XI.

Berliner Nibelungentage.

[454] Berliner Lisztfeier, vor Wagners Ankunft. – Proben des ›Ringes‹ in des Meisters Gegenwart – 1. Zyklus: ›Rheingold‹ und ›Walküre‹ großer Erfolg; schwächerer Eindruck des ›Siegfried‹ durch Jägers Indisposition; glänzender Abschluß mit ›Götterdämmerung‹. – Rückkehr nach Bayreuth, Graf Gobineau als Gast in Wahnfried. – Feier des 22. Mai. – Nach Berlin zum 4. Zyklus: guter Verlauf desselben bis zum Schlußmoment, der Neumannschen ›Überraschung‹. – Abreise Gobineaus.


Im künstlerischen Interesse dieser Aufführungen habe ich Herrn Neumanns Tüchtigkeit, ein vorzügliches Sängerpersonal zu verpflichten, laut anerkannt; um so mehr hat mich die gänzliche Stillosigkeit und Inkorrektheit der theatralischen Vorgänge in den Aufführungen meines Nibelungen-Zyklus in Erstaunen versetzt.

Richard Wagner.


Soeben erst war hier, in der Reichshauptstadt, der Jubel verrauscht, mit welchem Liszt anläßlich der am 25. April stattgefundenen erstmaligen Aufführung sei nes ›Christus‹ gefeiert worden war. Bereits am Bahnhof von einer Anzahl seiner Berliner Verehrer und dem Vorstand des Wagner-Vereins empfangen, hatte er sich am Arm seiner Enkelin, Daniela v. Bülow, in den offenen Wagen begeben, der ihn in den Palast des Hausministeriums in der Wilhelmstraße führte, wo ihm für die fünf Tage seines Aufenthaltes durch das gräflich Schleinitzsche Paar Gastwohnung geboten war.1 Einem, am gleichen Abend veranstalteten Lisztabend der Bilseschen Kapelle konnte er nicht beiwohnen, da es bei seiner Ankunft bereits 9 Uhr war. Die ›Christus‹-Aufführung selbst war durch zwei festliche Zusammenkünfte am vorhergehenden und am nachfolgenden Tage eingerahmt; am 24. hatte eine offizielle Empfangsfeier des Berliner Wagner-Vereins im Wintergarten des Zentralhotels und ein Festmahl für über 200 eingeladene Personen stattgefunden, von dem sich übrigens der Gefeierte wegen der um 6 Uhr angesetzten Generalprobe [454] seines Werkes zeitig verabschiedete; am 26 abends eine glänzende Versammlung bei, Frau von Schleinitz. Am 27. veranstaltete Bülow, von Meiningen her eingetroffen, unter brausendem Jubel einen Lisztabend, an dessen Ende ihn Liszt vor dem Publikum umarmte. Der darauffolgende Tag war der Ruhe und den Freunden gewidmet; auch fand er noch die Zeit, einem Berliner Bildhauer eine halbständige Sitzung für eine im Entstehen begriffene lebensgroße Büste zu bewilligen; am 29. abends 8 Uhr trat er mit Bülow die Abreise an, zunächst nach Freiburg i. Br., wo in den ersten Tagen des Mai ebenfalls eine Aufführung des ›Christus‹ bevorstand. Wie ihm bei all diesen, Festlichkeiten zumute war, das sagen am besten seine eigenen Worte: ›in der ewigen Bewegung meiner Existenz von einem Orte zum anderen gibt es viel Eintöniges; selbst die Musik bietet mir nur in seltenen Zwischenräumen eine Abwechselung Ohne blasiert zu sein, empfinde ich einen äußersten Überdruß daran, immer noch zu leben! Dafür gibt es hienieden kein wirksames Gegenmittel! Das Beste von meinen fünf Berliner Tagen war das Wiedersehen Danielas mit ihrem Vater.‹2 Daß dieses letztere auf ausdrücklichen Wunsch des Meisters erfolgt war, haben wir (S. 440) eigens hervorgehoben; zugleich aber auch, daß dies Verlangen einer von ihm als menschlich-natürlich empfundenen Wiederbegegnung von Vater und Tochter ihn in der Folge seine darauf abzielenden Bemühungen fast gereuen ließ, da Bülow in seinem damaligen überreizten seelischen Zustande sich dabei seinerseits so wenig entgegenkommend zeigte. Auch die Schilderung dieses Wiedersehens durch Liszt3 legt von diesem Tatbestande beredtes Zeugnis ab. Das alles waren Dinge, die der Meister aus der Ferne lebhaft empfand, wenn auch unter entschiedener Mißbilligung dessen, ein in sich tragisches Verhältnis, an dessen schmerzlicher Tragik er selbst – wider seinen Willen! – einen so großen Anteil hatte,4 das junge Mädchen aber nicht den allermindesten, mit so schonungsloser Bitterkeit von Bülows Seite nachträglich verschärft zu sehen. So empfand sein Feingefühl es denn diesmal auch von Liszts Seite nicht als hervorragend schicklich angeordnet, daß dessen Abreise (in Gesellschaft Bülows) genau am Tage seiner Ankunft stattfand, als gingen sich beide engverbundenen großen Freunde absichtlich aus dem Wege; daß für die Berliner ›Christus‹-Aufführung, wenn schon durchaus – ohne jede innere künstlerische Nötigung – ein Bülowscher ›Lisztabend‹ damit verbunden sein sollte, nicht ein anderer Termin gewählt worden war, oder doch Liszt wenigstens nicht so auffallende Eile gehabt hätte, nach Freiburg abzureisen: womit denn das Intime jener Tragik dem Berliner Publikum nicht so ganz unpassenderweise zur Schau gestellt, ja gewissermaßen öffentlich inszeniert [455] worden wäre. Das von ihm selbst für nötig gehaltene und herbeigeführte Wiedersehen zwischen Vater und Tochter hatte nach seinem Wunsch und Willen schon viel früher in der Stille von Meiningen und nicht erst während dieser aufsehenerregenden Berliner Lisztepisode stattfinden können und sollen. Wir glauben in der Annahme nicht fehlzugehen, daß seine ersten Berliner Tage noch ganz unter dem peinlichen Druck dieser höchst unerfreulichen Empfindung standen.

Der erste dieser Berliner Tage (Sonnabend, 30. April) war ausschließlich noch privaten Beziehungen gewidmet, der Wiederbegräßung der, bald volle vier Monate im gräflich Schleinitzschen Hause weilenden, durch das Ebenerlebte tief erschütterten Tochter Daniela und dem Schleinitzschen Hause selbst, wo auch abends die Mahlzeit genommen wurde; im Laufe des Tages waren nur wenige Besuche, u.a. bei Lilli Lehmann, gemacht worden Erst in der, Frühe des Sonntags (1. Mai) stellte sich auch Direktor Neumann ein, mit seinen Berichten über das Ergebnis der Vorproben und mit fortgesetzten Einwendungen gegen das beabsichtigte Franckesche Unternehmen in London, so daß die Besprechung über diesen Punkt zu des Meisters Unzufriedenheit vorläufig noch resultatlos verlief. Er erfuhr dabei zu seiner Überraschung, daß im ersten und dritten Zyklus die Partie des Wotan, anstatt dem bewährten Leipziger Vertreter dieser Rolle, dem Wiener Sänger Scaria anvertraut werden sollte. Welches seine bisherigen Erfahrungen mit diesem hochbegabten Künstler, aber durchaus ungebildeten Menschen gewesen waren, den er sich später sogar zum Darsteller seines Gurnemanz erkor und den er schon 1876 so gern als ›Hagen‹ verwendet haben würde, – dessen entsinnt sich der Leser aus allen hier auf bezüglichen Einzelheiten unserer früheren Erzählung.5 Es könnte daher nicht wundernehmen, wenn er sich gegen den Direktor so ausgedrückt haben würde, wie dieser es wörtlich anführt: ›Sagen Sie doch, Neumann, ich habe da im Hereinfahren an den Säulen Scaria angezeigt gelesen: was wollen Sie denn mit dem Hausknecht?‹6 Er schlug [456] daher (immer nach Neumanns Bericht) vor: dem Manne kurzweg sein Honorar auszuzahlen und ihn wegzuschicken; wogegen Neumann selbst sich etwas darauf zugute tut ihn dazu veranlaßt zu haben, den Sänger wenigstens zuvor in einer Probe anzuhören. Es ist sehr schwer, jetzt nachträglich zu bestimmen, ob sich das wirklich genau so verhalten habe; entschieden aber muß von vornherein festgestellt werden, daß in der nachfolgenden Darstellung manche Einzelheit anekdotisch von ihm zurechtgestutzt, das Auseinanderliegende näher zusammengerückt ist usw., um der selbstverherrlichenden Tendenz des Ganzen zweckmäßig angepaßt zu werden.

Anderen Morgens (Montag, 2. Mai) pünktlich um 11 Uhr fuhr des Meisters Wagen am Viktoriatheater vor. Er kam allein, bloß von seiner Gemahlin begleitet, betrat die Bühne und wurde unter lautem Jubel des ganzen Orchesters mit Tusch empfangen, so daß er humoristisch beschwichtigen mußte: ›wenn so viel Lärm gemacht würde, könne man kein vernünftiges Wort sprechen‹ Keine Spur davon, daß er sich zuerst, allen verborgen (wie Neumann erzählt), in seine Loge gesetzt habe, um ungesehen seine Beobachtungen an Scaria zu machen. Er verblieb zunächst auf der Bühne und begab sich dann zu seiner Gemahlin in eine Proszeniumsloge des 1. Ranges. Das Orchester, erstaunlich, übertraf unter Seidls Leitung sich selbst, so daß er die gute Laune bewahrte und nur mit scherzenden Wendungen in den Gang der Probe eingriff. So, als Frau Vogl beim Holen des Trinkhorns die Handlung nicht mit der Musik zusammengehen ließ: ›das müssen wir noch einmal machen, sonst läuft uns Herr von Hülsen davon‹. Und ein anderes Mal, als etwas wohlgelungen war: ›das würde selbst Herrn von Hülsen gefallen‹. An Scaria wurden im zweiten Akt die gewissen Wiener Striche erlebt, und der Ton, in welchem Scaria erwiderte, erinnerte nur zu sehr an frühere peinliche Erfahrungen. Daß ihn nichtsdestoweniger die Leistung dieses, als Wotan bisher noch nicht gesehenen Sängers über Erwarten befriedigte, wollen wir nicht in Abrede stellen; bloß gegen die tendenziöse Darstellung muß protestiert werden, mittelst deren Neumann in seiner bereits näher bezeichneten selbstgefälligen Manier Wagner zum Helden einer seiner stark chargierten Theatergeschichten macht. Er fährt dann in seinem Bericht über den weiteren Verlauf der Probe und des Meisters Betätigung dabei fort: ›er zeigte Sieglinde, wie sie den Kopf in Siegmunds Schoß zu legen [457] und zu entschlummern habe; er hielt darauf, daß Brünnhild bei der Todesverkündigung den rechten Arm an den Hals des Pferdes lege und Schild und Speer mit der Linken fasse‹ usw. Nachmittags kam dann der dritte Akt daran, wobei es mit Maschinerie und Beleuchtung mancherlei Nöte gab, Seidl aber seine Sache vortrefflich machte. – Am Dienstag, 3. Mai, ging die ›Siegfried‹-Probe vonstatten. In der Frühe hatte der Meister den Besuch von Lilli Lehmann empfangen: die Blumenmädchen-Szene wurde mit ihr besprochen und es gab manchen Scherz bei ihrer Mitteilung, daß Herr von Hälsen für den Abend der ›Rheingold‹-Aufführung in der Hofoper den ›Tannhäuser‹ angesetzt hätte. Zur Probe – um 11 Uhr – kamen diesmal zwei Wagen vorgefahren: in dem einen der Meister mit Frau von Schleinitz, im anderen Frau Wagner mit Daniela v. Bülow. Der erste Akt nahm seinen Anfang: Mime saß hämmernd an seinem Ambos. ›Ein Jüdchen, aber vortrefflich‹, sagte der Meister von ihm. Vogl befriedigte durch Deutlichkeit und Bestimmtheit. Wiederum machten sich bei Scaria die ›Wiener Striche‹ geltend, und der Meister hob hervor, wie unsinnig es sei, daß gerade das Eintreten des Wanderers diesen zum Opfer gefallen sei; weiterhin, im Verlauf der Szene, könnte zur Not eher etwas gekürzt werden. (Für die Aufführung wurde dies genau nach seinen Angaben ausgeführt.) Seidl aber wurde von ihm als ›Perle‹ begrüßt und mußte ihn zur Mittagsmahlzeit begleiten. In großer enthusiastischer Erregung fand sich auch Niemann ein und begleitete ihn zur Nachmittagsprobe (2. und 3. Akt). Der zweite Aufzug verlief ohne wesentliche Störung. Siegfried-Vogl und Mime-Lieban machten ihre Sache vortrefflich. Dann kam der dritte Aufzug daran Scaria war in der Szene mit der Wala überwältigend; Frau Materna dagegen ließ sich in der Erweckungsszene zu allerlei, an der Wiener Oper angenommenen starken Gestikulationen hinreißen und geriet dann gar auf die Klippe eines jener Wiener Striche (›dort seh' ich Grane, mein selig Roß‹), der Vogl außer Kontakt brachte, den Meister aber empörte und zu einer lauten Bemerkung veranlaßte, über die wiederum Frau Materna in Tränen ausbrach. So prallten Wien und München aufeinander; es gab Verstimmung in der Probe und am Schluß im Korridor viel Weinen und Klagen: Frau Materna sah in allem nur eine Intrigue Vogls gegen sie, als Rivalin seiner Frau; Niemann wollte bei dem Münchener Kollegen eine schadenfrohe Miene bemerkt haben. Seidl war in der allgemeinen Erregung der Einzige, der, als zu keiner der Parteien gehörig, große Fassung bewahrte, zur Befriedigung des Meisters, der es sich angelegen sein ließ, Frau Materna zu trösten, indem er sie streichelte und ihr gute Worte gab. Als er aber anderen Tages sie besuchte und sie abermals zu weinen begann, schnitt er ihr dies kurz mit der Bemerkung ab, er sei nicht gekommen, um ›das Gewäsch von gestern‹ wieder anzuhören. Die Probe zu ›Rheingold‹ (4. Mai) fand am Nachmittag mit Klavier statt: die erste Szene [458] ging allenfalls; mit allem übrigen war es, in Beleuchtung, Szenerie usw. dürftig bestellt, und der Schöpfer des Werkes fühlte sich empfindlich dadurch bedrückt Derlei, sagte er, habe er vor fünfzig Jahren in Magdeburg durchgemacht, aber nicht geglaubt, daß es sich wiederholen wurde Trotzdem richtete er am Schluß eine freundliche Ansprache an das Künstlerpersonal, drückte ihnen in herzlicher Weise seine Anerkennung aus und bezeugte Neumann, daß alles, was er hier gesehen und gehört, ihn mit Bewunderung erfülle. Seine an das Orchester gerichteten Worte gibt Neumann folgendermaßen wieder: ›Meine Herren, ich bitte, nehmen Sie das ff nicht zu ernst und wo es steht, machen Sie ein fp daraus, und aus dem p ein pp. Denken Sie, daß Sie da unten so viele sind, und hier oben eine einzelne menschliche Kehle.‹7

Am folgenden Tage, Donnerstag, den 5. Mai, sollten die Aufführungen beginnen. In den Morgenstunden machte er mit seiner Gemahlin einige Einkäufe; dann fuhr er in das Viktoriatheater, wo er noch eine Probe zu überraschen gedachte. Der Portier empfing ihn mit ›Exzellenz‹, und auf der noch erleuchteten Bühne meldete ihm mit vielen Knixen eine, Frau, daß ›alles vorbei‹ sei. Es war seine Absicht, mit dem Direktor Neumann noch einiges wegen Beleuchtungsfragen festzustellen; nun beschloß er, vorher noch das Museum aufzusuchen, und empfing von den in der vorderen Rotunde provisorisch placierten Pergamenischen Ausgrabungen einen ernsten erhabenen Eindruck. Dann ging es hinauf in die Räume der Gemäldegalerie, wo er beim Weiterschreiten durch die Säle an eine Tür mit der Aufschrift ›verbotener Eingang‹ gelangte. ›Für Sie gibt es keinen verbotenen Eingang‹, redete ihn dort ein Herr an. ›Ich habe doch die Ehre, mit Herrn Richard Wagner zu sprechen?‹ Auf die Antwort: ›Mein Name ist Wagner‹, raunte jener dem erstaunten Kustoden etwas ins Ohr und führte ihn kühn durch den verbotenen Eingang, der ihm diesmal allerdings nur als kürzerer Durchgang diente, da es ihm an Zeit zu weiterem Verweilen fehlte. Er warf zum Schluß noch einen Blick auf die Pergamenischen Funde; dann ging es zu Direktor Neumann, und von hier aus zum Diner ins Schleinitzsche Haus. Das Tischgespräch bildeten hier hauptsächlich die Werke und Gedanken Gobineaus, der gerade um diese Zeit, in Abwesenheit Wagners in Bayreuth eingetroffen war und sich durch die Kinder des Hauses und Joukowsky die Honneurs von Wahnfried machen ließ. Dann – ging es zur Aufführung.

›Schon die Auffahrt zum Theater‹, so schildert Angelo Neumann als sein eigener Geschichtschreiber die äußeren begleitenden Vorgänge seines Unternehmens, ›schon die Auffahrt zum Theater bot ein seltenes Schauspiel. Unter den Linden, vom Kaiserlichen und Kronprinzlichen Palais angefangen, bildete das Publikum der Hauptstadt ein dichtes Spalier; aus den Fenstern [459] schauten Tausende von Augen auf das Gewühl, in welchem berittene Schutzleute unter persönlicher Überwachung des Polizeipräsidenten v. Madai die Ordnung aufrecht erhielten Sogar in den Kronen der Bäume waren Zuschauer, die Mitglieder des Hofes wurden in ihren Karossen herzlich begrüßt, und der Jubel erreichte seinen Höhepunkt, als Wagner an der Seite seiner Frau mit der Gräfin Schleinitz in seinem Wagen sichtbar wurde. Überaus glänzend war dann der Anblick des bis zum Dachfirst gefüllten Theatersaales. Der Hof und ganz Berlin schien sich ein Stelldichein gegeben zu haben.8 Kaum hatte Wagner seine Loge, die fünfte im ersten Rang auf der rechten Seite, betreten, als das Publikum ihn stürmisch begrüßte. Mit ihm befand sich seine Frau, Daniela v. Bülow und Graf Wolkenstein, damals österreichischer Gesandter am Dresdener Hofe. In der Nebenloge der Minister Graf Schleinitz und seine Gattin. Unter den von mir geladenen Gästen fehlte auch nicht der Generalintendant von Hülsen. Die Aufnahme des Werkes war glänzend, Wagner selbst applaudierte den Künstlern mit hochbefriedigter Miene. Das Publikum ruhte nicht eher, als bis der Meister selbst, dem allgemeinen Drängen nachgebend, auf der Bühne erschien. Im schwarzen Gehrock, darüber einen grauen Sommerüberzieher und einen Zylinderhut in der Hand stand er zwischen Fricka, Wotan und Loge (Frau Reicher-Kindermann, Scaria und Vogl). Das Orchester blies Tusch, aus allen Rängen erbrausten Hochrufe und wehten Tücher. Da trat der Meister vor, und mit bewegter, aber fester Stimme richtete er aus dem Stegreif folgende Worte an das Publikum: »Wenn das, was Sie mir hier ausdrücken, ein Dank sein soll, so nehme ich ihn nicht für mich an, sondern für die Künstler, die von nah und fern sich zusammengefunden haben, um mein Werk zu verkörpern. Sie haben sich in die Auffassung und in den besonderen Stil dieses Werkes so hineingefunden, daß auch ich ihnen nur meinen Dank ausdrücken kann. Und das geschieht mit dem Wunsche, daß das Werk, das heute so glücklich begonnen, einen glücklichen Fortgang nehmen möge. Wenn es gewirkt hat, so geschah es ohne Pracht, so geschah es allein durch die Macht der Kunst.« Dieser mit großer Wärme gehaltenen Ansprache folgte wieder gewaltiger Jubel.‹9 Neumanns [460] weitere Erzählung spricht auch noch von ›stür mischen Ovationen am Ausgang des Theaters‹; aber mit Unrecht, da sich der Meister diesen zu entziehen wußte, indem er mit den Seinen einsam eine Zeitlang in der Loge verblieb, bis das Publikum sich verlaufen hatte. Im dunklen Hause hatte er (wunderlich genug!) noch einer Maschinenprobe beizuwohnen; doch war ihm das lieber, als sich noch einmal den lärmenden Beifallskundgebungen der erregten Menge auszusetzen. Scaria als Wotan war vortrefflich gewesen und das Ganze infolge seiner eigenen Bemühungen ungemein belebt. Er fand es nicht schlecht, daß ein Zwischenakt gemacht worden war; dagegen beklagte er sich über den ›peinlichen Unsinn‹, daß zwischen der Rhein- und Walhall-Szene, um das Geräusch der Verwandlung zu übertönen, Dämpfe für notwendig befunden worden waren.

›Der erste Teil des großen Nibelungenwerkes‹, schrieb damals der ›Berliner Börsenkurier‹, ›ist siegreich und tönend, farbenprächtig und leuchtend, hehr und ergreifend an uns vorübergegangen. Und in des Deutschen Reiches angeblich skeptischer Hauptstadt hat es einen Erfolg errungen, so mächtig und imposant, wie unseres Wissens bisher nirgends. Jedenfalls war der Jubel heute großer und lauter, als vor fünf Jahren in Bayreuth, und doch hatte man sich damals beeilt, übelwollend zu behaupten, nur die »kleine Gemeinde«, die da dem Sterne nachgezogen, der über dem, Festspielhügel leuchtete, nur die »Wagnerianer« hätten diesen Erfolg dem Werte bereitet. Nun steht jener Stern über einem Hause in der Münzstraße, die ganz gewiß nicht von irgendeinem Hauche der Poesie durchweht ist. Man brauchte ihm nicht aus fernem Land entgegenzuziehen, diesem Stern, und die breite Menge Derer, die in der Hauptstadt über jedes Kunstwerk zu Gericht sitzen, über jedes ihr Urteil abgeben, war gestern beisammen, um »Rheingold« zu hören. Aber da jener Stern, der vor fünf Jahren aufging im Frankenland, ein echter und leuchtender Stern ist, der einen rechten Weg dahin weist, wo man Erquickung findet und Erhebung am Borne reinster Kunst, so strahlte er gestern so hell, wie am Sommerhimmel von Bayreuth, ja heller noch – und doch schimmerte er durch unsere Berliner, von so vielen Nebeln erfüllte Atmosphäre! Noch nie hat ein Werk Wagners einen ähnlichen Erfolg erzielt. Weder »Tannhäuser« noch »Lohengrin«, weder der »Holländer«, noch die »Meistersinger«, am allerwenigsten aber »Tristan und Isolde«, fanden vor allen Dingen eine so jubelnde Aufnahme. Man weiß noch, wie es herging anno 69 nach der »Prügelszene«10 in dem Musikdrama, in [461] dessen Mitte Meister Sachs steht. Man weiß, daß, als »Tristan« gegeben wurde, »aus seiner Dornenhecken« der Neid der zünftigen Musikmacherei und Musikkritik sich zornig erhob, daß man zu zischen versuchte, als damals im Opernhause lauter Beifall ertönte Gestern war von irgendwelcher Opposition keine Spur. Dröhnender Beifall und geradezu überquellender Jubel, der manchmal fast störend war, da er an zwei Stellen Handlung und Darstellung unterbrach und von den mächtigen Eindrücken der Kunst – die eine Wahrheit ist innerhalb der Täuschung, die sie bereitet – uns zurückrief in die Wirklichkeit der rotsammeten Parkettsitze, der Bühnenwelt und des Theaterlebens. Und dieser Beifall galt jenem Werte, das doch im Grunde nur die Einführung bildet in die hinreißenden Schönheiten der ganzen Dichtung. Wir haben ein Berliner Publikum niemals so vollkommen hingerissen gesehen von künstlerischen Eindrücken, von der mächtigen Großartigkeit eines Werkes.‹11

Eine willkommene Überraschung war für den Meister in der Frühe des nächsten Tages (Freitag, 6. Mai) die Ankunft Heinrichs von Stein. Am Vormittag gab es im Theater noch eine letzte Probe des zweiten Aktes der ›Walküre‹, an welcher er sich in mehreren Einzelheiten, insbesondere aber an der Herstellung des Kampfes auf dem Bergjoche beteiligte. ›Der Kampf zwischen Siegmund und Hunding war nicht nach seinem Sinn geraten‹, so berichtet Neumann (der – beiläufig – den von ihm geschilderten Vorfall noch in die Montagprobe zu verlegen geneigt ist). ›Kaum hatten die beiden Gegner die ersten Schwertstreiche gewechselt, da geschah etwas, was uns für einen Augenblick starr vor Schrecken machte. Mit der Behendigkeit eines Akrobaten schwang sich der achtundsechzigjährige Wagner‹ (anstatt sich aus seiner Loge die Treppen hinunter auf die Bühne zu begeben) ›auf die Logenbrüstung und lief auf dem schmalen, lustigen Rampenvorsprung geschickt balancierend voll Ungeduld bis zur ersten Proszeniumsloge vor, um sich von da auf die Bühne zu schwingen; dort nahm er Siegmunds Schwert und führte mit Hunding hoch oben am Joch den Kampf aus. Dann ließ er sich beim gegebenen Stichwort hart an der Grenze des Abgrundes niederfallen; der Kopf kam etwas erhöht zu liegen, der linke Arm nach der Seite des Publikums schlaff herabhängend: dies alles mit einer Geschicklichkeit, um die ihn jeder, Fünfundzwanzigjährige hätte beneiden können. Die Kampfszene zwischen Hunding und Siegmund wurde auf seine Anordnung so lange wiederholt, bis sie ganz nach seinem Wunsche ausgefallen war. Sodann ließ er Wotans tödliches »Geh'!« kurz und scharf abbrechen, und man mußte die Waffen und hierauf den Körper Hundings zu Boden niederrasseln hören.‹ Der Erzähler dieser Episode bewundert die ›Geschicklichkeit‹, das ›Akrobaten‹-Kunststück; wir beobachten vielmehr gerade in einem Zuge, wie diesem, den ganzen Wagner: [462] den Drang des ihm innewohnenden Dämons, das Notwendige auf dem kürzesten geraden Wege zu tun; im Bewußtsein seines zureichenden Könnens ohne viel Besinnen das Unmögliche möglich zu machen, alles nur als Mittel zum höchsten Zweck zu betrachten und hierfür im rechten Moment das Beispiel zu geben. Wir sehen in diesem einzigen Zuge sofort alles: den Revolutionär von 1848, der für eine Idee alle die von anderen so hoch und heilig gehaltenen Bedingungen seiner bürgerlichen Existenz dahinwirft, den Kunstschriftsteller, der aus der ›Oper‹ heraus die Idee seines ›Kunstwerkes der Zukunft‹ in gleicher kühner Unbedenklichkeit mit der Feder in der Hand prophetisch zu Papier bringt, wie er sie später als Dichter, Musiker und Darsteller künstlerisch verkörpert. Mit allem, was über ihn zu seiner Charakteristik geschrieben und gedruckt ist, würde die Natur des Künstlers für den, der ihn nicht gekannt, ewig ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch bleiben, wenn sie sich nicht gerade in solchen unwillkürlichen Aktionen des Augenblicks plötzlich wie in einer symbolischen Zusammenfassung ihrer ganzen Inkommensurabilität offenbarte, wobei eben immer das, was ihr das Angemessenste war, andere – ›starr vor Schrecken‹ machte. War es mit seiner Kunstlehre, mit seinem ganzen Schaffen je anders gewesen?

Zu Hause angelangt, fand er sich ermüdet und legte sich gleich zu Bett. Eine leichte Erkältung, die ihm schon in den Gliedern lag, kündigte sich damit an. Zu Tische um vier Uhr war er wieder gut gestimmt und behauptete, Steins Gegenwart habe das bewirkt. Doch fragte er sich, ob er heute in die Aufführung gehen sollte oder nicht, und entschloß sich erst in letzter Stunde dazu. Aber er wünschte, gleich nach Schluß derselben pünktlich und ohne Aufenthalt zurückkehren zu können und wandte sich in diesem Sinne an einen hochgewachsenen blonden Schutzmann mit dem Wunsch, seinen Wagen nicht in die unabsehbar lange, wohlgeordnete Wagenreihe gestellt zu sehen. ›Sie, Herr Wagner, halten wir nicht auf‹, war die prompte Erwiderung des stattlichen Mannes, und so geschah es denn auch wirklich. Kaum in seiner Loge sichtbar geworden, empfing ihn der brausende Jubel der versammelten erregten Menge, in welchen das Orchester auf stürmisches Verlangen des Publikums wiederum mit Tusch einfiel; als hätte ein regierender Fürst das Haus betreten, so einmütig erhob sich in allen Rängen das jubelnde Hoch. Der erste Akt, mit nicht endenwollendem tosendem Beifall aufgenommen, schien ihm dennoch in der Darstellung verfehlt; er begab sich auf die Bühne, um mit den Sängern deshalb Rücksprache zu nehmen. Sehr ermüdend wirkte in diesem Zwischenakt eine ununterbrochene Folge wohlgemeinter Besuche, immer mit denselben Bezeigungen der allgemeinen Begeisterung. Der zweite Akt war in der Darstellung bei weitem besser, der Kampf auf der Höhe sehr geglückt. Der laut tönende Beifall des Publikums wandte sich durchweg nur halb der Bühne, zur anderen Hälfte der Loge zu. Nach dem dritten Aufzug war er wie erschöpft [463] und sehr gereizt; er erschien heute nicht wieder unter den Sängern, sondern begnügte sich damit, das Publikum von der Loge aus zu grüßen und ihm mit einer stummen Handbewegung zur Bühne für seinen Enthusiasmus zu danken. ›'s ist heut Simons und Judä‹, hatte er schon nach dem ersten Akt gesagt, ›da rast der See und will sein Opfer haben.‹ Als er schließlich hinter dem herabgelassenen Vorhang die Szene betrat, um mit dem Direktor einige Worte zu wechseln, kam ein Spiritusfabrikant aus der Nachbarschaft des Theaters auf ihn zu, der die für den Feuerzauber nötigen Dämpfe aus seiner gegenüberliegenden Fabrik geliefert. ›Ich hatte‹, so erzählt Neumann, ›Herrn Kahlbaum auf die Bühne bestellt, und er näherte sich uns gerade in dem Moment, wo mich Wagner zu einer vertraulichen Mitteilung beiseite nehmen wollte. Herr Kahlbaum drängte sich schüchtern hinter uns her, was Wagner so nervös machte, daß er endlich den Armen wütend anfuhr: »Zum Donnerwetter, kann man denn keinen Augenblick ungestört sein?«‹ Natürlich klärte sich das Mißverständnis auf, als Neumann den Herrn vorstellte und dieser mit warmer Ehrerbietung erklärte: ›Es ist der Höhepunkt meines Lebens, Ihnen die Hand reichen zu dürfen.‹ Für die Erzeugung dieser Dämpfe war ursprünglich ein im Hof des Viktoriatheaters aufgestelltes Lokomobil bestimmt gewesen und der Direktor in große Verlegenheit geraten, als ihm dessen Aufstellung vom feuerpolizeilichen Standpunkte aus als gefährlich verweigert wurde. Auf Vogls Rat hatte sich nun Neumann an jenen Spiritusfabrikanten gewandt und dieser sich sogleich zur Aushilfe bereit erklärt, indem er ein Rohr aus seiner Fabrik zum Theater hinüber leiten ließ. Die ganze Nacht zur Generalprobe hindurch war gearbeitet worden, die Mauer durchbrochen, das Rohrwerk gelegt. Von einer ihm angebotenen Entschädigung hatte der wackere Mann in begeisterter Uneigennützigkeit nichts wissen wollen, obgleich er sogar seine eigenen Arbeiter zu jener Röhrenanlage zur Verfügung gestellt hatte; er bat sich nur die Vergünstigung aus, dem Meister vorgestellt zu werden.

Zwischen ›Walküre‹ und ›Siegfried‹ war ein Tag Pause (Sonnabend, 7. Mai), der zur Generalprobe für die ›Götterdämmerung‹ bestimmt war. An dieser konnte Wagner nicht teilnehmen; er hatte eine schlechte Nacht gehabt und am Morgen eine kleine Halsentzündung sich eingestellt. Der herbeigerufene Arzt Dr. Zwingenberg verordnete ihm etwas zur Hebung des Übels und verbot ihm für diesen Ruhetag jeden Ausgang. Beim Abschied verneigte er sich tief ehrerbietig und sagte: ›Nun bin ich um einige Zoll höher gewachsen, da ich Sie gesehen; schon im Jahre 1851 habe ich »Oper und Drama« mit Bewunderung gelesen.‹ Somit hatte der Meister auf jede Mitwirkung an der Probe der ›Götterdämmerung‹ zu verzichten, und widmete sich in voller Ruhe der Lektüre des vierten Bandes von Gobineau. Daß er auch abwesend seines Werkes nicht vergaß, zeigt ein an Neumann gerichtetes [464] Handbillett, welches diesem über die Antwort Auskunft gab, die er soeben an Feustel erteilt, der für die nächsten ›Rheingold‹-Aufführungen die Bayreuther Original-Schwimmmaschinen kommen lassen wollte: ›Ich antwortete, daß es nicht an den Schwimmwägen liegt, sondern daran, daß sie nicht durch einen dichteren Wassertransparent vorne so verdeckt sind, daß die Verkleidung der Wägen dadurch nicht so massiv, wie eine Schlepp-Robe, zum Vorschein kommt. Sorgen Sie nun dafür, daß ein solcher, unten dichterer, nach oben lichter werdender Transparent hinter den vorderen Felsen noch angefertigt werde. – Vor morgen abend darf ich nicht ausgehen. Seidl hätte ich aber gern einmal gesehen!‹

So kam der Tag der ›Siegfried‹-Aufführung (Sonntag, 8. Mai) heran, unter allerlei üblen Anzeichen. Das Unwohlsein war noch nicht gänzlich gewichen, und um die Mittagszeit erschien Direktor Neumann mit starken Bedenken gegen den Sänger des Siegfried, Ferdinand Jäger, der – von einer vorausgegangenen Krankheit noch nicht ganz hergestellt, in der heutigen Probe vielfach unrein intoniert habe, und den er daher für den ersten Zyklus gern durch Vogl ersetzt gesehen hätte. Trotzdem hielt der Meister an dem einmal für diese Rolle bestimmten Sänger fest, da es ihm nie erwünscht war, die Partien des Siegmund und Siegfried in einer und derselben Hand liegen zu sehen und er auch Jäger nicht so leichten Kaufes aufgeben wollte. Doch hatte er dies zu bereuen: schon der erste Akt war kein Erfolg, ja er reizte das Publikum zu Demonstrationen; und nach dem zweiten meldete sich bei Neumann eine Deputation des Wagnervereins mit dem Ersuchen, doch ja morgen, in der ›Götterdämmerung‹, Vogl singen zu lassen. Der Meister selbst hatte den Eindruck einer Niederlage und eines Sonntagspublikums. Er erschien am Schluß auch nicht einmal an der Logenbrüstung; kein Beifallssturm konnte ihn dazu bewegen. Er verglich die beiden Sänger, Jäger und Vogl, miteinander und erkannte die guten Bühneneigenschaften des letzteren mit den Worten an: ›Auf der Bühne will man das Glänzende; hat man kein Gold, so nimmt man Silber; hat man kein Silber, so nimmt man Blech; Holz aber und Leder will man nicht.‹12 – Anderen Vormittags (Montag, den 9. Mai) gab es eine Szenenprobe zur ›Götterdämmerung‹, welcher der Meister mit Gemahlin beiwohnte und von der aus er sich zu Niemann begab, um diesen zu bestimmen, für die nächsten Aufführungen den Siegmund zu übernehmen, damit Vogl die beiden Siegfriedpartien behalten könne. Da er ihn [465] nicht zu Hause traf, hinterließ er ihm einen auf seinen Wunsch bezüglichen Zettel und kehrte dann in sein Hotel zurück, um sich den Tag über bei der Lektüre Gobineaus ganz ruhig zu verhalten und dann der ›Götterdämmerung‹ beizuwohnen, die trotz aller fast nur ihm selbst empfindlichen Mängel der Darstellung einen ungeheuren Eindruck machte, der den gestern empfangenen schwächeren völlig auslöschte. Im zweiten Zwischenakt trug es sich zu, daß der Kronprinz ihn durch den Hofmarschall Grafen Eulenburg in seine Loge einlud und der durch das Übermaß der Anforderungen dieser Tage Ermädele sich damit entschuldigen ließ, daß er dazu nicht wohl genug sei: er fühle sich während der Vorstellungen zu erregt, um zu dieser Zeit der freundlichen Aufforderung Folge zu geben.13 Von dem Tumult, dem alles überbietenden Beifallssturm am Schlusse kann man sich kaum eine Vorstellung machen; er hielt über eine Viertelstunde ununterbrochen an und legte sich nicht eher, als bis der Schöpfer des ungeheuren Werkes, blaß und sichtlich angegriffen, auf der Bühne erschien. Wie mit einem Zauberschlag legte sich jetzt der Sturm; man erwartete aus seinem Munde ein Schlußwort. ›Ich müßte der undankbarste Mensch sein‹, so lautete die nun folgende improvisierte Ansprache, ›wenn ich jetzt nicht ein paar Worte sagte, wie sie dem Augenblick entsprechen. Ich danke Ihnen (zu den Künstlern gewendet), meine Freunde; ich danke Ihnen (zum Publikum gewendet), meine Gönner, für diesen Beifall, für diese Zurufe, die ich wohl als ein Zeichen warmer Teilnahme ansehen darf. Ich bin über diesen Erfolg erfreut und erstaunt zugleich: denn als ich dieses Werk konzipierte, dachte ich nicht an das verwöhnte Publikum einer großen Stadt, in der man an eine so ganz andere Art der Kunst gewohnt ist, die hauptsächlich nur unterhalten will. Ich dachte nur an eine Aufführung vor einem kleineren Kreise von, Freunden, und so entstand mein Unternehmen in Bayreuth. Ich habe seitdem eingesehen, daß ich mich geirrt habe: schon in Bayreuth überraschte mich die allgemeine Teilnahme für mein Werk, das so viel Fremdartiges, Ungewohntes enthält. Noch mehr ist das hier der Fall. Ich durfte einem mutigen Manne, der das Werk mit einer Schar von Künstlern endlich auch hier, in einer so [466] großen Stadt wie Berlin darzustellen unternahm, meine Mitwirkung nicht versagen. Und unseren Künstlern hier habe ich besonders zu danken. Wir haben hier die besten Künstler versammelt, die zugänglich waren, aber auch sie waren zumeist an eine andere Art Kunst gewohnt: wie sie sich in meinen Stil hineingefunden haben, das hat mich überrascht Zuvörderst aber danke ich dem kühnen Manne, der an der Spitze dieses Unternehmens steht. (Zu Herrn Direktor Neumann gewendet:) Bitte, Herr Neumann, nehmen Sie meinen wärmsten Dank! (Zu Kapellmeister Seidl:) Und Ihnen danke ich, mein junger Freund, der so Erstaunliches geleistet hat, und allen meinen Künstlern danke ich, allen, allen!‹

Schon am nächsten Morgen (Dienstag. 10. Mai) empfing Neumann außerdem noch ein anerkennendes Schreiben, worin ihm der Meister mitteilte, daß zwar unaufschiebbare Geschäfte ihn gerade in diesen Tagen nach Hause riefen, daß er aber den Wunsch und die Hoffnung hege, zum vierten Zyklus wieder nach Berlin zu kommen ›Fahren Sie fort‹, hieß es darin, ›den Geist der von Ihnen geschlossenen künstlerischen Vereinigung auf die Erreichung und Festhaltung des erforderlichen reinsten Stiles für die Wiedergebung meines vom Gewohnten so merklich abweichenden Bühnenfestspieles gerichtet zu erhalten, so darf ich annehmen, daß Sie nicht nur mir, sondern der Kunst überhaupt einen großen Dienst erweisen.‹ Hochbeglückt durch diese Anerkennung begab er sich sofort zu dem Meister, der ihm u.a. noch sagte: ›Ich fahre jetzt nach Hause, hole meine Kinder und komme zum vierten Zyklus wieder; meine Kinder müssen diese Aufführungen sehen‹ In betreff Jägers sprach er sich bestimmt dahin aus, daß es sich hier um eine ›Amputation‹ handle, und fuhr dann im Anschluß an die Unterredung mit seiner Gemahlin und dem Direktor zu Niemann, um ihn zu bitten, im nächsten Zyklus den Siegmund zu übernehmen. Leider war der Erfolg derselbe wie gestern: Niemann befand sich wiederum nicht daheim. Das Frühstück wurde – mit Seidl – im Schleinitzschen Hause eingenommen; gegen Abend empfing er noch den Besuch seines alten Freundes Professor Werder,14 ferner des Professors Helmholtz, sowie auch Niemanns, der dem ihm so nahegelegten Wunsche aus nicht ganz klaren Gründen leider nicht willfahren konnte oder wollte. Dagegen erklärte sich Vogl auf das freudigste bereit, in den folgenden drei Zyklen alle vier Partien, Loge, Siegmund und die beiden Siegfriede, zu übernehmen; seine unverwüstliche physische Kraft und Ausdauer erlaubten ihm das. Um 11 Uhr abends trat er dann mit Frau und Tochter die Heimreise an und wurde anderen Tages (11. Mai) auf dem Bayreuther Bahnhof durch sämtliche Kinder, Joukowsky und den Grafen Gobineau als Gast des Hauses Wahnfried empfangen.

[467] Volle vier Wochen weilte dieser gern gesehene ausgezeichnete Gast in den trauten Räumen, die er nun zum erstenmal in Person betrat, nachdem seine Werke und Gedanken hier bereits volles Heimatsrecht empfangen und genossen hatten. ›Wie lebhaft‹, ruft ein mal Wolzogen15 ›erinnere ich mich noch seiner persönlichen Erscheinung, wie unvergeßlich steht vor mir die hohe Gestalt des vornehmen Franzosen mit dem klugen seinen Graukopf und den schönen, milden, blauen Augen! Es lag über der ganzen fesselnden geistigen Persönlichkeit ein eigentümlicher, weicher Schimmer der Resignation, wie eine Stille nach überwundenen Lebensleiden, eine sanfte Hoheit des Sieges tragischer Weltanschauung, die der unbelehrt fortjagenden Wirklichkeit nur noch mit einem leise ironischen Lächeln nachblickte, wo nicht etwa ihm unmittelbar sich nahedrängende Leidenszüge in armen gequälten Tageswesen das tiefe Mitleiden des edlen Herzens erweckten. Auch in diesem Gefühle des Mitleidens mit dem Schwachen fanden sich die Seelen dieser beiden Starken, dieser Aristokraten des Geistes zusammen; nicht allein in dem Heldensinne, der dem Edlen dient und den Tod nicht scheut.‹ ›Gobineau war durchaus und vor allem: Persönlichkeit; und wenn sich bei Betrachtung seiner Person immer wieder der Begriff des Aristokratischen aufdrängt, so darf dies nicht mißverstanden werden. Es ist damit keine Beschränkung menschlichen Wesens, sondern eine Erhöhung gemeint. In diesem Aristokratischen zeigt sich das Beste und Edelste, das »Ariston« unseres Wesens, über das Gemeine und Niedrige erhoben; darin kann sich Uradel und Revolutionär brüderlich vereinen: jeder große Mann, jedes wahre Genie sind der Masse des Allgewöhnlichen gegenüber immerdar »revolutionäre Aristokraten«. Man denke nur an unseren großen, herrlichen Schiller: wie revolutionär tritt er auf, wie aristokratisch steht er da, der Typus des Edelmenschen, des sittlich geistigen Adels! So haben sie alle gewirkt, unsere großen Führer und Lehrer, ein jeder auf seine stark unterschiedene Art. In ihnen allen hat das Große gegen das Kleinliche, das Edle gegen das Gemeine, das Einzigartige gegen das Gewöhnliche, das Ario-Germanische gegen das Vielgemischte, Edelrasse gegen »décadence«, und alles in allem die Wahrheit gegen den Schein »revoltiert«. Ja, sie selber haben eben dieses Edle und Wahre, dieses Ariston, durch ihre Werke gewaltig »revoltiert«, aufgerufen und aufgeregt in den Seelen und Geistern der Stammesgenossen, des Volkes.‹ Wir fügen hier einige biographische Notizen über den Verlauf seines Lebens bis zu seinem Eintritt in das Leben Richard Wagners und den Kreis von Wahnfried hinzu, mit dem er bis zu diesem Augenblick nur durch flüchtige Annäherung in Beziehung getreten war.16 Um bloß drei Lebensjahre jünger als der Meister selbst, hatte er seine[468] Kindheit zum Teil in der Schweiz, seine erste Jugend in der Bretagne verbracht; mit dem 20. Jahre ungefähr wurde er zu einem älteren Bruder seines Vaters nach Paris geschickt, einem Sonderling eigener Art, der die ganze dem Geschlechte der Gobineaus eigene ungestüme Energie in Konspirationen zugunsten der Bourbonen verbrauchte. Seine politische Laufbahn begann unter der Republik von 1848, als seine Partei von ihrem Haupte die Weisung erhielt, wiederum in Staatsdienste zu treten: er trat, ein junger Mann von etwa 32 Jahren, als Kabinettschef de Tocquevilles, damals Ministers des Auswärtigen ein; nach dessen Sturze trat auch er wieder aus dem Ministerium.17 Seine nächsten Posten waren die eines Sekretärs der französischen Gesandtschaften in der Schweiz, in Hannover, in Frankfurt a.M.; von da wurde er abwechselnd mit den Gesandtschaftsposten in Griechenland, Persien, Brasilien und Schweden betraut. In Stockholm verblieb er bis zum Jahre 1877, wo er, infolge der ihn ernstlich anwidernden politischen Verhältnisse seines Vaterlandes, gern den plötzlich ihm gekündigten Dienst aufgab.18 Die vielleicht größte Enttäuschung harrte des Heim- und Schutzbedürftigen, als er jetzt seine (nach dem Tode seines Oheims erworbene) Besitzung in Frankreich wiedersah und diese verwahrlost, für seine Mittel gänzlich unhaltbar fand, weshalb er sie mit großem Verluste verkaufen mußte. So war, nach ruhelosem Wanderleben, sein Alter der vollständigen Heimatlosigkeit preisgegeben; mit seinem Vaterlande in jeder Beziehung zerworfen, wählte er Rom, wohin eine edle Freundschaft (Gräfin La Tour) ihn zog, zu seinem dauernden Aufenthalte und zur Stätte seiner rastlos arbeitsamen Tätigkeit auf literarischem und künstlerischem Gebiete.19

Endlose lebhafte Gespräche über alles Erdenkliche entspannen sich nun zwischen dem deutschen Künstler und dem französischen Denker, in welchem [469] die unerbittliche Wahrheit des uralten Rassegedankens prophetisch laut geworden. Bedeutend erleichtert wurde ihr Verhältnis dadurch, daß Gobineau, der deutschen Sprache mächtig, sich ihrer zwar nicht regelmäßig bediente, sie doch aber vorzüglich verstand; ein anhaltend ausschließlicher Verkehr im, Französischen war dem Meister auch während seines letzten italienischen Aufenthaltes jederzeit lästig gewesen. Und in wie vielem trafen sie zusammen! Vor allem in dem unerschütterlichen, jedem seichten Optimismus abholden Ernst in der Betrachtung der öffentlichen Dinge. ›Während noch die politische Welt des Tages in alt und blind gewordenem Idealismus das Heil sich erhoffte von einer inneren Nivellierung aller schroffen Gegensätze, vom »gleichen Recht für alle«, von der parlamentarischen Regelung der Dinge durch die Volksvernunft, von der wachsenden Herrschaft der allgemeinen Humanität, ja sogar von der freundlich Mischung feindlicher Rassen in traulichen Ehebündnissen: hatte jener vergessene und unbekannte ehemalige französische Diplomat (wie man sagt: »der alten Schule!«), jener von der jungen Republik Frankreich schnöde beseitigte, einstige verdienstvolle Gesandte in Persien, Athen, Brasilien, Stockholm, jener stille, kenntnisreiche Forscher im Gebiete orientalischer Geschichte20 und Kultur,21 jener dichterische Gelehrte und Schriftsteller mit unbeirrtem Weltblick die »gelbe Gefahr« bereits vorausgesagt.‹22 An den Familienabenden, die so gern der Lektüre gewidmet waren, fand der Graf willkommene Gelegenheit, aus dem Manuskript seines bis dahin in Wahnfried nur erst unvollkommen bekannten großen Heldengedichtes, des ›Amadis‹, vorzutragen, das unter dem Bilde eines letzten Ritters aus dem Edelstamm die tragische Schlußszene der Rassengeschichte darstellte: die heroische Verbrüderung der Überreste des einzig noch Echten und Großen wider die übermächtigen Anstürme des Gemeinen und Unreinen, bis zum endlichen unausbleiblichen Todeskampfe des höchsten, sich selbst getreuen Heldentumes. Oder der Meister las dem neugewonnenen, Freunde diejenigen Seiten aus seinem eigenen Werke (Band IV, Kapitel 3 des ›Essay‹) vor, die er liebte und die ihn erst neuerdings wieder zu seinen Gedanken über ›Heldentum und Christentum‹ angeregt hatten, und spielte ihm danach das Vorspiel zum ›Parsifal‹. So ward dem Vereinsamten, am Abend seines Erdenwandels, die Begegnung mit Richard Wagner zu einem ungeahnten Quell der Erquickung, welche alle seine Lebensgeister mit [470] gesteigerter Kraft in freudige und lohnende Erregung setzte. Er fand hier den großen Geistesverwandten, in einer von diesem selbst geschaffenen, seiner Eigenart angemessenen heimischen Umgebung und einen ungeahnten Beleg für seinen schroff festgehaltenen Glauben daran, daß ›in dieser erbärmlichsten Welt noch Menschen atmeten, die, wie er mit Vorliebe sagte, von den Göttern abstammten‹. ›Solche würde es wohl stets geben, wenn auch immer vereinzelter, vereinsamter und einflußloser. Nicht suchte er diese etwa in besonderen Ständen oder Klassen, die er alle für mehr oder weniger zernagt ansah, sondern überall wußte er die – der Titel und Würden unbedürftigen – Vornehmen zu finden, und diese eigenartige Auffassung des Geburtsadels benahm seinem aristokratischen Wesen jeden Dünkel, sowie seinem Sinn für wohlgegliederte Formen oder Normen so völlig jede Beschränkheit, daß nach keiner Seite hin das Ausströmen seiner kindlich reinen Herzensgüte gehemmt war, wenn sich nur Empfangende dafür fanden.‹23 ›Vor seinem gütig forschenden Blick lebte alles in Sonderheit: Tiere, Kinder, untergeordnete, ihm fern abstehende Wesen, er erfaßte sie in ihrer Eigenart, freute sich ihrer ohne Bezugnahme auf sich, und schier hätte man den Vielgeprüften als einen Glücklichen beneiden können, wenn man den Frohmut gewahrte, der in sprudelndem Witz seiner Festigkeit, wie der Quell aus dem Felsen, entsprang Denn auch seine Erkenntnis von der unverbesserlich schlechten Beschaffenheit der Welt, und die Überzeugung, daß insbesondere seine Zeit und sein Vaterland einem Verfalle preisgegeben seien, dessen gänzlichen Vollzug als einen Akt strafender Gerechtigkeit er nur beschleunigt wünschte, – sie sprachen sich bei ihm mit einer Schlichtheit aus, welche befreiender wirkte, als der scheinbar geglückteste Versuch einer Selbsttäuschung je es tun könnte.‹24

Der Telegraph war in diesen Wochen zwischen Berlin und Bayreuth in lebhafter Tätigkeit. Der zweite Nibelungenzyklus trug in der Reichshauptstadt einen im ganzen noch gewaltigeren und nachhaltigeren Erfolg davon als der erste, und über jede einzelne Aufführung liefen mehrfache telegraphische Berichte ein, von Neumann und der alten Freundin Kathi Eckert, auch wohl Frau v. Schleinitz; ein jeder in seiner Weise und nach seiner Auffassung. Neumann meldete die ausverkauften Häuser, Frau Eckert die Zahl der Hervorrufe, die sich beim ›Siegfried‹ bis auf achtzehn steigerten Wiederholt drückte der Meister sein Erstaunen über die Möglichkeit eines solchen Erfolges in Berlin aus. Er sah indes angegriffen aus und brauchte viel Chinin, zog sich auch wohl abends aus der Gesellschaft zurück. Als das anfangs rauhe Wetter sich in heiteres und erträgliches verwandelte, trat das Gartenhäuschen in Funktion: es hatte in diesem Frühjahr einen Aufbau, ein [471] oberes Stockwerk erhalten, einen lustigen Altan, in die Baumwipfel des Parkes ragend, in welchem sich schöne Nachmittagsstunden verbringen ließen, die sich zuweilen bis 7 Uhr hinzogen. Abends im Saal spielte dann Rubinstein aus den ›Nibelungen‹, etwa den dritten Akt der ›Götterdämmerung‹, und der Meister schwankte in seiner Empfindung zwischen der Freude an dem Werk und dem peinlichen Gefühl, daß sein Gast in solcher Vorführung keinen Eindruck davon haben könnte, und blieb dabei trotz aller Beteuerungen des Gegenteils, da es keine Symphonie sei. Die Beschreibungen Gobineaus erregten bei diesen Unterhaltungen so stark seine Lust nach Athen zu gehen, daß der Graf versprechen mußte, wegen eines Unterkommens für den Winter an dortige Freunde zu schreiben Gar manches teilte dieser auch über Persien mit, über die philosophische Beanlagung dieses Volkes, und wie er einst für dortige Freunde eine Abhandlung des Cartesius ins Persische übertragen habe. Einmal entspann sich ein Streit über die Irländer, welche Gobineau für unfähig zur Arbeit erklärte, während der Meister sie heftig verteidigte: auch er würde unter solchen Bedingungen nicht arbeiten, und die englischen Vornehmen geißelte. Der Graf ging in seinen Gedanken so weit, dem Evangelium einen Vorwurf daraus zu machen, für die Armen und Unterdrückten eingetreten zu sein. Doch endigte alles sehr freundlich: Wagner bekannte, in der irischen Frage im einzelnen nicht zu Hause zu sein, und der Graf sagte ihm: Vous voyez la chose en philosophe et moi en homme d'affaires. Die wunderlichsten Anekdoten gab er über die Borniertheit seiner Landsleute zum besten, u.a. von einem französischen General, der im Kriege von 1870 bei den Windungen der Marne zum drittenmal nach dem Namen des Flusses fragend auf die erhaltene Auskunft in den Ausruf ausbrach: mais c'est une mauvaise plaisanterie! Der Meister lachte sehr herzlich darüber, und der Scherz wurde in Wahnfried bald zum geflügelten Wort.

Um die Mitte Mai (am Donnerstag, den 17.) erschienen auch die Koburger Maler Gebrüder Brückner mit Brandt, um die Maquettes vom Gralstempel und vom Zaubergarten zu zeigen; beide erwiesen sich als durchaus befriedigend und zweckentsprechend. Der König hatte kurz zuvor in einem seiner begeisterten Briefe hart über die Dekorationsmaler im allgemeinen geurteilt, ›da kommt man bei mir schlecht an‹, sagte der Meister lachend, ›Gerechtigkeit will ich haben‹. Mit seiner Gemahlin und Gobineau machte er eine Fahrt zu seinem Festspielhause: er betrachtete es mit stolzer Heiterkeit und zitierte einen soeben von ihm gelesenen Ausspruch, daß die ›Nibelungen‹ in Berlin manchen ermüdeten. Er schien völlig froh, dies erwähnt zu sehen, denn er fand dies ganz richtig; hier und nirgend anders sei die wahre Heimat seiner Kunst. Auf der Rückfahrt vom Hügel bemerkte der neue Freund des Hauses ein altes Weib aus dem Volke, welches ein schweres Reisigbündel mühsam auf dem Rücken dahintrug. ›Das ist es – solche [472] Dinge sehen zu müssen – was mich des Lebens überdrüssig macht‹, sagte er mit Wehmut; eine Äußerung von unvergeßlicher Wirkung auf diejenigen, die sie vernahmen Nicht besser als durch diesen Ausspruch konnte wohl die Weichheit seines Herzens geschildert werden, die gar seltsam und rührend der Schroffheit seiner Ansichten entsprach, wonach er von ›Gleichheit der Menschen‹ unter keinerlei Form das mindeste hören wollte. Gegen die Auffassung des Christentums, wie er sie bei seinem jüngsten und größten Freunde antraf, schien er verhärtet. ›Nicht als ob seine dichterische Phantasie den Wunderwirkungen der Offenbarung sich verschlossen hätte, – aber persönlich mochte er von der »Religion der Armen«, d.h. der Massen, mit welchen er das große Individuum stets im Zwiespalt sah, nicht viel wissen. In einer Welt des Elendes den Armen – als solchen – dem Reichen, den Einfältigen dem Weisen, den Krüppel dem Gesunden vorziehen, heiße einen Irrtum begehen, dessen kein Inder je sich schuldig machen würde; und wer der Härte dieser Thesis die milde Ethik des Christentums zum möglichsten Auskommen hienieden entgegenhielt, dem konnte er durch sein eigenes Beispiel erwidern, daß eine vornehme Natur von selbst und ohne Gebot barmherzig, aufopferungsvoll und der äußeren Bedingungen unachtsam sei. Den germanischen Göttern hing er daher leidenschaftlich, wie den Erzeugern und Erhaltern seines Stammes an; mit Vergnügen erinnerte er sich, daß Thörr und Mimirs Haupt noch von Bischöfen in der Normandie verehrt worden seien; und das Aufgeben dieser Götter galt ihm gleichbedeutend mit Untreue gegen sich und Untergang. Der christlichen Ergebung stellte er den heidnischen Stolz entgegen, dem sanft beredten Verzeihen das schweigsam trotzige Dahinnehmen und der begeisterten Entsagung das geringschätzige Verzichten. Und fällt es nicht schwer, auf den meisten Gesichtern die Runen der beklommenen Zurückhaltung und der verdrossenen Vorsicht zu entziffern, so sprach in großen Zügen das edle Antlitz des Grafen, am Schluß eines von Gram durchtränkten Daseins, mit gleicher Offenheit wie in der Jugend, ruhiges Vertrauen in sich und andere, sowie freundlichstes Entgegenkommen aus.‹25 Trübsinnige Verbitterung blieb ihm fern und seine Seele jedweder Ängstlichkeit für sich und Besorgnis um heut und morgen enthoben; ein Zug, durch den er der Natur des großen Künstlers und Meisters so ungemein nahestand.

Es war einige Tage vor seinem achtundsechzigsten Geburtstag, daß seine Gemahlin, vom oberen Stockwerk herabkommend, ihn allein im Saale antraf, wie er mit wehmütig sinnendem Blick die letzten Strahlen des Sonnenunterganges verfolgte. Er antwortete etwas zerstreut und teilte dann mit, daß er soeben, auf das Ersuchen von Züricher Freunden, über den kürzlich dahingeschiedenen Musikdirektor Heim einige Worte des Nachrufes und der [473] Erinnerung geschrieben habe. Gewiß war dessen Leben und Tod ihm in Gedanken nahe gewesen, als er so zum Fenster hinaus in die freie Natur blickte. Hier war nun doch ein Unterschied zwischen ihm und dem Grafen: dieser hatte seinen Lebenslauf in voller heroischer Einsamkeit durchmessen, während er selbst auf jeder Stufe seines Daseins und an jedem seiner Aufenthalte durch seine feurige Mitteilsamkeit leidenschaftliche Freundschaft und Verehrung selbst der schlichtesten, einfachsten Menschen, die ihm der Zufall zugeführt, entzündet hatte. Und doch, was war im Lauf der Zeiten aus all diesen Freundschaften geworden! Wie gar wenig konnten sie ihm genügen, wie viele von ihnen hatten sich am eigenen, Feuer verzehrt, da ihnen die nahrungspendende Tiefe fehlte! Aber endlich, am Abend seines Lebens, von einem eigenen trauten Kreise der ihm zu allernächst Stehenden umgeben zu sein, das war ihm zuteil geworden! Gerade seine Geburtstagsfeier ließ ihn das jedesmal aufs neue empfinden. Wieder trafen zu diesem Tage aus verschiedenen Richtungen einzelne Getreue zusammen: von Würzburg her Alexander Ritter mit Frau und Töchtern (Julie und Elsa), aus Wien Dr. Standthartner mit Tochter und Stiefsohn. Den Saal seines Hauses durfte er in den letzten Tagen schon nicht mehr betreten, weil dort eine Überraschung für ihn vorbereitet wurde: es waren die Wappen sämtlicher deutscher Städte, in denen es Wagnervereine gab, deren Tätigkeit seiner Lebensarbeit gewidmet war. Soeben ging der dritte Berliner Nibelungenzyklus vor sich. Der Kronprinz mit seinem Schwiegersohn, dem Erbprinzen von Meiningen, hatte auch im zweiten Zyklus keine Vorstellung versäumt; während des dritten Zyklus, der gerade am Sonntag, den 22. Mai mit der ›Götterdämmerung‹ seinen Abschluß fand, war auch Kaiser Wilhelm von seiner Wiesbadener Kur zurückgekehrt und nahm vom zweiten Akt des ›Siegfried‹ ab daran teil. Zum vierten Zyklus, der am Mittwoch, den 25. Mai, begann, hatte er selbst mit seiner Familie seine Anwesenheit zugesagt, und es stand im voraus fest, daß Graf Gobineau und Joukowsky ihn begleiten würden.

Der Festtag selbst wurde früh um 8 Uhr durch die Kinder mit einem neuen Maienfestspiel, einem ›Blumengruß‹ eingeleitet, in welchem Siegfried den Parsifal, die Schwestern die Blumenkinder darstellten. Die wohlgeglückte Wiedergabe der, wiederum nach den Angaben von Frau Wagner durch Wolzogen gedichteten intimen Huldigung erfreute und rührte ihn, und die Blumenkostüme in ihrem zarten Farbenreiz hatten seinen vollen Beifall. Die Wappen der Wagner-Vereins-Städte und die entsprechende Behandlung der Saaldecke in der Gestalt, wie sie heute noch dem Auge jedes Besuchers von Wahnfried sich darstellt, überraschte ihn wirklich. Eine andere Geburtstagsfreude, die er schon im Entstehen zu häufig gesehen hatte, als daß sie im buchstäblichen Sinne eine ›Überraschung‹ hätte sein können, war das zu diesem Tage fertig gewordene große Temperabild Joukowskys, die ›heilige Familie‹, zu welcher [474] die einzelnen Kinder dem Maler wiederholt gesessen und auf dem er sich als des Hauses, den Grafen Gobineau, auf eine geistvolle Weise mit darauf angebracht! Auch dieses gelang ihm durch eine portraitgetreue Nachbildung seiner Züge an einem Säulenkapitäl. Das einzige, was an diesem schönen Vormittag ein wenig aus der harmonischen Stimmung des Ganzen fiel, war eine vom Meister selbst auf bezügliche Anfrage zugelassene geräuschvoll herüberdringende Militärmusik im Hofgarten, die sich volle anderthalb Stunden bis zum Mittag hinzog, – als ein den guten Bayreuthern dargebrachtes, dem Empfänger der Huldigung wenig erfreuliches Opfer. Erst während des mit den Freunden gemeinsam eingenommenen Mittagsmahles trat diese Stimmung voll wieder ein, als der zwölfjährige Siegfried sich bei der Tafel von seinem Platze erhob, um mit klarer Stimme den von Stein gedichteten Geburtstagsweihspruch zu sprechen, in welchem er die ›ewige Jugend‹ hochleben ließ. Inzwischen hatte sich Elsa Ritter unbemerkt aus der Gesellschaft entfernt, um von der umlaufenden Galerie der Halle aus, der Eingangstür zum Speisezimmer gegenüber, mit voller schöner Stimme in ergreifendem Anschluß an den Steinschen Tischspruch die (auf Wunsch des Königs von dem Meister nachkomponierte) Strophe der ›Götterdämmerung‹: ›Nicht Gut, noch Gold, noch göttliche Pracht, selig in Lust und Leid läßt die Liebe nur sein!‹ ertönen zu lassen. Beim Kaffeetisch erschien der treue Wächter des Festspielhauses, der schöne Faf (Fafner) mit dem Theaterzettel für heute Abend auf dem Rücken. Diese Abendvorstellung in der Halle, an welcher auch die Freunde teilnahmen, bestand aus zwei für diesen Zweck ausgewählten heiteren Schwänken von Lope de Vega und Hans Sachs (›der Abgekehlte‹ und ›Der Roßdieb von Fünsing‹), mit Humor und wirklichem darstellerischem Talent von den Kindern dargestellt und durch einen von Wolzogen gedichteten, von der wieder heimgekehrten ältesten Tochter Daniela herrlich gesprochenen Epilog zum Lopeschen Stück miteinander verbunden. Am Schluß des Hans Sachsischen Stückes wiederum fiel Rubinstein am Flügel mit dem Vorspiel zu den ›Meistersingern‹ ein, und als dann der Meister aus der Halle in den Saal eintrat, empfingen ihn die inzwischen umgekleideten Kinder mit dem einstimmig vorgetragenen ›Gruß der Getreuen‹. Am Schluß des Abends, nach dem Mahl, reihte sich der ›Kaisermarsch‹ als Abschluß des Ganzen an die ganze Folge von Darbietungen des festlichen Tages; der einfallende Gesang am Schluß mit entsprechend verändertem Text: ›Heil dem Meister!‹ mit ebenso begeisterter Exaktheit von den Kindern zum Vortrag gebracht. Unter den zahlreich von außen her eingetroffenen brieflichen und telegraphischen Festgrüßen in Vers und Prosa befand sich auch ein solcher von Neumann und seiner Künstlerschar, der mit den Worten schloß: ›des deutschen Volkes Gunst mit Dir! Mit Dir auch alle guten Geister!‹ und worauf er[475] sogleich anknüpfend telegraphisch erwiderte: ›Das deutsche Volk – ist viel gesagt! Ich hofft' auf Euch, und hab's gewagt: wem rechte Kunst zu eigen, das sollte hier sich zeigen. Ihr wart mir treu, das Spiel gewann, der Wagner gern sich nennen kann‹ usw.26 Doch empfand er es als eine verhängnisvolle Mahnung aus einer anderen Welt, als am 24. Mai Neumann nochmals telegraphisch anfragte, ob er sicher zum 4. Zyklus käme. Seine Erwiderung vom gleichen Datum kündigte dennoch seine Bereitschaft an, mit darangeschlossener Bitte um Besorgung eines guten Unterkommens im gleichen Gasthof ›Hotel Royal‹ für sich, seine Frau, ›vier Töchter und einen Sohn, sowie zwei Zimmer für zwei seiner begleitenden, Freunde‹, und ›gute Theaterplätze für neun Personen‹.27

Um die Mitternachtsstunde des gleichen Tages war alles zur Reise bereit. Um 1 Uhr erfolgte die Abfahrt aus Bayreuth im Extrazug bis Neuenmarkt. Der eigens dazu bestellte, durchgehende Salonwagen gestattete allen Teilnehmern, insbesondere auch dem sehr ermüdeten Grafen, eine erträgliche Nachtruhe, und recht übermütig heiter gestaltete sich am Morgen des 25. die weitere Vormittagsfahrt bis Berlin, wo man um 1/21 Uhr eintraf und durch Direktor Neumann empfangen wurde. Da im Hotel Royal eine passende Wohnung nicht vorzubereiten gewesen war, hatte dieser ein geeignetes Unterkommen im Hotel du Nord verschafft. Es war noch Zeit genug zum Ausruhen für alle Teile übrig und um 1/28 Uhr war alles zum ›Rheingold‹ versammelt. ›Wieder saß Wagner‹, so berichtet Angelo Neumann als getreuer Chronist, ›in der rechten Eckloge des ersten Ranges, umgeben von seinen Kindern; wieder wurde er beim Betreten der Loge mit einem Orchestertusch und Hochrufen des Publikums empfangen und verneigte sich dankend. Selbst die Erkrankung der Frau Reimer Kindermann, für welche Orlanda Riegler als Fricka einsprang, minderte den gewaltigen Eindruck nicht, und Wagner äußerte sein freudiges Erstaunen darüber, daß hier ein Werk, an dessen Aufführung andere große Bühnen verzweifelten, trotz der Verhinderung einer der ersten Kräfte ohne Störung gegeben werden konnte. Nach dem Fallen des Vorhanges hatte sich der Meister mit den Seinen zurückgezogen: aber die begeisterten Zuhörer ruhten nicht eher, als bis er, durch stürmischen Beifall und Zuruf gedrängt, zweimal noch an die Logenbrüstung zurückgekehrt war.‹ Daß es immerhin auch an diesem Abend für den Meister mancherlei Ärger gegeben, wird nicht besonders ausgesprochen; ging es doch in dem allgemeinen guten Eindruck mehr oder weniger unter.

Anderen Tages traf auch der junge Humperdinck über Leipzig ein, der zum erstenmal in seinem Leben Berlin betrat und Mühe genug hatte, sich für die nächsten Abende noch Plätze im Viktoriatheater zu verschaffen. Eine [476] hübsche Adresse wurde dem Meister durch die Berliner Vegetarianer über reicht; weniger erfreute es ihn, in einem Gespräch mit Neumann von dessen besonderen Anstrengungen zu erfahren, sich durch reichlichst erteilte Freibilletts die ›Presse‹ günstig zu stimmen, so daß die darauf verwendeten Kosten seinem Unternehmen etwa 10000 Mark Einnahmen entzogen. Er machte dann mit den Kindern eine Fahrt in den Zoologischen Garten und einen Besuch bei Gräfin Schleinitz, und gab sich einer vorbereitenden Ruhe hin. Die Aufführung der ›Walküre‹ am Abend hatte ihre guten und schlimmen Seiten: Frau Sachse-Hofmeister als Sieglinde war bedeutend, weniger Frau Vogl als Brünnhilde; viele grobe Regiefehler, von denen das begeistert applaudierende Publikum nichts merkte, weil es sie nicht als solche begriff, verstimmten den Schöpfer des Werkes, und diese ärgerliche Verstimmung erreichte ihren Höhepunkt, als er schließlich inmitten einer gaffenden Menge fast eine Viertelstunde auf seinen Wagen warten mußte, weil sein früherer blonder Schutzmann nicht wieder auf dem Platze war. Der nächste Tag (Freitag, 27. Mai) war ein Pausentag; zum Frühstück war er mit dem ganzen Kreise der Seinen Gast des Grafen Schleinitz, der Abend ward friedlich im Hotel verbracht. Zu den wenigen Personen, die bei ihm vorgelassen wurden, gehörte der junge, begabte Dr. Hans Herrig, der dem Meister zu dessen großem Bedauern den Beweis gab, wie ohnmächtig – weil mutlos – die sog. ›Wagnerianer‹ als Journalisten seien; denn obgleich diesem geistvollen Manne in dem von ihm mitbegründeten ›Deutschen Tagblatt‹ ein großes Organ zur Verfügung stand, hatte er es nicht gewagt, den in den feinsten aristokratischen, Formen gehaltenen, inhaltlich so entscheidenden ›Offenen Brief an Herrn von Hälsen‹ (S. 443) in dessen Spalten zum Abdruck zu bringen! Seine Hauptfreude war an diesem und dem folgenden Tage die Beendigung des vierten Bandes von des Grafen Gobineau großem Werke, das ihn nun schon zum zweitenmal nach Berlin begleitet hatte.

Über die ›Siegfried‹-Aufführung (Sonnabend, 28. Mai) mit dem unverwüstlichen Vogl weiß Neumann in seinen ›Erinnerungen‹ nur zu berichten, daß sie ›eine der gelungensten dieses Werkes gewesen sei‹. Sogleich geht er dann in seiner Schilderung zu den Äußerlichkeiten derselben über: ›Der Kronprinz, Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser, mit seiner Gattin, und die eigens nach Berlin gekommenen Mecklenburgischen Herrschaften wohnten der Vorstellung in den drei ersten Logen des ersten Ranges bei. Das Publikum raste und verlangte seinen Wagner zu sehen. Frau Wagner, die mit ihren Töchtern in der Loge der Gräfin Schleinitz saß, schickte den kleinen blondhaarigen Siegfried immer und immer wieder, den Vater zu suchen, und es dauerte wohl fünf Minuten, ehe Wagner erschien, von einem Beifallsorkan und brausenden Hochrufen begrüßt. Es war, als könnte ein solcher Enthusiasmus keine Grenzen finden.‹ Dagegen finden wir in Humperdincks gleichzeitigen [477] Aufzeichnungen den bezeichnenden Passus: ›Meister ärgerlich über mangelhafte Inszenierung.‹ Tatsächlich war er über die Stillosigkeiten und Inkorrektheiten der theatralischen Vorgänge völlig traurig: ›ganz irre‹, sagte er, ›könnte er an seinem Werke werden‹ Einzig seinen guten Seidl – und das von ihm geleitete Orchester – nahm er aus, den er noch vor der Aufführung zum Mittag bei sich gehabt hatte: er war und blieb für ihn die ›Perle‹. Auf der Bühne hingegen fehlte es durchweg an einer mit der Darstellung dieser Werke ähnlich vertrauten leitenden Kraft, und so übel war es überall mit dem Geiste des deutschen Theaterwesens bestellt, daß er auch nicht einen der zahlreichen, an deutschen Bühnen aktiven Regisseure dazu empfehlen konnte, weil nicht ein einziger derselben durch seine Schule gegangen war und von dem hier gemeinten Darstellungsstil einen Begriff hatte. So übel rächte es sich, daß er über ein Vierteljahrhundert von jeder Möglichkeit eines anleitenden und erziehenden Wirkens ferngehalten und sein großes Werk nicht, wie es hätte sein können und sein sollen, bereits dreißig Jahre früher, als er noch in physischer Vollkraft stand, in Zürich oder in Weimar zur ersten Darstellung gelangt war. Über diesen wahrhaft trostlosen allgemeinen Zustand konnte ihm kein Beifallstaumel eines – durch den ersten Eindruck berauschten – reichshauptstädtischen Publikums hinweghelfen; nur jahre- und jahrzehntelange Betätigung wirklicher deutscher Kunst auf seiner eigenen geweihten Bühne zu Bayreuth. Und seltsam! als er diese seine bestimmt gewonnene Ansicht (über das Fehlen einer entsprechenden leitenden Kraft auf der Bühne) einige Wochen später in einem, an den Leipziger Kollegen Direktor Neumanns, Dr. Förster, gerichteten Briefe zum Ausdruck brachte und darauf begründete positive Forderungen in dieser Richtung stellte, begriff ihn der so geschickte als betriebsame Unternehmer dieser Aufführungen so wenig, daß er hinterher behauptete: dieser Brief stehe in einem diametralen Gegensatz zu allen früheren, öffentlichen und privaten, schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Meisters!! Was hatte er sich also wohl dabei gedacht, wenn er von Wagners Seite fortgesetzt dazu angeregt worden war, den Geist der von ihm verpflichteten künstlerischen Vereinigung immer wieder auf die Erreichung und, Festhaltung des erforderlichen reinsten Stiles gerichtet zu erhalten, um nicht allein ihm, dem Meister, sondern der Kunst überhaupt einen Dienst zu erweisen?

Noch viel schlimmer aber sollten die hier bezeichneten, einander entgegengesetzten Pole höchsten künstlerischen Ernstes und der in ihrer Art begeisterten und hingebenden, unleugbar geschickten theatralischen Betriebsamkeit am folgenden Tage (Sonntag, 29. Mai) gegeneinanderprallen. Es kam endlich zum Konflikt zwischen beiden Kontrasten, der bisher einzig durch das anerkennungsvolle Wohlwollen des Künstlers für den alles ermöglichenden, alle Hindernisse siegreich überwindenden Unternehmer glücklich vermieden war. Leider [478] verstand dieser letztere eine solche ihm dargebrachte Anerkennung nicht im rechten Sinne zu würdigen; sie war ihm zu Kopfe gestiegen und riß ihn zu einer Selbstüberhebung hin, die sein ganzes Verhältnis zu dem Meister hätte erschüttern können. Anstatt auf seine wahren Pflichten bedacht zu sein und bescheiden im Hintergrund zu verweilen, vertiefte er sich mit seinen Gedanken in ›die Form der Huldigung, wie wir aus dem allgemeinen Empfinden heraus dem Meister am letzten Abend, am Schluß der »Götterdämmerung«, eine würdige (!!!) Feier bieten sollten‹.28 Wie wenig hatte er von der Natur des Künstlers begriffen, wenn er einen derartig wohlfeilen, künstlich arrangierten theatralischen Abschluß, bei dem er selbst als Redner zu glänzen gedachte, sich als eine, nicht etwa von diesem nur zwangsweise zu ertragende, sondern als eine seiner ›würdige Feier‹ vorstellte und seine darauf bezüglichen Absichten nicht allein mit seinem Kollegen in der Leipziger Direktion Dr. Förster, sondern in erster Instanz mit einem seiner witzigen Berliner Stammesgenossen, dem ber–ühmten Verfasser der (zur Ehre der Deutschen) in ca. 20 Auflagen erschienenen ›nüchternen Briefe aus Bayreuth‹ schamlosen Angedenkens, Herrn Paul Lindau, zu beraten für gut befand! Offenbar sollte Wagner nicht allein diese seine Ansprache anhören, sondern – wie er es sich vorstellte – darauf dankend erwidern und mit ihm vor allem Publikum öffentliche Reden austauschen. Und zu einem übel anmaßenden Vorgehen dieser Art war der Schluß der ›Götterdämmerung‹ mit seiner erhabenen Weihe von ihm ausersehen!

Am Vormittag dieses ›Götterdämmerungs‹-Tages hatte der Meister noch den traurigen Eindruck eines letzten Abschiedes von seiner schwererkrankten begeisterten Anhängerin Frau Kathi Eckert, deren Name und Persönlichkeit mit jeder in Berlin zugunsten des Bayreuther Werkes veranstalteten Unternehmung neben demjenigen der Gräfin Schleinitz verknüpft war und die ihm noch vom zweiten Zyklus aus regelmäßige enthusiastische Telegramme gesandt hatte. Gleich nach ihrer Ankunft hatte Frau Wagner die altbewährte treue Freundin der Sache besucht und sie bedenklich krank gefunden; nun suchte er sie selbst mit seiner Gemahlin an ihrem Krankenbett auf, sie lag wie erstarrt vor ihm da, doch stammelte sie noch die Worte: ›Lieber Meister!‹ – Bei Tisch im Hotel erzählte der Graf, seine Schwester, die Vorsteherin eines Benediktinerklosters in der Auvergne, habe ihn nach der Bedeutung des ›Kunstwerkes der Zukunft‹ befragt, und der Meister erwiderte erklärend: ›Je unkenntlicher die Rassenkraft, je gesunkener die Menschheit, um so kräftiger [479] und deutlicher müsse sich das Kunstwerk bejahen.‹ – Schlag sieben Uhr begann die Vorstellung der ›Götterdämmerung‹, als festlicher Abschluß des ganzen kühnen Unternehmens in Gegenwart des Kaisers und des ganzen Hofstaates, dessen einzelne Angehörige Neumann in seinen ›Erinnerungen‹ wieder genau mit Namen aufzählt. ›Die Musiker‹, so berichtet er weiter, ›hatten Anton Seidls Pult mit Lorbeer bekränzt und brachten Wagner, als er im letzten Zwischenakt ins Orchester kam, einen solennen Tusch dar. Aber schon konnte man Wagner eine auffallende Unruhe anmerken. Als er, auf meine Bitte, am Schluß der Vorstellung auf der Bühne erschien, sah er auffallend blaß aus. Trotzdem hatte er noch die Absicht ausgesprochen, das Wort zu einer Dankrede zu ergreifen. Während nun aus dem Zuschauerraum durch den einstweilen gefallenen Vorhang hindurch der Jubel des Publikums zu uns brauste, hatten sich sämtliche Mitwirkende auf der Bühne versammelt und nahmen Wagner in ihre Mitte, dann teilte sich wieder der Vorhang. Ich trat vor und begann meine Ansprache,29 kaum aber hatte ich die ersten Worte gesprochen, als Richard Wagner sich umdrehte und die Bühne verließ. Furchtbar betroffen, angesichts des ganzen Hofes und all der Tausende von Zeugen dieses Vorgangs, mußte ich, als ob nichts geschehen wäre, ruhig mit meiner offiziellen (??!) Ansprache fortfahren und‹ (nachdem er sich in seiner Dankesrede mit den ›erhabenen Mitgliedern des Kaiserhauses, dem kunstsinnigen Publikum und denen, die dessen Meinung in der Öffentlichkeit vertreten‹, feierlichst auseinandergesetzt und zuletzt zu dem Meister selbst gelangte) ›die für Wagner bestimmten Worte in die Kulisse hineinsprechen.‹ Was war geschehen? Unter dem höchst unerfreulichen Eindruck dieser Ovation hatte sich einer der uns schon von viel geringeren Anlässen her bekannten Herzkrämpfe bei dem Überraschten eingestellt, der ihn jedes Zweifels und Bedenkens überhob, was er auf diese Ansprache zu erwidern hätte und wofür er sonst schon – selbst als Nachredner des großen Angelo – den rechten Ton gefunden haben würde. Das plötzlich aufwallende Unwohlsein war dafür eingetreten und hatte statt seiner gesprochen; er mußte sich zurückziehen, um den Anfall zu überwinden, wie es ihm unter solchen Umständen das einzig mögliche war. ›Inzwischen‹, so erzählt Neumann weiter, ›herrschte auf der Bühne die peinlichste Verlegenheit: es war, als ob man einen kalten Wasserstrahl in unsere lodernde Begeisterung und Festesfreude gegossen hätte. Da stand das Ehepaar Vogl mit dem mächtigen Lorbeerkranz, der für Wagner bestimmt war, da standen die Mitwirkenden aus der »Götterdämmerung« im Kostüm, und die an diesem Abend nicht beschäftigten Mitglieder des »Ring«-Ensembles in Festkleidung: Frau Materna in ihrer prächtigen Seidenrobe, Scaria im vollen Ordensglanze; da standen wir alle tief betroffen und verstimmt [480] und – ich muß es bekennen – mit dem Verdacht im Herzen, daß nicht ein wirkliches Unwohlsein, vielmehr eine unberechenbare Künstlerlaune (!!) unsere so schön geplante Feier zerstört, unser ganzes mühevolles und bisher so prächtig gelungenes Werk durch einen herben Mißton zersprengt habe.‹ Woher, so fragt man sich, dieser ›Verdacht‹? Wenn nicht aus dem Bewußtsein heraus, daß er da doch etwas unternommen, was gegen den Stolz des wahren Künstlers und Meisters, heiße er nun Beethoven oder Liszt oder Wagner, verstieß, in seinem ohnmächtigen Versuch, etwas zwingen zu wollen, was nicht zu zwingen war? Etwas von dem, was ein Berliner Blatt (die ›Nationalzeitung‹) damals mit den ganz richtig empfundenen Worten bezeichnet: ›Es muß erwähnt werden, daß man im Publikum – und zwar gerade in dem nicht zu den Wagnerenthusiasten gehörenden, unbefangenen Teile desselben den Eindruck hatte, daß die Neumannsche Rede nicht ganz angemessen war; abgesehen davon, daß bei offenem Vorhang nicht der Direktor, sondern das Publikum die den Künstlern gebührende Anerkennung zu zollen berufen ist, machte es einen, dem Anteil Wagners und des artistischen Direktors der Aufführungen an denselben in der Tat nicht entsprechenden Eindruck, daß der Erstere wie eine Nebenperson zur Seite stand, während Herr Neumann seine breit angelegte Rede hielt‹ ...

Eine wenig erfreuliche Episode als Abschluß der sonst so glorreich verlaufenen Berliner Unternehmung. Nachdem sie aber durch den in seiner eigentümlichen Rassenempfindlichkeit am schmerzlichsten und nachhaltigsten betroffenen Neumann in seinen, ein Vierteljahrhundert später bei ganz kaltem Blut niedergeschriebenen Memoiren einer so eingehenden Schilderung gewürdigt ist, wollten wir ihr an dieser Stelle unserer Erzählung nicht aus dem Wege gehen. Gar zu bezeichnend ist es für seinen Horizont, daß er in seinem Rückblick wohl für den großen Lorbeerkranz des Ehepaars Vogl, die ›Seidenrobe‹ der Frau Materna und Scarias ›ordengeschmückte Brust‹ ein Verständnis zeigt, nicht aber für die dem Meister bereitete üble Situation; und daß er es wagt, infolge der völligen Inkommensurabilität seiner Natur im Verhältnis zu derjenigen des schöpferischen Genius ein so böses Wort in den Mund zu nehmen, wie das einer ›Künstlerlaune‹, wie man sie sonst etwa bei ungebildeten, aber von sich eingenommenen Tenoristen, Primadonnen oder sonstigen Komödianten antrifft, mit denen er ja allerdings sein ganzes Leben hindurch zu verkehren gewohnt war. Und noch weniger rühmlich, daß er den ihm nach seiner Auffassung angetanen ›Af front‹, bloß um in seinem Unglück hochgestellte Genossen zu haben, in diesen Memoiren noch nachträglich und gewissermaßen denunziatorisch in einen solchen gegen das ›deutsche Kaiserhaus‹ metamorphosierte, indem er, mit einem wiederum ganz theatralischen Effekt, die gedruckte Wiedergabe des Textes seiner Ansprache gerade an derjenigen Stelle unterbricht, wo von den ›erhabenen Mitgliedern‹ [481] dieses Hauses die Rede ist: ›kaum hatte ich‹, so sagte er, ›diese Worte gesprochen, als Richard Wagner sich umdrehte und die Bühne verließ‹. Aus diesem Grunde verlangt es die bloße Gerechtigkeit, daß, nachdem wir in allem vorhergehenden Herrn Neumann selbst mit seiner Schilderung der Situation reichlichst zu Worte haben kommen lassen, wir nun auch eine andere Stimme über den gleichen Vorgang vernehmen, die sich unmittelbar nach dem Erscheinen des Neumannschen Memoirenbuches in der ›Allgem. Zeitung‹ geäußert hat.30 Es ist gleichfalls die Stimme eines Augenzeugen, aber eines völlig unbeteiligten, den keine gekränkte Eitelkeit auf irrige Bahnen einer schiefen Auffassung in bezug auf den unliebsamen Vorfall verleiten konnte, den er nach seinem eigenen Zeugnis ›mit erlebt, sehr bestimmt aufgefaßt und in seiner Erinnerung aufbewahrt‹ hat. Also Augenzeuge gegen Augenzeuge, wie es sich in einem solchen Falle geziemt, wenn man es nicht von vornherein vorzieht, schweigend oder mit einer kurzen Erwähnung darüber hinwegzugehen, mithin in der Darstellung der Begebenheiten eine Lücke zu lassen. Aus beiden kann sich dann der Leser selbst sein Urteil bilden und es besteht wohl kein Zweifel darüber, auf welche Seite es sich neigen wird. Um so mehr als die nachstehende Darstellung im engsten Zusammenhang mit allem bisher von uns Gesagten steht.

›Als Herr Neumann‹, so berichtet Friedrich Schön als Anwohner der Aufführung, ›damals seinen Dank sagte »denen, welche zum schönen Gelingen mitgewirkt haben, Dank zunächst den erhabenen Mitgliedern unseres Kaiserhauses« usw., da geschah es nicht unmittelbar nach diesen Worten, wie Herr Neumann schreibt, daß Richard Wagner sich umdrehte und die Bühne verließ. Ich hatte, selbst von dem Vorgang befremdet, beobachtet, daß ein tiefer Unmut des Meisters Gesicht überzog, und sah dann, als Herr Neumann im Anschluß an die obigen Worte von der »Förderung dieser neuen Kunst« durch das Kaiserhaus und von dem Dank an Publikum und Presse redete, wie der Meister, immer erregter werdend, vor sich hinsprach; ich hatte noch Zeit, meiner Frau die Besorgnis auszudrücken, daß das nicht gut abgehen könne, und sah danach in der Tat den Meister die Bühne verlassen. Nach meiner Erinnerung geschah dies also keinesfalls unmittelbar nach Herrn Neumanns Dank an das Kaiserhaus, sondern nach seinen darauffolgenden Worten vom Dank an Publikum und Presse. Ich hatte sofort empfunden, daß man den [482] Meister in eine schiefe Position gebracht, und eilte zu seiner Gemahlin, die mich bat, mich auf die Bühne zu begeben und Herrn Neumann zu sagen, daß ihr Gatte sich unwohl befinde, und daß sie ihn bitte, dies dem Publikum mitzuteilen. Auf der Bühne fand ich sofort hinter dem herabgelassenen Vorhange Herrn Neumann, der, nachdem ich ihm meinen Auftrag ausgerichtet hatte, alsbald, ohne mich nur zu fragen, den Vorhang wieder aufziehen lassen wollte, damit ich (!) die Erklärung an das Publikum abgebe; ich hatte gerade noch Zeit, das abzulehnen und solche Erklärung als seine Sache ihm überlassen zu können.‹

›Ich erfuhr dann noch, daß Richard Wagner erwartet habe, er werde auf der Bühne nur den Künstlern gegenüberstehen, denen er durch eine »Ansprache« seinen Dank ausgedrückt haben wurde; daß aber Herr Neumann ihn völlig dadurch überrascht hatte, daß er, als der Meister auf der Bühne stand, ohne dessen Wissen den Vorhang heben ließ und ihn somit unvermutet dem geschilderten Vorgange ausgesetzt habe. Daß dieser dem Meister nur peinlich sein konnte, wird unschwer zu begreifen sein. Jene Aufführungen des »Nibelungenzyklus« waren ein Privatunternehmen des Herrn Neumann, das Richard Wagner im Interesse seines Wertes natürlich gern mit seinem künstlerischen Rat unterstützte. Wenn zu ihrem Schlusse ein Dank in Herrn Neumanns Sinn an das Kaiserhaus, das Publikum und die Presse für ihr Wohlwollen auszusprechen war, so war das Sache des Herrn Neumann allein, und wenn dieser den Meister dazu einbeziehen wollte, so hätte er ihn vorher darum befragen müssen, keinesfalls aber in solcher Weise überraschen dürfen; zumal, nachdem Frau Wagner ihn vor Veranlassungen zu Erregungen ihres – krankhaften Zufällen oft und leicht ausgesetzten – Gatten wohlmeinend gewarnt hatte. Es darf als sicher angenommen werden, daß ohne solche Überraschung jene »Ovation« von vornherein unmöglich gewesen wäre; denn mag sie auch in bester Absicht ausgedacht gewesen sein, so war es doch eine, aus gänzlichem Unverständnis von Wagners Wesen und Situation entstandene Ungeschicklichkeit, den großen und von der Bedeutung seiner Mission und seines Werkes erfüllten Mann in theatralischer Anordnung neben Neumann auf der Bühne vor das Publikum stellen zu wollen, in Assistenz zu Neumanns Dank an jene öffentlichen Mächte. Für des Meisters Wesen ist nichts bezeichnender als der unerbittliche Ernst der Wahrhaftigkeit, sobald es sich irgendwie um die Kunst handelte; ob seine eigene Kunst oder die unserer anderen großen Meister – gleichviel, da gab es keine Kompromisse und keine Konzessionen. Hierauf beruhte auch der für manchen so erstaunliche Umstand, daß er in Augenblicken größter äußerer Ehrungen diese nicht wie ein persönliches Glück empfand, sondern daß sie ihm vielmehr zumeist Leiden schufen beim Gedanken an die Widerstände, die das von der Menge Bejubelte noch immer von dem ihm vorschwebenden Ideale trennten. Es ist leicht zu begreifen, [483] daß der Vorgang den feinfühligen und zudem nervösen Anfällen so leicht ausgesetzten Mann aufs stärkste erregen und Empfindungen in ihm auslösen mußte, die in schmerzlichstem Gegensatz zu dem »Danke« standen, den Herr Neumann da neben ihm aussprach. Daran irgendwie teilzunehmen, mußte ihm wie Heuchelei und Lüge erscheinen und als Verleugnung gleichsam der bitteren Schmerzen, mit denen er die Enttäuschungen des Jahres 1876 bezahlt hatte. Es bleibt schwer begreiflich, daß Herrn Neumann nicht eine innere Stimme von seiner Überraschung abgehalten hat.‹31

In unserem Bericht über das Tatsächliche fortfahrend, geleiten wir den Meister zunächst von der Bühne in seine Loge zurück, zwar immer noch sehr erregt über die ihm zuteil gewordene ›Ovation‹ nach Herrn Neumanns Geschmack, doch aber soweit darüber beruhigt, daß er dem fortdauernden brausenden Applaus genügen konnte, indem er das Publikum noch ein letztes Mal von der Logenbrüstung aus begrüßte. Ganz ohne sein Zutun hatte seine Natur, wie in so manchen Fällen seines Lebens, wo ihr ein Zwang angetan werden sollte, ihr gebieterisches Veto dagegen eingelegt, durch ihren Machtspruch die ehrgeizigen Gelüste Neumanns durchkreuzt und ihm dadurch die gebührende Lektion für seine Eigenmächtigkeit erteilt. Ihn absichtlich zu kränken lag weit außerhalb von Wagners Wunsch; daher er es sich alsbald angelegen sein ließ, ihm durch Seidl wahrheitsgemäß mitzuteilen: ein plötzlicher Herzkrampf habe ihn genötigt, die Bühne zu verlassen. ›Aber‹, so berichtet Neumann selbst, ›ich schenkte seinen Worten keinen Glauben(!!).‹ Vielmehr erklärte er dem Meister brieflich mit aller Entschiedenheit, nach dem Vorgefallenen alle persönlichen Beziehungen zu ihm abzubrechen und hinfort nur noch auf brieflichem Wege geschäftlich mit ihm verkehren zu wollen. Darauf erwiderte der Meister in einem Briefe, der von Neumann veröffentlicht, durch alle Zeitungen ging:


Lieber Herr Neumann! Ob die mir eigene Aufregung, oder die von Ihnen mir bereitete Überraschung mir das heftige Unwohlsein hervorrief, welches mich gestern die Bühne zu verlassen nötigte, mag ich nicht bestimmen; nur erfahre ich, daß von aufmerksamen Anwesenden dies mein Unwohlsein bemerkt und als solches erkannt worden ist.32 Dergleichen Zufälle hätten Ihnen nicht unberechenbar bleiben sollen, seit meine Frau Sie wohlmeinend davon in Kenntnis gesetzt hat, ich aber ganz ausdrücklich Sie vor Veranlassungen dazu warnte. Es tut mir leid, daß unserer Aufrichtigkeit auch diesmal kein Glaube beigemessen wurde.

Der vermeintliche ›Affront‹ fällt ganz und gar fort, sobald meiner Versicherung geglaubt wird, was zu erwirken ich bereits nötigen Ortes nicht versäumt habe.

[484] Meine Gesinnungen für Sie und unseren künstlerischen Verein habe ich mit Wort und Tat laut bekundet; und einer theatralischen Aktion wird es dafür nicht weiter bedürfen.

Zunächst wünsche ich Ihnen Beruhigung über das Ihnen vermeintlich Zugefügte, und ersehe für meine Person keinen Grund den mir durchaus nur angenehmen Umgang mit Ihnen zu unterbrechen Weitere Wünsche habe ich Ihnen dann – durchaus freundschaftlich – mitzuteilen.

Mit herzlichem Gruß der Ihrige

Berlin, 30. Mai 1881.

Rich. Wagner.


Aber auch diese schriftliche Erklärung war nicht imstande, die gereizte Empfindlichkeit Neumanns zu beschwichtigen und ihm über die vermeintlich erlittene ›unendlich bittere Kränkung‹ hinwegzuhelfen. Sei es nun, daß er den von Wagner gebrauchten Ausdruck ›theatralische Aktion‹ (in dem eben mitgeteilten Briefe) als einen willkommenen Rettungsanker aufgriff, an den er sich halten konnte; oder daß umgekehrt diese Wendung auf eine bereits in seiner ersten aufgeregten Ratlosigkeit von ihm verlautbarte Vorstellung Bezug nimmt: kurz, er wollte von einer derartigen öffentlichen Aktion nicht Abstand nehmen und bewarb sich ausdrücklich um eine solche Genugtuung auf offener Bühne anläßlich einer von ihm geplanten Schluß- und Extravorstellung der ›Walküre‹ in Anwesenheit des Kaisers am 31. Mai. Auf diesen zweiten Brief erhielt er nur noch die mündliche Auskunft, daß eine solche verlängerte Anwesenheit schon aus dem Grunde nicht möglich wäre, da des Meisters Abreise bestimmt für den heutigen Abend (30. Mai) angesetzt sei. Im eifrigen Bestreben, die Erfüllung dieses seines dringenden Wunsches dennoch durchzusetzen, erschienen dann Neumann selbst und sein Leipziger Kollege Dr. Förster mit seiner Frau noch einmal in Wagners Hotel, ohne ihn jedoch zu treffen, da er nach allen vorausgegangenen Unruhen und Belästigungen seine Berliner Angelegenheiten nunmehr endlich erledigt zu haben vermeinte. Der Nachmittag und Abend dieses letzten Tages in der Reichshauptstadt waren einzig der Ruhe und dem Freundesverkehr gewidmet, und er verbrachte ihn daher bis 10 Uhr abends im Kreise der Seinigen im Schleinitzschen Hause. Um 11 Uhr erfolgte dann vom Anhalter Bahnhof aus seine Abreise; auch der treffliche Seidl fand sich dazu ein und erklärte nochmals mit Entrüstung, von jener, über seinen Kopf hinweg vorbereiteten Neumannschen Überraschung vorher nicht das mindeste gewußt und nunmehr ganz mit seinem Direktor gebrochen zu haben.

So viel Sturm und Erregung über ein Nichts! Und doch zog sich dieses Nichts noch durch volle anderthalb Monate hindurch, weshalb wir, der Folge der Begebenheiten ein wenig vorgreifend, das darauf Bezügliche an diesem Platze zusammendrängen. Die Neumannschen direkten Nachrichten hörten einstweilen auf; dagegen meldete ein von Seidl gezeichnetes Telegramm im Namen des ganzen Orchesters den großen Erfolg der angekündigten [485] Schlußvorstellung der ›Walküre‹ in des Kaisers Beisein. Unter den Zeitungsberichten, die ihm über sein Verhalten bei der letzten Aufführung ins Haus gesandt wurden, befand sich auch ein perfid ausfälliger Artikel jenes Neumannschen Vertrauten und Beraters, des Herrn Paul Lindau, in den er nur einen Blick warf, um mit Bedauern sich zu sagen, daß man gegen derartig schamloses Wesen doch völlig waffenlos sei.33 Andererseits mußte er sich sagen, daß Neumann selbst doch wohl gar nicht imstande sei, seine Entrüstung über die begangene Unschicklichkeit zu begreifen, da er ihm ja damit eigentlich – eine ›Huldigung‹ zugedacht habe! Um nur wieder eine Verbindung mit dem sonderbaren Manne anzuknüpfen, wandte er sich, nach Verlauf einiger Wochen, an dessen Freund und Kollegen Dr. August Förster.34 ›Noch habe ich es zu bedauern‹, heißt es darin, ›Ihren und Ihrer Frau Gemahlin freundlichen Besuch am Abend meiner letzten Abreise von Berlin verfehlt, sowie auch Herrn Neumanns‹ (zweiten) ›Brief und Besuch unerwidert gelassen zu haben: zu meinem Leidwesen hatte ich jedoch auch hieraus zu ersehen, daß Sie nicht gesonnen waren, meiner Versicherung zu glauben, daß ich in der gleichen Nacht abreisen wärde. – Sie, hochgeehrtester Freund, haben mich leider auch darüber im unklaren gelassen, ob in Herrn Neumanns Umgebung sich jemand befinde, der ihm den Vorfall an jenem Schluß-Abende der Vorstellungen im Viktoria-Theater in der Weise erklären könnte, daß er zu einiger Besinnung über den Charakter desselben gelangte. Da jedenfalls auch ich darauf verzichte, Herrn Neumann hierüber Licht zu verschaffen, bleibt wohl nichts weiter übrig, als jeder Möglichkeit einer Wiederholung eines ähnlichen Auftrittes vorzubeugen. Da dies nun so viel heißt, als jede fernere Beteiligung meinerseits an den Aufführungen meiner Werke unter der Leitung Ihres Herrn Kollegen auszuschließen, so bestimmt mich meine von dem Charakter dieser Aufführungen gewonnene Kenntnis jedoch, im künstlerischen Interesse derselben sehr positive Forderungen aufzustellen. In dieser Hinsicht habe ich Herrn Neumanns Tüchtigkeit, ein vorzügliches Sängerpersonal zu verpflichten, laut anerkannt; auch erfreue ich mich seiner Zusage, ein neues szenisches Darstellungs-Inventar nach dem Bayreuther Muster anfertigen [486] lassen zu wollen, und wünsche nur dieser Zusage noch hinzugefügt, daß für die Leitung dieses szenischen Apparates der hierin vollkommen erfahrene Fritz Brandt, der Sohn des Darmstädter Obermaschinisten Karl Brandt, berufen werde. Diesem allen habe ich nun aber voranzustellen, daß Herr Neumann einen ausgezeichneten, mit der Eigentümlichkeit der Darstellung meiner Werke vollkommen vertrauten Regisseur zu gewinnen sich bemühe. Die gänzliche Stillosigkeit und Inkorrektheit der theatralischen Vorgänge in den Aufführungen meines »Nibelungen«-Zyklus hat mich um so mehr in Erstaunen versetzt, als ich hierfür in meinen Remonstrationen an Herrn Neumann von diesem gänzlich unverstanden blieb. Möge mich Herr Neumann über die Erfüllung dieser meiner Forderungen in Gewißheit setzen, so steht seinen Wünschen in betreff gewisser Erweiterungen von Konzessionen nichts entgegen; sollten meine Zumutungen ... Herrn Neumann seine ferneren Unternehmungen verleiden, so bin ich gern erbötig ihn von der Ausführung derselben gänzlich zu entbinden.‹35 Diesen Brief sandte Dr. Förster, der zurzeit im Bade (Marienbad) weilte, direkt an Neumann, und er diente, ganz nach Richard Wagners Wunsch und Willen, dazu, das Eis seines nachhaltigen Grolles zu brechen. Denn was in aller Welt sollte dieser mit seinen außerordentlichen Gaben und seiner im Grunde warm begeisterten Gesinnung anfangen, wenn er gerade derjenigen Aufgabe entsagte, durch welche seine entschlossene Tatkraft und vorzügliche Befähigung den Namen Angelo Neumann für alle Zeiten in der Kunstgeschichte mit den äußeren Schicksalen des ›Nibelungen‹-Werkes verknüpft hat?

Er ermangelte daher nicht, sich alsbald wieder mit zwei Vorschlägen an den Meister zu wenden: einerseits mit der Bewerbung um die ausschließliche Berechtigung zu Aufführungen des ›Ringes‹ in Berlin, Dresden, Breslau, Belgien und Holland; andererseits – an Stelle des von Wagner gewünschten neuen szenischen Inventars nach Bayreuther Muster – die käufliche Überlassung des wohlerhaltenen Bayreuther Original-Inventars an Dekorationen und Kostümen. Vor allem aber kündigte er, ganz im Sinne Wagners, zum Zweck der hierüber zu führenden Besprechungen seinen erneuten persönlichen Besuch in Bayreuth an. ›Bis dahin‹, antwortete ihm mit freundlichster Zustimmung der Meister, ›bleiben Sie versichert, daß es mir klar wie die Sonne ist, daß zwischen uns nichts vorgefallen ist, was irgendein bösartiges Motiv hatte! Was geschah, kann nicht wiederge schehen, und deshalb – lassen wir es auf sich beruhen!‹ –

Der Bericht Neumanns über seinen tatsächlich erfolgten Besuch ist zwar nicht frei von Ungenauigkeiten, aber doch im allgemeinen charakteristisch genug, um ihn hier mit starken Verkürzungen36 wiederzugeben. ›Am Morgen des [487] 19. Juli37 kam ich in Bayreuth an Mittags speiste ich in Wahnfried, wo auch Franz Liszt anwesend war‹ – das ist ein handgreiflicher Irrtum, denn Liszt lag um dieselbe Zeit krank in Weimar.38 ›Für den Nachmittag war eine Besichtigung des Nibelungenfundus im Festspielhaus vorgesehen. Gegen fünf Uhr fuhr der Meister mit Frau Cosima in seinem in Bayreuth wohlbekannten zeltartigen Wagen am Hotel zur ›Sonne‹ vor, um mich zur Besichtigung abzuholen. Die Hitze war versengend, und Wagner verlangte nach einem Trunk Bier. Nach der Besichtigung, die einen sehr befriedigenden Verlauf nahm, erklärte ich dem Meister, daß ich geneigt sei, den Fundus für die Londoner Aufführungen zu erwerben. Richard Wagner sagte nun, daß er die nötigen Einleitungen mit der Kabinettskanzlei Sr. Majestät des Königs von Bayern treffen werde.39 Wagner zeigte sich äußerst heiter und gesprächig; es wurde viel gelacht; der Meister war unerschöpflich im Erzählen von Anekdoten. Im Mittelpunkt unserer ernsteren Gespräche stand aber der (bevorstehende) Direktionswechsel in Leipzig.‹ (Ganz gegen den Willen Neumanns war nämlich in der am 29. Juni stattgehabten Sitzung des Stadtrates die Leitung des Leipziger Stadttheaters mit nur einer Stimme Majorität an Max Stägemann, anstatt an ihn selbst übertragen.) ›Der unerwartete Ausgang der Wahl schien Wagner recht ungelegen zu sein. »Aber Neumann«, sagte er vorwurfsvoll, »ich habe Sie doch in Berlin, beim ersten Zyklus, gefragt, was ich für Sie tun kann. Hätten Sie mir doch mit einem Worte gesagt, was da bevorsteht, ich wäre über Leipzig zurückgefahren und hätte mich persönlich dafür eingesetzt, daß Sie die Direktion ganz sicher erhalten.« Gegen Abend ging es [488] ans Scheiden. Nachdem ich mich von der Familie verabschiedet hatte, begleitete mich Wagner noch bis an das Tor des Vorgartens. Von der Berliner Affäre war bisher zwischen uns keine Rede gewesen. Nun, in dem schattigen Laubengang, blieb er stehen und fing selbst an: »Neumann, Sie haben mir unrecht getan. Ich kann Sie nur noch einmal versichern, daß ich an dem Abend in Berlin aus keinem andern Grunde die Bühne verlassen habe, als aus dem, den Sie ja kennen. Ich hatte wirklich das Gefühl umsinken zu müssen, wenn ich auch nur einen Augenblick länger auf der Bühne geblieben wäre.« Dabei nahm er meine Hand und legte sie an sein Herz: »Wenn Sie wüßten, wie es da arbeitet, wie ich da leide!« Er sah mich mit einem tiefen warmen Blick an: »Glauben Sie mir nun?« Ich vermochte damals immer nicht »Ja« zu sagen. Da warf er mit heftiger Bewegung meine Hand von sich, fuhr sich über die Stirne und sagte mit schmerzlichem Vorwurf: »Ach, daß es einem doch so schwer gemacht wird, Glauben zu finden!« Wir gingen noch eine Weile stumm nebeneinander dem Ausgang zu. Dort blieben wir stehen. Wagner umarmte und küßte mich, und ohne weiter ein Wort zu sprechen, schieden wir. Erst zwei Jahre später, als aus Venedig die Botschaft zu uns kam, daß der Meister einem Herzschlag erlegen sei, bin ich der tragischen Wahrheit seiner Worte innegeworden.‹ – In dieser gewiß bedeutsamen Gestalt hat sich Neumann die von ihm geschilderte Abschiedsszene eingeprägt. Viel einfacher und weniger gefühlvoll lautet ein anderer Bericht darüber, wonach Neumann im Augenblick des Abschiedes den Meister gefragt, ob er ihm nun verziehen habe; worauf dieser: ›Sie haben mir ja nichts getan, nur nicht gewußt, wer ich bin; ich hätte nicht bleiben können, um keinen Preis; wenn ich auch zugebe, daß es eine schändliche Situation für Sie war.‹ Da nur zwei Personen bei dieser Unterredung anwesend waren, so versteht es sich leicht, daß der Gewährsmann für diese zweite Version kein anderer ist, als Wagner selbst. Dieser war und blieb dem kühnen Unternehmer freundlich gesinnt. ›Es sei eine Persönlichkeit‹, sagte er. ›Um an dem eben geschilderten Abend‹, fährt Neumann fort, ›so lange als möglich in Wahnfried bleiben zu können, riet mir der Meister, mit einem Wagen von Bayreuth zur nächsten Station zu fahren, wo ich den Münchener Schnellzug noch erreicht habe. So hat der für mich denkwürdige Tag des 19. Juli40 1881 geendet.‹

Hiermit kehren wir von dieser vorgreifenden Abschweifung zu den Tagen nach der Rückkehr aus Berlin zurück. Unter die Eindrücke ziemlich bald nach dieser Rückkehr gehört die schmerzliche Nachricht von dem Tode der armen Frau Eckert, die er noch zum ersten Zyklus als alte begeisterte Vorkämpferin der guten Sache bei anscheinend völligem Wohlsein begrüßt, die [489] ihm noch zum zweiten Zyklus begeisterte Depeschen gesandt, zum dritten erkrankt, beim vierten schon fast auf dem Sterbelager von ihm besucht worden war. Noch etwa acht Tage weilte Graf Gobineau in Wahnfried, der im ›Ring des Nibelungen‹ ›das vollkommen verwirklichte Ideal aller seiner Gedanken über Rasse, Helden, Götter, Bestehen und Untergehen‹ verkörpert gefunden zu haben bekannte.41 Die Gemüts- und Geistesgaben des unvergleichlichen Mannes schienen in dieser Umfriedung sich neu zu beleben: man glaubte sie nun erst in ihrer rechten Umrahmung und in dem Lichte, für welches sie bestimmt, zu erblicken. ›Unbeachtung des Eitlen, Wahrhaftigkeit aller Gefühle, zarte Sitte, Fähigkeit sich hinzugeben, Unmittelbarkeit der Rede, Kraft des Schweigens, schlichte Genügsamkeit, magische Gewalt des Wohlwollens, durchdringende Schärfe der Erkenntnis, gemäßigte Munterkeit und gefühlvoller Ernst, – wie betätigten sie sich um so freier und behaglicher, als Gast und Wirt nicht nur verschiedene Erfahrungen, folglich gar viele Lebensansichten gemein hatten, sondern manche gleiche Geistes- und Charakterrichtungen innehielten! So die grenzenlose Verachtung der Presse außer den »fliegenden Blättern« nahm der Graf keine Zeitung in die Hand – dann die ungestüm heitere Empfindung der Wunderlichkeit unserer heutigen Lyrik, welche die mutwilligsten Auslassungen etwa darüber eingab, daß man »nicht grolle«, daß der eine oder der andere »wie eine Blume« sei, bis man schließlich zu »ich bin eine Blume« gelangte.42 Selbst der Hauptgottheit unserer heutigen Welt, der Wissenschaft, samt der schwerwandelnden Gravität ihrer Anhänger, wurde mit geflügeltem Scherze zweideutig gehuldigt, und die launige Äußerung des Grafen über Newton: »er wußte, wieviel Uhr es sei, ich habe es nie gewußt« konnte dabei gut zum Schlagworte werden. Man trennte sich nach diesem ersten Besuche mit dem, einem Herzensbedürfnis gleichkommenden Wunsche, sich immer öfter und anhaltender zu sehen.‹43 Als Abschiedsgabe überreichte der Meister dem scheidenden Freunde ein schönes Exemplar seiner ›Gesammelten Schriften‹ mit den vielsagenden Widmungszeilen: ›Das wär' ein Bund – Normann' und Sachse! Was da nach gesund, das blüh' und wachse!‹ Und als Gegengeschenk hinterließ der Scheidende ihm [490] sein, Wagner damals noch unbekanntes Buch ›Religions et philosophies dans l'Asie Centrale‹ mit den Widmungsworten: ›Souvenir de l'admiration la plus vraie et de l'attachement le plus affectueux. Wahnfried, 29. Mai 1881.‹44 Unmittelbar darauf – am Abend dieser Abreise selbst und an den nächstfolgenden Tagen – war Ludwig Schemann, der nachmalige Begründer der heute so erfolgreich wirkenden Gobineau-Gesellschaft, Gast des Hauses. ›Den tiefsten Sinn der Geschichte‹, so erzählt Schemann, ›glaubte sich Wagner erst durch Gobineau erschlossen, von dem er uns mit warmer Bewunderung erzählte; auch von den traurigen persönlichen Schicksalen Gobineaus sprach er damals mit leidenschaftlicher Teilnahme. Daß für ihn der Rassengedanke Gobineaus eine ähnlich umwälzende Bedeutung für seine geschichtliche, wie früher der »Willens«-Begriff Schopenhauers für seine philosophische Weltanschauung gehabt hat, lehren seine letzten Schriften. Wohl hatten die Leiden der Menschheit je und je an ihm genagt; aber als Künstler hatte er dessen göttlichstes Vorrecht, Freude aus dem Leiden sprießen zu lassen, wieder und wieder zu seiner eigenen, wie zu der Tausende Befreiung geübt. Jetzt war das letzte Kunstwerk geschaffen, der Denker – von Hause aus in Wagner dem Künstler ebenbürtig, was man auch sagen möge – war wieder in seine Rechte getreten; die Zukunft der Menschheit lag ihm schwer auf der Seele. Die Frage, wie ihrem heillosen Verfalle, den ihm soeben zwei französische Denker, der eine vom diätetischen, der andere vom ethnologischen Gesichtspunkte, auf eine Blutsverderbnis zurückgeführt hatten, abzuhelfen sein möge, ließ alle anderen an Wichtigkeit für ihn zurücktreten. Als erhabener Seher und Seelsorger des besseren Teiles der Menschheit ist damals Wagner vor uns hingetreten, und ich darf wohl sagen: nur wer ihn auch in dieser höchsten Weihe kennen gelernt, nur der hat ihn ganz gekannt. Mir jedenfalls ist er nie größer erschienen.‹45

Gobineau sei sein einziger ›Contemporain‹, sagte er unter dem frischen Eindruck der Gegenwart des ausgezeichneten Mannes. ›Es war eine Freude‹, so berichtet Schemann aus diesen schönen Pfingsttagen des Jahres 1881, ›ihn über einzelne Themata und Erscheinungen der Geschichte in der neuen Anschauung sich ergehen zu hören, wie z.B. einmal mit größter Begeisterung über den Brahmanismus, als über die höchste aller je dagewesenen Gesellschaftsordnungen; ein anderes Mal über Feudalität und Treue, Ehre und [491] point d'honneur, vermöge welcher die Rasse der Arier erst zur Persönlichkeit werde; daher z.B. der arme Rubinstein, dem er jüngst davon gesprochen, diese Begriffe gar nicht auch nur habe verstehen können‹. Dies führt uns auf die Hervorhebung eines schönen Abends mit den Freunden Wolzogen, Schemann, Rubinstein, an welchem er diesen letzteren über jenen arischen Begriff der ›Ehre‹ in dem Sinne aufklärte, wie dies später in ›Heldentum und Christentum‹ geschah,46 mit Schemann aber über Byron und namentlich Don Juan sprach, dessen letzte Gesänge ihn sehr gelangweilt hätten. ›Wagner hatte zufällig gehört‹, fährt Schemann fort, ›daß ich eine große Bewunderung für Byron hegte, und frug mich, worin diese vornehmlich begründet liege. Ich erwiderte ihm, daß vor allem die Poesie ganz als solche, rein als Kunst an sich betrachtet, nur in ihm einen ihrer schönsten Triumphe gefeiert zu haben scheine, worauf Wagner: »das sei ihm sehr merkwürdig, da es ihm immer so vorgekommen, als habe Byron es mit dieser seiner Kunst gar nicht so ernst genommen; als sei er eben vor allem der vornehme englische Lord gewesen, der sich auf seinem Divan ausgestreckt und gedichtet habe, dabei wohl wissend, daß er für jede Strophe eine Guinee bekommen würde.«‹47 Zum Schluß wurde am Klavier durch Rubinstein des Meisters besonderer Liebling, das Es dur-Quartett gespielt. ›Von seinen dazwischengeworfenen Bemerkungen ist mir die an den letzten Takt des einleitenden Maestoso geknüpfte erinnerlich geblieben: »hier sei die Schaffung mächtiger Werke durch Vogelgezwitscher unterbrochen«. Und unvergeßlich sein Gebaren beim Anhören der heiteren Partien, die ihn bis zu ausgelassenster Bekundung der eigenen, in ihm widerhallenden Heiterkeit, zu Tänzen und Sprüngen, zum Necken der Mitzuhörer entzückten‹ (– beim Scherzo sagte er: es sei ›Nußknacker und Mausekönig‹). ›Beim Adagio dagegen, jener hehrsten Schöpfung ..., war er ganz Andacht, so ganz, daß er selbst das unzureichende48 Spiel Rubinsteins gar nicht zu bemerken schien, sondern den Vortragenden am Schluß mit [492] dankbaren Lobeserhebungen überschüttete.‹ An einem der folgenden Abende (11. Juni) war es – nach Humperdincks Aufzeichnungen – wiederum der goldene Humor des ›Don Quixote‹ (die Episode mit dem Löwen und dem Puppentheater), welcher eine heitere, freundliche Stimmung auslöste, die um so nötiger war, als das kalte rauhe Wetter draußen ihn in völlige Verzweiflung brachte. Man ging entweder gar nicht aus und dachte an Heizung, oder der Meister klagte über den Wind, der ihm den Eindruck eines protzigen Gensdarmen machte, der auf ihn losfuhr und ihn an der Brust packte. Es gäbe nur ein Mittel, dem enthoben zu sein: zu sterben Wiederum stellte sich ab und zu einer seiner Herzkrämpfe ein, und ganz umringt und erfüllt von den Belästigungen des heimischen Klimas, faßte er immer bestimmter den Entschluß, den nächsten Winter nicht wieder in Bayreuth zu verbringen.

Schon während der Anwesenheit des Grafen hatte er Sehnsucht gehabt, wieder an seine Partitur zu gehen. In den uns vorliegenden Notizen Humperdincks finden wir unterm 6. Juni, dem zwölften Geburtstag Siegfried Wagners, die Notiz: ›Beginn des zweiten Aufzuges in Partitur.‹ Damit beschließen wir diesen episodischen Abschnitt, den ersten Versuch einer Berührung mit jener Welt da draußen und allen unnütz aufreibenden, kraftverzehrenden Mißverständnissen, die sie ihm entgegenbrachte. Sie konnte ihm mit all ihrem äußeren Glanz, all ihren lärmenden ›Hervorrufen‹ und Beifallsbezeigungen nichts bieten, kaum von ihm etwas empfangen, das nicht durch jene ihre Mißverständnisse seines wahren Wesens und Wollens getrübt gewesen wäre. Keine jener Hände, die sich da zu rauschenden Kundgebungen gern und leicht in Bewegung setzten, nahm ihm die Sorge für sein Bayreuther Werk ab; hatte doch selbst das gekrönte greise Reichsoberhaupt bei allem sonstigen ›Wohlwollen‹ es bestimmt refüsiert, sich an der Unterzeichnung jener ›Garantiescheine‹ (S. 422) zu beteiligen, die ihn vor einem abermaligen ›Defizit‹ bewahren, und, da sie bloß zu einer entsprechenden Teilzahlung im Falle eines solchen verpflichteten, dem Unternehmen fast mehr eine moralische, als finanzielle Deckung gewährten! Für sein wahres Wesen und Wollen, das nicht auf reichshauptstädtische Operntheatererfolge ausging, sondern auf die Befreiung seiner Kunst von allem schnöden Mammonsdienste und die Erringung eines Fundamentes für eine dauernd gesicherte Institution zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit, stand er nach wie vor allein: einzig auf seinen treuen Verwaltungsrat und die eigene Kraft, außerdem aber eine ganz unbestimmte Allgemeinheit angewiesen, deren einzelne Bestandteile man keiner näheren Prüfung unterziehen durfte, wenn sie als ein zahlendes Theaterpublikum zu seinen Bayreuther Aufführungen von überallher zusammenströmte!

Fußnoten

1 Vgl. Liszts ›Briefe an die Fürstin Wittgenstein‹, Band IV, S. 315/16.


2 Ebendaselbst IV, S. 311/12. 316.


3 Ebendaselbst, S. 316.


4 Man vergegenwärtige sich diese Tragik auf Grund von Band IV dieses vorliegenden Werkes, S. 165/66.


5 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 226 f., 231 f., 252.


6 Siehe: Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 152. Er gibt da in Dialogform eine lange Unterredung mit Wagner Wort für Wort wieder, nicht allein die Worte des Meisters, sondern auch seine eigenen wohlgesetzten Erwiderungen, als wäre ein Stenograph dabei gewesen. Man bewundert sein Gedächtnis, welches ihm das erlaubt, da wir uns eines gleichen mit keiner einzigen Unterredung Wagners, der wir beigewohnt, vermessen würden. Aber man entsinnt sich dabei zahlreicher anderer Neumannscher Theateranekdoten, wie er sie – außer in jenen ›Erinnerungen‹ – auch in Zeitschriften usw. jederzeit gern zum besten gibt, immer mit der gleichen Pointe, dem Endzweck: seinen Scharfsinn und seine Energie, seine Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit (unzweifelhaft bei dem geschickten Manne vorhandene Eigenschaften) im hellsten Lichte leuchten zu lassen. Die hierbei durchgeführte Gewohnheit, die verschiedenartigsten Personen konsequent in direkter Rede einzuführen, bekundet sich überall; aber stets reden sie sich in ihr Verderben; denn immer hat Neumann schließlich recht, die verschiedenen Interlokutoren unrecht. Man wird gut tun, sich diese seine Gewohnheit stets gegenwärtig zu halten, sobald es sich um bedeutendere Gegenstände handelt und z.B. die Person Wagners ins Spiel kommt. Gleich in den obigen Anführungen beruhen z.B. die Worte ›im Hereinfahren‹ auf der unzutreffenden Voraussetzung, Wagner sei in diesem Augenblick, am Sonntag morgens, in Berlin eingetroffen; man vergegenwärtige sich doch nun aber weiter die rein optische Unmöglichkeit, aus dem offenen Wagen blickend, auf den Plakaten der Anschlagsäulen den Namen eines der Mitwirkenden unterscheiden zu können!


7 Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 157.


8 ›Ich erwähne‹, fährt Neumann fort, ›insbesondere Se. Kaiserl. Hoheit den damaligen Kronprinzen, späteren Kaiser Friedrich, Kronprinzessin Viktoria, Prinzen Wilhelm, den gegenwärtigen Kaiser, mit seiner Gemahlin; Prinzessin Friedrich Karl, das Erbprinzenpaar von Meiningen, den Hofmarschall Grafen Eulenburg, die Grafen Danckelmann und Perponcher mit ihren Gemahlinnen, die Fürstin Bismarck, Grafen Wilhelm Bismarck, Grafen und Gräfin Rantzau, die Fürstin Radziwill, Hohenlohe, Ratibor, den Minister v. Puttkammer, Delbrück, Grafen Redern. Die Berichterstatter sämtlicher Berliner, sowie der großen auswärtigen Blätter waren anwesend, von der Kunstwelt u.a. Albert Niemann mit seiner Frau Hedwig, Josef Joachim, Friedrich Zahn, Paul Lindau, Friedrich Spielhagen, Oskar Blumenthal, Julius Stettenheim, Fritz Mauthner und viele andere.‹


9 Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 157/59. Mit besonderem Stolz gedenkt der Erzähler a.a.O., daß nach diesem ›herrlichen Siege‹ des ersten Nibelungenabends am nächsten Tage sogar der ›hartnäckige Skeptiker‹ Herr von Hülsen ihm gesagt habe: ›Nachdem Sie gestern mit »Rheingold« diesen Erfolg hatten, den ich nie für möglich gehalten hätte, zweifle ich jetzt nicht mehr am Erfolge des ganzen »Ringes« (ebendaselbst).‹ An diesem Erfolge zu zweifeln, hatte die Exzellenz gar keinen Grund, sondern nur ihr Handeln danach einzurichten; davon war sie aber nachher ebensoweit entfernt, wie sie es zuvor gewesen war!


10 Vgl. Band IV des vorliegenden Werkes, S. 318.


11 ›Berliner Börsenkurier‹ (George Davidson), Beilage zum 10./11. Mai 1881.


12 Es ist interessant nachzulesen, was Neumann in seinen ›Erinnerungen‹, S. 160, für eine Selbstglorifizierungs-Geschichte aus diesem Tatbestande zusammenbraut! Nicht allein, daß er wieder einmal dem Meister gegenüber glänzend ›recht behält‹; sondern er rühmt sich noch seiner Eigenmächtigkeit, vermöge deren er es ›gegen Wagners Willen‹ durchgesetzt habe, daß am folgenden Tage in der ›Götterdämmerung‹ dennoch wieder Jäger auftrat, so nahe es gelegen hätte, diesen mit einer Indisposition zu entschuldigen.


13 Natürlich wurde ihm diese dankende Ablehnung der ihm zugedachten Ehre als übler Hochmut gedeutet und blieb ihm nicht geschenkt. Nicht allein, daß er an die Öffentlichkeit der Berliner Presse gelangte und daselbst den gebührenden Staub aufwirbelte, sondern auch anonyme Briefe gingen ihm in Wahnfried zu, etwa folgenden Inhalts und Wortlautes. ›Herr Wagner! Hatten Sie sich wohl den Bescheid überlegt, den Sie unserem Kronprinzen auf seine gütige und sogar für Sie sehr ehrenvolle Einladung gaben? Hüten Sie sich, daß man später, wenn man von Ihren Werken schreibt, nicht zuviel von Ihrem Charakter erzählt! N N.‹ An dergleichen anonyme Auslassungen in den verschiedensten Tonarten war er von den Münchener, ja schon früher von seinen Dresdener Zeiten her, nur allzusehr gewohnt, als daß sie ihn tiefer hätten berühren können. Er mußte sie eben zu allem übrigen legen.


14 Vgl. Band II des vorliegenden Werkes, S. 70./71. 146. 147. 235 (5. Ausl.)


15 ›Zum Andenken an den Grafen Gobineau‹, enthalten in dem Sammelbande ›Aus Richard Wagners Geisteswelt‹ (Berlin, 1908), S. 288 ff.


16 Band V des vorliegenden Werkes, S. 325, und S. 396 des vorliegenden Bandes.


17 Vgl. Correspondance entre Alexis de Tocqueville et Arthur de Gobineau (1813–1859), publiée par L. Schemann; Paris, Plon, 1909.


18 Die französische Regierung versetzte ihn auf die entlegensten Posten, wie nach Persien und Brasilien, häufig zum Schaden seiner Gesundheit, um, wenn er irgendwo Boden gefaßt, ihn anderweithin zu verbannen. ›Es ist möglich, daß sowohl der Freimut, mit welchem er sich über das anmaßende Betragen etlicher seiner Landsleute in der Fremde gegen das Ministerium ausließ, wie seine Unerbittlichkeit gegen alles Zweideutige, gepaart mit der Freisinnigkeit in der Behandlung der kleinen Fragen, wie z.B. der Paßschwierigkeiten zur Zeit, wie sie noch Gelegenheit zu Quälereien boten, – möglich, daß dieses und ähnliches bei den untergebenen Kollegen Ärgernis erregte, und daß er infolge hiervon, in einem Zustande der Komplizität und der Kompromisse, unbequem und mißliebig erfunden werden mußte. Sicher ist es, daß er nur Kränkungen und Zurücksetzungen zu erfahren hatte; bis endlich eine barsche, gänzlich unmotivierte Absetzung den Faden langjähriger treuer Dienste abschnitt‹ (›Bayreuther Blätter‹, 1882, S. 345).


19 Vgl. die Schrift ›Graf Arthur Gobineau, ein Erinnerungsbild aus Wahnfried‹, Stuttgart, Frommann, 1907. Ferner Prof. Schemanns biogr. Einführung in die ›Asiatischen Novellen‹; Liz Dr. Eugen Kretzer, ›Josef Arthur Graf von Gobineau‹ (mit Portrait), enthalten in der Biographiensammlung ›Männer der Zeit‹, neue Folge, Band XI.


20 Hier ist vorzugsweise sein bahnbrechendes Werk hervorzuheben: ›Histoire des Perses, d'après les auteurs orientaux, grecs et latins, et particulièrement d'après les manuscrits orientaux inédits, les monunmuts figurés, les médailles, les pierres gravées etc. par le Comte de Gobineau.‹ Deux volumes en 8° (Paris, Plon).


21Trois ans en Asie; Religions et philosophies dans l'Asie Centrale‹.


22 Wolzogen, a.a.O. Vgl. den S. 449 dieses Bandes erwähnten Aufsatz Gobineaus ›Ein Urteil über die jetzige Weltlage‹ im Mai/Juni-Heft der ›Bayreuther Blätter‹, das sich eben damals im Drucke befand.


23 ›Graf Arthur Gobineau, ein Erinnerungsbild aus Wahnfried‹ (Stuttgart, 1907), S. 22.


24 Ebendaselbst, S. 19./20.


25 ›Ein Erinnerungsbild aus Wahnfried‹, S. 17./18. 19.


26 Siehe Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 169/70.


27 Ebendaselbst, S. 170/71.


28 ›Unser Dank‹, so sagt er wörtlich, ›durfte nicht minder dem Herrscherhause gelten, vor allem auch dem greisen Kaiser, der die denkwürdigen Abende mit seiner Anwesenheit ausgezeichnet hatte, und sodann dem Publikum und der Presse (!!)‹. Welche – dem Horizont eines Neumann angemessene – Zusammenstellung nach den Gesetzen der Weltklugheit, dem Sinne des zu Feiernden völlig entgegengesetzt!


29 Die Neumannschen ›Erinnerungen‹ enthalten an dieser Stelle den ganzen Text seiner Rede.


30 In der Münchener ›Allgemeinen Zeitung‹ vom 13. Mai 1907 unter der Aufschrift: ›Ein »Affront« des Kaiserhauses durch Richard Wagner?‹ Von einem ›Affront‹ hatte Herrn Direktor Neumann schon damals zu sprechen beliebt, doch galt dieser Affront damals nur seiner eigenen Person; zu einem ›Affront gegen das deutsche Kaiserhaus‹ hat er sich erst in einem Vierteljahrhundert aufgeregten Zurückdenkens an diesen peinlichen Vorfall ausgewachsen, so daß denn auch erst i. J. 1907 in Anlaß der so theatralisch sensationell zugestutzten Darstellung Herrn Neumanns ein Widerspruch dagegen erfolgen konnte.


31 Wir haben die obige Darstellung Friedrich Schöns treu mit dessen eigenen Worten wiedergegeben und uns Verkürzungen derselben nur in einigen reflektierenden Abschnitten erlaubt, die für den Leser des gegenwärtigen Buches nichts Neues bringen.


32 Vgl. Neumanns eigene Angabe über des Meisters auffallende Blässe, als er auf der Bühne erschien.


33 Aus diesem ›Richard Wagner in Berlin‹ überschriebenen Artikel, der durch Abdruck in verschiedenen Zeitungen Hunderttausenden von Deutschen aller Länder ein verzerrtes Bild der menschlichen Persönlichkeit des Meisters und insbesondere seines grenzenlosen Hochmuts zu bieten bestimmt war, entsinnen wir uns namentlich eines Passus, wie sich in Berlin alles vor ihm gebeugt und wie es selbst im Kgl. Museum keine ›verbotenen Eingänge‹ für ihn gegeben habe. Mit letzterer Bemerkung war auf den (S. 459), von uns erwähnten, an sich ganz bedeutungslosen zufälligen Vorfall im Museum angespielt, von dem man sich nur wundern konnte, woher der Artikelschreiber davon Kenntnis erhalten habe!!


34 Der Brief ist am 12. oder 13. Juni geschrieben; das in Neumanns ›Erinnerungen‹ daruntergesetzte Datum des 15. Juni ist unrichtig, wenn es auch wegen S. 181 desselben Buches scheint, als müsse im Original die Ziffer 3 nicht deutlich geschrieben sein, so daß sie für eine 5 gelesen werden konnte.


35 Verkürzt nach Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 177/78.


36 An diesen Auslassungen verliert der Leser nicht das mindeste, da es sich nur um Anekdoten handelt; wenn ihm daran etwas gelegen ist, kann er die hier übergangenen Einzelheiten im Original der Neumannschen ›Erinnerungen‹, S. 186/89, nachlesen.


37 Neumann schreibt zwar konsequent, wenn von diesem Tage die Rede ist, 21. Juli; doch steht er damit in offenem Widerspruch zu seinen eigenen Angaben. So hat z.B. die an ihn ergangene telegraphische Einladung den Wortlaut: ›Bitte Dienstag ein Uhr bei uns zu speisen.‹ Der 21. Juli aber war gar kein Dienstag, sondern ein Donnerstag. Außerdem ist der betreffende 19. auch dadurch für uns unwiderleglich fixiert, daß die Ankunft Neumanns unmittelbar nach der auf diesen Tag fallenden Abreise Wolzogens in den skandinavischen Norden vor sich ging.


38 Vgl. Liszts Brief an die Fürstin Wittgenstein vom 18. Juli 1881 (Liszts ›Briefe‹, Band VII, S. 322) und S. 503 dieses vorliegenden Bandes!


39 Vgl. über diesen Punkt die briefliche Äußerung an Neumann vom 20. Juni: ›Im Betreff der käuflichen Überlassung des Bayreuther Inventars für den »Ring des Nibelungen« habe ich von keinen anderen Schwierigkeiten zu berichten, als die in meinen eigenen Bedenken liegen; nämlich gegenüber der großmütigen Gesinnung des Königs von Bayern, welcher dieses Inventar nicht selbst für München abverlangte, um es für Bayreuth allein erhalten zu wissen. Da ich jedoch wohl sehr spät – etwa am Ende der Tage – daran gehen möchte, noch einmal den »Ring« auf meine Weise aufzuführen, bis dahin auch manches am Inventar verderben möchte, so geht der Rat meines Verwaltungsrates dahin, Ihrem Wunsche zu entsprechen‹ (Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 184).


40 Neumann bleibt wiederum bei seinem 21. Juli!


41 ›Wie erhaben das ist!‹ schrieb er von Berlin aus in höchstem Enthusiasmus an die Gräfin Latour. ›Es ist ein Meisterwerk ohnegleichen; es ist der Gipfel des Ruhmes und des Triumphes für Wagner.‹ Ähnlich enthusiastisch hatte er sich schon am 17. Dezember 1876 nach einer Berliner Aufführung der ›Meistersinger‹ geäußert. ›Das ist ein Wunderwerk: von einem Reichtum, einer Fälle, die wahrhaft erstaunlich sind. Immer mehr und mehr versinke ich in Bewunderung. Ich kann Ihnen sagen, das war ein großer Abend.‹ Vgl. Schemann, ›Gobineau und die deutsche Kultur‹ (Leipzig, 1910, Werdandi-Bücherei Nr. 3), S. 31.


42 Diese fliegenden Scherzreden über die Lyrik, unter größter Heiterkeit wie die Funken eines Feuerwerks von dem einen zum andern hinübersprühend, gehören übrigens der Zeit nach erst dem zweiten Besuche Gobineaus (Mai 1882) an.


43 ›Graf Arthur Gobineau, ein Erinnerungsbild aus Wahnfried‹ (Stuttgart, 1907), S. 25 f.


44 Dieses mit der obigen handschriftlichen Widmung Gobineaus versehene Exemplar, hatte das Unglück, wenige Monate später vom Verfasser vorliegenden Werkes, dem es anvertraut war, auf der Durchreise in seine nordische Heimat in Königsberg auf offener Straße verloren zu werden. Habent sua fata libelli! Alle durch das dortige Polizeipräsidium angestellten Nachforschungen waren erfolglos; man kann kaum annehmen, daß es in die Hände eines ›Wissen den‹ geraten sei – sonst wäre es doch wohl an seinen Ausgangspunkt zurückgelangt! Vielleicht taucht es doch – an der Widmung kenntlich – nach dreißig Jahren noch irgendwo wieder auf?


45 L. Schemann, ›Meine Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 25/26.


46 ›Die Tugend des Stolzes ist zart und duldet keinen Kompromiß, wie durch Vermischung des Blutes: ohne diese Tugend sagt uns aber die germanische Rasse – nichts. Denn dieser Stolz ist die Seele des Wahrhaftigen, selbst im dienenden Verhältnisse Freien. Dieser kennt zwar keine Furcht, aber Ehrfurcht, – eine Tugend, deren Name selbst, seinem rechten Sinne nach, nur der Sprache jener ältesten arischen Völker bekannt ist; während die Ehre selbst den Inbegriff alles persönlichen Wertes ausdrückt, daher sich nicht geben, noch auch empfangen läßt, wie wir dies heutzutage in Übung gebracht haben, sondern als Zeugnis göttlicher Herkunft den Helden selbst in schmachvollstem Leiden von jeder Schmach unberührt erhält‹ usw. (Ges. Schr. X, S. 355).


47 Schemann erinnert hierbei an die genau hierzu stimmenden Worte Goethes über Byron, wonach dessen ›hoher Stand als englischer Peer ihm sehr nachteilig gewesen sei: bei einer geringeren Geburt und minderem Vermögen hätte ihm sein Hang zum Unbegrenzten bei weitem nicht so gefährlich werden können‹ (Schemann, ›Erinnerungen‹, S. 42).


48 Schemann drückt sich an jener Stelle (›Erinnerungen‹, S. 50) weit stärker aus.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 454-494.
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