Seite genötigt, von der Äußerung eines reinen Rassen-Instinktes auf deutscher Seite völlig abzusehen, wofür die geschichtlichen Grunde einer tiefeindringenden Untersuchung unterzogen werden. Dafür treffen wir in der deutschen Natur auf etwas Höheres: den Geist reiner Menschlichkeit, der uns nicht mehr als eine Rasse, eine Abart, sondern als einen Urstamm der Menschheit uns fühlen läßt. Dieses Gefühl von sich selbst, dieser echte deutsche Instinkt ›erzog uns von je die großen Männer und geistigen Helden, von denen es uns nicht zu bekümmern braucht, ob die Schöpfer fremder vaterlandsloser Zivilisationen sie zu erkennen und zu schätzen vermögen‹. ›Wem [430] dürfte es nun entgehen, daß dieser edle Instinkt des Deutschen, da er weder in seinem nationalen noch seinem religiös-kirchlichen Leben sich wahrhaft auszudrücken vermochte, unter den hieraus uns zugezogenen Leiden nur schwach, undeutlich, mißverständlich und unzureichend produktiv sich erhalten konnte? Uns dünkt es, daß er leider in gar keiner der Parteien sich kundgibt, welche namentlich auch gegenwärtig die Bewegungen unseres politischen, oder auch geistigen, nationalen Lebens zu leiten sich anmaßen. Wir sehen da einzig einem Widerstreite von Interessen zu, deren Objekt den Streitenden gemein und eben nicht edel ist: offenbar wird, wer für das Interesse selbst am stärksten, d.h. hier am rücksichtslosesten, organisiert ist, den Preis davontragen. Mit unserer ganzen, weit umfassenden Staats-und National-Ökonomie, scheint es, sind wir in einem bald schmeichelnden, bald beängstigenden, endlich erdrückenden Traume befangen: aus ihm zu erwachen, drängt alles; aber das Eigentümliche des Traumes ist, daß, solange er uns umfängt, wir ihn für das wirkliche Leben halten und vor dem Erwachen aus ihm wie vor dem Tode uns sträuben. Der letzte höchste Schreck gibt dem auf das äußerste Beängstigten endlich wohl die nötige Kraft: er erwacht, und was er für das Aller-Realste hielt, war ein Truggespinst des Dämons der leidenden Menschheit.‹ ›Wir, die wir zu keiner aller jener Parteien gehören, sondern unser Heil einzig in einem Erwachen des Menschen zu seiner einfachheiligen Würde suchen, müssen, von diesen Parteien als Unnütze ausgeschlossen, den Spasmen des Träumenden doch eben nur zuschauen, da all unser Rufen von ihm nicht gehört werden kann. So sparen, pflegen und stärken wir denn unsere besten Kräfte, um dem notwendig endlich doch von sich selbst Erwachenden eine edle Labe bieten zu können.‹ Man sieht: das ›ich arbeite für die Erwachenden‹ lebt auch in diesem Aufsatz Größeres, Reineres, Ermutigenderes aber, als in dieser Mahnung zur ›Selbsterkenntnis‹ bis auf das innerste Mark seines Wesens und Bestehens aber ist dem Deutschen nie zugerufen worden. – Heiteren Mutes nahm er nun seine Partitur wieder auf, die ihm jetzt erneute Freude bereitete, nachdem er sich vorübergehend durch eine andere Beschäftigung darin unterbrochen.

Es mag hier hervorgehoben werden, daß, wiewohl in dieser Abhandlung soviel von ›Rasse‹ die Rede ist, er das große Rassenbuch Gobineaus noch nicht kannte. Dies stand ihm noch bevor, und man ersieht, daß zu keiner Zeit diese Kenntnis auf einen fruchtbareren Boden fallen konnte. Seit seiner letzten Rückkehr nach Bayreuth hatte er sich fast ununterbrochen mit den Werken des großen, in so mancher Hinsicht von ihm divergierenden, und dennoch kongenialen Geistes beschäftigt, der zuerst mit dem ›Renaissance‹-Werk in seinen Gesichtskreis eingetreten war. Wir können die Stadien dieser Kenntnis in ihrer Reihenfolge hier mit ziemlicher Bestimmtheit konstatieren. Auf die ›Renaissance‹ und den ›Amadis‹ waren die ›Nouvelles Asiatiques[431] gefolgt, die dichterische Auslese der Wanderungen des Grafen im fernen Orient, jene ›vollendeten Erzählungen von eigentümlichstem Gepräge, nicht der einem fremdartigen Leben entnommenen Gegenstände wegen, sondern dank der meisterhaften, mit dem Humor und der Anmut von »1001 Nacht« wie angehauchten, dabei durchaus originellen Darstellung.‹17 Schon gegen Ende Dezember erwähnte er in seinen Gesprächen der Sekte der Duchoborzen, oder Feinde des Geistes, die das Fleisch für unschuldig, den Geist aber für das Übel halten, – ein Hinweis darauf, daß er sich kürzlich mit der ›Tänzerin von Schemacha‹ beschäftigt hatte. Insbesondere gefiel ihm der ›illustre Magicien‹, mit vieler Freude beachtete er die seine Kunst des Erzählers in der Szene, in welcher der Zauberer dem lernbegierigen Kassem die Weisheit lehrt und worin in echt künstlerischer Weise – mit Umgehung ihres Inhaltes – nur die Wirkung dieser Belehrung auf Kassem gezeigt wird. Dann die erste Szene zwischen Kassem und seiner Frau und die Rückkehr von der Schwester. Auch fand er, daß gerade die französische Sprache mehr als irgendeine andere den Ton orientalischer Höflichkeit wiederzugeben imstande sei: ›Gott, daß ich den einzigen originellen Schriftsteller so spät kennen lerne!‹ rief er aus. Gern ließ er sich, während er selbst in den Novellen fortfuhr, von seiner Gemahlin aus der ›Histoire d'Ottar Yarl‹ Mitteilungen machen; er teilte die Sympathie des Grafen für die Helden des 11. Jahrhunderts, denen es durch die große unabhängige Energie ihres Wesens möglich war, vor der Heiligkeit sich zu beugen und selbst Heilige zu werden. Die von ihm gelesenen Novellen verfolgte er dann mit Vergnügen zum zweitenmal, wenn sie abends im Familienkreise vorgelesen wurden; so den ›großen Zauberer‹, den ›Gamber Ali‹, woran sich eine längere Betrachtung der Karte von Asien schloß, und rühmte das Cervantessche ihrer Darstellung. Bei Tisch referierte er mit Lebhaftigkeit den Inhalt der reizenden Erzählung ›La guerre des Turcomans‹, oder er beklagte sich humoristisch darüber, daß die Novelle ›les Amants de Kandahar‹ ihn so fesselte, daß er zu spät an seine Partitur gekommen sei. Trotz der korrumpierten Zustände des daringeschilderten Orients käme ihm dennoch Europa mit seiner Epaulettenwirtschaft wie ein Barbarenland vor. Die erste Liebesszene fand er ganz wundervoll. Dann folgte – an zwei Abenden, immer nach der Mahlzeit – die ›danseuse de Shamakha‹, mit großer Ergriffenheit namentlich durch die Hauptmomente, und er erging sich darüber, wie diese im Aussterben begriffenen Lesghys noch heroische Frauen hervorbrächten. Unter der majestätischen Dummheit des Muhamedanismus habe sich bei den Völkern des Orients eine gewisse Kindlichkeit erhalten; auch hätten sie Vornehmheit. Und zu Joukowsky gewendet, bezeichnete er die Russen als in höherem Grade befähigt, [432] den Orient zu kultivieren als die Engländer, die wie ein Komptoir daraufgesetzt seien. Wiederum sprach er dann von Gobineaus Roman ›Les Pléïades‹, die etwas unreif seien, aber hübsche Züge enthielten18, oder er zitierte einen Ausspruch über das Leben aus den Novellen der ›Vie de voyage‹, die dann ebenfalls zu abendlicher Familienlektüre dienten.

Dazwischen Cervantes, Calderon, Shakespeare in täglichem mannigfachen Wechsel. Cervantes war durch eine ›unmögliche‹ Novelle vorübergehend in den Hintergrund getreten; dann aber in seinem ›Lizentiaten Vidriera‹ mit seinem wehmütigen Lächeln, seiner durchdringenden Erkenntnis der Welt, seiner Empfindung der Narrheit und ihrer Mitwirkung bei allem Bedeutenden, der Grausamkeit der Menschen, der Gute der Klöster usw. mit Entzücken wieder aufgenommen. Den Meister frappierte dabei öfter der volkstümliche Gebrauch des Wortes ›Wille‹, ganz im Schopenhauerschen Sinne. Und alles dabei so persönlich, immer ein blutendes Leben, das lächelnd zum Leser spreche! Ein dazwischen angestellter Versuch mit E. T. A. Hoffmanns ›Brautwahl‹ mißglückte völlig, trotz aller genialen Züge darin, die ihm von früher Jugend her in bestimmtester Erinnerung lebten; er wäre förmlich beschämt, sie vorgeschlagen zu haben; dilettantisch und in Fadheiten sich verlierend, sei sie unwürdig in ihrem Kreise vorgelesen zu werden. Ebenfalls wirkte die vielberühmte Cervantessche Novelle ›die Macht des Blutes‹ gar wenig erbauend und durch Roheit der Empfindung selbst peinlich. ›Das ist Renaissance!‹ rief er aus. ›Diese Schönrednerei, bis in die entsetzlichsten Situationen! Shakespeare selbst ist nicht ganz frei davon, aber nur in den Lustspielen. Cervantes hat bei den Großen nur antichambriert; das Volk hat er wirklich gekannt, deshalb lese ich von ihm gern nur die Novellen, welche im Volke spielen.‹ Von Shakespeare trug er u.a. aus ›Heinrich IV.‹, 2. Teil, die Szene zwischen Vater und Sohn beim Tode des Königs vor: es sei rein, als ob man so einen Vorgang, von dem man sonst nie eine Kenntnis erlangen würde, wirklich belauschte. Und dann wieder der hinreißende Schwall der Leidenschaft in Calderons ›Eifersucht das größte Scheusal‹,19 oder als weiteres Beispiel dieser leidenschafterfüllten tragischen Weltanschauung das Sonett an den ›blassen Stern‹ beim Ausgang der Schlacht, in ›Weine, Weib, und du wirst siegen!‹ Bei Calderon, bemerkte er, sehe man mehr den Künstler, bei Shakespeare die reine Natur. An einem der folgenden Abende wurde die [433] Tragödie von Herodes und Mariamne zu Ende gelesen, wobei man immer gefesselt, doch auch zuweilen abgestoßen wurde durch das seltsame Gemisch von Leidenschaft und Trunkenheit, poetischem Schwung und Prosa, tiefster Erkenntnis der Dinge und Opernhaftigkeit. Da sei kein Vergleich mit Shakespeare möglich und doch herrliche Züge von unmittelbarer Wahrheit, z.B. beim Wiederauftreten Oktavians die Neubelebung der Leidenschaft, als er erfährt, daß Mariamne mißhandelt worden. ›Das sind Motive aus dem Leben‹, sagte der Meister. Zu größtem Gaudium kam dann wieder einmal die Novelle von Cervantes ›die vornehme Dienstmagd‹ daran. ›Ach, der Süden!‹ rief er dabei aus, und öfters dazwischen: Shakespeare! Er sprach die Hoffnung aus, diese Gegenden noch zu sehen, welche noch nicht so abgegriffen seien, wie Italien, und wo man unter sich Gitarre spiele und nicht, wie in Neapel, für die Fremden. Von der den Spaniern so eigentümlichen Anmut der Form in dieser Novelle, wie auch in der ›betrüglichen Tante‹ meinte er, es sei arabischer Einfluß, wie ja auch in Italien unter den Hohenstaufen, wo alles sarazenisch gewesen sei, die italienische Poesie begonnen habe. Das herrliche Gespräch der beiden Hunde Szipio und Berganza hielt den intimen Zuhörerkreis durch mehrere Abende gefesselt. Unmöglich schien es zu definieren, worin die Gewalt dieser Dichtung liege; unmöglich auch sich mit etwas anderem zu befassen. Mit wahrem Entzücken wurde die Episode von der Hexe Cannizares gelesen. ›Herr Gott, sind das Sachen! ist das ein Wesen!‹ rief er bewundernd immer wieder aus. Von solchen Momenten sagt einmal Wolzogen, man habe da gleichsam die Genien der Jahrhunderte wie die Kinder miteinander scherzen und spielen sehen. ›Und das war's ja auch, was Wagners Wesen so eigenartig bezaubernd machte, dieses in das Ungeheure der Genialität vergrößerte Wesen des Kindes! Nirgends trat dies mit größerer Liebenswürdigkeit und, Freiheit zutage, als wenn die ewig ärgernde, nörgelnde, stichelnde, reizende, kleinliche Welt – wie sie seiner Wahrhaftigkeit täglich die elendesten Feldsteine und erratischen Splitter in den blühenden Garten warf – wenn diese große Häßliche und Lärmende ihn einmal in Ruhe ließ und er in dem heiligen Asyl seines geistigen Verkehrs mit den Heroen der Vorzeit auf selige Momente verweilen durfte, die dann auch wahrhaft beseligend waren für alle, die solchem Verkehre lauschen durften.‹20 In der Tat gehörte das Genie eines Cervantes dazu, ihn inmitten aller Angegriffenheit durch körperliche Plage in das rechte Geleise zu bringen. Nach Beendigung des prachtvollen Dialogs wurde der Versuch gemacht, Hoffmanns Fortsetzung davon21 zu lesen – es ging aber nicht. ›Es ist wie Kladderadatsch‹, sagte er.

[434] Von allerlei wechselnden Eindrücken aus zeitgenössischen Publikationen tragen wir hier noch die Aufsätze des Dr. Theodor Helm (Wien) über ›Beethovens letzte Quartette‹ nach, wie sie das ›Musikalische Wochenblatt‹ seit seiner ersten Jahresnummer in einer Folge von, Fortsetzungen brachte, worin er manches sehr gut und treffend fand und es am Rande mit einem Strich seines Tintenstiftes bezeichnete. Schon vorher hatte ihn in der ›Allgem. Musikzeitung‹ die (an die Pilgerfahrt zu Beethoven gemahnende) Erinnerung eines Herrn Louis Schlösser an seine Begegnung mit Beethoven interessiert. Als es jemand auffiel, daß Beethoven damals dem jungen Manne einen Besuch gemacht haben sollte, sagte er: ›es hat ihn unendlich gefreut, daß Der ihm die Subskription des Herzogs brachte; die Menschen bringen einem immer Unnützes, das war mal was. So sind wir.‹ Eine Broschüre von Dühring gegen das Judentum erwies sich wahrhaft entsetzlich durch ihren Stil; das bald darauf erscheinende Buch ›Sache, Leben und Feinde‹ enthielt die bereits (S. 140) im voraus erwähnten traurigen Äußerungen eines mißverständnisvollen Klatsches anläßlich seiner Aufforderung zur Mitarbeit an den ›Bayreuther Blättern‹. Nachdem er sich jedoch gerade in betreff der letzteren in dem zuvor bezeichneten Sinne (S. 417 f.) seit der neuen Wendung der Dinge recht hoffnungslos ausgesprochen, erfreute ihn dann doch wieder das Januarheft derselben mit Steins Anzeige der ›Renaissance‹ von Gobineau, und er sprach sich auch mit dem übrigen Inhalt recht zufrieden aus. Ein Aufsatz Wolzogens ›Der Wagnerianer als Schrift steller‹ (im ›Mus. Wochenblatt‹) rührte ihn durch Ernst und Tiefe so, daß er ihn gleich nach der Durchlesung zu sich einlud, um auf das Wohl dieses ›Wagnerianers‹ mit ihm anzustoßen. Auf dem Tisch lag eben eine Photographie Carlyles, die der Meister mit Interesse betrachtete: ›so müssen wir aussehen‹, sagte er, ›rechtschaffen und traurig‹.

Es war um die Mitte Februar, nachdem er soeben seine Abhandlung über das Thema ›Erkenne Dich selbst!‹ beendet hatte, daß er in einem älteren Buche des berühmten übergelehrten Hallischen Philologen Professor Pott,22 des Kenners von mehr als 800 Sprachen, das ihm damals noch gar nicht bekannte große Werk Gobineaus ›über die Ungleichheit der Rassen‹ eingehend besprochen und kritisiert fand. Er teilte daraus bei Tische den ihm hier zum erstenmal entgegentretenden Hauptgedanken Gobineaus vom Untergang der Menschheit nach 14000 Jahren Bestand mit. ›Daß die Menschheit ihrem Ende zugeht‹, sagte er, ›ist gar keine Unmöglichkeit‹, und fügte ernsthaft hinzu: ›wenn unsere Kultur zugrunde geht, ist es gar kein Schaden; wenn sie aber durch die Juden zugrunde geht, ist es eine Schmach‹. Er erzählte von dem [435] zänkischen Ton des Professors Pott und dessen lächerlicher Wut gegen Gobineau, weil dieser an einen Verfall glaube und sich nicht darum kümmere, daß es jetzt doch Eisenbahnen gebe. Man konnte bemerken, wie der Gedanke Gobineaus selbst aus diesem durstigen Spiegelbilde ihn immer mehr einnahm, während andererseits die pedantisch-schwerfällige Darstellungsweise Potts ihn ärgerte. ›Ich lese wieder ein deutsches Buch; es ist, als wenn man schlecht gemahlenes Mehl zwischen die Zähne bekommt.‹ Wie der ›deutsche Gelehrte‹ in diesem Buche ihn anwidere! Nicht einen Gedanken brauche so einer zu haben; nur Zitate kämen darin vor. Man erkenne daraus wieder einmal, daß die ›deutsche Wissenschaft‹ gar nichts wisse. ›Einerseits diese Armee, andererseits diese Professoren!‹ rief er schmerzlich aus. Wenn es nach mir ginge, – nicht ein Kreuzer würde dafür ausgegeben! Dagegen die freien und kühnen, auf einer eigenen inneren Anschauung der Dinge beruhenden, aristokratischen Auslassungen Gobineaus! Pott mache ihm auf dieser Mensur den Eindruck des schwergepanzerten steifen, deutschen Studenten, während Gobineau leicht mit dem Florett aufträte. Sein Erstes war gewesen, das große Werk des Mannes, dessen kleinere Schriften ihm schon so viel Vergnügen bereitet, sich durch den Buchhändler zu bestellen; doch erwies sich dies keineswegs als eine so einfache Sache. Das vor einem Vierteljahrhundert erschienene Buch war in seiner ursprünglichen Ausgabe seit Jahren vergriffen, und eine neue Auflage nicht ermöglicht, weil kein Verleger sich an das Wagnis machen wollte, weder in Frankreich noch in Deutschland. Es schien für alle Zukunft zu völliger Verschollenheit bestimmt zu sein, da sich der Autor seit Jahren vergebens um eine neue Ausgabe mühte: er hätte sie denn auf seine Kosten herstellen lassen müssen! Im Buchhandel war es nicht aufzutreiben, und nur Gobineaus eigener Intervention war es zu danken, daß Wagner es schließlich leihweise auf einige Monate erhielt, durch Vermittelung eines langjährigen treuen Freundes des Grafen, des Professors Adalbert von Keller in Tübingen.23 So völlig hatten Juden und Professoren es zu unterdrücken und zu beseitigen gewußt! Einstweilen waren es Schriften über Indien, die ihn beschäftigten, das große Schlagintweitsche Buch24 und das umfassende Werk des Franzosen Jacolliot: ›Voyage aux pays des Éléphants.‹ – Als nächste ›Ausführung‹ zu ›Religion und Kunst‹ aber kündigte er den Seinen bereits damals, noch vor erfolgter Kenntnis [436] des Gobineauschen Hauptwerkes, seinen Aufsatz über ›Heldentum und Christentum‹ an.

Von sonstigen kleinen internen Erlebnissen finden wir in den uns durch Humperdinck aufgezeichneten Notizen einen ›Wahnfried-Abend‹ am 1. Februar erwähnt, an welchem der in Geschäften anwesende Feustel viel über seine Jugenderlebnisse erzählte. Der Meister habe hierbei seinen, Humperdincks, Sammethut aufprobiert, den dieser als Angehöriger des Münchener ›Gralsritterordens‹ trug, und es habe sich herausgestellt, daß sie beide die gleiche Kopfweite hätten. Er bestellte sich sofort einen gleichen, der denn auch kaum vierzehn Tage darauf von München her als Angebinde des ›Ordens vom Gral‹ eintraf und ihm prächtig stand. Die begleitende Inschrift: ›Der Meister in des Ordens Hut, der Orden in des Meisters »Hut«!‹ erwiderte er (15. Februar) durch Reimzeilen, die wir nicht hierhersetzen können, da sie auch der freundliche Gewährsmann des Vorfalles nicht im Gedächtnis behalten zu haben scheint. Am 7. wurde Rubinsteins Geburtstag freundlichst berücksichtigt, und am 11. hatte Hermann Zumpe, aus Frankfurt kommend, nach längerer Abwesenheit einen ›üblen Empfang‹ – weshalb? das ist nicht hinzugefügt. Doch wurde abends für ihn ›Cercle‹ veranstaltet, unter Anwesenheit aller Freunde, wobei Rubinstein die Blumenmädchenszene und zu staunender Freude des Meisters die 33 Variationen zum besten gab. Er betonte den Reichtum dieser ›tollen‹ Komposition: ›mit je drei dieser Variationen hätte er eine Symphonie schreiben können‹. Am 18 stellte sich als gern gesehener Gast ein stiller ernster Schotte ein, Herr David Irwine aus Leipzig, der seine begeisterte Sympathie schon wiederholt durch namhafte Spenden für den Patronatfonds bekundet hatte und späterhin als der Verfasser mehrerer umfangreicher englischer Schriften über Wagner25 bekannt wurde. Für ihn ließ der Meister Bachsche Orgelfugen, dann aber, als einen Gruß aus seiner schottischen Heimat, die ›Hebriden‹-Ouvertüre spielen. Wiederum freute er sich des schönen Werkes und rühmte den Komponisten als ›Landschaftsmaler‹ (S. 220 f.), meinte aber, es sei ein Programm dazu notwendig. Er entsinne sich, wie er es zum erstenmal in Leipzig als junger Mensch unter diesem Titel gehört, mit dem er nicht wußte, was anzufangen, habe er es nicht verstanden. Von der Persönlichkeit Mendelssohns war ihm besonders die dämonische, unheimlich schweigsam lauernde, dann plötzlich heftig hervorbrechende Koboldart gegenwärtig: er sei in seiner Jugend hübsch gewesen, erst mit dreißig Jahren so indisch geworden. Der Eindruck des ›Tannhäuser‹ hätte ihn wohl ›würgen‹ können; er sei bald darauf gestorben. Ein anderes Mal [437] spielte er die ›Oberon‹-Ouvertüre und manches aus ›Oberon‹: es sei ihm, als käme er in seine Heimat, wenn er zu Weber komme. Die ›Hebriden‹-Ouvertüre sei ja gewiß ein viel größeres künstlerisches Meisterwerk, als die zu ›Oberon‹; aber hier, in dieser letzteren, sei alles Seele, Feuer! Er frage sich auch, was die Bedeutung der ›Tannhäuser‹-Ouvertüre ausmache, die doch in vieler (musikalischen) Beziehung hinter den Weberschen zurückstünde und die Mendelssohn einst verächtlich behandelte.26 Es sei aber die Plastik der Motive, es seien alles Motive, und z.B. das ›Tannhäuser‹-Thema darin bräche mit der Gewohnheit, das zweite Thema ›lieblich‹ zu gestalten. Das sei der Grund, weshalb sie neben musikalisch Vollendeterem, das ihr vorausging, doch als neu sich ausnähme. Er sprach dies anläßlich einer Äußerung des Münchener Geh. Archivrates Franz Löhr27 aus, der bei einem Kaffeebesuch ihm erzählte, die ›Tannhäuser‹-Ouvertüre habe ihm Anfangs der fünfziger Jahre bei ihrer ersten Anhörung ›Mut zum Deutschsein‹ gemacht.

In seiner Partitur war er um diese Zeit, wiewohl durch seine schmerzenden Finger gequält, bis zur Verwandlungsmusik vorgerückt und ärgerte sich, daß er nun ›Musik für die Dekorationsmaler‹ machen müsse. Neben den beständigen Schmerzen, die er zu erleiden hatte, stockte gelegentlich auch wieder einmal die Wasserleitung und versagte ihm das Morgenbad, und er beklagte sich darüber, wie störend ihm diese kleinen Dinge seien, da er doch seine Partitur im Kopfe habe und gern an seine neue Arbeit (›Heldentum und Christentum‹) gehen möchte. Daß er bei erneutem Durchlesen seiner Dichtung die ›anschwellenden Posaunentöne‹ antraf, (›lang gehaltene Posaunentöne schwellen sanft an; näherkommendes Glockengeläute‹) verhalf ihm als gegebenes poetisches Motiv zu der verlangten Nachkomposition, der ›Drei- (oder Vier-) Minutenmusik‹, an der er schließlich völlig mit der Uhr in der Hand arbeitete. Nach Humperdincks Angabe sei die neue Verwandlungsmusik des ersten Aufzuges zum erstenmal am 9. März am Klavier zum Vortrag gelangt. Dem jungen Musiker gab er den Rat, Schopenhauer zu studieren, welchen dieser sich nicht vergeblich erteilt sein ließ; er habe damals, so berichtet er uns, noch unter dem Eindruck dieser Klänge, seine Schopenhauerstudien begonnen, so daß beide in seinem Geiste durch Assoziation gewissermaßen zur Einheit verschmolzen. Am 21. hatte der Meister die Seite 80 der Partitur vollendet, und war besonders mit der Fagottstelle darin zufrieden; tags darauf erschienen auch, laut Übereinkunft, gegen vier Uhr nachmittags Brandt und die Gebrüder Brückner aus Koburg, mit denen es wieder viel technische Beratungen gab. Übersprudelnd von Laune und Witz war er andern Tages bei Tische, so daß Brandt erklärte, er habe ihn seit Triebschen nicht wieder so heiter gesehen. Sowohl das Vertrauen in Brandt, als auch die originelle[438] Gutartigkeit der beiden Maler rissen ihn zu völligem Übermut hin. Abends ließ er die neue Verwandlungsmusik spielen. – ›Zaubergarten und Verwandlungsmusik erprobt‹, heißt es in Humperdincks Aufzeichnungen. So voll war er um diese Zeit von seinem Werke, daß er einmal beim Kaffee aufsprang, um zu seiner Partitur zu gehen und etwas auszuradieren und durch etwas anderes zu ersetzen Wiederum nahm er außer dem Vormittag die Abendstunden für die Förderung seiner Arbeit in Anspruch, und es kam vor, daß er an einem Tage um drei Partiturseiten weiterschritt. ›Gobineau sagt‹, rief er aus, ›die Germanen waren die letzte Karte, welche die Natur auszuspielen hatte; »Parsifal« ist meine letzte Karte.‹

Bei seinem ausgebildeten Familiensinn blieben die Angelegenheiten der Kinder des Hauses für ihn von der größten Wichtigkeit. Für den Klavierunterricht war Humperdinck bald nach seinem Eintreffen der Lehrer Blandines geworden; Siegfried hatte sich, bei fortdauernder Abwesenheit Steins, mit vielbeschäftigten Bayreuther Professoren zu behelfen, von denen ein Herr Toussaint ihn in das Lateinische einführte. Von letzterem brachte er manche gute Note nach Hause, während doch keiner von ihnen seine Zeit und Kraft ganz ihm zu widmen vermochte. Zu Ostern 1881 trat ein junger Rheinländer bei ihm ein, dessen Namen kein Lied und keine Chronik aufbewahrt, von etwas schwierig zu behandelnder Natur und der ihm zugefallenen Aufgabe wenig gewachsen Seinem abstrusen, absonderlichen Wesen entgegnete Wagner mit ruhig zuhörendem Ernst und sagte ihm die herrlichsten ermahnenden Worte zur Freundlichkeit, zum Umsichblicken, Nicht-in-sich-hinein-Grübeln; einen Heinrich von Stein zu ersetzen, dazu war und blieb dieser Mann aber trotz aller Gelehrsamkeit nicht befähigt. Mit der ältesten Tochter Daniela hatte der Meister in letzterer Zeit neben Beethovenschen Sonaten so manches edle Werk, u.a. einmal ›Joseph in Ägypten‹ am Klavier durchgenommen; er vermißte sie ungemein, als sie Anfang Januar auf vier Monate den trauten Familienkreis verließ, um sich zu Frau von Schleinitz nach Berlin zu begeben. Zu seinem lebhaften Kummer blieb ihm der Wunsch versagt, die beiden Bülowschen Töchter ganz als die seinigen zu adoptieren; doch war er in jeder Weise väterlich um sie besorgt. So diente es ihm zur Beruhigung für die spätere Sicherstellung ihrer Lebensbahn, daß er zu ihren Gunsten auf die Nutznießung jener, seinerzeit durch Bülow für den Bayreuther Aufführungsfonds auf einer Konzertreise erworbenen größeren Summe (S. 257) verzichtete, um sie damit ihrem Spender gewissermaßen zurückzuerstatten. Einer solchen Übertragung traten von seiten seines Verwaltungsrates bestimmte formale Schwierigkeiten entgegen; es gelang ihm aber, dieselben durch seine bestimmt ausgesprochene Willenserklärung zu besiegen und eine darauf bezügliche Wendung in den Schlußparagraphen des Protokolls der Ausschuß-Sitzung vom 9. Januar (S. 422) zu seiner wahren [439] Erleichterung aufgenommen zu sehen Gab es doch für ihn in bezug auf den – damals sehr mit sich selbst zerfallenen Freund immer viel Tragisches zu durchleben, und gerade sein Wunsch, die Kinder, deren Adoption ihm nicht vergönnt war, nun zu ihrem Vater in eine erneute edle Beziehung zu setzen, zog ihm im Lauf dieses Winters, ja bis in den Sommer hinein, manchen schweren Augenblick zu, so daß er es endlich fast bereuen mußte, diesen menschlich-natürlichen Wunsch jemals gehegt und seine Erfüllung von sich aus angebahnt zu haben.

Inzwischen hatte Joukowsky sein provisorisches Unterkommen im Hotel Reichsadler aufgegeben und war in größere Nähe des Hauses gezogen. ›Noch angenehmer‹, so erzählt er selbst, ›als ich dicht bei Wahnfried (in der heutigen Wahnfriedstraße) ein hübsches Haus bezog, in welchem später auch Heinrich von Stein bei mir zu Gaste war. Wagner ließ eine kleine Tür in seine Gartenmauer brechen, von der im den Schlüssel hatte, und auf diese Weise brauchte ich nur über die Straße zu gehen, um in Wahnfried zu sein Außer meinen Arbeiten für »Parsifal«, wozu auch die Entwürfe zu allen Kostümen und Requisiten gehörten, war ich in dieser Zeit mit vielem andern beschäftigt, worunter ich nur das große Tempera-Bild erwähnen will, welches die Erinnerung an das lebende Bild (die »heilige Familie«) festhalten sollte, das ich zu Weihnachten in Wahnfried gestellt hatte. So flog dieser wundervolle Winter wie ein Traum vorbei; Frühjahr und Sommer vergingen in steter Arbeit für den »Parsifal«.‹ Viel Not hatte er, wie bereits bemerkt, mit dem ›Zaubergarten‹, dessen Charakter dem Sinne Wagners gemäß zu treffen durchaus nicht gelingen wollte. Unter den Händen des phantasievollen Künstlers wurde dabei übrigens jede Skizze gleich zum ausgeführten Gemälde, und Herr von Joukowsky berichtete uns seinerzeit, wie ihn der Meister zu wiederholten Malen dazu aufgefordert habe, ihm doch bloße Entwürfe und keine fertigen Gemälde vorzulegen. Unermüdlich ging er wieder an die Arbeit und hatte die Genugtuung, doch der Einzige zu sein, der am Ende den Intentionen des schaffenden Künstlers nahekam Gewisse von München her einlaufende meisterlich schön ausgearbeitete Kostümbilder seiner Blumenkinder brachten diesem nur alles Elend entgegen, das seine Kunst von der üppigen großstädtischen Opernkunst trennte, und worüber er dann abends den Freunden seine Trauer mitteilte: ›wo alles Unschuld sein sollte – abgelebte Frauen!‹ Und dabei, wie gesagt, in meistertlich-schöner Ausführung, sichtlich mit der Überzeugung gemalt, daß diese Café chantant-Walküren so recht den Phantasiebildern Dessen entsprechen sollten, der – wenn Einer – von sich sagen konnte: ›in meiner Kunst ist alles keusch!‹ Über Mißgriffe und Mißverständnisse dieser Art, wo sie in den glänzenden Aufführungen der verschiedenen Hofopern und Stadtheater in anspruchsvoller Weise öffentlich ans grelle Lampenlicht traten, zuweilen mit dem noch heute immer wieder kundgegebenen Wunsch, Bayreuth [440] zu überbieten und es ›besser zu machen‹, hatte Wolzogen eine Zeitlang regelmäßig in einer besonderen Rubrik der ›Bayreuther Blätter‹: ›Beiträge zur Kritik des modernen Kunstgeschmackes‹ gehandelt.28

Inzwischen hatten die Bemühungen des rüstigen vielgeschäftigen Angelo Neumann ihn gegen alle Widerstände dem Ziele immer nähergeführt, den Berlinern das ungeheuere Nibelungenwerk durch den Nebenkanal eines Vorstadttheaters vorzuführen. Unter diesen Widerständen ist nicht allein der Aufhetzung des Hofadels durch den gekränkten Oberhofgeneralintendanten zu gedenken, sondern auch der gerade in diesem Winter nach überlang bewiesener Geduld sich besonders lebhaft regenden rein bürgerlich politischen Reaktion gegen das überhandnehmende Judentum der Reichshauptstadt. Letztere hatte, nach Neumanns Bericht, den verdienten Publizisten George Davidsohn, ›dessen freundschaftliche Beziehungen zu Bayreuth wohlbekannt waren‹, dazu veranlaßt, in einem an ihn gerichteten Privatschreiben auf die ›ernste Gefahr für das Berliner Unternehmen (!)‹ hinzuweisen, wenn die Meinung verbreitet würde, Richard Wagner habe an diesen Agitationen einen persönlichen Anteil! Es ist nicht leicht zu vergegenwärtigen, was sich Neumann dabei gedacht und was er nach seiner Auffassung der Dinge sich davon verhofft habe, als er diese wohlmeinende ›Warnung‹ zugleich mit einer brieflichen Bitte um eine ›diesbezügliche Äußerung des Meisters‹ als eine Art Pression von seiner Seite an Frau Wagner weitergab? Jedenfalls nicht Das, was wirklich eintraf; denn sofort erhielt er folgendes eigenhändige Schreiben: ›Geehrtester Freund und Gönner! Der gegenwärtigen »antisemitischen« Bewegung stehe ich vollständig fern: ein nächstens von mir in den »Bayreuther Blättern« erscheinender Aufsatz von mir29 wird dies in einer Weise bekunden, daß Geistvollenes sogar unmöglich werden dürfte, mich mit jener Bewegung in Beziehung zu bringen. – Dennoch geht mein Rat dahin: – geben Sie Berlin auf, und gehen Sie Mai und Juni nach London. Wie Sie dies zustande bringen, muß natürlich Ihre Sache sein. Es wäre nicht übel, wenn Ihre – und unsere – Unternehmung durch Unsinnigkeiten der Art, wie sie jetzt in Berlin florieren, in eine vollständig schiefe Bahn geriete. Hofadel und Juden zugleich – und zwar aus lauter absurden Mißverständnissen – auf dem Halse zu [441] haben, dazu sind unsere Nibelungen nicht bestimmt! – Ich bin unbedingt für London – sofort! Ihr ergebenster Richard Wagner.‹ Dies war die geziemende ruhige Antwort auf die vorgespiegelte ›ernste Gefahr‹ (!). Gab es in Wahrheit eine solche in den beiden einflußreichen Kreisen der Hauptstadt (denn das zwischen Hof und Judentum in der Mitte befindliche eigentliche Berliner Publikum hatte sich von je allein durch tat- und gesinnungslose Indolenz ausgezeichnet): so war das an sich immer noch schwierige ›Ring‹-Unternehmen zu schade, um unter so ungünstigen Verhältnissen damit zu experimentieren. Wirklich besann sich nun Herr Neumann darauf, daß die ›Gefahr‹ doch vielleicht nicht so gar arg besorgniserregend sein mochte; er suchte telegraphisch einzulenken, empfing aber auf dem gleichen Wege nur die gleiche kurze Antwort: ›Unbedingt für Aufgebung Berlins, konzentrierte Verlegung nach London Wagner.‹ Damit war diese Episode erledigt; Neumann seinerseits aber scheint noch nachträglich in seinen ›Erinnerungen‹ mit Schaudern daran zurückzudenken, daß er infolge seines eigenen Verhaltens auch nur für einen Augenblick dem bloßen Gedanken eines ›Aufgebens‹ seiner Unternehmung nahegestanden; wenigstens schrieb er bei Herausgabe seines Buches den vorstehenden, durch ihn selbst veranlaßten Brief noch nachträglich einer von ihm vorausgesetzten ›augenblicklichen Aufwallung‹ (!!) zu, nicht aber seiner eigenen Darstellung der Verhältnisse, und pries sich glücklich, daß Wagner ›später nicht mehr darauf zurückgekommen‹ sei.30 Es blieb demnach bei Berlin und beim Viktoriatheater.

Andererseits ergab sich Herr von Hälsen nicht so leicht in die für ihm höchst peinlich gewordene Entwickelung der Situation. Wir wissen es aus seinem eigenen, gegen Neumann abgelegten Bekenntnis, daß er, ganz wie er es – zu Dorns und Tauberts Zeiten – mit ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ getan, auch dem ›Ring‹ gegenüber einzig den Wunsch hegte, seine Aufführung in Berlin (wie auch in den ihm unterstellten Hoftheatern zu Hannover und Wiesbaden) zu verhindern. Da dies nicht mehr anging, versuchte er eine möglichst würdevolle Stellung einzunehmen, indem er an den jüdischen Redakteur der damals in Berlin erscheinenden ›Musikwelt‹, Herrn Max Goldstein, ein offenes Schreiben erließ, um seine ablehnende Haltung zu rechtfertigen. ›Meine Stellung zu diesem Wagnerschen Werke‹, erklärte er dem Herrn Goldstein feierlichst aus dem Schatz seiner Erfahrungen, ›ist aus rein sachlicher Anschauung entstanden und fest geworden. Die Vorurteilslosigkeit, welche ich in künstlerischen Dingen mir stets zu wahren suchte, habe ich auch in puncto Wagner nach meiner Überzeugung gezeigt. Wohl wissend, daß nur »Tannhäuser« und »Lohengrin« wirklich Anziehungskraft ausüben, habe ich dennoch nicht gezögert, die »Meistersinger« sowie »Tristan und Isolde« vorzuführen; [442] jenes Werk (also die »Meistersinger«!) ist bis auf den heutigen Tag bei uns nie ganz erfolg reich gewesen (!!), dieses (also: »Tristan und Isolde«!) gar nicht. Welche Mühe haben wir uns damit gegeben!31 Es half nichts nach den ersten vier oder fünf Vorstellungen war das Interesse daran verflogen, und es ist seitdem nicht wieder zu erwecken gewesen. Wie Sie, bin auch ich weit davon entfernt zu bezweifeln, daß der »Nibelungenring« Epoche macht; wir gehen aber darin auseinander, daß ich glaube, seine Epoche wird nicht gar zu lange dauern: in fünfzehn bis zwanzig Jahren wird man nur noch wenig davon sprechen. Sehen Sie mit mir den Tatbestand, wie er sich überall vorfindet, sachlich an, und Sie werden wie ich finden, daß die mit fast jeder Aufführung des Werkes verbundenen Opfer und Mühen in keinem Verhältnis stehen zu dem idealen oder materiellen Erfolge.‹ So Herr von Hülsen in seiner berühmt gewordenen Expektoration, durch die er sein Andenken auf ferne Zeiten hinaus verewigt zu haben scheint, da sie seitdem fast alle zehn Jahre als jedesmal wieder ›neu entdecktes‹ Kuriosum durch alle Zeitungen geht. Aber in demselben Schriftstück beging derselbe Herr Generalintendant die weitere Unvorsichtigkeit, öffentlich auf seine bisherigen Verhandlungen mit dem Meister hinzuweisen: wie er diesen schon während der Vorproben der Bühnenfestspiele mit seinem Ansuchen um eine Einzelaufführung der ›Walküre‹ belästigt; wie diese ihm erst ›zugesagt‹, die Erlaubnis dann aber wieder zurückgezogen worden und seine schließliche telegraphische Anfrage gar keiner Erwiderung gewürdigt worden sei. Von all diesen Dingen hatte Wagner öffentlich kein Wort verlauten lassen; erst Herrn von Hälsen beliebte es, den Schleier von diesen Vorgängen zu ziehen. Es war recht und billig, daß ihm darauf gedient wurde: nicht vornehmer und würdiger konnte dies geschehen, als mit dem aus dem engsten Kreise von Wahnfried herrührenden ›Offenen Schreiben an den General-Intendanten der K. Preußischen Hoftheater, Herrn von Hülsen‹, wie es die ›Bayreuther Blätter‹ in ihrem Märzheft brachten. Damit war auch diese Angelegenheit erledigt und abgetan.

Unter den gleichzeitigen Weltvorgängen da draußen waren es besonders die Kämpfe der tapferen niederdeutschen Buren im Transvaallande für ihre Unabhängigkeit, die ihn mit lebhaftem Interesse erfüllten. Schon im Dezember hatte er in wiederholten Gesprächen mit Wolzogen diese Sympathien in dieser Richtung kundgegeben und den Wunsch geäußert, die schwer gegen die Übermacht Ringenden von deutscher Seite her unterstützt zu sehen. In gleichem Sinne sollte sich Wolzogen mit der Aufforderung an Herrn von Weber wenden, eine Art Aufruf zugunsten der Burenlande für die ›Blätter‹ aufzusetzen, so daß die bevorstehenden Auswanderungen dahin gelenkt würden. Kam [443] es dazu nicht, so brachten dieselben doch in dem eben erwähnten Märzheft ein vom 4. März 1881 aus Berlin datiertes Schriftstück, welches die politische Lage ganz aus dem Spiel ließ, indem es sich vorläufig darauf beschränkte, das Mitleid für die armen Verwundeten anzurufen, denen die Erleichterungen und Hilfen militärischer Sanitätseinrichtungen gänzlich fehlten, und es als eine Pflicht der Menschlichkeit bezeichnete, die allgemeine Teilnahme wenigstens durch Geldsammlungen zum Ausdruck zu bringen, die dem Niederländischen Komitee im Haag überwiesen werden sollten. Die Unterschriften gewähren den eigentümlichen Anblick einer Vereinigung so entgegengesetzter Namen, wie diejenigen Richard Wagners und Ernst von Webers mit den Namen verschiedener Geheimer Obermedizinalräte, Kommerzienräte, Kapitän-Leutnants, des Vorsitzenden der Gesellschaft für Erdkunde und des Zentralvereins für Handelsgeographie, und endlich gar – eines Dubois-Reymond und Virchow! Den Tagebuch-Aufzeichnungen Humperdincks entnehmen wir u.a. die Tatsache, daß am Sonntag, dem 3. April, die im Druck erschienene Broschüre Ernst von Webers über den ›Unabhängigkeitskampf der Boers in Südafrika‹ in extenso in Wahnfried zum Vortrag gelangte. Auch ging es nicht ohne mannigfache briefliche Interpellationen in dieser Sache von außen her ab, die von aufgeregten Burenfreunden – selbst aus England von ihn gerichtet wurden, indem sie ihm bei der Berühmtheit seines Namens und einer unklaren Vorstellung darüber, daß er doch kein bloßer ›Opern-Komponist‹ sei – verkehrterweise einen Einfluß auf die Entschließungen des deutschen Reiches zutrauten. Nein, mit dem politischen Deutschland, mit seinen ›Konservativen‹, ›Liberalen‹ und ›Konservativ-Liberalen,‹ seinen ›Demokraten‹ und Sozialisten oder auch ›Sozial-Demokraten‹ (vgl. ›Erkenne dich selbst‹) hatte er nichts gemein, und konnte mit den Seinen ›den Spasmen des Träumenden doch eben nur zuschauen, da all unser Rufen von ihm nicht gehört werden kann‹ (S. 431). So hatte er auch, zum Ärger Bülows, zur berühmten Semiten-Petition auf Einladung Dr. Försters seine Unterschrift nicht hergegeben, diese Petition vielmehr (allerdings auch wegen ihrer allzu devoten Form) weit von sich abgelehnt (S. 368 f.). ›Ich mag mit dieser Sache nichts zu tun haben, überhaupt mit dem deutschen Reich – seit dem Benehmen desselben in der Vivisektionsfrage.‹ ›Das Schicksal unserer Petition im Reichstag‹, hatte er noch zu Beginn des Jahres an Ernst von Weber bei Übersendung seines abermaligen Beitrages an den Internationalen Verein zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Tierfolter geschrieben, ›das Schicksal unserer Petition im Reichstag hat mich – der wahrhaft niederträchtigen Behandlung der Sache wegen – jeder Hoffnung beraubt, auf friedlichem Wege etwas zu erreichen. Wichtig ist aber auch dieses, um uns und der Welt endlich die Augen über unsere Zustände zu öffnen.‹ ›Aus dem deutschen Reich bin ich geschieden‹, fügte er ein anderes Mal einer ähnlichen Äußerung [444] hinzu, ›sehr gern will im auch aus der Weltordnung scheiden.‹ Als sympathisch mitbeteiligtem Zuschauer aber konnte ihm dennoch keiner dieser Vorgänge fremd und gleichgültig bleiben, und wie im fernen Westen er sich der mutigen Chilenen freute, die er ›von je gern gemocht‹, und die nach der Einnahme von Lima, anstatt alles zu zerstören, wie man gefürchtet, vielmehr überall die Ordnung wiederherstellten und das raubmörderische Gesindel erschossen, so schlug ihm das Herz für die wackeren Buren, und er nahm lebhaften Anteil daran, wenn er neuerdings vernahm, daß den Engländern diese oder jene perfide Handlung nichts genützt hätte und sie trotz ihrer Mehrzahl von jenen geschlagen worden wären. Das sei derselbe Menschenschlag, der einst den Spaniern so viel zu schaffen gemacht hätte! Mit leidenschaftlicher Erregtheit sprach er einst bei einem Mittag bei Großens darüber, empört, daß von deutscher Seite nichts zu ihrer Unterstützung geschehe. Auch gegen Dr. Landgraf äußerte er sich übereinstimmend über das Verhalten des deutschen Reiches gegen die, die eben damals um Schutz und Beistand nachsuchten. ›Steht Ihr ihnen bei‹, so sagte er ungefähr, ›da werde ich mittun und gleich auch Eure Semitenpetition unterschreiben.‹

Den ganzen März hindurch hielten grauer Himmel und heftiger Wind an, Spaziergänge auf der Konnersreuther Chaussee oder nach Stift Birken hin konnten nur unter Belästigungen gemacht werden, und sein Unterleibsleiden bereitete ihm die nur allzu gewohnten Beschwerden. Immer wieder schwebte dabei Italien als Zuflucht vor: ob für immer? ob er das heimische Wahnfried darüber ganz aufgeben sollte? Es war kein Scherz, sondern der Ausdruck einer traurigsten Empfindung, wenn er sagte: in solchem Falle wolle er erst hier alles niederbrennen; es sei ihm gar zu peinlich gewesen, die fremde gemeine Einrichtung in dem verlassenen Triebschen zu gewahren.32 Dann endlich trat, gegen Ende des Monats das vollständigste Frühjahrswetter ein und lockte ihn in den Garten und bis in das ›Studentenwäldchen‹ unterhalb des Sophienberges, überall von Lerchenschwirren begleitet. Daß die Menschen mit einem solchen jubilierenden Sänger nichts besseres anzufangen wußten, als ihn ›ins Maul zu stecken‹, war ihm immer ein betrübender Gedanke.33 Auf dem Rückweg erblickte er den Rauch einer der ersten Bayreuther Fabriken, wie sie im Lauf der Jahrzehnte leider immer zahlreicher geworden sind und bemerkte: er stiege gerade so senkrecht auf, wie die Lerche, nur mit einem Unterschiede: ›die eine singt, der andere stinkt‹. Was wurde er erst heute sagen, wo die pietätvollste Pflege seines damals noch in den Anfängen begriffenen großen Werkes und alle daraus für Bayreuth fließenden Vorteile die so wenig dafür dankbare Stadt nicht daran hindern konnten, sich durch immer neu sich erhebende Fabrikschlote mehr das Äußere eines der Industrie [445] als der Kunst gewidmeten Ortes zu verleihen, und seine poesievollsten Ausblicke durch ungefüge rote Ziegelsteinmassen und daraus hervorragende rauchende Schornsteine zu entstellen! Selbst eine schöne Fahrt nach Fantaisie konnte bei dem herrlichen Wetter unternommen werden, mit ausgedehnten Spaziergängen in den wunderschönen Parkanlagen, woran sich dann bei der Rückkehr einer jener weihevollen Wahnfried-Abende schloß, deren jeder ein künstlerisches Opferfest bedeutete. Rubinstein spielte auf des Meisters Wunsch jene ›Schlacht von Vittoria‹, die er einst in seinem Magdeburger Konzerte unter der Mitwirkung der Schröder-Devrient vor leerem Saale aufgeführt,34 und er hob daran rühmend das Kindliche ihres Anfanges und das Prachtvolle der Siegeshymne hervor. Das wäre volkstümlich und erinnere ihn an die ›Egmont‹-Musik. Von dieser letzteren bedauerte er, daß sie, nur für dieses Stück gemacht, bei den Aufführungen eigentlich verloren ginge: ›hier bei uns im Saal, für wenige Hörer, müßte sie aufgeführt werden!‹ In Zürich habe er sich viel Mühe damit gegeben.35 Bei der berühmten Oboestelle, die er mit dem Lerchenschwirren verglich, gedachte er Kummers in Dresden, – so würde er sie nie wieder hören! Zwischen dem 1. und 2. Teil der ›Vittoriaschlacht‹ las er aus der Biographie Beethovens die Episode dieses Konzertes vor; am Schluß aber rief er: ›Wir Musiker sind wie die Blausäure, wenn die Musik beginnt, ist alles übrige nichts!‹

›O was ist doch solch ein Dreiklang!‹ rief er ein anderes Mal, nachdem er sich – bloß in Gedanken – mit Palestrina und Bach beschäftigt hatte. ›Alles verschwindet für mich dagegen; wenn er wieder eintritt, so ist es nach allem Toben, Wüten, Irren, wie die Rückkehr von Brahma zu sich selbst. Geht mir mit Eurer bildenden Kunst!‹ Und nach einer Vorführung von Bachs ›Chromatischer Phantasie‹: ›Was soll man da vom Fortschritt denken? Seitdem sind die, Formen eher kleinlicher geworden.‹ Ein anderes Mal wurde ›Don Juan‹ vom Maskenterzett ab durchgegangen. Von diesem sagte er: ›Das ist es, was ich in meiner Jugend immer nachzumachen trachtete.‹ Im folgenden klagte er über das viele Durcheinander des Schönsten und der bloßen Klappermusik, bis endlich die Schlußszene des steinernen Gastes zur staunenden Bewunderung aller den Sieg davontrug. An ihr zeigte er dann, wie es stets der Dichter sei, der eine solche Musik hervorzubringen befähige. Wieder einmal nahm er unmittelbar nach der neuen Verwandlungsmusik die ›Entführung aus dem Serail‹ zu allergrößtem Ergötzen vor: Osmin, den er so unmittelbar zu vergegenwärtigen vermochte, Osmin und Blondchen, die türkische Musik usw. Große Freude und Bewunderung erregte in ihm seine eigene Pariser Venusberg-Musik, als Rubinstein sie zum Vortrag brachte; die Fälle davon gefiel ihm: es sei kein Leichtes, ein so ausgedehntes Allegro zu [446] schreiben. ›Wenn einer mir jetzt sagte, ich sollte so etwas machen, es wäre mir unmöglich.‹ Dagegen erfreute er sich der großen Einfachheit des Gebetes der Elisabeth und daß er damals, so jung er war und so wenig technisch ausgerüstet, so sicher gewesen wäre, dieses lange Stück so schmucklos zu halten. Am 7. April hatte Humperdinck in dem zweiten von ihm geleiteten Konzert des Musikvereins die ›Pastorale‹ zu dirigieren; das Gespräch kam auf die Tempi derselben, und Humperdinck sprach die Meinung aus, der Schluß lasse etwas in der Stimmung nach. Nachdem er zunächst den Schluß verteidigt, sagte dann der Meister: ›Ja, wie abschließen? Am besten ist es wohl immer, wie einen Traum ausklingen zu lassen! In der C-moll kann man sagen, ist das, Finale die Hauptsache, das übrige wie eine Vorrede. In der F-dur ist es ihm vollständig gelungen; da hat er alles kurz gehalten, gleichsam vorbereitend, um alles auf das Finale zu werfen. In der »Eroica« war er in der Blüte seiner Phantasie und hat einen Einfall nach dem andern gehabt; aber die meisten wissen gar nicht, was sie damit anfangen sollen. In der Pastorale, da windet er sich; und das Finale der A-dur, so lieb man es hat, kann man – in einem gewissen Sinne – davon sagen: das ist nicht mehr Musik. Aber nur Er konnte es machen! Die letzten Sätze sind die Klippe; ich werde mich davor hüten, ich schreibe nur einsätzige Symphonien.‹36 Was wir in solchen Notizen und Gedankenfolgen von den unmittelbaren Emanationen des Genius mitteilen können, ist begreiflicherweise nur trümmerhaft und fragmentarisch; immer strömte bei ihm alles aus dem Vollen und beruhte auf einer intensiven Erfassung des Gegenstandes, so daß, wiewohl es in seiner Form nie etwas systematisch Lehrhaftes hatte, sondern nur den Ausdruck unmittelbarster momentan angeregter Empfindung, dennoch für den Zuhörenden der Belehrung kein Ende war und alles plötzlich von einem neuen Lichte überflossen erschien. Mit jener Intensität der Empfindung aber hing es bei ihm zusammen, daß er ein anderes Mal sagen konnte: ›er sei eigentlich immer froh, wenn ein Abend ohne Musik gewesen sei, weil bei ihm Musik Ekstase heiße und er es nicht liebe, wenn man mit ihr spiele‹.

Das in den letzten Tagen des März, an die wir so eben anknüpften, hell und freudig hervorbrechende Frühjahrswetter war leider nur von allzu kurzer Dauer; unmittelbar darauf schlug es um; ein scharfer Nord- oder Nordostwind ließ keine weiteren Ausgänge zu, als in den Hofgarten, und selbst von diesen kam er fast immer mit Brustkrämpfen zurück und mußte sich zuerst in der Halle auf das Biklinium setzen, ehe er daran denken konnte, in seine Stube hinauszugehen. Dies geschah dann stets in voller Empörung gegen das rauhe Klima Bayreuths und in traurigen Betrachtungen über die ihm [447] aufgedrängte Notwendigkeit, sein hübsches Haus verlassen zu sollen. Trotzdem fand ihn Adolf Groß, als er in der ersten Aprilwoche in Wahnfried speiste, sehr gut aussehend, und bei einem kurz darauf für die Familie Staff veranstalteten Abschiedsmahl war er von übersprudelnder Heiterkeit und funkensprühendem Witz. Von den Abenden ›ohne Musik‹ gedenkt Humperdinck der ›Dame Kobold,‹ die an zwei Abenden mit ungeteilter Freude an ihrem geistvollen Aufbau und lebendiger Durchführung gelesen wurde; dazwischen wurde mit Wolzogen viel indische Weisheit getrieben, und der Meister selbst brachte das letzte Gespräch aus den ›Upanishaden‹ zu Gehör, oder auch das erste Oupnekhat (Colebrooke) über den Tod. Ein anderes Mal erfreute und unterhielt durch Anblick und Inhalt die schöne Ausgabe des ›Weißkunig‹ v. J. 1775, mit ihren Holzschnitten nach den erhaltenen echten alten Stöcken von Hans Burckmaier, die, Frau Wagner aus der Kgl. Bibliothek zu München leihweise anvertraut worden war. Oder Calderons ›Arzt seiner Ehre‹, durch Wagner selbst vorgetragen. Der Eindruck war so mächtig, daß der Meister ausrief: Man ist ein Tor, daß man nicht bloß die so ungeheuer seltenen großen Dichter immer wieder liest! Vieles knüpfte sich daran über das Thema der Eifersucht: Don Gutierre sei wohl zu begreifen. Warum Donna Anna ihrem Gemahl nicht gestehe, daß der Infant da sei? Eben weil sie ihn, den Infanten, liebe. Nach den Versen, mit denen Mencia im ersten Akt diese Liebe ihrer Zofe gesteht, rief er laut: ›Das ist ein Dichter! das ist ein Künstler!‹ Dazwischen wurde einmal Schopenhauers Vorrede und Einleitung zum ›Willen in der Natur‹ vorgenommen, für diesmal aber nicht fortgesetzt. Dann griff er einmal aus ›der Armen Wesen sind Anschläge‹ die Frauenszene heraus – ganz berauschend durch Fülle und Tiefe der Leidenschaft – und ließ darauf etwa den ersten Akt des ›Macbeth‹ in seiner ganzen furchtbaren Schönheit folgen. Oder es waren die ›Frösche‹ des Aristophanes, bei deren Vortrag er stets das Ganze vor sich hatte: Volk, Dichter und Darsteller, und sich der Freiheit und Genialität des Werkes erfreute. Seine Komik, in ihrer drastischen Derbheit, sei echter als die unsere, welche nur das erfasse, was der Mensch äußerlich scheint, seine Stellung u. dgl., während diese von dem allgemein Tierischen im Menschen ausgehe, es in Konflikte mit seinen Eigenschaften als Gott bringe und inmitten einer Feier zu Ehren desselben Gottes mit Anrufung an den dasitzenden Priester Wirkungen von unnachahmlicher Komik hervorgebracht haben müsse. Etwas ähnliches habe Cervantes in dem Kontrast von Don Quixote und Sancho Pansa erstrebt und erreicht.

In seiner eigenen Lektüre hatte das inzwischen eingetroffene große Gobineausche Werk anfänglich noch mit Jacottiois Werk über Indien um den Vorrang zu streiten. Eine neue Lieferung desselben entzückte ihn durch reiche Abbildungen indischer Bauten, und er warf die Frage auf: was neben dieser [448] Pracht wohl unsere Dome zu sagen hätten? Gern erzählte er bei Tisch das Neueste, das er in diesem weitangelegten Werke gelesen und bezeichnete es im Vergleich zu dem Gobineauschen Buche als ›grüne Weide‹. Er kam also diesem letzteren keineswegs mit der bedingungslosen, glühenden Begeisterung entgegen, wie dies oft dargestellt wird; diese hatte es sich bei ihm erst zu gewinnen Zuerst erschreckte ihn die anspruchsvolle Erscheinung desselben in vier dicken Bänden; auch meinte er ihm von Hause aus etwas jugendlich Unreifes anzumerken. So dicke Bücher sollte man eigentlich nicht schreiben; er würde sich schwer dazu entschließen, die griechische Geschichte von Grote zu lesen, gleich aber wieder die ›Dorier‹ von Ottofried Müller, denen er in seiner Dresdener Periode so viel verdankt habe. Er freute sich trotzdem an dem Kapitel über die Zivilisation und die Ursachen ihres Verfalles und behielt sein volles uneingeschränktes Interesse für den geistvollen Mann, dessen Theorien ihn dennoch unaufhörlich beschäftigten. Gobineaus Urteil über Frankreich leuchtete ihm sehr ein; dagegen meinte er konstatieren zu können, daß die ausgezeichneten Geister unter den Franzosen wohl alle Völker zu verstehen imstande seien, nur nicht die Deutschen. ›Wir nehmen uns nicht gut aus; wenn es aber bei uns zum Richtigen kommt, dann bringen wir wohl die einzigen, ganz universalen, vorurteilsfreien Köpfe hervor.‹ Selbst ein Carlyle sei in vielem befangen gewesen. Eine Korrespondenz mit der Freundin Gobineaus, der Gräfin La Tour, wurde übrigens schon seit einiger Zeit durch Frau Wagner aufrecht erhalten, und für den kommenden Monat war sogar ein Besuch des einsamen Mannes in Wahnfried in Aussicht gestellt, dem man mit Vergnügen entgegensah Einstweilen hatte er, um sich den Lesern der ›Bayreuther Blätter‹ bekannt zu machen, einen weitausschauenden Artikel über Asien eingesandt (›Ein Urteil über die jetzige Weltlage, als ethnologisches Resümee‹), dessen ›dringendes Bedürfnis für die Bayreuther Blätter nachzuweisen‹ dem Meister, wie er heiter sagte, nunmehr als besondere Aufgabe zufiel. Er interessierte ihn aber, und abends drehte sich die Unterhaltung mit Freund Wolzogen halb scherzhaft, halb ernstlich fast nur um die darin angekündigte Invasion von Osten her, die alles mit ihrer Arbeit erfüllenden Chinesen.

Die Osterwoche brachte wiederum mancherlei Besuche nacheinander. Da erschien der junge Musikdirektor Julius Kniese aus Frankfurt a. M., der Leiter des dortigen Wagner-Vereins, um sich für die bevorstehenden Aufführungen als Volontär anzubieten. Ihm war bereits der Besuch des Konzertmeisters Hermann Francke aus London vorausgegangen, mit der Bewerbung um ›Tristan‹ und die ›Meistersinger‹ für eine nächstjährige Aufführung in dem, von ihm bereits fest gemieteten Drury Lane-Theater. Er war dem Meister bereits dadurch vorteilhaft bekannt, daß die von ihm begründeten, durch Hans Richter geleiteten Londoner Konzerte ein glänzendes [449] Gedeihen gehabt und Richter einen populären Namen in ganz England verschafft hatten. Daraufhin hatte er ihm schon im Mai vorigen Jahres dieses Aufführungsrecht in Aussicht gestellt, und Francke kam diesmal nur, um sich dasselbe jetzt offiziell bestätigen zu lassen. Inzwischen war allerdings für den gleichen Sommer 1882 Neumann das ausschließliche Aufführungsrecht des ›Ringes‹ im Coventgarden-Theater übertragen worden; dafür wurde ihm nun aber versichert, daß wie es in London zwei italienische Opern nacheinander gebe, es auch zwei ›deutsche Opern‹ daselbst geben könnte, ohne daß sie sich gegenseitig beeinträchtigten, vielmehr – nach Franckes Behauptung, der London ausgezeichnet gut kannte – die Gleichzeitigkeit beider Unternehmungen den Erfolg eher steigern könnte. Dem englischen Publikum an sich war der Meister nicht abgeneigt; er mußte daran denken, wie vorteilhaft sich die ihm gegnerische Öffentlichkeit daselbst i. J. 1855 von der gleichzeitigen deutschen dadurch unterschieden habe, daß sie es für gut befand, seine kunstreformatorischen Gedanken, wenn auch um sie zu widerlegen, erst ausführlich durch viele Nummern der englischen Musikzeitschriften hindurch in voller Übersetzung dem Publikum vorzuführen.37 Und in seinen damaligen Konzerten hatte er ganz das Gleiche erlebt, das Publikum war durch alle abwehrende Kritik unbeeinflußt gewesen. Wie anders war es ihm von je in Deutschland ergangen! In diesem Sinne rühmte er dem Herrn Francke gegenüber die Engländer im Vergleich zu den Deutschen. Wo jene dächten, daß sie von einer Sache nichts wüßten, seien sie ganz Aufmerksamkeit; auf diese Aufmerksamkeit sei dann etwas zu bauen. ›Wir aber‹, fuhr er dann fort, ›wir wissen alles, wir – sind schauderhaft! Ich kann es sagen, denn: j'en suis!‹ Dagegen ärgerte ihn die Oberflächlichkeit des Urteils als Francke bemerkte, daß Hanslick bloß eine Mäcke sei, und er bewies ihm mit unwiderleglicher Klarheit, was ein solcher Mann alles verhindre, wie er vorhandene Kräfte und Mittel brachlege! So sehr all solche Unternehmungen nach außen ihn, für dessen Gedeihen bloß die schaffende Ruhe förderlich war, ermüdeten und abspannten, ward in den folgenden Tagen der ganze Londoner Plan eingehend bis ins kleinste und letzte durchgesprochen; um so weniger erfreulich waren denn die Depeschen des in peinliche Angst geratenen Direktors Neumann, der dem Mitbewerber die günstige Aufnahme nicht gönnte und dann lieber gleich auch ›Tristan‹ und ›Meistersinger‹ in sein eigenes Programm aufzunehmen bereit war.38

Am 12. April (Dienstag der Karwoche) traf Levi zu mehrtägigem Verweilen ein; es gab abends ›Cercle‹, und der Meister brachte dabei einige Szenen (Anfang des 2 Aktes) aus ›Macbeth‹ zum Vortrag. Levi zitierte [450] darauf aus ›Cymbeline‹ jene Worte des Arztes Cornelius, welche Experimente an lebenden Tieren als eine ›das Herz verhärtende Übung‹ bezeichnen. ›In Shakespeare ist alles!‹ rief Wagner entzückt. Mit dem Kapellmeister besprach er (tags darauf) die Ausstattung der Chöre und beklagte das Verfehlte der gerade eingetroffenen, von uns bereits erwähnten Seitzschen Kostümentwürfe für die Blumenmädchen (S. 440). Der folgende Tag war der Gründonnerstag: es wurde aus ›Parsifal‹ musiziert, die ›Amfortas-Arie‹ (wie er scherzend sagte) nebst dem Schluß des 1., wie auch des 3. Aufzuges.39 Daran reihte sich ein ebenfalls mehrtägiger Besuch des jungen Göttinger Freundes Schemann, der bei Wolzogen wohnend, mit diesem am Karfreitag abend und am Sonnabend mittag in Wahnfried war, immer gern gesehen, aber diesmal doch nicht ganz zu rechter Zeit gekommen. Denn der Hausherr war entschieden leidend, Dr. Landgraf fand seinen Puls erregt, verordnete ihm etwas Kalmierendes, und konnte sich nicht sicher darüber aussprechen, ob er am Dienstag den 19. an dem Familienereignis der Konfirmation seiner beiden Töchter Isolde und Eva persönlich in der Kirche würde teilnehmen können. Das Buch Gobineaus, in dessen zweiten Band er sich kaum zur Hälfte hineingelesen, machte ihn müde, und er sprach sich wiederum darüber aus, wie man sich vor ›dicken Büchern‹ hüten müsse. Trotzdem ging er in eben diesen Tagen an die Abfassung seiner ›Einführung in die Arbeit des Grafen Gobineau‹ (S. 449). Inzwischen war am Ostertag eine Depesche Neumanns über die Enthüllung seiner, für das Leipziger Stadttheater bestimmten Büste (von Prof. zur Straßen) eingelaufen: ›Unter dem größten Enthusiasmus fiel soeben die Hülle Ihrer im, Foyer aufgestellten Kolossalbüste. Das Haus war zu klein, um das herbeigeströmte Publikum zu fassen, hunderte mußten an der Kasse umkehren.‹ Der Konfirmationsfeier wohnte er schließlich doch in großer Ergriffenheit bei, indem er nach der Predigt direkt zur heiligen Handlung sich einstellte; wonach er abermals den Wunsch aussprach, Levi taufen zu lassen, ehe er ihm den ›Parsifal‹ zur Leitung übergebe. Sehr beklagte er es, daß Liszt, der vom 20. Januar bis Anfang April in Pest, dann in Wien geweilt, die Tage vom 12. bis 19. aber in Nürnberg in ihrer nächsten Nähe verbracht, sich direkt von dort nach Weimar begeben hatte, ohne Bayreuth zu berühren. Vollends erregte es seinen Unwillen, als er erfuhr, daß Liszt von Weimar am 23. April auf fünf Tage (zur Aufführung seines ›Christus‹) nach Berlin gehen, dort bei Frau von Schleinitz logieren und mit seiner Enkelin Daniela verkehren werde, seinen Abreisetermin aber gerade auf den Tag angesetzt habe, wo er selbst (Wagner) zu den Aufführungen des Viktoriatheaters in der Reichshauptstadt einzutreffen gedachte.40

[451] In diesen Ostertagen machte er eine Entdeckung über die Art und Beschaffenheit seiner zukünftigen Instrumentalkompositionen, von denen er so häufig gesprochen: ›ich werde die christlichen Feste komponieren; das werden meine Symphonien sein‹. Nur eines fiel dagegen ins Gewicht: es würde am Ende mit den christlichen Festen aus dem Grunde nicht gehen, weil ihm zu viel lustige Themen vorschwebten, das sei gar nicht christlich. Am Sonntag, dem 24. April abends las er – einer Tagebuchnotiz Humperdincks zufolge dem engeren abendlichen Kreise des Hauses seine eben vollendete Einführung zu Gobineaus Aufsatz für die ›Bayreuther Blätter‹ vor. ›Den Grafen Gobineau, der aus fernen Wanderungen durch die Gebiete der Völker, müde und erkenntnis-belastet heimkehrte, frugen wir, was er vom jetzigen Zustande der Welt halte; seine Antwort teilen wir heute unsern Lesern mit. Auch er blickte in ein Inneres: er prüfte das Blut in den Adern der heutigen Menschheit, und mußte es unheilbar verdorben finden. Was seine Einsicht ihm zeigte, wird für eine Ansicht gehalten, die unseren fortschrittlichen Gelehrten nicht gefallen will. Wer des Grafen Gobineau großes Werk »über die Ungleichheit der menschlichen Rassen« kennt, wird sich wohl davon überzeugt haben müssen, daß es sich hier nicht um Irrtümer handelt, wie sie etwa den Erforschern des täglichen Fortschrittes der Menschheit täglich unterlaufen. Uns darf es dagegen willkommen sein, aus den in jenem Werke enthaltenen Darlegungen eines schärfest blickenden Ethnologen eine Erklärung dafür zu gewinnen, daß unsere wahrhaft großen Geister immer einsamer dastehen und – vielleicht infolge hiervon – immer seltener werden; daß wir uns die größten Künstler und Dichter einer Mitwelt gegenüber vorstellen können, welcher sie nichts zu sagen haben.‹41

Tags darauf, am 25., war die Partitur des ersten ›Parsifal‹-Aktes völlig beendet. Seine Reise nach Berlin stand nahe bevor; aber er sah ihr aus vielen Gründen nicht freudig entgegen, sondern empfand eher einen Widerwillen oder ein Grauen davor, hier abermals einer Berührung mit der – in den vorstehenden Worten von ihm selbst charakterisierten – Mitwelt und allen daran sich knüpfenden unvermeidlichen Mißverständnissen ausgesetzt zu sein. Doch hatte er Neumann einmal seine Zusage gegeben und konnte sie nicht unerfüllt lassen. Um so weniger, als dieser bereits hinreichend dafür gesorgt, aus diesem seinem Versprechen in seiner Weise Kapital zu schlagen und die verheißene Anwesenheit des Meisters in den öffentlichen Ankündigungen nicht unerwähnt geblieben war. Selbst eine besondere Festspielzeitung wurde für diesen Anlaß von ihm geplant und der Meister darum angegangen, einen Titel dafür vorzuschlagen und die Erlaubnis zu erteilen, daß derselben sein Portrait vorangestellt würde. Beide Wünsche wurden abschläglich beschieden, [452] mit der Motivierung, es scheine ihm alles künstlich Aufsehen-Erregende überall, besonders aber in Berlin, zu vermeiden.42 – So entzog er sich denn der Ruhe seiner häuslichen Umgebung mit einiger Beklommenheit über alles Bevorstehende, und trat am Freitag, den 29. April mittags 1 Uhr, in Begleitung seiner Gemahlin und der jungen Freundin Frau Marie Groß, geb. Feustel, seine Reise nach der Reichshauptstadt an, wo er – nach heiterer Fahrt – um 1/41 Uhr nachts auf dem Anhalter Bahnhof eintreffend, keine weitere Begrüßung, als Freund Feustel in Person antraf und sich zur Nachtruhe in das Hotel Royal begab.

Fußnoten

1 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 20.


2 Ludwig Schemann, ›Gobineaus Rassenwerk, Aktenstücke und Betrachtungen zur Geschichte und Kritik des Essay‹ usw. (Stuttgart, Frommann, 1910), S. 240.


3 Konst. Frantz, ›Schellings positive Philosophie‹ (Richard Wagner freundschaftlichst gewidmet), 3 Teile, Köthen, 1879/80.


4 ›Die ganze Demonstration (Schellings), daß Philosophie die Wissenschaft von Gott und daher Naturphilosophie sei, sagt durchaus nichts als: die Natur ist die Natur. Nämlich so: Gott ist das Sein, und das Sein ist das Wirkliche; d.h. was ich durch die Kategorie des Wirklichen denke, beliebt mir Gott zu nennen. Also Gott = Natur, d.h. alles was ist = Natur; Gott, Natur, das Sein, das Wirkliche sind Synonyme. Diese Bereicherung an Worten ist gewonnen; gedacht ist aber nichts als: Natur = Natur. Mit dem Namen Gott hat man bisher bezeichnet Das, was nicht Natur wäre; dies zu leugnen, ist das eigentliche Resultat der Demonstration. Daß das Wirkliche (unter der Kategorie des Wirklichen Gedachte) die Natur sei, gebe ich zu: nur weiß ich nicht, warum es Gott heißen soll‹ (Schopenhauer, Nachlaßband, S. 239/40).


5 Vgl. Band IV dieses Werkes, S. 345/46.


6 Angelo Neumann, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 117.


7 Siehe Neumann, a.a.O., S. 122.


8 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 13.


9 Vgl. Band V, S. 363/64.


10 Neumann, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 128.


11 Ebendaselbst, S. 129.


12 E. Humperdinck, ›Parsifal-Skizzen‹. Persönliche Erinnerungen an Richard Wagner (enthalten in der Wiener ›Zeit‹, 1907, Nr. 1738).


13 Vgl. ›Bayreuther Briefe‹, S. 298.


14 In dem Briefbande ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 321, ist dieser Brief falsch datiert, nämlich ebenfalls vom 22. Januar, und eine darauf bezügliche Fußnote sucht vermutungsweise – aber irrig! – zu erklären, wie es gekommen sei, daß beide aufeinanderfolgende Briefe das gleiche Datum trügen.


15 Vgl. Wolzogen, ›Erinnerungen an Wagner‹, S. 25.


16 Daß es sich auch hierbei nicht um ein einmaliges, vorübergehendes, sondern um ein zuweilen wiederkehrendes Leiden handelte, erfahren wir aus den neuerdings herausgegebenen Briefen an Vreneli Stocker. In einem aus Marseille geschriebenen Briefe vom 25. Jan 1866 (vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 158) heißt es: ›Jetzt ist mein Finger so krank geworden, daß ich mir ihn 3 Tage lang kataplasmieren lassen muß. Ich bleibe daher so lange hier in Marseille.‹ Ebendaselbst heißt es noch einmal, daß ›ich mir hier stündlich Leinenumschläge um meinen armen Finger mache‹ (›Bayreuther Blätter‹, 1910, S. 169).


17 ›Bayreuther Blätter‹, 1882, S. 344.


18 Sie sind in unseren Tagen unter dem Titel ›Das Siebengestirn‹ (durch Dr. M. Kretzer) ins Deutsche übersetzt, wie auch die ›Asiatischen Novellen‹ (›die Liebenden von Kandahar‹, ›Geschichte Gamber-Alis‹, ›der turkmenische Krieg‹, ›der große Zauberer‹, durch Prof. L. Schemann); einzeln: ›Die Tänzerin von Schemacha‹ (durch Dr. Rudolf Schlösser) und die ›Reisefrüchte‹ (›das rote Taschentuch‹, ›Akrivia Phrangopoulo‹, ›die Renntierjagd‹ durch Franz Hahne), – sämtlich in der Reclamschen ›Universalbibliothek‹,sub Nr. 5052/55, 3103/04, 4551, 4889/90.


19 ›Mariamne‹ (Calderons ›Schauspiele‹, übersetzt von I. D. Gries, III. Band.)


20 H. v. Wolzogen, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 18.


21 ›Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza‹ (Phantasiestücke in Callots Manier, Erster Teil, Abschn. V.)


22 ›Die Ungleichheit menschlicher Rassen, hauptsächlich vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter besonderer Berücksichtigung von des Grafen Gobineau gleichnamigem Werke.‹ Mit einem Überblick über die sprachlichen Verhältnisse der Völker. Ein ethnologischer Versuch von August Friedrich Pott; Lemgo u. Detmold, 1856.


23 Vgl. Ludwig Schemann, ›Gobineaus Rassenwerk‹ (Stuttgart, 1910), S. 7/8, 237.


24 Hermann v. Schlagintweit-Sakünlünski, ›Reisen in Indien und Hochasien, eine Darstellung der Landschaft, der Kultur und Sitten der Bewohner usw.‹, basiert auf die Resultate der wissenschaftlichen Mission von Hermann, Adolf und Robert von Schlagintweit, ausgeführt in den Jahren 1854–1858. 1. Band: ›Indien‹, mit 2 Karten, 7 landschaftlichen Ansichten und 2 Gruppen von Eingebornen usw.; 2. Band: ›Hochasien‹ (Himalaja), mit 7 landschaftlichen Ansichten usw. (Jena, Costenoble).


25 U.a. ›Wagners Ring of the Nibelung, and the Conditions of ideal Manhood‹, ›Parsifal and Wagners Christianity‹, ›A Wagnerians Midsummer Madness, being Essays on the Wagner Question‹ (sämtlich bei H. Grevel & Co., London).


26 Vgl. Band II des vorl. Werkes, S. 148/49.


27 Band IV des vorl. Werkes, S. 7/8 A.


28 Siehe den Jahrgang 1878 der ›Bayreuther Blätter‹, der unter dieser Gesamtüberschrift 6 verschiedene Artikel bringt, darunter: ›Feuerzauber‹, ›Drachenkampf‹, ›Walhall‹ u.a.m.


29 Es ist natürlich ›Erkenne Dich selbst‹ gemeint, worin ausdrücklich von der ›populärrauhen‹ Fassung die Rede ist, in welcher gegenwärtig ›vom Gebiete des bürgerlichen Verkehres und der staatlichen Politik her‹ ebendasselbe Thema angeschlagen und erörtert würde, dessen durch ihn unternommene Untersuchung auf dem Gebiete einer sittlichen Ästhetik seit dreißig Jahren den ›heftigsten Unwillen, die höchste Entrüstung von Juden und Deutschen erregt‹ hätte. Immerhin dünkte ihm in diesen neuesten Vorgängen ›das späte Wiedererwachen eines Instinktes sich kundzugeben, der in uns gänzlich erloschen schien‹, und an die Beschaffenheit dieses Instinktes knüpft dann die fernere Abhandlung.


30 Siehe: Angelo Neumann ›Erinnerungen an Richard Wagner‹ (Leipzig, 1907, S. 138/40).


31 ›Was hat sich Mime gemüht! Was gab sich der Gute für Not!‹


32 Vgl. Band V des vorl. Werkes, S. 369.


33 Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 268.


34 Band I des vorliegenden Werkes, S. 231/32.


35 Band II dieses Werkes, S. 488.


36 Nicht alles hier Gesagte wurde am 7. April zu Humperdinck gesprochen, sondern wir haben uns gestattet, es – nach Wolzogens Vorgang – aus einem mehrere Monate später geführten Gespräch zu ergänzen, um das Zusammenhängende an einem Orte zu bringen.


37 Vgl. über diesen Punkt den Nachlaßband ›Entwürfe, Gedanken, Fragmente‹, S. 90/91.


38 Vgl. den darauf bezüglichen Depeschen- und Briefwechsel in Neumanns ›Erinnerungen‹, S. 145/48.


39 Aus Humperdincks Aufzeichnungen entnommen.


40 Vgl. Liszts ›Briefe an die Fürstin Wittgenstein‹ IV, S. 316.


41 ›Bayreuther Blätter‹ 1881, S. 122/23. Gesammelte Schriften X, S. 47/48.


42 Nichtsdestoweniger kam ein solches illustriertes Blatt unter dem Titel ›Nibelungen-Herold‹ zustande, und erschien an den einzelnen Aufführungstagen; selbst das obenerwähnte ›Portrait‹ fehlte nicht an der Spitze desselben, in Gestalt eines mittelmäßigen Holzschnittes mit Faksimile-Namensunterschrift.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 406-454.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Die Akten des Vogelsangs

Die Akten des Vogelsangs

Karls gealterte Jugendfreundin Helene, die zwischenzeitlich steinreich verwitwet ist, schreibt ihm vom Tod des gemeinsamen Jugendfreundes Velten. Sie treffen sich und erinnern sich - auf auf Veltens Sterbebett sitzend - lange vergangener Tage.

150 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon