XII.

Vollendung des zweiten Aktes.

[494] Beginn der Instrumentation des zweiten Aktes. – Levi als ›Parsifal‹-Dirigent. – Karl Brandt. – Studien mit den Sängern. – Heinrich v. Stein als Gast. – ›Heldentum und Christentum.‹ – Ausflug nach Dresden. – Endgültiger Vertrag mit der Schottschen Firma über ›Parsifal‹. – Besuch Liszts. – Verhandlungen mit Neumann. – Vollendung des zweiten Aktes. – Untersuchung durchDr. Leube. – Aufbruch nach Palermo.


Schwer wiegt mir der Waffen Wucht!

Richard Wagner.


Der endlich herannahende Sommer traf die Bayreuther Kolonie in voller Wirksamkeit. Während der Meister selbst mit der Instrumentation seines zweiten Aktes beschäftigt war, hatte das verflossene halbe Jahr auch die Arbeiten an den Dekorationen und Maschinen rüstig fortschreiten lassen. Nach den schön gelungenen Skizzen der Dekoration des ersten Aufzuges und des Zaubergartens arbeiteten die tätigen Gebrüder Brückner in Coburg; am 20. Juni traf Maschinendirektor Karl Brandt von Darmstadt aus in Bayreuth ein, um während der nächsten Monate seine volle Arbeitskraft hier am Orte selbst der Herstellung der inneren Theatereinrichtungen zu widmen, und Leois Besuch stand in naher Aussicht. Wenn wir trotzdem das ernste Brünnhildewort: ›Schwer wiegt mir der Waffen Wucht!‹ an die Spitze dieses Kapitels gestellt haben, so geschah es, weil der Meister selbst es gerade um diese Zeit einmal von sich brauchte, im Hinblick auf alles, was ihm, dem Achtundsechzigjährigen, noch bevorstand. ›Ich freue mich auf die Zeit, wenn der »Parsifal« fertig ist und ich nur noch Symphonien und Aufsätze schreibe.‹ In bezug auf die letzteren tat es ihm wohl zu sehen, daß er sich doch jetzt zuweilen in politischen Blättern zitiert fand, und so gab er sich gern auch der Hoffnung hin, daß ›aus unseren kleinen Blättern etwas würde‹, – so gering auch jetzt noch ihr Einfluß sei und so spürbar der Mangel an wirklich bedeutenden Mitarbeitern, um ›all die Götzendienerei unserer Zeit aufzudecken.‹ [494] In bezug auf die Klingsorszene, die ihn gerade jetzt wieder beschäftigte, sprach er seine Aversion gegen Zauberer und böse Wesen aus: diese würde ihn vielleicht doch noch dazu treiben, die ›Sieger‹ zu dichten und zu komponieren, weil dort alles sanft sein würde. Im übrigen waren seine Gedanken viel mit seiner durch Gobineau in ihm angeregten nächsten Abhandlung ›Heldentum und Christentum‹ beschäftigt, zu welcher er bereits den Plan entwarf.

Wäre ihm dies alles als Einsamem möglich gewesen? Wäre es ihm möglich gewesen ohne die hochsinnig Edle, aus deren Händen er gleichsam täglich das Leben empfing, ohne die traute häusliche Umgebung, die er sich mit ihrer Hilfe geschaffen und die ihm, alle Wunden heilend, welche die Berührung mit dem Draußen ihm einzig zuzog, eine Welt für sich geworden war? Hier waren die Geister aller großen Ahnen zu Hause, mit denen er in der Lektüre und bei häuslicher Pflege der göttlichsten aller Künste wie mit Gegenwärtigen verkehrte; hier genoß er in vollster Unmittelbarkeit jenes Glück eines rein menschlichen Daseins, zu dem er von jeher die größte Befähigung in sich trug, welches dem Verlangenden so spät erst, dafür aber jetzt im Kreise der Seinen um so reicher und blühender vergönnt war: die Erquickungen eines wahrhaft vorbildlichen Familienlebens, wie es gerade in Wahnfried sich entfaltete. Immer neu blieb seine Vaterfreude an Siegfried, der ihn nach der Heimkehr vom ersten Berliner Zyklus mit strahlendem Auge und unverwandt auf ihn gerichtetem Blicke empfangen und dann den letzten Zyklus mit klaren Rückerinnerungen an 1876 miterlebt hatte. Es war sicherlich nicht um Herrn Neumanns, vielmehr um seiner Kinder willen geschehen, daß er zum zweitenmal aus der Ruhe seines Asyls sich herausriß, und wenn die Stillosigkeiten der Aufführung ihn oft schmerzlich verstimmten, so erfreute er sich dagegen an der Reihe dieser blonden Kinderköpfe war ihm an der Logenbrüstung. Mit der ihm eigenen, unter des Vaters Augen erlangten Sicherheit und Selbständigkeit hatte der zwölfjährige Siegfried sich, ganz wie er es in Neapel, Siena, Florenz usw. getan, auf eigene Hand auch die Reichshauptstadt angesehen, und so kam es am Vormittag eines der Aufführungstage vor, daß seine Mutter, mit ihrer ältesten Tochter das Gewerbemuseum und darauf das neue Museum besuchend, am letzteren Orte unvermutet und ohne Verabredung mit ihm zusammentraf. An seinem letzten Geburtstag (6. Juni) hatte es sich bei Tische darum gehandelt, wer ihm den Toast ausbringen sollte; Feustel erhob sich von seinem Platze, um mit der Wärme des besten aller Hausfreunde diese angenehme Pflicht zu erfüllen, wurde aber nach den ersten Worten durch den erschrockenen Ruf des Gefeierten unterbrochen: ›Ich habe noch keinen Champagner!‹ Am gleichen Tage empfing er von seinem Vater die erste goldene Kette für seine Uhr (dieser hatte sie tags vorher mit Joukowsky eingekauft, wiewohl es Pfingstsonntag und die Läden geschlossen waren), aber als der Meister bemerkte, es [495] sei eigentlich ein Unsinn, daß er so früh schon eine goldene Kette habe, erwiderte er unbedenklich: ›Du kannst sie vielleicht zurückgeben.‹ Seine Natürlichkeit und Lebhaftigkeit, dabei gleichmütige Besonnenheit, traten früh als charakteristische Eigenschaften hervor; der Meister rühmte diese glückliche Mischung als einen ›sanften Willen‹; auch seine Art musikalisch zu sein, nämlich alles zu pfeifen, ohne Lust zum Klavierspiel, erinnere ihn ganz an seine eigene Jugend. Von den Mädchen sagte er, sie seien nun keine Kinder mehr; die Knospe sei zur Blume geworden. Als einen empfindlichen Verlust für das häusliche Leben empfand er das von ihm gebrachte Opfer, die älteste Tochter Daniela, um sie mit ihrem Vater in Verbindung zu erhalten, für einige Zeit nach Weimar zu schicken, nachdem er sie erst kürzlich von Berlin aus nach mehrmonatiger Abwesenheit mit sich heimgebracht.1

Seine Freude daran, von Lebendigem umgeben zu sein, haben wir schon wiederholt hervorgehoben: seit dem letzten 22. Mai waren es insbesondere zwei weiße Pfauen, ein Geburtstagsgeschenk Wolzogens, deren eigentümlicher Ruf und fremdartiges Aussehen ihm viel Vergnügen machte: inmitten alles sonstigen bunten Lebens im Vogelhaus bezeichnete er sie als ›erhabene Wesen‹, die sich dem übrigen Lebenden gegenüber ausnähmen, ›wie der Geist von Hamlets Vater‹. Ein besonderes Blatt aber verdienen hier wiederum die Hunde von Wahnfried, deren wir zuletzt beim plötzlichen Tode der armen Brange gedachten, den in Neapel niemand den Mut hatte, ihm mitzuteilen und den er dann doch auf geheimnisvolle Weise erriet. Der gute Marke war dadurch Witwer geworden, und es dauerte eine Weile, bis er wieder Gesellschaft erhielt. Er besaß des Meisters ganze Liebe, der ihn gern ein ›Urthema der Natur‹ nannte, ›ohne Verzierungen‹. Beim Zurückdenken an Neapel, und wie nichts anderes darauf gefallen wolle, wegen der mächtigen Linienführung, verglich er Marke mit dem Vesuv. ›So ein Wesen, zugehörig, traulich fremdartig!‹ Er erklärte die Freude an seiner Schönheit daraus, daß da alles Natur sei: wenn man seinen Pelz anfühle, sei es, als ob man unmittelbar in die Natur tauchte Viel Vergnügen hatte er auf Spaziergängen an seinem ›ondulanten‹ Gange, in welchem, wie er sagte, noch die Urform des Wurmes enthalten sei. Seine Suppe war ihm ein treues Abbild der ›deutschen Bildung‹, so sei bei den Deutschen alles konfus durcheinander: hier eine Karotte, da etwas Kohl; alles gute Bestandteile, aber keine Bestimmtheit; über alles eine laue Brühe, nicht kalt nicht warm. In den nebligen Dezembertagen beobachtete er auf Spaziergängen mit Interesse sein [496] freudiges Spüren: ›was das für ein Dichter ist, Ossian im Nebel der Vergangenheit! Er ist ganz nur im Taumel des Spürens!‹ Zur Weihnachtszeit war es seit den Triebschener Zeiten Gewohnheit, daß auch die Hunde ihre Bescherung erhielten: der Weihnachten für Marke machte auch ihm selber Freude. Als kurz darauf auch die gute ›Kunde‹ (Kundry) zu Faf auf das Festspielhaus gebracht wurde, schrieb er einen eingehenden ›Hundebrief‹ nach Bremen, um auch in dieser Beziehung für Marke zu sorgen; es dauerte etwa vierzehn Tage, bis Molle (Molly), ein schönes gutes Tier, aus der dortigen Hundezüchterei eintraf, die sich gar bald an die neue Heimat gewöhnte. Wenn Siegfried auf den festgefrornen Teichen des Hofgartens als geübter Schlittschuhläufer seine Bogen schnitt, nahmen sich die beiden Hunde inmitten des Schnees gar erheiternd aus: sahen sie aber den Meister und seine Gemahlin herankommen, so liefen sie ihnen über die Brücke entgegen. Einmal mußte Marke zu Hause bleiben, da er sich einen Glassplitter in den Fuß getreten, und Molly erwies sich bereits als genügend zutunlich, um allein die Begleiterin auf dem Gange zu sein. Als der alten Frau von Aufseß (S. 287) ihr dreizehnjähriger Hund wegen irgendeiner Behördenverfügung von der Polizei weggenommen wurde, geriet er in die äußerste Empörung: ›ich wüßte nicht, was ich täte, wenn einer mir in das Haus käme, um mir einen Hund wegzunehmen‹. Die Anhänglichkeit seiner schönen Tiere an ihn war grenzenlos; wer ihren Äußerungen zusah, wenn sie ihn oft vor Freude fast umwarfen, war wohl geneigt, darin einen geheimen wunderbaren Zusammenhang seiner Person mit der Natur selbst zu erkennen. Bei einem Besuch in Joukowskys Atelier mit beiden Hunden sah sich Marke förmlich die Bilder an, die rings auf den Staffeleien und an den Wänden standen oder hingen. Auf einem Spaziergang die Konnersreuther Chaussee entlang erfreute es ihn, wenn ein Bauer die beiden Hunde betrachtete und laut rühmte. Konflikte mit den Unterbeamten des Stadtgärtners gab es zuweilen, wenn ihn die beiden Tiere in den Hofgarten begleiteten. Daß ihm dies schon vor Jahren, nämlich im Mai 1876 begegnet sei, erfahren wir aus einem kürzlich veröffentlichten Briefe aus dem Nachlaß des Kgl. Hofgärtners Eisenbarth.2 ›Daß meine Hunde‹, heißt es darin, ›seit der Einrichtung der Beete im Hofgarten dortselbst nicht mehr herumlaufen dürfen, verstehe ich von selbst; wenn ich aber mit ihnen von meiner Gartentüre bis an das linke Wiesentor strikte auf dem Wege, ohne sie erst für diese kurze Strecke an Leinen zu binden, mich begebe, so bitte ich dem jungen Burschen mit dem [497] Stöckchen zu bedeuten, daß er in Zukunft mit Beschwerden, als liefen meine Hunde im ganzen Garten herum, mir nicht mehr nachlaufe! Wenn die Hunde je im »Hofgarten« »herumlaufen« gesehen werden, erkläre ich mich, ohne die Reprimanden jenes Burschen mit dem Stöckchen, zu jeder Strafzahlung bereit. Jene genau bezeichnete Strecke bis zum äußeren Wiesentor von meinem Garten aus wird mir aber wohl die Bayreuther Bürgerschaft, wie Se. Majestät der König, ungestraft zu passieren vergönnen.‹ Daß die Konflikte aber trotzdem nie ganz aufhörten, bezeugt ein dokumentarisch beglaubigter kleiner Vorfall aus eben diesem letztverflossenen Frühjahr (4. März 1881), in welchem wieder ein ähnlicher ›Bursch mit dem Stöckchen‹, diesmal unter dem Titel eines ›Eisaufsehers‹, eine Rolle spielt. Als die Hunde dem ganz allein auf dem Eise des Schlittschuhlaufs pflegenden Siegfried nachliefen, wurde dieser plötzlich vom Wächter mit der üblichen Grobheit eines ungebildeten Würdenträgers angeschrien, die Hunde vom Eise zu nehmen. Dies war umso unpassender, als der Meister, in dessen Begleitung die Tiere gekommen waren, selbst gegenwärtig und derartige Ermahnungen zu ertragen weder willens, noch imstande war, da der Ärger über ein derart unziemliches Benehmen ihm vielmehr sogleich einen seiner Brustkrämpfe verursachte. Er verwies dem Manne seine Unverschämtheit und, da er solche nicht länger zu dulden gesonnen war, setzte er den Fall dem Hofgärtner brieflich auseinander. ›Um das Verhältnis, welches nun seit Jahren zwischen uns besteht, nicht länger mehr fortdauern zu lassen, schlage ich Ihnen vor, sich an die Ihnen vorgesetzte Königliche Hofbehörde zu wenden, um von ihr die Genehmigung dafür zu erlangen, daß Sie die Tafel an den Eingängen des Kgl. Hofgartens, welche nicht geführte Hunde mitzubringen verbietet, für die Winterzeit wegnehmen dürfen, da das Verbot doch nur für die Zeit einen Sinn haben kann, wo der Garten gepflegt und bearbeitet wird. Sie werden dadurch diejenigen, welche sonst mit schönen und kostspieligen Hunden frei in der Stadt umhergehen können, verbinden, da an der Leine geführte Hunde immer böse sind und zu Raufereien Anlaß geben. In dieser Lage wird sich z.B. auch der Herr Regierungspräsident befinden, der beim Begegnen mit meinen Hunden gar keine Unannehmlichkeiten mehr hat, seitdem er seinen Hund auch frei gehen läßt. Sind Sie nicht gesonnen, um die bezeichnete Erlaubnis einzukommen, so werde ich dieses tun, kann aber dann nicht dafür bürgen, ob dies ganz nach Ihren Wünschen ausfallen würde.‹3 Bereits andern Tages[498] empfing er die höfliche Erwiderung des Hofgärtners, daß er sich an die ihm vorgesetzte Behörde, den Kgl. Obersthofmarschallstab in München gewandt habe, und der Meister sprach sich darüber befriedigt aus: ›Man sieht doch, daß man für die Leute kein Schund ist.‹ Und auch die Antwort aus München ließ nicht lange auf sich warten, da schon am 12. März der Obersthofmarschall Graf Malsen daselbst kurz und bündig verfügte: ›Der Eisbahnaufseher sei wegen unhöflichen Benehmens gegen das Publikum zu entlassen; von der strengen Durchführung des betr. Paragraphen aber vorläufig Umgang zu nehmen, in Erwartung dessen, daß Adressat das Richtige treffen werde, damit der Kgl. Hofgarten zur Freude und Ergötzung der Bevölkerung nach den Intentionen Sr. Majestät des Königs diene.‹ So hatte der Protest gegen Eigenmächtigkeit und Roheit nicht allein dem Meister und seinen Hunden, sondern auch der übrigen Einwohnerschaft zum Schutz gegen die Übergriffe ungebildeter Unterbeamten gereicht.

Ein schönes Tier war auch der Festspielhaushüter Fafner, ein prächtiger Bernhardiner und treuer Wächter des ihm anvertrauten Gebäudes, dem Meister doppelt lieb durch seine Schönheit und seinen Adel. Daß ihn dieser bei einem Frühjahrsbesuch im ersten Augenblick nicht als Herrn des Hauses erkannte, gemahnte ihn an Siegfried und Wotan. Nach der Rückkehr vom Berliner Ausflug geschah es, daß Molly Junge geworfen hatte, sie aber verließ, um ihm nachzugehen. Die kleinen Hündchen machten viel Spaß, die Kinder hatten bereits Namen für sie. Er selbst ergötzte sich an ihren drolligen Bewegungen, als sie alle aus der Kiste entschlüpften, in der sie mit der Mutter gebettet waren; und als sie mit anderthalb Monaten, wenn das Abendbrot bei gutem Wetter im Freien eingenommen wurde, schon zu Tisch betteln kamen, unterhielt ihn dies sehr: ›sie wissen schon‹, sagte er, ›was »Souper« heißt‹. Um 5 Uhr morgens war einmal seine Stimme in größter Aufregung zu vernehmen: er hatte vom Badezimmer aus gesehen, wie ein ungeschickter Diener eines der kleinen Tiere unbemerkt in die Grube hatte fallen lassen! Er rief den Gärtnergehilfen, und dieser zog es vorsichtig mit dem Rechen heraus, wobei es sich denn als unbeschädigt erwies. Wenn er die spielenden Hündchen übereinanderliegen sah, verglich er sie dem Amorettenhausen in der Venusbergszene. Als er aber eines Tages gewahrte, wie Marke aus dem großen Bassin inmitten des Gartens ein Fischchen fing, erregte dies ihn sehr, er bemühte sich vergeblich es zu retten und war ernstlich dadurch verstimmt und deprimiert: Frieden sollte in seinem Reiche herrschen, wie im Gralsgebiet. – Sehr betrübte ihn auch, gerade um die Zeit von Danielas Abreise nach Weimar, der Tod seines guten Gärtners Rausch, nachdem dieser wochenlang in schwerer Krankheit im Spital gelegen, von wo er eines Abends um 10 Uhr im Fieber halb bekleidet nach seiner Gärtnerstube in Wahnfried zurückgekehrt und von [499] Siegfried und dem Diener Georg für eine Geistererscheinung gehalten worden war.4

Am Sonntag, dem 26. Juni, traf Levi zu mehrtägigem Verweilen ein: es gab vielerlei Besprechungen wegen der nächstjährigen Aufführung, insbesondere auch der Besetzung des Chores. Abends spielte Levi einiges von Bach, u.a. den letzten Chor der ›Matthäuspassion‹, und der Meister sprach von seiner alten Vorliebe für den einen Chor in Mendelssohns ›Paulus‹, nach der Steinigung des hl. Stephanus Daran anknüpfend hob er hervor, in welcher Dekadence wir uns befänden: Mendelssohn habe noch Einfälle gehabt; darauf Schumann, ein närrischer Kerl; und nun Brahms ohne irgendetwas. ›Fast jeden Abend‹, berichtet Levi, ›spielte Josef Rubinstein aus dem sog. roten Buche (einer »Parsifal«-Skizze, in welcher die Singstimmen vollständig ausgeführt, das Orchester aber nur auf 2–3 Systemen angedeutet war), und der Meister trug dazu die Gesangspartien vor. An den Vormittagen arbeitete er in dem großen Saale an der Instrumentation.‹ Levi erwähnt auch im gleichen Zusammenhange, daß er ›oft das Glück hatte, neben ihm sitzen und ihm zuschauen zu dürfen‹, wozu die ›Bayreuther Blätter‹ aus genauester Kenntnis mit Recht bemerken, ein solches ›Zuschauen‹ bei der Arbeit an der Instrumentation des ›Parsifal‹ könnte wohl höchstens nur einmal in einem Ausnahmefall auf ganz kurze Zeit stattgefunden haben: etwa bei Gelegenheit einer Abrufung am Schlusse der Arbeitszeit.5 ›Am 28. Juni hatte ich das Mißgeschick, mich in der Stadt zu verspäten; ich kam zehn Minuten nach 1 Uhr, der gewohnten Essensstunde, ins Haus zurück. Der Meister erwartete mich mit der ganzen Familie in der Halle, die Uhr in der Hand, und sagte zu mir in sehr feierlichem, ernstem Tone: »Sie kommen 10 Minuten zu spät: Unpünktlichkeit kommt gleich nach Untreue!6 Wer andere auf sich warten läßt, ist ein Egoist.« Dann wieder im freundlichsten Tone: »So – nun gehen wir zum Essen, doch nein, lesen Sie zuvor den Brief, den ich auf Ihren Tisch gelegt habe.« [500] Ich ging in mein Zimmer und fand dort einen anonymen Brief von München, in welchem mein Charakter und meine Beziehungen zu Wahnfried in der schmählichsten Weise verdächtigt waren, und in welchem der Meister beschworen wurde: sein Werk rein zu erhalten und es nicht von einem Juden dirigieren zu lassen.‹ Die Wirkung davon auf Levi war eine ganz niederschmetternde; ihm schienen solche anonyme Angriffe, denen der Meister selbst stets ausgesetzt gewesen war, etwas ganz Neues, bisher ihm persönlich noch nicht Begegnetes zu sein. Bei Wagner hingegen mußte mit allem reiner Tisch gemacht und aufgeräumt werden; er liebte die Dinge nicht zu vertuschen, sondern stets offen zu behandeln. Aufs tiefste verstimmt und entrüstet erschien Levi an der Mittagstafel, konnte aber kein Wort sprechen. ›Auf die Frage des Meisters, warum ich so still sei‹, fährt er in seiner Erzählung fort, ›erwiderte ich, daß ich nicht begriffe, warum er den Brief nicht einfach zerrissen, warum er ihn mir zum Lesen gegeben habe. »Das will ich Ihnen sagen«, antwortete er, »hätte ich den Brief niemandem gezeigt, ihn vernichtet, so wäre vielleicht etwas von seinem Inhalt in mir haften geblieben, so aber kann ich Sie versichern, daß auch nicht die leiseste Erinnerung an ihn mir bleiben wird. Wenn Sie nach München zurückkommen, geben Sie Herrn ... eine Ohrfeige und sagen ihm, sie komme von mir. Und damit sei die Sache ein für allemal abgetan.«7 Trotzdem war die Stimmung bis zum Ende der Tafel eine sehr schwüle. Nach Tisch packte ich meine Sachen zusammen und fuhr, ohne mich vom Meister zu verabschieden, nach Bamberg. Von dort schrieb ich ihm am 29. Juni einen ausführlichen Brief, welcher in der dringenden Bitte gipfelte, mich der Direktion des »Parsifal« zu entheben. Am 30. erhielt ich das Telegramm: »Freund, Sie sind auf das ernstlichste ersucht, schnell zu uns zurückzukehren; es ist die Hauptsache schon in sichere Ordnung zu bringen.« Als ich daraufhin nochmals dringend bat, mich zu entlassen, kam der Brief Wagners vom 1. Juli, welcher mich natürlich veranlaßte, wieder nach Bayreuth zurückzukehren.‹ Obgleich dieser Brief an anderem Orte8 leicht nachgelesen werden kann, können doch wir uns nicht enthalten, ihn trotzdem auch an dieser Stelle nochmals zum Abdruck zu bringen, da er nicht minder die Herzensgüte des Schreibers, wie andererseits auch seinen festen Willen zum Ausdruck bringt, den einmal von ihm Erwählten nicht wegen einer eingetretenen [501] Konfusion fallen zu lassen. Er lautet demnach: ›Lieber bester Freund! Alle Ihre Empfindungen in Ehren, so machen Sie doch sich und uns nichts leicht! Gerade daß Sie so düster in sich blicken, ist es, was uns im Verkehr mit Ihnen etwa beklemmen könnte! Wir sind ganz einstimmig, aller Welt diese Sch... zu erzählen, und dazu gehört, daß Sie nicht von uns fortlaufen, und vollends Unsinn vermuten lassen. Um Gotteswillen, kehren Sie sogleich um und lernen Sie uns endlich ordentlich kennen! Verlieren Sie nichts von Ihrem Glauben, aber gewinnen Sie auch einen starken Mut dazu! Vielleicht gibt's eine große Wendung für Ihr Leben für alle Fälle aber sind Sie mein »Parsifal«-Dirigent!‹

Inzwischen hatte der Meister in Wahnfried den Besuch von Marianne Brandt und Hans Richter nebst Gemahlin empfangen. Ersterer bot er die Kundry an, und es wurde abends aus ›Tristan‹ und ›Götterdämmerung‹ musiziert, zu nicht eben großer Zufriedenheit des Meisters, der gegen alles, was seine Werke betraf, melancholisch gestimmt blieb. Richter kam, wie er zu kommen und zu gehen pflegte, nur auf kurze Zeit; er erheiterte das Mittagsmahl durch unzählige Anekdoten, erzählte vom beispiellosen Erfolge der neuen Venusbergmusik in London und war des Gelingens der zwiefachen Londoner Theaterunternehmung (Neumann-Francke) ganz sicher. Triebschener Erinnerungen waren im Verkehr mit ihm allen immer das Liebste. Der Vorfall mit Levi wurde, wie sich's gebührte, ganz offen besprochen9 und abends mit Marianne Brandt der zweite Akt der Kundry-Partie durchgenommen, nicht ohne abermalige Niedergedrücktheit des Meisters durch das Mißverhältnis der von ihm gebotenen Aufgaben und der Menschen, die sie zu leisten hatten. Kaum war Richter gegangen, so traf Levi ein: es gab bei Tische eine durchaus unbefangene, ja selbst sehr heitere Stimmung. Als Levi erzählte, er sei im Dom zu Bamberg gewesen, und seine Neigung zum Katholizismus zu erkennen gab, sprach der Meister sehr schön von der Einfachheit und Innigkeit der kirchlichen Akte in der protestantischen Kirche und ließ ihn verstehen, daß er daran gedacht habe, ihn taufen zu lassen und mit ihm gemeinschaftlich das Abendmahl zu nehmen. Trotz mancher kleiner Ärgernisse von außen her, unter denen wieder Herr Batz eine Rolle spielte, wie auch der Anspruch des guten Heckel, vom Meister eigenhändige Briefe zu erhalten,10 ferner die zeitweilige Abwesenheit Danielas und selbst Joukowskys, der sich kurz vor ihrer Abreise [502] seinerseits auf einen mehr als vierzehntägigen Ausflug von Bayreuth wegbegeben hatte11 – waren doch die wenigen Tage, die Levi nach der Unterbrechung in Bayreuth zu verleben hatte, für diesen selbst von höchster Bedeutung, und er fühlte sich gerade durch diesen Zwischenfall noch viel enger als je an den Meister geschlossen, der zuweilen ganz göttlich strahlend aussah.

Während dieser Zeit von Danielas und Bülows Verweilen in Weimar hatte Liszt (2. Juli) den Unfall, daß er auf seiner eigenen Treppe in der Hofgärtnerei ausglitt und einige Stufen herunterstürzte. So unbedeutend der Sturz an sich auch war, so groß war doch die Sorge um ihn für alle, die ihn liebten, und so drangen die Nachrichten darüber beunruhigend auch bis nach Wahnfried. Wir schalten daher an dieser Stelle den weiter ausblickenden Bericht einer ergebenen Freundin, Adelheid von Schorn, über diese Begebenheit ein. ›Anscheinend hatte er sich nichts getan, doch der Arzt wurde geholt und fand eine Schramme am rechten Oberschenkel. Liszt machte sich natürlich nichts daraus, fühlte aber doch bald, daß der ganze Körper geprellt war, und fügte sich darein im Bett zu bleiben.12 In den ersten Tagen leisteten ihm Bülow und dessen Tochter Gesellschaft; sie übernahm die Pflege ihres Großvaters, bis sie nach einigen Tagen mit ihrem Vater abreiste. Dann nahm ich ihre Stelle ein und war fast den ganzen Tag bei dem Kranken. Ich las ihm vor, schrieb für ihn und ließ mir diktieren. Ich hatte den Krankentisch meiner Mutter in die Hofgärtnerei bringen lassen und versuchte es Liszt bequem und behaglich zu machen, um ihn möglichst lange im Bett zu halten. Das waren wieder solche Tage, wo man seine ganze milde, edle Natur fühlte; er folgte geduldig allen ärztlichen Verordnungen, trank keinen Cognak und versuchte zu arbeiten, sowie er etwas besser war. Schon nach einigen Tagen stand er auf und hielt seine Stunden; er mußte freilich dabei in einem bequemen Stuhle liegen. – Der Sturz hinterließ keine augenblicklichen bösen Folgen; aber von da an bereitete sich eine Veränderung in seinem ganzen Wesen vor. Mochte die Krankheit durch die Erschütterung raschere Fortschritte machen, oder war sein unregelmäßiges Leben nicht mehr geeignet für den geschwächten Körper kurz, er wurde körperlich und geistig ein anderer. Seine Figur wurde immer stärker, sein Gesicht war oft aufgeschwemmt, seine Füße immer geschwollen, und seine schönen, feinen Hände[503] bekamen ein ganz anderes Ansehen. Auch geistig wurde er ein anderer, denn er hatte sich oft so wenig in der Gewalt, daß jedes Wort ihn reizte, daß er gegen ganz unschuldige fremde Menschen heftig wurde, die keine Ahnung hatten, daß sie etwas Ungeschicktes gesagt‹ (woher sollten diese auch zu einer solchen Ahnung kommen, da unsere gesamte moderne Bildung beinahe ausschließlich auf der früh anerzogenen und zu möglicher Vollkommenheit ausgebildeten ›Ahnungslosigkeit‹ in bezug auf die Würde der Kunst und des Genius beruht, in welcher fast alle Leiden Wagners und Liszts begründet waren!). ›In der Zeit singen auch seine Augen an nachzulassen, so daß ihm Arbeiten und Lesen schwer wurde. Da er gewohnt war, sich immer zu beschäftigen, so griff er zum Kartenspiel: mit seinen Schülern oder Freunden spielte er stundenlang Whist – nicht um Geld natürlich – und brachte damit die Zeit herum. Alle diese Anzeichen des Altwerdens begannen im Sommer 1881 und steigerten sich von Jahr zu Jahr.‹13 Wie die ersten Nachrichten über den Vorfall in Wahnfried wirkten, läßt sich wohl am besten daraus beurteilen, daß Wagner, dem es nichts Unerfreulicheres und Traurigeres gab, als die Abwesenheit der Seinen, dennoch, da er die Stimmung seiner Gemahlin bemerkte, ihr selbst den Vorschlag machte, auf einige Tage nach Weimar zu fahren, – wozu denn schließlich ein zwingender Grund nicht vorlag, weshalb es auch nicht dazu kam.

Was sein eigenes körperliches Befinden betraf, so hatte er seit dem 21. Juni seine im Sommer gern gepflegte häusliche Kissinger Kur begonnen, indem er in den, Frühstunden zwei Gläser Rakoczy trank mit darauffolgender, Frühpromenade im Hofgarten, wonach dann erst in den Wipfeln, d.h. im Türmchen über dem Pavillon, in Gemeinschaft mit seiner Frau das Frühstück von ihm eingenommen ward, unter Sonnenschein und Vogelgezwitscher Vorübergehend gab es auch wohl große Hitze, so arg, daß ganz Wahnfried gezwungen war das Haus zu hüten und man erst um 7 Uhr abends sich ins Freie wagte, um im Pavillon das Abendbrot einzunehmen. Während der Kurzeit arbeitete er in der Regel wenig oder gar nicht an seiner Partitur, wodurch Levis Angabe, er habe ihn während der Arbeit neben sich im Saale als Zuschauer geduldet14 (so wenig sie als rein aus der Luft gegriffen betrachtet werden kann!) noch problematischer wird. Unterbrechungen der Kur kamen nur in ganz besonderen Fällen vor, als ihn z.B. eines Morgens infolge der gewohnten Frühdouche, mit welcher sein Tag begann, einer seiner Brustkrämpfe befiel. Solange das schöne Wetter anhielt, blieb er vielmehr mit großer Stetigkeit dabei, da sie ihm merkliche Linderung und Erleichterung verschaffte. Andererseits griff sie ihn dennoch wieder an, und die mancherlei peinlichen Entbehrungen, die sie ihm in diätetischer Beziehung auferlegte, [504] (z.B. durch das Verbot der Butter), stimmten ihn deprimiert und gereizt; er sehnte sich danach mit ihr fertig zu sein und wieder an seine Partitur zu gehen, von der er jetzt nur ab und zu eine halbe Seite zustande brachte. Trotz aller Angegriffenheit ordnete er dennoch einmal eine Fahrt nach Fantaisie mit den Seinen an, mit dem üblichen, Forellen-Abendbrot in der Dommayerschen Wirtschaft. Zweien Handwerksburschen, die er auf der Rückfahrt an seinem Wagen vorüberziehen sah, ließ er Siegfried nachlaufen, um ihnen unaufgefordert ein Almosen zuzustellen. Um die Mitte Juli war die eigentliche Kur beendigt; gegen den ihn immer noch quälenden Krampfhusten sollte er nach Dr. Landgrafs Verordnung ›Salzluft‹ gebrauchen. Auch durfte er nach längerer Zwischenzeit zum erstenmal beim Frühstück wieder die ungern entbehrte Butter genießen Leider trat gleichzeitig auch wieder die verhaßte Kälte ein. Er klagte über seinen Brustkramos, fürchtete, daß ihm die Douche nicht gut bekomme, und brauchte von der rauhen Bayreuther Luft abermals sein ›Gensdarmen‹-Gleichnis (S. 493). Ungefähr acht Tage hielt die Kälte an; als er es dann, immer durch sein Befinden geplagt, in den ersten schönen Tagen doch versuchte, seine Kur aufzunehmen, wurde das Wetter sofort trübe und regnerisch, so daß er gegen Ende Juli alles aufgab, um die gewohnte Zeit aufstand und an seine Partitur ging.

Man vergegenwärtige sich, daß es eben während dieser Zeit täglicher Beschwerden jeder Art war, daß seine (auf S. 489) geschilderte Begegnung mit Neumann stattfand, wobei er dessen Hand auf sein Herz legte, mit den von jenem angegebenen Worten: ›wenn Sie wüßten, wie es da arbeitet, wie ich da leide!‹ und Neumann ihm (bei seiner sonstigen Elastizität) nicht glauben wollte, daß er krank sei! Wie ein tüchtiger Unterbeamter, der einzig in seinem Ressort zu Hause, dabei aber – mit den nötigen Berufsscheuklappen versehen – keinen Blick für etwas außerhalb desselben Belegenes übrig hat. Tatsächlich hat ja der Meister gewiß bei keiner Gelegenheit von dem, in seinem Gebiete so tüchtigen und gerade nach jenem Zwischenfall zunehmend sich bewährenden Manne noch ein weiteres verlangt; aber der kleine unwillkürliche Zug, daß er, als Neumanns ›Ja‹ ausblieb, mit einer kurzen zuckenden Bewegung fast unmerklich dessen Hand von sich warf, sagt doch recht viel. Er hatte bei ihm, dem zuverlässigen Geschäftsmann, doch auch etwas menschliche Teilnahme vorausgesetzt. Wie und wo wäre aber eine solche von einem dieser Zeitgenossen zu erwarten gewesen, die in ihm doch mehr oder weniger immer und immer nur den ›Komponisten‹ berühmter Opern erblickten? Von Amerika war kurz vorher buchstäblich die Aufforderung an ihn gelangt, für das nächstjährige Fest eine ›unveröffentlichte Oper‹ zu liefern; von Italien aus der Antrag, eine Messe zu komponieren! An Lilli Lehmann hatte er die Aufforderung gerichtet, ihm bei Auswahl und Einstudierung seiner Blumenmädchen behilflich zu sein, die Sache ganz in ihre Hand zu nehmen (S. 425); [505] das längere Ausbleiben ihrer Antwort ängstigte und verstimmte ihn, da er bereits am 8. Juli nach dem Kalender vom nächsten Jahre die Termine der Aufführungen genau festgestellt hatte. Nicht minder das ewige Experimentieren mit seinen Werken an den Theatern. Charakteristisch dafür ist ein (bisher unveröffentlichter!) Brief an den Sänger Vogl vom 14. Juli, in dem er ihm mitteilt, der Königsberger Theaterdirektor quäle ihn mit dem ›Tristan‹ für ein Doppelgastspiel des Voglschen Ehepaares. ›Gott! er soll seinen Willen haben‹, heißt es darin, ›– aber aufrichtig, ist es nicht ein Unsinn? Mit dem Königsberger Orchester usw. diese schwierigste aller Partituren für ein paarmal mit Gästen herauszubringen? Ich halte es für Unsinn! Ich bitte, stehen Sie für Ihr Gastspiel davon ab, dann wird sich auch der Herr Direktor zur Ruhe begeben ...‹15 Demnächst, heißt es weiter darin, wolle er die Einladungen zur Mitwirkung für ›Parsifal‹ versenden: ›was Sie betrifft, bin ich im reinen‹. Doch liege die Kundry der Stimme seiner Frau nicht (die Unzertrennlichkeit von ›Heinrich und Therese‹ blieb ihm stets ein Gegenstand des Bedauerns!), es käme doch fast nur die Brandt in Betracht. Ein letzter Passus lautet: ›Ihr Neufundländerpärchen ist zur Abreise bereit!‹ Es handelt sich, wie man leicht sieht, um die Jungen Mollys (S. 499), jetzt im Alter von 11/2 Monaten, für deren Unterbringung bei wirklichen Tierfreunden und auf Grundstücken, wo sie Freiheit der Bewegung hatten (wie aufs Vogls Landgut am Starnberger See!) er stets in dem ihm zugänglichen Kreise nach Möglichkeit sorgte. Was die Königsberger Aufführung des ›Tristan‹ betrifft, so fand sie – fast gegen seinen Willen – dennoch statt; die verhängnisvolle ›Unzertrennlichkeit‹ aber bewirkte schließlich, daß Vogl trotz aller Hochschätzung seines Talentes den Parsifal überhaupt nicht zu singen bekam.

Inmitten aller zerstreuenden Ansprüche und Eindrücke von außen her blieb für ihn der geistige Verkehr mit allem Großen und Edlen in seiner täglich gepflegten Lektüre immer das Paradies, in welches er flüchtete, und aus welchem ihn nichts vertreiben konnte. Wie erwähnt, hatte ihm Gobineau bei seinem Scheiden sein, dem Meister noch unbekannt gebliebenes Buch ›Religions et philosophies dans l'Asie Centrale‹ zurückgelassen, das ihn bis gegen Ende Juni beschäftigte. Der ausführliche, ganz ungemein lebendige und anschauliche Bericht über alle die blutigen Vorgänge, welche die Entstehung und Ausbreitung der jüngsten persischen Religionsströmung, des Bâbismus, begleiteten, erfüllte ihn mit hohem Interesse und bildete wiederholt das Tischgespräch. ›Auch das Buch von Gobineau ist mir jetzt peinlich‹, sagte er einmal, ›wie alles, was Geschichte ist. Und ich bin immer für die Rebellen, jetzt z.B. für die verfolgten Bâbis.‹ Abends verlangte es ihn einmal nach ›Coriolan‹ und er sagte dazu: ›Das ist Rasse, das ist für Gobineau.‹ Lebhaft [506] ergriff ihn Gobineaus Auffassung des Theaters in dem Abschnitte über das ›persische Theater‹; und das darin mitgeteilte persische Stück ›les noces de Kassem‹ machte bei der abendlichen Lektüre die erschütterndste Wirkung. Am letzten Abend von Levis Besuch wurde eigens für ihn der soeben erwähnte Abschnitt über das persische Theater gelesen; am 6. Juli anläßlich eines leider kaum zweitägigen Besuches der liebsten und wertesten Freundin Frau von Schleinitz trug der Meister selbst den ersten Akt vom ›Arzt seiner Ehre‹ vor, weil die Gräfin geäußert hatte, sie habe bisher noch kein Interesse für Calderon fassen können. Unerschöpflich aber blieb Jacolliots großes Buch über das ›Elefantenland‹ Indien, und man merkte ihm immer das Gefühl völliger Ausspannung an, wenn er Einzelheiten daraus, z.B. eben von den Elefanten, erzählte, die er in ihrer enormen, immer wieder überraschenden Intelligenz mit dem Menschen verglich, mit dem Endresultat: der Elefant bleibe sich durch alle Zeiten gleich, während der bevorzugte Mensch und seine ihm eigene ›Kultur‹ zur Decrepitüre gelange. Oder von indischen Sitten, die durch den von der Priesterkaste mit den Menschen getriebenen Mißbrauch entsetzlich erschienen. ›Es gibt keinen größeren Triumph der Priesterschaft, als wie der unerschütterliche Glaube der Parias!‹ Der Brahmanismus, bei aller staunenswürdigen Großartigkeit seiner Ideen, sei herzlos, selbst in seiner Mitleidslehre, – alles nur Einsicht.16 Dagegen sprach er von der Schönheit der Indier, die bei ihnen jede bildende Kunst überflüssig gemacht habe; diese entstehe wohl immer nur als der Ausdruck der unbefriedigten Sehnsucht nach dem Schönen. Auch darin sei Jacolliot ihm angenehm, daß man viel darin überschlagen könne, ohne den Faden zu verlieren. Einzig empfand er es an dem so interessanten, reichhaltigen Buche peinlich und ärgerlich, die Franzosen in ihren Auslassungen über die Deutschen immer so kindisch und albern zu finden; selbst dann, wenn sie, wie z.B. Jacolliot, noch so angenehm und frei über alles übrige urteilen könnten. Es geschah, daß er bei der Siesta eine der entzückenden indischen Erzählungen mit solchem Wohlgefallen las, daß er sie [507] abends den Seinen wiedererzählte. Oder er las übersetzend daraus vor, wie z.B. die Pariasabel von dem, den Göttern für den Hühnersund dankenden und dadurch verratenen und erdrosselten Chalal. Wir entsinnen uns eines schönen Abends, an dem er seine Gemahlin dazu aufforderte, eine jener graziösen, kunstvoll ineinander verflochtenen und verzweigten indischen Tierfabeln vorzulesen. Ein anderes Mal wurde, auch zu der Kinder großtem Vergnügen, das Kapitel über den Elefanten gelesen. Mit der mehr oder weniger von zufälligen Anregungen abhängigen Auswahl poetischer Lektüre traf es sich nicht immer so glücklich. Als Erinnerung an ferne Jugendzeiten, in denen die große Sophie Schröder in Grillparzers Sappho auftrat und sein Stiefvater Geyer dazu eine köstliche Parodie für den häuslichen Kreis verfaßte, brachte er die ersten Szenen daraus zu – ganz unwillkürlich meist komisch parodierendem – Vortrag, und man mußte über die Plattheit der einst vielgerühmten Dichtung erstaunen. ›O Germanien!‹ rief er dazu aus. Aber auch mit Calderon traf es sich nicht immer gleich glücklich. Ein mit ›Über allem Zauber Liebe‹ angestellter Versuch führte nur dazu, von dem unwahren schauspielerischen Wesen darin angewidert zu werden. Man müsse, bemerkte dazu der Meister, sehr zwischen diesen mythologischen Sujets und den aus dem wirklichen spanischen Leben gegriffenen unterscheiden. Wie zur Erholung davon kamen dann am nächsten Abend die Elfen- und die Handwerkerszenen aus dem ›Sommernachtstraum‹ daran, zu allgemeinem Entzücken der Zuhörer, die sich ganz dem Zauber von Oberon und Titania hingeben durften. Von dem Streit zwischen beiden sagte er: ›den mußte man den Herren Franzosen zeigen, ob etwas Ähnliches an Zartheit und Feinheit je vorgekommen?‹ Immer weniger, selbst im bloßen Gedanken daran, wolle einem aber die Mendelssohnsche Musik dazu gefallen. Zettel – ein vollständiges Original, ein Wesen, wie sie eben bloß die Natur und Shakespeare hervorbringen! Und wie individuell seine Lustspiele alle, während bei Calderon die Charaktere sich wiederholen! Immer noch des zuletzt gelesenen Calderonschen Stückes eingedenk, ließ er an einem der nächsten Abende den Gesang der Odyssee: ›Äolus und Kirke‹ folgen. Der Eindruck war der herrlichste: wie die ›heiligen Täler‹ erwähnt wurden, wo Hermes dem Helden erscheint (›jetzo nähert' ich mich, die heiligen Tate durchwandelnd, schon dem hohen Palaste der furchtbaren Zauberin Kirke‹), rief er: ›wie erhaben das ist! Und was darin an Leid und Qual sich abspielt, die Natur bleibt immer objektiv, immer heilig!‹

Von der zweiten Hälfte Juli bis Anfang September weilte auch der treffliche Heinrich Porges in Bayreuth, hauptsächlich um mit Ferdinand Jäger den ›Parsifal‹ zu studieren. Dieser ausgezeichnete, würdige Freund, der ihm schon als ganz junger Mann in jenen fernen Wiener Tagen seine tätig begeisterte Ergebenheit bewährt und alle anderen strebenden Verehrer und Jünger Wagners an Anciennetät überragte, der in seinen (zunächst für den [508] König bestimmten, erst viel später veröffentlichten) Abhandlungen über ›Tristan‹ und ›Lohengrin‹ viel Tiefe und eindringendes Verständnis bewiesen, hatte sich trotzdem nur erst wenig als Mitarbeiter der ›Bayreuther Blätter‹ beteiligt, wozu er infolge seiner gründlichen musikalischen Bildung hervorragend befähigt gewesen wäre. Seine Betrachtungen ›über die Begründung der Kunst durch die Religion‹ gleich in den ersten Nummern der neubegründeten Zeitschrift waren leider infolge ihrer Beeinflussung durch unverdauliche Schellingsche Gedanken recht abstrus und ungenießbar ausgefallen, so daß ihm Wagner aufmunternd zurief: ›Sie müssen tätiger bei mir eingreifen, und zwar als Musiker – wir haben der Philosophen genug.‹17 Auch jetzt kam es vor, daß ihn Freund Porges beim Tischgespräch, ohne eigentlich viel zu sagen, durch eine seiner Äußerungen reizte, weil der Meister mit vollem Recht eine Anhänglichkeit an jenen Pseudophilosophen bei ihm supponierte. Er eiferte dagegen, daß, wenn ein Mann wie Kant, einen großen Gedanken ausgesprochen, nun Charlatanismus damit getrieben wurde, und mit diesem sich abzugeben, zeige, daß man unfähig sei, den Gedanken zu fassen. Er entfernte sich dann beim Kaffee, kehrte aber bald wieder, und das Gespräch nahm einen ruhigen Verlauf. Gegen Abend aber nahm er im engsten Kreise das Thema der ›Anhängerschaft‹ wieder auf. Der Heiligkeit könne man durch den Glauben teilhaft werden, ob auch des Genies? Das sei sehr zweifelhaft. Als wirklichen Anhänger Schopenhauers bezeichnete er dabei eben sich, der – selbst produktiv – seine eigenen Wege wandelte, und der Schopenhauer mindestens ebensoviel hätte bieten können, als dieser ihm.

Der Aufenthalt Karl Brandts in Bayreuth hatte nun auch bald sein Ziel erreicht. Noch den Vorabend der Abreise Danielas hatte er, als letzten Eindruck für sie, mit seiner Gemahlin und ihr verbracht, indem er den Wackeren bei der Arbeit auf der Bühne überraschte und sich mit ihm zu einem schlichten Mahl auf der Bürgerreuth vereinigte, mit dem (durch aufstrebende Bäume jetzt immer mehr verwachsenden) Blick auf das Festspielhaus, das wie ein Wunder vor ihnen sich ausnahm. Wie ragte es hervor, das Ganze ein Stolz, schlicht und groß, nur dem Erhabenen geweiht! Unter guter Pflege des ganzen Hauses in all seinen Räumen hatte sich alles von 1876 her wohl erhalten, zum Erstaunen der Kenner selbst die Gasschläuche, [509] so daß sie nicht erneuert zu werden brauchten! Schon bei der Besichtigung des Inventars mit Neumann hatte die, durch gute Handwerker unter Brandts Leitung belebte Bühne einen herrlichen Anblick geboten. Wiederholt hatte dann der tüchtige Mann in Wahnfried vorgesprochen, mancherlei vom Theater meldend. Um die Mittagszeit des 26. Juli erschien er mit der Ankündigung, daß der ›Zaubergarten‹ nun so weit fertig sei, daß er ihn heute probeweise auf der Bühne vorführen könne.

Leider war die Witterung derart, daß sie den Meister unwillkürlich zu neuer Empörung gegen das Bayreuther Klima reizte. Schon am Fuße des Hügels empfing die Hinauffahrenden ein heftiger Sturm. Im Innern des Hauses war alles schwarz, auch regnete es auf die Bühne. Die anfängliche Aufregung ging bald in den Entschluß über, das Bevorstehende in Ruhe abzuwarten. Einstweilen bot der freundliche Werkmeister Kranich im Künstlerzimmer ein bescheidenes Vespermahl, aus Bier, Schwarzbrot und Butter bestehend. Eine weiche und heitere Stimmung überkam ihn, er gedachte ähnlicher Situationen vom Jahre 1876 und den ihm nächstvorausgehenden. Eine ähnliche Begeisterung, wie damals, teilte sich allen mit: die Sonne brach siegreich durchs Gewölk. Da erklang der Ruf, die Einladung Kranichs: der Zaubergarten war aufgestellt. Bereits in der Skizze ein Wunder von farbenprächtiger, glücklicher botanischer Inspiration, waren alle Anhaltspunkte derselben von den Koburger Malern auf die ausgiebigste, freieste Weise benutzt: das Ganze erregte gleich bei diesem seinem ersten Erscheinen durch seine zauberische Schönheit die allgemeine Bewunderung. Der Meister begab sich auf die Bühne und rief – tief bedeutungsvoll – die Worte seines Helden am Schlusse des zweiten Aktes: ›Du weißt, wo du mich wiederfinden kannst!‹ indem er zugleich die entsprechende Stelle auf der Bühne für Parsifal bei diesen Worten bezeichnete. Das Glücksgefühl der Entrücktheit, eines Traumlebens hehrster Art senkte sich über alle,18 und man kehrte in Gesellschaft des guten Bürgermeisters in gehobener Stimmung heim.

Für eine, kurz darauf stattfindende Konferenz mit dem Verwaltungsrat lag Wichtiges zur Besprechung vor: der nötige Vorbau für das Festspielhaus mit Aufenthaltsraum für den König, die Vorrichtungen für die Kopie der Partitur und Stimmen in der einzurichtenden ›Parsifal-Kanzlei‹ und einige [510] weitere wichtige Neumannsche Angelegenheiten. Am 4. August erschien Brandt mit einer Einladung zu einem Abschiedsfest für seine Arbeiter: man fuhr zwischen 12 und 1 Uhr mittags auf das Theater, um nun nicht allein die Dekoration des Zaubergartens, sondern auch die Wandlung zur Einöde in Augenschein zu nehmen: alles prächtig geglückt, und ungemein ergreifend diese technische Arbeit im Dienste der schöpferischen Phantasie. Zwei Tage später erfolgte der wirkliche Abschied von dem Rüstigen in der vollen Blüte seiner Leistungsfähigkeit. Er beteiligte sich am gemeinsamen heiteren Mittagsmahl in Wahnfried und brachte ein feuriges Hoch auf den Meister aus wer konnte bei seiner kräftigen Gesundheit ahnen, daß ihn das Schicksal bereits gezeichnet und dies das letzte gemeinsame frohe Mahl, ja, bis auf ein kurzes Wiedersehen zu Beginn des Oktober das letzte Zusammensein mit ihm sein würde? – – Wagner selbst war emsig an seiner Partitur, jeder Tag sah 2, zuweilen auch 3 neue Seiten entstehen, und da ihre Paginierung im voraus eingeteilt war, konnte er Ende des Monats konstatieren, daß er genau bis zur Mitte seines Werkes gelangt sei und entwarf den Plan, bis zum Januar mit seiner Partitur fertig zu sein und sich dann über Venedig und das vielgepriesene Korfu nach Athen, von da nach Palermo zu begeben.

Unter den Anwohnern der letzten Probebesichtigung der Dekoration des Zaubergartens befand sich auch Heinrich von Stein, der sich für seine akademische Ferienzeit (3. August bis 22. Oktober) von anderen Ansprüchen befreit hatte. Im Parterre des von Joukowsky bewohnten Hauses in der jetzigen Wahnfriedstraße (S. 440) war ihm der Arbeitsraum nebst angrenzender Schlafstube eingerichtet, und mit allgemeiner herzlicher Freude ward er empfangen. Der Meister begrüßte ihn mit einem humoristischen Gedicht, das er in Erwartung des Angekündigten mitten in der Beschäftigung mit seiner Arbeit improvisiert.19 Erst vor zwei Jahren war diese Bekanntschaft eröffnet, dieser Bund zwischen reifstem Alter und blühender Jugend geschlossen worden, und wieviel hatte man doch schon gemeinsam erlebt, wie eng gehörte dieser große blonde junge Mann dem auserlesenen Kreise an! ›Das ist ein großes Wickelkind, das man noch entwickeln muß‹, sagte Wagner von ihm, und viel Hoffnungsfreudigkeit drückte sich darin aus. Erziehungsfragen wurden nun wieder verhandelt, in unmittelbarer Bezugnahme auf die ganz bestimmte Erziehungsaufgabe, die Stein so gleichsam providentiell zugefallen war, und der er sich doch nach dem entscheidenden Willen seines Vaters nicht, wie er es wünschte, stetig und andauernd, sondern nur aus der Ferne beratend widmen durfte. Als der junge Freund, durch und durch Dichter und Künstler trotz seiner streng wissenschaftlichen Schulung, damit geneckt wurde, daß nun gerade er dazu bestimmt worden sei, ein deutscher ›Professor‹ zu werden, [511] bemerkte der Meister: es sei vielleicht nicht schlecht, daß er dies just in Halle durchmachen müsse. ›So‹, sagte er, ›mußte ich die ganze Opernkapellmeister-Karriere von den ersten Anfängen an durchmachen. Und wenn man darüber nachdenkt, so sagt man sich, daß nichts hätte anders sein können, als wie man es erlebte!‹ Recht aus eigenem Antrieb und mit Lust und Liebe hielt damals Stein in Wahnfried einige Vorträge über Schopenhauer; den ersten bloß für Frau Wagner und die Kinder über ›Schopenhauers Theorie der Kunst‹, über dessen Einzelheiten dann der Meister bei Tisch von den Zuhörern erfreut wurde. Dem zweiten dieser Vorträge über ›Schopenhauers Ansicht von der Baukunst‹ wohnte dann Wagner selbst von Anfang bis zu Ende mit lebhaftem Interesse am Gegenstande und dem Vortragenden als Zuhörer bei. Er fiel sehr schön aus und der Meister sagte: ›Stein ist unser Stolz.‹ Mit väterlicher Freude las er um diese Zeit den, im Augustheft der ›Bayreuther Blätter‹ enthaltenen, gedankenreichen, durchaus bayreuthisch produktiven Aufsatz Steins: ›Über Goethes Wanderjahre‹.20 Seinen für das Oktoberheft bestimmten ›Offenen Brief an den Herausgeber der Bayreuther Blätter: Zum ersten Lustrum‹ mußte er gleich nach der Niederschrift als gemeinsame Abendlektüre selbst zum Vortrag bringen und erhielt dafür die volle Anerkennung des Meisters. Mit Steins dialogischen Szenen aus der Geschichte, die später unter dem Titel ›Helden und Welt‹ zu einem Ganzen vereinigt wurden, hatte er schon in Neapel (S. 311) die erste Bekanntschaft gemacht. Gegenwärtig nahm er mit gleichem ausgesprochenen Interesse daran von dem Manuskript eines neuen Dialoges aus dieser Folge: ›Solon und Krösus‹, Kenntnis, der schon bedeutend tiefer gehalten war, so daß er die Wirkung seiner eigenen Gedanken auf den jungen Freund erkennen konnte, wie nicht minder seine Fähigkeit, dieselben zu bedeutendem Ausdruck zu bringen. So die Stelle des Solon, in welcher er von seiner Reise nach Ägypten spricht. ›Ich lernte ein Volk kennen‹, heißt es da, ›dessen Gesetze und Verfassung vordem für die Summe der Weisheit gehalten wurden, und das ich nun dennoch dem äußersten Verfalle preisgegeben sah. Ich befreundete mich und besprach mich viel mit verständigen Männern und ehrwürdigen Priestern; da erfuhr ich, wie diese, obwohl voller Liebe zu ihrem Volke, dennoch keinerlei Hoffnung mehr an den vaterländischen Boden anknüpfen: vielmehr pflegen sie sich von einem Lande der Ahnung zu unterhalten, Atlantis genannt. Dort, so meinen sie, möchte den unseligen Verkettungen des Völkergeschickes zu entgehen, dort ein taghelles Werk jugendlicher, menschlicher Kultur von neuem, mit gereiftem Bewußtsein zu beginnen sein.‹ Das war es, auch seinem Geiste schwebte dieses ›Atlantis‹, das Land der Ahnung, irgendwo in weiter Ferne [512] jenseit des Ozeans vor; er fand diese Wiedergabe seines Gedankens an dieser Stelle ganz ausgezeichnet, wie auch den ihm folgenden Passus über das Verhältnis ›dieses unseres armen Lebens‹ zu dem ›gewaltigen dunklen Hintergrund der Dinge‹21 und las abends die von ihm gemeinten Stellen dem kleinen ihn umgebenden Kreise vor. Eine bildliche Erinnerung an diese schönen Tage des Zusammenseins ist in, zwei stereoskopischen Familienphotographien durch Adolf Groß (23. August) erhalten, die eine im Saal am Teetisch, die andere im Garten auf den Stufen von Wahnfried aufgenommen. Das Prositbild des Meisters auf der ersteren dieser Aufnahmen, mit seinem mächtig hoheitvollen, über alle sichtbare Welt hinwegblickenden Ausdruck ist durch Vergrößerung eines der bekanntesten und verbreitetsten geworden; das andere zeigt ihn mehr als rüstigen Patriarchen von der ganzen Familie nebst Stein und Joukowsky umgeben; selbst Marke und einer der jungen Hunde sind darauf sichtbar.

In die ersten Augusttage fiel auch ein Besuch Ernst von Webers (8. August): es wurde viel über die Antivivisektionsbewegung verhandelt und mit Bedauern davon Kenntnis genommen, daß die Kronprinzessin in Person den schmählichen vivisektorischen Experimenten des Herrn Dubois-Reymond beigewohnt und sich damit durchaus befriedigt erklärt habe! Gespräche über Kolonisation und Reisen knüpften sich daran, und Webers lebendige Schilderungen erweckten in dem zuhörenden Meister die Lust nach Madeira und nach Zanthe. Die Anpreisung südlicher Orte, die er noch nicht gesehen, übe auf ihn fast immer die gleiche Wirkung: nur fort aus diesem leidigen Klima mit seiner ewigen Rauheit, in dem man (wie er sich mit Bezug auf Siegfried ausdrückte) ›im Winter kaum Schlittschuh laufen, im Sommer kaum baden könne‹ und er selbst immer neuen Anfällen seiner Brustbeklemmungen ausgesetzt blieb. Er half sich, trotz schlimmer, unruhiger Nächte, mit seiner Arbeit, hatte aber zuweilen an Augenflimmern zu leiden und fühlte sich sehr unwohl und aufs tiefste deprimiert. Wenn es dann draußen unausgesetzt heftig stürmte, rief er wohl einmal unmutig: ›O, wenn doch der Wind das verfl. ... Theater fortnehmen wollte, ich baute es gewiß nicht wieder auf!‹ Sowohl das Wetter, als auch die Betrachtung der äußeren Dinge (u.a. des Berliner Kongresses und seiner Behandlung der orientalischen Frage) zeitigten in ihm den Gedanken eines vollständigen Zurückziehens von allem nach der Aufführung des ›Parsifal‹: ›wie Lykurgos davongehen und sehen, was sie aus meiner Sache machen!‹ – das schien ihm unter solchen Umständen das würdige Ultimatum. Und wenn er dies am Morgen ausgesprochen, [513] so stand er wohl nachmittags an der Fenstertür des Saales und überlegte, ob man so den Kindern allen heimatlichen Boden entreißen dürfte? Die ewig verneinenden kopfschüttelnden Bäume da draußen schienen ihm als trauriges Bild des Lebens das alte: ›entbehren sollst du, sollst entbehren!‹ zuzurufen. In seinen Gesprächen mit Stein kam er viel auf das einmal angeschlagene Auswanderungsthema. In Voraussicht des Dranges schlimmer Zeiten, die nicht ausbleiben könnten, müßte man eine Kontribution von einer Milliarde erheben, mit dieser alles bestreiten und dann dort drüben die neue Gesellschaft gründen, bis dahin aber geworben und die religiöse Basis dieser Gesellschaft festgestellt haben. Eine Zeichnung Joukowskys hielt diesen Gedanken fest, indem die hohe Frau, der edle Schutzgeist des Hauses, nun auch als der gute Genius der Menschheit symbolisch dargestellt wurde, mit dem Finger auf die Erdkugel weisend, auf die südlichen Gegenden der neuen Welt – das ›Atlantis‹ der Steinschen Dichtung – denen die Auswanderung sich zuwenden sollte. Die Erdkugel auf der Zeichnung, – in Wirklichkeit der große Globus von Wahnfried, auf den sie tatsächlich in der Unterredung mit Stein gerade so einmal hingewiesen – konnte nicht in der Luft schweben, also war ihr ein Elefant (seit Jacolliot der immer wiederkehrende Gegenstand so mancher damaliger Unterhaltungen) als mächtiger Träger unterstellt; da aber auch dieser wiederum einer Stütze bedurfte, ihm, in echt indischer Symbolik, eine Schildkröte zu Füßen als Grundlage beigegeben, womit – wie beim vergeblichen Suchen nach der letzten Ursache – dem Problem der Schwere genug getan schien. Der Meister hatte an dem genial konzipierten Blatt22 seine Freude: so müsse es sein, man müsse immer etwas sehen und machen. Dem jungen Dichterphilosophen und Erzieher aber, der eben erst so schön über Goethes ›Wanderjahre‹ geschrieben, ward die Aufgabe zuteil, seinen Zögling für diese, zum Schutz und zur Wahrung des Heimatlichen, endlich unvermeidliche ›Auswanderung‹ zu erziehen: er würde dann zwei Generationen vor sich haben.

Von ›Nebeldunst und Dämmergrauen‹ geht auch das wundervolle Gedicht aus, welches Wagner zum 25. August 1881 als gewohnten Geburtstagsgruß in gebundener Rede dem königlichen Freunde entsandte, und das später unter dem Titel ›Zwei Rasten‹ in seine Gedichte aufgenommen worden ist. Es gibt so recht die Stimmung dieses Herbstes mit seinem drückend nebligen Antlitz wieder, der dem Bedürftigen sogar die ihm von je gewohnten Spaziergänge verwehrte, weil er sagte: die Luft ›belle ihn an‹. Er spricht darin aus, was ihn in dieser grauen, in ihrem tiefsten Wesen von ihm als [514] leidend durchschauten Welt aufrecht erhalte: die Liebe der unvergleichlichen Frau an seiner Seite und die Freundschaft seines edlen Schirmherrn, symbolisiert in den beiden Tagen ihrer Geburt, dem 25. Dezember und dem 25. August:


Wie birgt in Nebeldunst und Dämmergrauen

vor mir doch immer dichter sich die Welt!

Soll ich sie nicht mehr licht und hell erschauen,

was ist's, das sie dem Blick verschlossen hält?

Verbleichen Hoffnungs-Grünen, Glaubens-Blauen,

da welk der Liebesrose Blatt entfällt? –

Es fällt, – sie bleichen: nicht soll ich's gewahren;

will ihren Anblick mir die Welt ersparen?


Ich kenn' ihn doch, und lernt' auch sie erkennen;

ich sang ihr Lied, und weiß ihr Leiden gut.

Muß aus der Asche stets sie neu entbrennen,

neu fließen aus der Wunde trocknem Blut,

Die Werde-Wunder könnt' im all' ihr nennen,

wie sie, erstarrt, nun ras't in Glut und Wut:

Was böte mir ihr rastlos ewig Leben,

wenn zwei der Rasten sie mir nicht gegeben?


Doch um der Rasten willen weil' ich gerne,

für sie lass' dieser Welt Lauf ich bestehn;

sie grüne, blüh', sie dämm're in die Ferne,

getrost mag ich an ihr vorübergehn,

darf ich des Jahres treue Wandersterne

zu jenen Rasten wiederkehren sehn,

als Sommertages helle Strahlen-Sonne,

als Winter-Christnachts heil'ge Weihe-Wonne.


War da der Welt Erlösungs-Trost geboren,

der hat mir, hold erblühend, gar gelacht;

Doch – weiblich zart – wie ging' er bald verloren,

zum Tageslicht gewandt aus stiller Nacht,

war mir in Sommers-Sonne nicht erkoren

der Held zu meines Schicksals hebrer Wacht!

Der Tag, die Nacht, die liebend mich umfaßten'

sie banden nun mich hold zu trautem Rasten.


Was Hoffnungs-dürftig einst dem Mai entsprossen,

Das Leben, das noch atmend in mir wohnt,

hat es die Weihnacht in ihr Herz geschlossen,

wo bergend sie vor rauhem Hauch es schont,

von Huld und Gnade steht es überflossen

im königlich erlauchten Sommermond:

so raste selig heut', was Lenz geboren

in Dank für dieses Tages Heil verloren!


[515] Die Feier des 25. August in Wahnfried fiel glücklicherweise auf einen lichteren Tag und war durch mancherlei günstige Umstände verschönert, wie z.B. durch das gern gesehene Eintreffen Anton Seidls, nachdem erst wenige Tage zuvor der Tenorist Winkelmann, welchem die Partie des ›Parsifal‹ zugedacht war, aus Wien sich eingestellt hatte. Ersteren neckte der Meister in heiteren Scherzen über sein Verhältnis zur Sängerin Hedwig Kindermann, mit der das Gerücht ihn in Verbindung setzte, während er selbst tatsächlich wenig geneigt schien, sich durch irgendwelche Bande fesseln zu lassen; mit letzterem hatte er bereits studiert und sich über seine Gelehrigkeit gefreut. Humperdincks Notizen melden uns von einem traulichen Mittagsmahl zur Feier des Tages und einem Trinkspruch, den der Meister auf König Ludwig gesprochen Abends aber sang Winkelmann Siegfrieds Schmiedelieder und spielte Seidl zur größten Freude aller und vollständiger Zufriedenheit Wagners den Einzug in die Gralsburg Rubinstein war nicht mehr anwesend, sondern hatte schon am 10, an einem recht grauen Tage Abschied genommen, um sich nach Italien zu begeben – in seinem ganzen Wesen ein unlösbares und, durch diese Unlösbarkeit, den ihm stets väterlich gesinnten Meister selbst in Mitleidenschaft ziehendes Rätsel.23 Kurz zuvor waren auch die Kopisten der Parsifal-Kanzlei, unter ihnen der junge Volontär Hausburg, in die für ihre gemeinsame Tätigkeit bestimmte geräumige Lokalität bei Angermann eingeführt worden,24 woselbst sie der Meister häufig aufmunternd besuchte. Humperdinck selbst, der erst kürzlich (5. August) bei der diesjährigen Konkurrenz der Meyerbeerstiftung in Berlin mit drei seiner Kompositionen25 den Preis von 4500 Mark errungen, – hatte sich, eigens mit der Petition an die Kgl. Akademie der Künste gewandt, die mit diesem Stipendium verknüpfte italienische Reise auf eine spätere Zeit verschieben zu dürfen. Auch war um diese Zeit der lithographierte Probenplan mit den exakten Daten der Proben und Aufführungen für das kommende Jahr an sämtliche zur Mitwirkung auserwählte Künstler versandt worden. ›Hierdurch erhalten Sie‹, hieß es in den einleitenden Worten, ›zugleich den Plan für die Proben und Aufführungen, [516] dessen Aufstellung in der notwendigen Annahme entworfen ist, daß Sie, wie jeder andere Sänger, die von Ihnen übernommene Partie bereits vollständig studiert und memoriert haben, sobald Sie in Bayreuth ankommen. Um dieses Studium Ihnen zu erleichtern, wird Ihnen, außer der hier überreichten Gesangspartie, zur rechten Zeit noch ein Klavierauszug übersendet, gewünschten – und nötigen – Falles Ihnen auch ein sachverständiger Akkompagnateur zugewiesen werden.‹

Auch der Kostümier aus Frankfurt (Firma: Schwab & Plättung) stellte sich ein und erfreute durch Lebhaftigkeit und Verständnis, als ihm Joukowsky die von ihm entworfenen Skizzenblätter überreichte. Humperdincks Notizen über das Kommen und Gehen der einzelnen Künstler ergeben folgendes Bild. 21. August: Ankunft Winkelmanns; 22. August: Beginn des ›Parsifal‹-Studiums mit Herrn Winkelmann (abends trägt der Meister Loewesche Balladen vor); 25. August: Anton Seidl in Bayreuth; 26. August: (mittags das Ehepaar Sachse-Hofmeister), Frl. Marianne Brandt in Bayreuth, Kundry-Probe; am 27.: erste Probe zwischen Kundry und Parsifal (wobei der Meister in all seinen Angaben, in der hellsichtigen Allgegenwart seiner schöpferischen Phantasie, mit der er bis in die kleinsten Regungen hinein seine Gestalten nachfühlend zu verkörpern wußte, – wiederum göttlich, wenn auch unnachahmlich sich erwies); 29. August: Winkelmann und Seidl abgereist; 2. September: Frl. Brandt abgereist; 3. September: Porges (vorübergehend) nach München zurück. Damit war es nun in Wahnfried wieder still geworden. Solange Frl. Brandt daselbst weilte, erklang das ganze Haus von ihren Solfeggien und den Klängen der Kundry, was den Meister zuweilen recht aufregte. Es war Zeit, daß wieder Ruhe eintrat, da er seinen, seit dem Frühjahr geplanten Aufsatz: ›Heldentum und Christentum‹, noch vor dem Beginn dieser Künstlerbesuche begonnen hatte und immer wieder in seiner Aufzeichnung gestört worden war. Er schreibe ihn im Hinblick auf Gobineau, erklärte er selbst; einerseits als eine dankbare Huldigung an den geistig so hoch stehenden Freund, andererseits, um darin gerade diejenigen Gedanken auszuführen, in denen er von ihm abwich, und in bezug auf welche es zuweilen über Tische zu lebhaften Kontroversen gekommen war, indem der Meister zugunsten des Christlichen gegenüber der Schroffheit des Rassengedankens förmlich explodierte. Was er damals gemeint, und worüber man sich nicht hatte einigen können (S. 473), wollte er nun zu kenntlichem Ausdruck bringen und war der Meinung, eben hierdurch die im übrigen unangetastet mit herübergenommenen – Ansichten Gobineaus dahin erweitert zu haben, daß er diesem selbst damit etwas Tröstliches zuführte. Er werde, so sagte er, auch hierbei als, Dramatiker verfahren und sich seinen Stoff in ›drei Akte‹ gliedern. ›Ist es vernünftig, anzunehmen‹, dies ist die Voraussetzung alles Folgenden, ›daß der gewisse Untergang unseres Erdkörpers nur [517] eine Frage der Zeit sei, so werden wir uns auch wohl daran gewöhnen müssen, das menschliche Geschlecht einmal aussterbend zu wissen Dagegen darf es sich aber um eine außer aller Zeit und allem Raume liegende Bestimmung handeln, und die Frage, ob die Welt eine moralische Bedeutung habe, wollen wir hier damit zu beantworten versuchen, daß wir uns selbst zunächst befragen, ob wir viehisch oder göttlich zugrunde gehen wollen.‹ Den ›ersten Akt‹ bildet nun die Schilderung arischen Heldentums von seinen ältesten Anfängen bis in das germanische Mittelalter, wo wir den ›Helden‹ in seinem Entsetzen über die Verderbnis seines Stammes, seiner Sitte, seiner Ehre sich aufraffen sehen, um, durch eine wunderbare Umkehr seines mißleiteten Willens, sich im ›Heiligen‹ als göttlichen Helden wiederzufinden. ›Es war ein wichtiger Zug der christlichen Kirche, daß nur vollkommen gesunde und kräftige Individuen zu dem Gelübde gänzlicher Weltentsagung zugelassen wurden, jede leibliche Schwäche oder gar Verstümmelung aber dazu untüchtig machte Offenbar dürfte dieses Gelübde nur als aus dem allerheldenmütigsten Entschlusse hervorgegangen angesehen werden können.‹ Der ›zweite Akt‹ der Betrachtung geht von der Frage aus: ›Von welchem Werte dürfte nun das »Blut«, die Qualität der Rasse, für die Befähigung zur Ausübung solches heiligen Heldentumes sein?‹ und leitet zur genauen Erwägung der menschlich-göttlichen Persönlichkeit des Erlösers über. ›Das Blut des Heilands, von seinem Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze fließend, – wer wollte frevelnd fragen, ob es der weißen, oder welcher Rasse sonst angehörte? Wenn wir es göttlich nennen, so dürfte seinem Quelle ahnungsvoll einzig in dem, was wir als die Einheit der menschlichen Gattung ausmachend bezeichneten, zu nahen sein, nämlich in der Fähigkeit zu bewußtem Leiden. Diese Fähigkeit müssen wir als die letzte Stufe betrachten, welche die Natur in der aufsteigenden Reihe ihrer Bildungen erreichte; von hier an bringt sie keine neuen, höheren Gattungen mehr hervor, denn in dieser, des bewußten Leidens fähigen, Gattung erreicht sie selbst ihre einzige Freiheit durch Aufhebung des rastlos sich selbst widerstreitenden Willens.‹ ›Fanden wir nun dem Blute der sog. weißen Rasse die Fähigkeit des bewußten Leidens in besonderem Grade zu eigen, so müssen wir jetzt im Blute des Heilands den Inbegriff des bewußt wollenden Leidens selbst erkennen, das als göttliches Mitleiden durch die ganze menschliche Gattung, als Urquell derselben, sich ergießt.‹

›Aus welchem Blute sollte nun der Genius der Menschheit, der immer bewußtvoller leidende, den Heiland erstehen lassen, da das Blut der weißen Rasse offenbar verblaßte und erstarrte? – Für die Entstehung des natürlichen Menschen stellt unser Schopenhauer gelegentlich eine Hypothese von fast überzeugender Eindringlichkeit auf, indem er auf das physische Gesetz des Anwachsens der Kraft durch Kompression zurückgeht, aus welchem nach abnormen Sterblichkeitsphasen ungewöhnlich häufig erfolgende Zwillingsgeburten [518] erklärt werden, gleichsam als Hervorbringung der gegen den, das ganze Geschlecht bedrohenden Vernichtungsdruck sich doppelt anstrengenden Lebenskraft; was nun unseren Philosophen auf die Annahme hinleitet, daß die animalische Produktionskraft, infolge eines bestimmten Geschlechtern noch eigenen Mangels ihrer Organisation, durch ihr antagonistische Kräfte bis zur Vernichtung bedroht, in einem Paare zu so abnormer Anstrengung gesteigert worden sei, daß dem mütterlichen Schoße dieses Mal nicht nur ein höher organisiertes Individuum, sondern in diesem eine neue Spezies entsprossen wäre. Das Blut in den Adern des Erlösers dürfte so der äußersten Anstrengung des Erlösung wollenden Willens zur Rettung des, in seinen edelsten Rassen erliegenden menschlichen Geschlechtes, als göttliches Sublimat der Gattung selbst entflossen sein. Wollen wir uns hiermit als an der äußersten Grenze einer zwischen Physik und Metaphysik schwankenden Spekulation angekommen betrachten und wohl vor dem Weiterbeschreiten dieses Weges hüten, der – namentlich unter Anleitung des Alten Testamentes – manchen unserer tüchtigen Köpfe zu den törichtsten Ausbildungen verleitet hat, so können wir doch der soeben berührten Hypothese im Betreff seines Blutes noch eine zweite, allerwichtigste Eigentümlichkeit des Werkes des Erlösers entnehmen, nämlich diese der Einfachheit seiner Lehre, welche fast nur im Beispiele bestand.‹ ›Hieraus fließt dann die erhabene Einfachheit der reinen christlichen Religion, wogegen z.B. die brahmanische, weil sie die Anwendung der Erkenntnis der Welt auf die Befestigung der Herrschaft einer bevorzugten Rasse war, sich durch Künstlichkeit bis in das Übermaß des ganz Absurden verlor. Während wir somit das Blut edelster Rassen durch Vermischung sich verderben sehen, dürfte den niedrigsten Rassen der Genuß des Blutes Jesu, wie er in dem einzigen echten Sakramente der christlichen Religion symbolisch vor sich geht, zu göttlichster Reinigung gedeihen. Dieses Antidot wäre demnach dem Verfalle der Rassen durch ihre Vermischung entgegengestellt; und vielleicht brachte dieser Erdball atmendes Leben nur hervor, um jener Heilsordnung zu dienen.‹

Begegnen wir hier nun der Frage des Lesers, wie der zugestanden ›symbolische‹ Genuß des göttlichen Blutes im Sakrament ein ›Antidot‹ und Regenerationsmittel für die physische Natur des Menschen genannt werden könnte, so hat er den Meister nicht recht verstanden, dessen ganze Betrachtung von der Frage ausging, ob wir, bei angenommener Gewißheit eines Niederganges und endlichen Aussterbens der Menschheit ›viehisch oder göttlich zugrunde gehen wollten‹; oder wie er es bei früherer Gelegenheit (S. 435) formuliert hatte: ›wenn unsere Kultur zugrunde geht, ist es gar kein Schaden; wenn sie aber durch die Juden zugrunde geht, so ist es eine Schmach‹. Schon der Satz: ›wenn wir von der Lügenhaftigkeit unserer ganzen Zivilisation auf ein verderbtes Blut der Träger derselben schließen müßten, so dürfte die Annahme uns naheliegen, daß eben auch das Blut des Christentums [519] verderbt sei‹, führt aber auf die Erkenntnis zurück, daß dem – durch die Jahrhunderte sich erstreckenden – ungeheuren Verderben der semitischlateinischen Kirche keine wahrhaften Heiligen, d.h. Helden-Märtyrer der Wahrheit mehr entwüchsen. Dies gelangt dann im ›dritten Akt‹, d.h. im Schlußabschnitte der Abhandlung, vielleicht der schönsten, tiefsten, genialsten, die er je geschrieben, zu zweifellos klarem Ausdruck.

›Verkennen wir‹, so heißt es weiter darin, ›das Ungeheuerliche der Annahme nicht, die menschliche Gattung sei zur Erreichung völliger Gleichheit bestimmt, und gestehen wir es uns, daß wir diese Gleichheit uns nur in einem abschreckenden Bilde vorstellen können, wie dies etwa Gobineau am Schlusse seines Werkes uns vorzuhalten sich genötigt fühlt. Dieses Bild wird jedoch erst dadurch vollständig abstoßend, daß wir nicht anders als durch den Dunst unserer Kultur und Zivilisation es zu erblicken für möglich halten müssen. Diese selbst nun als die eigentliche Lügengeburt des mißleiteten menschlichen Geschlechtes zu erkennen, ist dagegen die Aufgabe des Geistes der Wahrhaftigkeit, der uns verlassen hat, seit wir den Adel unseres Blutes verloren und die hiergegen durch den wahrhaftigen Märtyrer-Geist des Christentums uns zugeführte Rettung im Wuste der Kirchenherrschaft als Mittel zur Knechtung in der Lüge verwendet sahen. Allerdings gibt es nichts Trostloseres, als die menschlichen Geschlechter der aus ihrer mittelasiatischen Heimat nach Westen gewanderten Stämme heute zu mustern, und zu finden, daß alle Zivilisation und Religion sie noch nicht dazu befähigt hat, sich in gemeinnützlicher Weise und Anordnung über die günstigsten Klimate der Erde so zu verteilen, daß der allergrößeste Teil der Beschwerden und Verhinderungen einer freien und gefunden Entwickelung friedfertiger Gemeindezustände, einfach schon durch die Aufgebung der rauhen Öden, welche ihnen großenteils jetzt seit so lange zu Wohnsitzen dienen, verschwände. Wer diese blödsichtige Unbeholfenheit unseres öffentlichen Geistes einzig der Verderbnis unseres Blutes – nicht allein durch den Abfall von der natürlichen menschlichen Nahrung, sondern namentlich auch durch degenerierende Vermischung des heldenhaften Blutes edelster Rassen mit dem, zu handelskundigen Geschäftsführern unserer Gesellschaft erzogener, ehemaliger Menschenfresser – zuschreibt, mag gewiß recht haben, sobald er nur auch die Beachtung dessen nicht übergeht, daß keine mit noch so hohen Orden geschmückte Brust das bleiche Herz verdecken kann, dessen matter Schlag seine Herkunft aus einem, wenn auch vollkommen stammesgemäßen, aber ohne Liebe geschlossenen Ehebunde verklagt.‹ – Im Anschluß an diesen letzteren Passus plante er schon damals einen Aufsatz über ›Das Männliche und Weibliche‹ als weitere Ausführung zu ›Kunst und Religion‹.

Eine Unterbrechung seines Schaffens bildete in den Tagen vom 5. bis 14. September ein Besuch Dresdens behufs einer zahnärztlichen Konsultation [520] bei Dr. Jenkins, auf welchem ihn – zu gleichem Zweck – außer seiner Gemahlin auch zwei von den Kindern, Siegfried und Eva, begleiteten. Als Reiselektüre dienten ihm Gobineaus ›Trois ans en Asie‹. Unterwegs fand er an der Gegend des Erzgebirges, vor allem an dem schönen Tharandt Gefallen. Eine gute Nacht im Hotel Bellevue leitete den achttägigen Dresdener Aufenthalt mit seinen endlosen Zahnarzt-Sitzungen ein. Gleich am ersten Vormittag hörte er beim Rasieren die bis in die Barbierstube hinüberdringenden Klänge einer Chorprobe zum ›fliegenden Holländer‹ und freute sich einerseits über die schönen Stimmen, während ihn andererseits die unrichtigen Tempi irritierten. Er schickte sogleich zum Chordirektor hinüber und ließ ihn bitten, sie langsamer zu nehmen. Nachdem er Dr. Jenkins aufgesucht, auf der Terrasse seines Hotels das Mittagessen eingenommen und mit Familie den Zoologischen Garten besucht, wo der Elefant und andere Tiere ihn und die Kinder erfreuten, besuchte er abends die von Kapellmeister Schuch geleitete Aufführung des ›fliegenden Holländers‹ und machte hier in der Darstellerin der Senta die Bekanntschaft der jungen, reichbegabten Sängerin Frl. Therese Malten, die er sogleich nach dem zweiten Akt in ihrer Garderobe aufsuchte, um ihr seine Anerkennung zu bezeugen. Er hatte in ihr seine zukünftige Kundry gefunden, wenn auch seine offizielle Einladung zur Übernahme dieser Partie tatsächlich erst zwei Monate später, am 26. November, erfolgte. Am 9. September wohnte er mit den Seinen einer Aufführung der ›Preziosa‹, am 10. ›Figaros Hochzeit‹, am 11. dem ›Freischütz‹ bei. In den Weberschen Werken nahm er mit Trauer den gänzlichen Mangel einer – einst durch ihn selbst wiederhergestellten – richtigen Tradition wahr: die Aufführung eines so lieblichen Werkes, wie der ›Preziosa‹, war unerfreulich, die Deklamation durchweg unsinnig, die Tempi falsch. Seltsamerweise nahmen dabei die Musiker auf der Bühne den Marsch richtig, den der Kapellmeister da unten verschleppt hatte. Die Sängerin des Ännchen unterließ sogar die typischen Bewegungen mit der Schürze (zur Klarinettenbegleitung); offenbar hatte sie in ihrer Laufbahn niemand je darauf aufmerksam gemacht. Dagegen machte er in eben diesen Dresdener Tagen auch noch die Bekanntschaft des jungen Tenoristen Gudehus, dessen Vortrefflichkeit ihn so erfreute, daß er ihn, neben Winkelmann, zum ersten Darsteller des Parsifal im nächstfolgenden Sommer ausersah. Hatte doch erst noch vor kurzem ein Brief des Münchener Sängers Vogl, der für sein Engagement durchaus die Mitwirkung seiner Frau als Kundry zur Bedingung machte (S. 506), ihm die ganze Theatermisere wieder so fühlbar nahegebracht, daß er es lebhaft beklagte, immer wieder mit so eitlem Material arbeiten zu müssen. Im übrigen verflossen diese Tage, trotz der beständigen Zahnarztsitzungen, doch unter mannigfachem Wechsel freundlicher Eindrücke. Besuche bei Pusinellis, sowie ein solcher in Gustav Kietz' Familie und Atelier (über letzteren berichtet dieser ausführlich [521] in seinen ›Erinnerungen‹), und ein angenehmes Diner bei dem sehr gebildeten Dr. Jenkins, nebst einigen anderen hier nicht aufzuzählenden älteren und neueren Beziehungen, wechselten mit genußreichen Ausfahrten in die Umgegend, bei denen er mit den Seinen Großgraupe als die Geburtsstätte seines ›Lohengrin‹ aufsuchte,26 nebst den Wegen, die er von hier aus gemacht,27 u.a. bis zu der romantisch gelegenen Lochner Mühle; oder das Kgl. Lustschloß Pillnitz mit dem Schloßhof, wo er einst den heimkehrenden König mit dem ›Gruß der Getreuen‹ empfangen;28 oder ein anderes Mal Blasewitz und Loschwitz mit noch weiter, bis in die Tage seiner Kindheit zurückreichenden Erinnerungen. Er freute sich, daselbst Webers Wohnhaus wohl erhalten zu sehen, und stellte ihnen den Ziegenbach vor, wo er es einstversucht hatte, aus einem rohen Baumstamm einen Kahn zu zimmern, um mit diesem auf der Elbe in Dresden anzukommen, indem er sich dabei schon im voraus das Staunen der Mutter und der Geschwister vorstellte.29 Er besuchte mit ihnen das Marcolinische Palais in der Friedrichstadt, wo ›Lohengrin‹ vollendet, Siegfrieds Tod gedichtet und den Freunden vorgelesen wurde, wies ihnen alle die ihm so vertrauten Plätze des schönen Gartens mit seinen hohen Bäumen und dem darin befindlichen Neptun-Bassin; er fuhr mit ihnen auf den Kirchhof zu Webers Grabe und zeigte ihnen auf der Rückfahrt in umgekehrter Folge den Weg, den das Leichenbegängnis Webers vom Landungsplatz an der Elbe bis zu der letzten Ruhestätte des Verewigten genommen, so daß ihnen Dresden ganz heimatlich wurde. Auch Tichatschek wurde aufgesucht, der in seiner glatt anliegenden schwarzen Perücke fast unverändert jugendlich aussah, als wären die Jahre ganz ohne Wirkung spurlos über seinen Scheitel dahingeglitten.

Insbesondere wichtig für die, Folgezeit wurde in diesen kurzen Dresdener Tagen seine mündliche Verhandlung mit dem Vertreter der Firma Schott, Dr. Strecker, der ihn in Bayreuth verfehlt hatte und ihm hierher nachgereist war. Wir erinnern uns seiner Verhandlungen über den Verlag der ›Parsifal‹-Dichtung (S. 17 ff.), bei welcher ja die Voraussetzung vorgeschwebt hatte, daß die gleiche Verlagshandlung auch die Publikation des ganzen Wertes anvertraut erhalten werde. Da nun aber inzwischen immer klarer die Notwendigkeit sich herausgestellt hatte, das neue Werk ausschließlich für Bayreuth zu bestimmen, war er in diesem Punkte bedenklich geworden und wünschte den Punkt des Kontraktes, der sich auf den Druck der Partitur und des Klavierauszuges bezog, annulliert. Der Gedanke, Feustels, sein Werk auf dem Wege privater Subskription herauszugeben, hatte seinen vollen Beifall gefunden, gelangte indes wegen mannigfacher technischer Schwierigkeiten nicht [522] zur Ausführung. Somit fuhr Feustel fort, mit der Schottschen Firma zu unterhandeln. Um ihm dafür einen festen Anhaltspunkt zu geben, schrieb der Meister ihm jenen Brief vom 18. Juli 1881, den später die ›Bayreuther Blätter‹ teilweise veröffentlichten, mit der beigefügten Erläuterung, er habe, um seine Forderung zu begründen, in drastischer und daher für die Öffentlichkeit nicht geeigneter Weise von der unverhältnismäßig geringen Summe gesprochen, welche er von dem Hause Schott für den ›Ring des Nibelungen‹ erhielt, und daß er demnach das, was er für ›Parsifal‹ fordere, nur als gerechte Zugabe zu dem Honorar des ›Ringes‹ betrachte, während ›Parsifal‹ selbst in keiner Weise ein Geschäftsobjekt für Theater- oder Konzertaufführungen sein könne. ›Während der Ausführung selbst ist mir der Charakter dieser meiner letzten Arbeit dahin immer deutlicher geworden, daß, selbst unter allen jenen Umständen, welche noch Aufführungen der einzelnen Stücke des »Ringes des Nibelungen« auf unseren Stadt- und Hoftheatern zulänglich machten, das Bühnen-Weih-Festspiel »Parsifal«, mit seinen unmittelbar die Mysterien der christlichen Religion berührenden Vorgängen, unmöglich in das Opern-Repertoire unserer Theater aufgenommen werden darf. Mein erhabener Wohltäter, der König von Bayern, stand, als ich ihm dies eröffnete, innig verständnisvoll sofort davon ab, den »Parsifal« auf seinem Hoftheater sich vorgeführt zu sehen, wogegen. Er einzig das Bühnenfestspielhaus von Bayreuth für solche – besondere und seltene – Aufführungen geeignet erklärte. Infolge des hieraus sich ergebenden Schlusses mußte die Einträglichkeit der Herausgabe eines Klavierauszuges schwierig zu beurteilen sein, da das wirkungsvolle Bekanntwerden mit diesem meinem Werte nur durch den Besuch der alljährlich beabsichtigten Aufführungen in Bayreuth für alle Zeit zu gewinnen sein sollte.‹30 Die auf dieser Grundlage mit Schotts durch, Feustel, sowie auch durch den Meister selbst geführten Verhandlungen hatten sich durch mehrere Monate hingezogen, bis sich Dr. Strecker endlich verständigerweise dazu entschloß, sie persönlich und mündlich zum Abschluß zu bringen. So trat er denn am 8. September in Wagners Dresdener Hotelstube, wo ihn dieser anfangs heftig darüber apostrophierte, daß er vermeint hätte, ihn durch Überlassung des Textbuches in der Hand zu haben, dann aber, als Dr. Strecker sich entschuldigte, auf die Darstellung des – sehr schicklich sich benehmenden – Mannes mit großem Billigkeitsgefühl einging. So kam es zum vorläufigen Abschluß des Kontraktes, indem die Hauptpunkte desselben beiderseitig so weit festgestellt wurden, daß es nur noch ihrer schriftlichen Redaktion und der beiderseitigen Unterzeichnung bedurfte. Der wesentliche Inhalt bestand darin, daß der Firma Schott das ausschließliche Veröffentlichungsrecht und alles darin Inbegriffene, insbesondere auch das Recht zu Konzertaufführungen [523] gewisser, Fragmente, für alle Länder übertragen wurde, wogegen der Meister sich und seinen Erben das Aufführungsrecht in Theatern zu seiner freien Verfügung vorbehielt.31 Eine wichtige Entscheidung war damit getroffen, und wohl durfte der Meister sich der Hoffnung hingeben, mit diesem Vorbehalt sein Wert für ferne Zeiten geschätzt zu haben.

Nachdem endlich auch die letzte der Zahnarztsitzungen erledigt war, war es Zeit zur Heimkehr geworden und jeder weitere Aufenthalt ein Zeitverlust. In Leipzig machte er eine zwölfstündige Rast von 6 Uhr abends bis 6 Uhr früh. ›Unsere Absicht‹, erzählt Direktor Neumann, ›ihm bei dieser Gelegenheit die »Walküre« vorzuführen, scheiterte leider an einer Absage, wenn ich nicht irre, von seiten der Reicher-Kindermann. Nichtsdestoweniger kam Wagner mit, Frau Cosima und mit Siegfried und Eva abends ins Theater und wohnte in der Direktionsloge der Vorstellung des »Vetter« von Benedix bei. In seiner Wohnung im Hotel Hauffe wurden nach der Aufführung die nächsten ernsten Zukunftspläne besprochen, und am folgenden Morgen setzte er die Reise nach Bayreuth weiter fort‹, – wo er nun gleichzeitig an seiner Partitur und am letzten Abschluß seines Aufsatzes über ›Heldentum und Christentum‹ arbeitete, um durch alle darin angedeuteten Schrecknisse hindurch einen ermutigenden Ausblick auf die Zukunft des menschlichen Geschlechtes zu gewinnen. Hierfür, so schrieb er, ›hat uns nichts angelegentlicher einzunehmen, als noch vorhandenen Anlagen und aus ihrer Verwertung zu erschließenden Möglichkeiten nachzugehen‹. Er deutet damit auf die bereits in ›Wollen wir hoffen?‹ gestellte Frage: ›Ist der Deutsche, unter der Undeutschheit seiner ganzen höheren Lebensverfassung leidend, neben den so fertig erscheinenden lateinisch umgebornen Nationen Europas eine bereits zerbröckelte und ihrer letzten Zersetzung entgegensiechende Völkererscheinung, oder lebt in ihm noch eine besondere, der Natur um ihrer Erlösung willen unendlich wichtige, um deswillen aber auch nur mit ungemeiner Geduld und unter den verschiedensten Verzögerungen zur vollbewußten Reise gedeihende Anlage, – eine Anlage, die vollkommen ausgebildet, einer weit ausgedehnten neuen Welt den Untergang der uns jetzt noch immer so überragenden alten Welt ersetzen könnte?‹ (S. 193). ›Hierbei haben wir das Eine festzuhalten, daß, wie die Wirksamkeit der edelsten Rasse durch ihre – im natürlichen Sinne durchaus gerechtfertigte – Beherrschung und Ausbeutung der niederen Rassen, eine schlechthin unmoralische Weltordnung begründet hat, eine mögliche Gleichheit aller, durch ihre Vermischung sich ähnlich gewordener Rassen uns gewiß zunächst nicht [524] einer ästhetischen Weltordnung zuführen würde, diese Gleichheit dagegen einzig aber uns dadurch denkbar ist, daß sie sich auf den Gewinn einer allgemeinen moralischen Übereinstimmung gründet, wie das wahrhaftige Christentum sie auszubilden uns berufen dünken muß. Daß nun aber auf der Grundlage einer wahrhaftigen Moralität eine wahrhaftige ästhetische Kunstblüte einzig gedeihen kann, darüber gibt uns das Leben und Leiden aller großen Dichter und Künstler der Vergangenheit belehrenden Aufschluß. – Und hiermit auf unserem Boden angelangt, wollen wir uns für weiteres Befassen mit dem Angeregten sammeln.‹

Fast die ganze literarische Lebenstätigkeit Gobineaus war im Laufe dieses einen Jahres von ihm mit aller gebührenden Aufmerksamkeit verfolgt worden. Die ›Trois ans en Asie‹ beschäftigten ihn noch den ganzen Monat September hindurch mit vielem Vergnügen. Er ließ Abschnitte daraus zuweilen abends vorlesen, nur die gelegentlich darin vorkommenden Auslassungen zugunsten der katholischen Kirche bedauernd und sie sich einzig aus der eigentümlichen Stellung des Grafen zu seiner Mitwelt erklärend. ›Der Geburt, wie der ganzen Überzeugung nach Konservativer‹ (heißt es über ihn in dem mehrerwähnten ›Erinnerungsbild aus Wahnfried‹), ›sah er alles, womit die Seinigen im Zusammenhang gewesen waren, erschüttert, mehr noch – verschüttet. Inmitten dieser Verwüstung erblickte er in der katholischen Kirche die einzige, eine lebendige Kraft des ordnenden Bestehens vorstellende Kraft. Diese Kraft aber galt ihm als die vorzüglichste kulturberufene, germanische Eigenschaft. Gern mochte er sich daher den schöpferischen Anteil der germanischen Völker an den zivilisatorischen Bildungen des Katholizismus vorstellen und entzog sich hierbei – wenn möglich – der Ergründung der Konflikte gerade seiner Lieblingsrasse mit dieser Kirche, sowie der Betrachtung der durch ihre Gewalt ausgeübten Erschütterung aller historisch zu Rechte bestehenden weltlichen Mächte.‹ Hier war der Punkt, auf welchem er den großen Denker, den Urheber des Rassegedankens als Grundlage aller wahrhaft nach innen gerichteten, nicht lediglich auf äußeren Vorgängen begründeten Geschichtsforschung Gefahr laufen sah, seinem eigenen Gedanken untreu zu werden. Um so mehr hatte er es sich angelegen sein lassen, im Zusammenhang seiner eigenen Abhandlung die wahre Herkunft dieser Kirche in ein helles Licht zu setzen: nämlich aus dem Schoße der ungemein mannigfaltigen Rassenvermischung unter semitischem Einfluß, der, nachdem er bereits am Hellenismus und Romanismus seine umbildende Kraft bewährt, in der sog. ›lateinischen‹ Rasse durch alle ihr wiederfahrenen neuen Vermischungen einen letzten Niederschlag fand. ›Das Eigentum dieser (lateinischen) Rasse ist die römisch-katholische Kirche; ihre Schutzpatrone sind die Heiligen, welche diese Kirche kanonisierte.‹ Ein stärkerer Gegensatz aber, als der zwischen germanischer und jener lateinischen Mischrasse, war nicht denkbar; daher aus dem Schoße jener ersteren stets von neuem die [525] kühnen Reformatoren, aus dieser aber nur die Ketzerverfolger hervorgingen.

Seine emsig fortgesetzte Arbeit an der Partitur wurde durch die auf ihre szenische Verwirklichung abzielenden Vorbereitungen eher gefördert als gestört und unterbrochen. Gleich nach der Rückkehr erfreuten ihn die inzwischen eingetroffenen hübschen Zusagebriefe der Sänger. Auf Konferenzen mit seinem Verwaltungsrat (meist um 5 Uhr in Wahnfried) wurden die Ankündigungen der nächstjährigen Aufführungen, die Preise der Plätze usw. bestimmt; bei einer Fahrt auf das Festspielhaus der Logenbau, dann die Werkstatt besichtigt, in welcher die Walzen für die Wandeldekorationen gehobelt wurden; all diese Tätigkeit, dieser Aufwand für einen idealen Zweck erfreute ihn lebhaft, und er gedachte mit Dank und Anerkennung Brandts, dessen erfindungsreiche Umsicht ihm so viele Sorgen abnahm. Am 6. Oktober erschien Brandt selbst noch einmal, zugleich mit den Gebrüdern Brückner; und wie er von der Fahrt zum Theater, wo er den vorgerückten Logenbau besichtigt, zurückkam, wurden die neuen Maquettes zu seiner höchsten Befriedigung gezeigt: insbesondere die Wandeldekoration nahm sich selbst in der starken Verkleinerung schön und bedeutend aus. Nach dem gelegentlichen Vortrag der Szene zwischen Sachs und Evchen sagte er einmal: ›im Ernst, er sei froh, wenn er etwas von sich nach Zeiten wieder ansähe, es gut zu finden; denn selbst beim »Parsifal« ginge es ihm jetzt zuweilen so, daß ihm alles schlecht schiene‹. Bei den Übungen mit den Sängern im August bemächtigte sich seiner angesichts ihrer Unfertigkeit zuweilen eine ›Müdigkeit, welche der Verzweiflung glich‹. Der Vortrag des dritten ›Siegfried‹-Aktes, der Erweckung Brünnhildes, durch Winkelmann, erhob über allen Mißmut. Neapolitanische Lieder, von Pepino gesungen, beschlossen den Abend, der Meister lobte ihn sehr und äußerte sich später dahin, es sei ihm dabei gewesen, wie wenn ein griechischer Himmel mit seiner reinen Bläue sich über ihm eröffnete. Als seine Kundry-Sängerin, Frl. Brandt, aber einmal erkältet war und keine Probe stattfinden konnte, sondern statt dessen eine Fahrt nach Fantaisie mit den Seinen, rief er aus: ›Nein, dieser Tag! kein Abgeben mit Unmöglickeiten!‹ Die endlich eintretende angenehme Gewißheit, daß sie die Kundry gut werde singen können, nahm ihm eine Last vom Herzen. Es war noch während ihrer Anwesenheit, daß er sich gedrungen fühlte, bei den Worten ›süße, holde Mutter‹ eine kleine harmonische Veränderung zu machen, die ihn mit Genugtuung und Freude erfüllte. ›An solch einem Werk‹, sagte er, ›könne man sein ganzes Leben arbeiten.‹ Nach der Rückkehr von Dresden wandte er sich, selbst während der Niederschrift von ›Heldentum und Christentum‹, mit erneutem Wohlgefühl seiner Partitur zu: ›der »Parsifal«, glaube er, würde gefallen; es sei das Merkwürdigste, was er gemacht‹. Doch nahm ihn die große Parsifal-Kundry-Szene mit dem Ungeheueren ihrer Leidenschaftlichkeit stark mit: ›Jetzt [526] liebe ich Ruhe; »Tristan« – das hat sich einmal ausgerast, aber jetzt sind mir leidenschaftliche Sachen zuwider! Ich möchte nur solche Dinge machen, wie die Szene im dritten Akt (Salbung und Taufe)!‹ Und wieder ward er am selben Tage dabei betroffen, wie er im Burnouf seinen Stoff zu den ›Siegern‹ durchlas. In Momenten der Ermüdung rief er dann aus: ›Noch so und soviel Seiten! Ich will froh sein, wenn ich meine Partitur beendigt habe!‹ Oder ›seine Partitur sei die umgekehrte peau de chagrin; je mehr er daran arbeite, um so mehr verlängere sie sich‹. Und ›peau de chagrin‹ blieb für einige Tage der Name für seine Arbeit. Übrigens war es schon am Tage nach seiner Ankunft aus Dresden wieder so kalt, daß es ihn arg verstimmen mußte und er gleich nach dem ersten Betreten des Bayreuther Bodens wieder einen Brustkrampf hatte! Bei wachsender Kälte fühlte er sich leidend, dachte mit Sehnsucht an Korfu oder sprach von Konstantinopel. Dazu beständige geschäftliche Ärgernisse mit denen, die nur darauf bedacht waren, ihn auszubeuten: bald waren es Briefe des Herrn Batz; halb war er durch seinen Berliner Verleger Fürstner dazu genötigt, eine der ihm verhaßten Eidesleistungen abzulegen Rheumatische Schmerzen stellten sich ein. Das ihm verordnete Mittel dagegen beschwerte ihn und bewirkte eine unruhige Nacht. Drei Blutegel – er nannte sie die ›drei Grazien‹ – wurden ihm angelegt, und er mußte zu Bett bleiben. Er blieb heiter, trotz der belästigenden Schmerzen; aber die Partitur mußte an solchen Tagen ruhen und er sich mit bloßer Lektüre der ›Trois ans en Asie‹ begnügen. Er studierte am Atlas den Weg nach Korfu und ließ sich massieren.

In diese Zeit, vom 22. September ab, fiel der regelmäßige Besuch Liszts, der sich diesmal auf fast drei Wochen erstreckte. Kurz vorher hatte gerade der, durch irgendeinen Zufall aufgefundene und in die Hände einer Zeitungsredaktion gefallene Brief Liszts an Belloni vom 14. Mai 184932 die Runde durch alle deutschen Blätter gemacht, bis in das bescheidene ›Bayreuther Tagblatt‹ hinein, und der Meister dazu ausgerufen: ›O, was Liszt ist, daß er ein Wesen hors concours ist, das weiß ich! Ich brauche nur an meinen Gehirnkasten anzuklopfen, um ihn ganz vor mir zu haben. Aber ich beklage es, daß wir uns durch falsche Einflüsse – so fremd geworden sind! Das heißt, wir sind es uns auch nicht, aber sind uns so wenig!‹ Das war das alte, immer wieder empfundene Leiden seines Lebens, nicht in bezug auf sich allein, sondern vor allem auf das eigene Wohlergehen Liszts. Die Erwartung seiner Ankunft brachte das Gespräch wieder vielfach auf seine Beziehungen und sein Leben, in welchem das ganze Haus Wahnfried, der Meister selbst an der Spitze, nur eine Nummer seien. Bei seiner Ankunft empfing ihn Wagner mit seiner ganzen Familie auf dem Bahnhof; er freute sich, ihn [527] bei weitem wohler aussehend zu finden, als es nach allen vorausgegangenen Nachrichten zu erwarten war, und redete ihm auf das herzlichste zu, ganz bei ihm und den Seinen zu bleiben. Bei Tische kam das Gespräch auf den praktisch ausgeübten Vegetarianismus, und Liszt erheiterte alle Anwesenden, indem er das von ihm nach einer Melodie aus ›Norma‹ gesungene Vereinslied der englischen Temperenzler zum besten gab: ›we belong, we belong, we belong to the temperance, the temperance society‹ usw. Abends arrangierte sich Liszt zu Ehren eine Whistpartie, von welcher sich Wagner jedoch bald entfernte, um in Scotts ›Woodstock‹ zu lesen, den er kurz zuvor von Wolzogen hatte holen lassen, und in welchem ihm viele Schwächen, breite Ausmalungen usw. auffielen. Er verglich Walter Scott in bezug auf seinen Konservativismus mit Gobineau: ›die Gesetzmäßigen, hier die Stuarts, sie bleiben göttlich, während jemand wie ein Cromwell, bei aller Gerechtigkeit gegen ihn, doch nur als ein Original, ein Kuriosum gezeigt wird‹. In seinen Nachrichten an die Fürstin berichtet Liszt auch über Joukowsky und seine schönen Skizzen zum ›Parsifal‹, dem Gralstempel, Waldbild und Zaubergarten: ›er bewohnt ganz dicht bei Wahnfried sehr angenehm ein hübsches Haus, und ich habe ihn ganz in mein Herz geschlossen‹. Auch gedenkt er eines in diese gleiche Zeit fallenden mehrtägigen Besuches der Pariser Verehrerin des Meisters Mme. Judith Gauthier, die immer nur in ›himmlischen Entzückungen‹ schwebe.33 Wiederholt kam die Rede auch auf die Vivisektion, und Wagner sagte dabei: ›Das Verhältnis zu den Tieren ist so einfach; so leicht wird es uns, gegen sie gut zu sein, während das Verhältnis zu den Menschen so kompliziert und schwierig sei: jenes wäre ein Weg, um auch dieses zu finden.‹ Beide großen Meister waren zeitweilig sehr von Schmerzen geplagt, Wagner durch die schon erwähnten rheumatischen Leiden, Liszt durch eine Drüsenentzündung. Trotzdem überwog bei weitem die Heiterkeit. Einmal fand sich ein Medailleur Wittig aus Rom ein, um für eine von ihm zu verfertigende Medaille eine Sitzung bewilligt zu erhalten, wobei Wagner ihm scherzend sagte: ›machen Sie mich im Schöpfungsakt mit dem Radiermesser in der Hand‹. Die anhaltende Kälte und der vorherrschende Nebel lenkte seine Gedanken auf den Süden, und er las im Bädeker über Palermo. Zur allgemeinen Freude spielte Liszt in seiner göttlichen Weise die E dur-und die As dur-Sonate von Beethoven. Tags darauf, nachdem der Meister die schon erwähnte Fahrt zum Festspielhause gemacht und bei der Rückkehr mit Wohlgefallen die Maquettes der Brüder Brückner sich hatte zeigen lassen (S. 526), gab es Brandt und Brückners zu Ehren einen Wahnfriedabend, zu welchem auch Feustel, Wolzogen, Porges, Humperdinck (dessen Aufzeichnungen wir hierbei folgen), ein Dr. Hering (Gast Wolzogens), jener Medailleur [528] Wittig u.a. gegenwärtig waren, und Liszt brachte dabei ein Scherzo von Weber und die F moll-Variationen von Beethoven derart zum Vortrag, daß der Meister die Frage aufwarf, ob man glauben könne, Beethoven selbst habe sie so gespielt? Er glaube es nicht, und rühmend hob er hervor, wie bei dieser Einfachheit jede Melodie wie eine Gestalt auf uns zukäme. Ein anderes Mal bot er die beiden Sonaten op. 111 und – vorher die A dur-Sonate. Letztere bezeichnete Wagner als ›Frühlingsnahen‹ und wünschte das Tempo des letzten Satzes etwas langsamer genommen, als Liszt es tat, da in dieser Sonate leidenschaftliche Akzente ganz ausgeschlossen seien. Gern war ihm Liszt zu Willen, und er freute sich nun erst recht dieses quellenden Frühjahrsknospens und -rauschens. Daß er den großen Freund mit aller Überredung nicht zu längerem Bleiben, ja zu dauerndem Verweilen bewegen konnte, erregte entschieden Wagners Unwillen. Nicht leicht wurde es ihm vollends, auf den durch die Fürstin Marie Hohenlohe einigermaßen peremptorisch vermittelten Wunsch ihrer Mutter, der Fürstin Wittgenstein, einzugehen und dem Scheidenden dessen älteste Enkelin, Daniela von Bülow, die er in letzter Zeit schon so viel und dauernd entbehrt, für ein volles Vierteljahr zur Begleitung mit zugeben,34 um so mehr als es ihm nicht angemessen erscheinen durfte, in seinem eigenen Haushalt von außen ›kommandiert‹ zu werden. In der Tat, Liszts Gesundheit erschien gebrechlich, und er ging in wenigen Wochen seinem siebzigsten Geburtstag entgegen; aber er war in Rom nicht ohne Umgebung seiner eigenen Wahl,35 und es konnte doch nicht für im voraus bestimmt gelten, wer von ihnen beiden denn wohl früher [529] dahingehen würde! Wenigstens war die Nachricht über den plötzlichen Tod des österreichischen Ministers Haymerle, von dem es hieß, er habe zuerst einen Brustkrampf und dann einen Herzschlag gehabt, nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Bei trübem Wetter und mit trübem Gefühl trennte er sich am 10. Oktober von Liszt und dem Kinde, das er ganz als das seinige betrachtete, und das er nun abermals aus dem heimatlichen Kreise scheiden sehen mußte. Wenn auch die Heiterkeit bei ihm über jede Depression den Sieg davontrug, die Brustbeklemmungen stellten sich immer wieder ein, und sein dadurch beunruhigter Hausarzt Landgraf schlug ihm vor, Dr. Leube aus Erlangen, als hervorragendste Autorität für Unterleibskrankheiten, kommen zu lassen.

Unter diesen Umständen richteten sich die Gedanken immer wieder auf den Süden als einzige Rettung. Von Palermo traf ein Brief Rubinsteins mit entzückter Beschreibung seiner Schönheit ein; sehr lebhaft beschäftigte seine Phantasie auch das Projekt einer Nilfahrt. Ein Bekannter aus der Londoner Zeit, den er in Dresden wieder getroffen und mit seiner Familie zum Frühstück besucht, hatte ihm zuerst deren Annehmlichkeiten ausgemalt und in einem auf Wunsch eingesandten brieflichen Exposé alle Einzelheiten derselben berührt: das stimmte heiter und verlangend. Die Luft draußen war so rauh, daß er keinen Schritt ins Freie mehr machen konnte. Um sich die nötige Bewegung wenigstens im geschlossenen Raum zu verschaffen, wurde im Saale ein Billard aufgestellt; es machte ihm Spaß, zwischen jeder Seite seiner Partitur ›kegeln‹ zu gehen, und er spielte wohl mit Stein mehrere Partien hintereinander. Auch kam es an den besseren Tagen zu wiederholten Ausfahrten nach Drossenfeld, wobei ihn die von dem Ackerlande aufflatternden Goldammern durch ihren Anblick ergötzten. Von einer solchen Ausfahrt heimgekehrt, wurde er wieder von einem Brustkrampf befallen, und es dauerte lange, bis er zu Tische erschien. Er erheiterte sich aber bald, das Nilfahrtprojekt wurde wieder aufgenommen, Lexika und Landkarten studiert. Schon im Wagen hatte er davon gesprochen, wer von den Kindern zuerst eine Pyramide ersteigen würde; er müsse wenigstens bis zum fünften Katarakte gelangen, erblickte sich und die Seinen bereits im Turban, sich fächern lassend – kurz, der Plan diente wenigstens zu einer großen Zerstreuung der Gedanken und nahm ihn so lebhaft ein, daß er sich morgens beim Erwachen fragte, wo er denn eigentlich sei, wobei ihm denn das ganze Projekt (und die Aussicht darauf, dort den dritten Akt seiner Partitur zu schreiben!) plötzlich ganz toll erschienen sei. In seinen eigenen Studien war er damals mit einem gelehrten Werk über den ›Urmenschen‹ beschäftigt, unter großem Mißfallen an den jetzigen deutschen Büchern. Er machte sich darüber lustig, daß darin nichts anderes vorgehe, als daß Professoren zitiert würden und der Autor einmal ausdrücklich erkläre: mehr [530] könne man über den Ursprung des Menschen nichts sagen, da Professor N. N. keine weiteren Forschungen gemacht hätte. Originalgedanken, wie bei Gobineau, eine geniale Hypothese, das wäre seine Sache, während jenes vorsichtige Zitatenwesen ihm widerwärtig sei. Bei Wilhelm von Humboldt erfreute ihn dessen Annahme, daß der Mensch, als er die Sprache hervorbrachte, kein roher, zerstörungssüchtiger Barbar, sondern ein mildes besonnenes Wesen, das wie ein Kind gespielt habe, müsse gewesen sein, und er stellte sich dessen Milde, Güte und Begabtheit vor. In den abendlichen Lektüren gab es bunten Wechsel: aus Uhland wurde, mit vielem Genuß daran, die Geschichte des Aygill und des Starkadr gelesen; aus E. T. A. Hoffmann zu allgemeinem Vergnügen die Novelle von ›Ignaz Denner‹, welcher nachdem er bereits die Heilige gefunden – immer wieder von Trabacchio heimgesucht wird. ›Das sind die Züge‹, rief er, ›die mich an Hoffmann gebunden haben: er hat sie gewiß nicht erfunden, aber doch gestaltet!‹ Eine Geistergeschichte aus Apels ›Gespensterbuch‹ unterhielt ihn so, daß er sie bei der Abendtafel wieder erzählte, mit der Bemerkung, daß der ihm aus der Kindheit noch vertraute, damals in der Gesellschaft herrschende Ton heutzutage vollständig verschwunden und untergegangen scheine. Eine hiernach vorgelesene zweite Apelsche Gespenstergeschichte (›Paulinzell‹) gefiel ihm bei weitem weniger; einzig die Anknüpfung an die damaligen Ereignisse, die Schlacht bei Möckern usw. fand seinen Beifall, und er hielt eine so lebendige Schilderung jetzt nicht mehr für möglich. Zwei mongolische Männer in einer neuen Lieferung des Werkes über ›Indien‹ entlockten ihm den Ausruf: ›so werden unsere künftigen Beherrscher aussehen!‹ Dann verweilte er vorbeigehend bei einem Lubbockschen Werk über den vorgeschichtlichen Menschen, und blieb dann bei Kants ›Physik des Himmels‹ haften, an dem ihm gleich in der Vorrede einige, auf die innere Zweckmäßigkeit des Universums bezügliche Stellen gefielen und dessen Darstellungsart ihm zusagte, so daß er seine Vormittage gern damit verbrachte.

Am 19. Oktober war die Partitur des zweiten ›Par sifal‹-Aktes vollendet, und der Plan für eine sofortige Übersiedelung in ein wärmeres Klima trat in drängendere Nähe. Einige Schwierigkeit bereiteten die großen Kosten eines solchen Aufenthaltes, und in dieser Beziehung erklärte er, daß Neumann mit seinem Unternehmungsgeist ihm völlig endämonisch sei; ihm verdanke er jetzt die größten Theatereinnahmen. Bereits Ende September war dieser eifrige Mann mit einem von ihm ausgearbeiteten großen Projekt für ein Berliner Richard-Wagner-Theater an ihn herangetreten, um von diesem aus mit seiner Truppe Wandervorstellungen veranstalten zu können, unter der Voraussetzung eines ausschließlichen Aufführungsrechtes für den ›Ring des Nibelungen‹. Zur Errichtung eines solchen Theaters getreu nach dem Bayreuther Muster waren dem kühnen Unternehmer damals – von welcher Seite her, wird [531] nicht erwähnt – bedeutende Mittel in Aussicht gestellt. Es sollte für diesen Zweck ein Konsortium, eine ›Sozietät von 10 Mitgliedern‹ gebildet werden, deren ›erstes und oberstes Richard Wagner heißen müsse‹. Die Ertragsfähigkeit des Unternehmens sei unter den angeführten Bedingungen so außerordentlich glänzend, daß er (Neumann) nicht anstehe, den jährlichen Anteil des Meisters auf mindestens 60 bis 70000 Mark zu veranschlagen. ›Aber, liebster bester Freund‹, erwiderte ihm Wagner, ›wie stürmen Sie auf mich los! Wie soll ich Ihnen plötzlich so schwer wiegende Entscheidungen geben können? Zwanzig Jahre meines Lebens habe ich daran gesetzt, um »Bayreuth« zu gründen, weit ich eben damit eine weittragende Idee im Auge habe. Ein »Wagner-Theater« in Berlin? Nichts wäre mir leichter geworden: man bot mir vor neun Jahren die Mittel dazu.36 Was ich für die Welt zur Geburt bringen wollte, war dort nicht möglich! Was ich dagegen hier, in der Abgeschiedenheit, wohin man zu mir kommen mußte, schuf, konnte, wenn es rein zutage gefördert, endlich weitergetragen werden: aber diese Beförderung ist nun das Werk eines Anderen. Seien Sie dieser, – Sie erfuhren, daß ich Ihnen vertraue. Aber dies ist ganz Ihre Sache, und in keiner Weise kann ich anders dazu beitragen, als daß ich Ihnen meine Werke überlasse, mit Bevorzugung gegen jeden andern Unternehmer. Sie brauchen nicht mein Geld,37 aber – meinen – Namen? Wie ich Ihnen meine Werke gebe, geben Sie auch dem Theater meinen Namen, – aber nicht in der Reihe, oder gar an der Spitze der Interessenten. Berlin muß Ihre, aber nicht meine Unternehmung sein. Um wieviel mehr dies aber, wenn Sie sich zur Gründung dieses Theaters noch mit einem anderen künstlerischen Konsortium verbinden, was ich im praktischen Sinne für durchaus billigenswert halte, was meine Interessen-Teilnahme aber ganz und gar ausschließt.‹

Nicht völlig klar ist in der Neumannschen Darstellung dieser Verhandlungen, daß in Wagners Erwiderungen es sich immer nur um das ›ausschließliche Recht‹ der Aufführung des ›Nibelungenringes‹ handelt, während in den von Neumann reproduzierten Vorschlägen, die er dem Meister damals unterbreitete, der ›Ring‹ gar nicht besonders erwähnt wird, vielmehr das ›ausschließliche Aufführungsrecht des »Parsifal« (!) für Europa und Amerika‹ einen der 10 Paragraphen des Kontraktes bildet. Aber auch über diesen findet sich schließlich in einem Briefe vom 16. Oktober die nötige Auskunft: ›Der »Parsifal« ist nirgends anders aufzuführen, als in Bayreuth, und dies zwar aus [532] inneren Gründen, die z.B. meinem erhabenen Wohltäter, dem König von Bayern, so bestimmt einleuchteten, daß er sogar von einer Wiederholung der Bayreuther Aufführungen auf dem Münchener Theater ganz abstand. Wie könnte ich diesem Vorangange gegenüber Ihrem Vorschlage gemäß über den »Parsifal« verfügen? Nie darf und kann ich ihn auf anderen Theatern aufführen lassen: es sei denn – daß sich ein wirkliches »Wagnertheater« ausbilde, ein Bühnen-Weih-Theater, welches – ja gewiß, wandernd, das über die Welt verbreite, was ich bis dahin rein und voll auf meinem Theater in Bayreuth gepflegt habe. – Halten wir diesen Gedanken für Ihre Unternehmung unentwegt fest, so kann wohl die Zeit kom men, wo ich keinem Hof- oder Stadt-Theater, sondern dem wandernden Wagnertheater auch einzig den »Parsifal« übergebe.‹

In seinem Befinden waren um diese Zeit zwei Strömungen ganz deutlich zu unterscheiden, von denen bald die eine, bald die andere an die Oberfläche trat. Die eine davon kann als sein unverändertes eigentliches Wesen, die elastische Natur seiner ursprünglichen Konstitution bezeichnet werden, die nur eines Klimawechsels zu bedürfen schien, um aus eigener Kraft alles wieder gutzumachen und auszugleichen; die andere der im Innern verborgene, gleichsam belagernde oder doch unterminierende Feind, die Organe mit Zersetzung und Auflösung bedrohend. Erhielt die erstere die Oberhand, so fühlte er sich, wie er oft sagte, ganz wie in den Jugendjahren, so daß es ihm völlig lächerlich vorkäme, einen grauen Kopf zu haben. Dann kam es wieder mit schwerem Druck über ihn, so, als er – gerade an Liszts Geburtstag, dem er ein wundervolles Begrüßungstelegramm entsandt – von dem Tode des Konsistorialrats Kraußold erfuhr. ›Das war mein Vorgänger‹, sagte er, ›nun lebe ich noch zehn Jahre.‹ Und als jemand eine sonst gern von ihm selbst angeführte geheimnisvolle Prophezeiung von 94 Lebensjahren (vgl. S. 80) erwähnte, schüttelte er mit dem Kopfe und bedauerte es des öfteren im Laufe des Gespräches, den alten Freund nicht wieder gesehen zu haben. Er gedachte der schönen, warmempfundenen Kraußoldschen Ansprache bei Gelegenheit seines Hauskonzertes in Wahnfried (S. 172) und erklärte, er habe das Gefühl, als hätte ein herzlicher Zuspruch solch einen Menschen am Leben erhalten können, während er ohne ihn in physischer, wie moralischer Dürftigkeit zugrunde ging. Dr. Landgraf riet dringend zu baldiger Abreise; die Zimmer im Hotel des Palmes in Palermo wurden bestellt; doch fiel es ihm schwer genug, sein schönes trauliches Haus verlassen zu müssen. Von dem werten jungen Freunde Stein verabschiedete er sich noch am Abend des 22. mit einer heiteren Plauderei, und bedauerte es außerordentlich, Wolzogen nicht mit sich nehmen zu können. Gern hätte er es auch gesehen, daß, wenn schon einmal Liszt dafür nicht zu haben war, doch Gobineau ihn nach Palermo begleitete. Joukowsky war ohnehin an Bayreuth gebannt: ›meine Arbeiten für den »Parsifal«‹, [533] berichtet er selbst, ›erlaubten mir nicht, an dieser Reise teilzunehmen.‹ ›Vor seiner Abreise‹, fährt er fort, ›vertraute mir Wagner die Besorgung eines schönen Geburtstagsgeschenkes für seine Frau an, mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß es ihm nie gelingen wollte, etwas Schönes für den 25. Dezember vorzubereiten.38 Er wollte ihr einen Schmuck, an einer Kette um den Hals zu tragen, von seinem Lieblingsjuwelier Mellerio in Paris machen lassen und bat mich, eine Zeichnung dazu anzufertigen, welche seinen Beifall erntete.‹ Joukowsky übernahm dies gern und schickte Mellerio die Zeichnung – das Weitere wird uns später beschäftigen.

Selbst der Schreibetisch im Saale von Wahnfried wurde nach der Vollendung des zweiten ›Parsifal‹-Aktes noch einmal für eine Arbeit in Anspruch genommen, eben jene Abhandlung über ›das Männliche und Weibliche in Kunst und Religion‹, dessen wir bereits (S. 520) gedachten. In seinen Unterredungen gelangte so mancher darauf bezügliche Gedanke zum Ausdruck. Das Wesen des Weiblichen sei das Mitleiden mit dem kämpfenden, alles nach außen hin verfechtenden Manne. Wenn nun der Mann verkomme, höre das Mitleid auf, und die Frau werde hart. Wir erinnern uns hier auch der anläßlich der ›Tänzerin von Schemacha‹ getanen Äußerung über die merkwürdige Erscheinung, wie untergehende Stämme immer noch heroische Frauen hervorbrächten (S. 432), als wenn die schöpferisch ausgleichende Natur darin immer noch nach einer Hebung aus dem Verfalle hinstrebte. Doch fehlte einstweilen die Stimmung zur Fortführung des Begonnenen. Der Wind war so kalt, daß er von einem Versuche auszugehen bald mit Sorge vor der Gesichtsrose heimkehrte. Einmal kam er ganz elend aus dem Hofgarten zurück und meinte, die Leute müßten ihn wohl für betrunken gehalten haben; an jeden Baum habe er sich halten müssen Nicht einen Schritt wolle er hier mehr machen. Inzwischen war auf Veranlassung Landgrafs (S. 530) auch Dr. Leube aus Erlangen eingetroffen, und es gab eine lange Konsultation mit dem erfreulichen Endergebnis: seine Organe wären ganz gesund, er bedürfe nur einer strengen Diät und vieler Luft.39 Noch einmal fuhr er zum Theater, besichtigte den fortschreitenden Logenbau und besuchte dann Freund Feustel, der mit großer Zuversicht von den Aufführungen des künftigen Jahres sprach. Von Brandt traf ein sehr hübscher Brief ein, wonach er mit Freuden die Leitung des Ganzen übernahm.40 Am 30. Oktober sah er noch seine beiden Musiker, ›Werbel und Schwemmel‹, bei sich zu Tische: Humperdinck, dem er noch anläßlich[534] der Studien mit Fräulein Brandt seine Zufriedenheit in betreff seiner Begleitung ausgedrückt hatte, und Hausburg (S. 516). Humperdinck zeigte seine schöne Abschrift der Partitur, nach welcher alsdann in der ›Parsifal‹-Kanzlei die ferneren Kopien ausgeführt werden sollten, und er hatte die beruhigende Gewißheit, alles in guten Händen zu hinterlassen. Abends empfing er noch Wolzogen und die Freunde vom Verwaltungsrat nebst Jägers; am Abreisetage selbst (1. November) zu Mittag die guten Freunde Adolf Groß und Gemahlin. Um sieben Uhr abends ging die Abreise im Salonwagen glücklich vonstatten, in Begleitung der ganzen Familie, seines treuen Dieners und Reisemarschalls Schnappauf zur Besorgung alles Geschäftlichen und des kürzlich eingetretenen neuen Hauslehrers für Siegfried, eines Herrn Türk, bei den Zurückbleibenden ein Gefühl tiefer Vereinsamung zurücklassend.

Fußnoten

1 Vgl. die darauf bezüglichen Nachrichten Liszts an die Fürstin vom 26. Juni und 9. Juli 1881: ›Büllow et sa fille sont à Weimar et y resteront la semaine. Il s'entend de soi que je les vois du matin au soir.‹ ›Daniela a passé deux semaines ici avec son père: comme à Berlin, elle a charmé à Weimar. On lui reconnaît beauté, tact, esprit, belles manières, rare distinction‹ usw. (Liszts ›Briefe‹ VII, S. 321/23).


2 Enthalten in dem, durch mancherlei authentische Überlieferungen interessanten Büchlein: ›Richard Wagner in Bayreuth.‹ Erinnerungen, gesammelt und bearbeitet von Dr. Heinrich Schmidt und Ulrich Hartmann. Mit 14 Abbildungen. Leipzig, 1909 (ohne Jahreszahl), das in seinem dritten Abschnitt ein vortreffliches Kapitel enthält, unter dem Titel: ›Richard Wagner, ein Tierfreund‹ (S. 37/52).


3 Siehe den vollständigen Text dieses Briefes in dem obengenannten Büchlein, S. 49. ›Diese beiden Briefe‹, heißt es daselbst, ›zeigen uns Richard Wagner, wie er den Schild der Tierliebe schützend über seine Lieblinge hält, die er in ihrer Bewegungsfreiheit gefährdet sieht, und dabei nicht undeutlich daran erinnert, daß hinter ihm ein Mächtigerer stehe, auf dessen Unterstützung er in allen Fällen rechnen könne.‹ Die Originale derselben befinden sich noch heute in den Akten der Kgl. Hofgärtnerei Bayreuth.


4 ›Glänzend zeigte sich die menschenfreundliche Gesinnung Wagners in seinem Verhalten zu seinem alten Gärtner Rausch, dem eine rührend liebevolle Behandlung und Pflege zuteil wurde, als er in einem Nebengebäude von Wahnfried todkrank darniederlag. Als er später im Spitale seinen Leiden erlegen war, da trauerte die ganze Familie Wagner, und der Meister insbesondere bekundete seine Pietät und Wertschätzung für den toten Diener dadurch, daß er eine Einladung, die für den Tag ergangen war, an dem das Begräbnis des Gärtners stattfand, wieder absagen ließ‹ (Dr. Heinrich Schmidt und Ulrich Hartmann, ›Richard Wagner in Bayreuth‹, S. 90).


5 Ähnlich verhält es sich mit der gleich darauffolgenden Verallgemeinerung eines einzelnen Falles: ›Wenn er sich, was selten vorkam, einmal verschrieb und einen angefangenen Bogen wegwerfen mußte, wurde er so ärgerlich, daß er aufstand und für diesen Tag nicht mehr arbeitete.‹ Es könnte sogar leicht ein und derselbe Fall, wie der vorhererwähnte, und das ›Verschreiben‹ und Aufgeben der Arbeit die indirekte Folge des ›Zuschauens‹ gewesen sein.


6 Ein oft wiederholtes Wort des Meisters, der für seine Person stets ein Muster von Pünktlichkeit war und diese daher stets bei andern voraussetzte.


7 Auch bei diesem Teil des Berichtes scheinen sich in die Erinnerung Levis an jene Vorgänge der Vergangenheit einige Irrtümer eingeschlichen zu haben. Besonders zweifelhaft in seiner Echtheit dünkt z.B. die ›Ohrfeige‹ schon deshalb, weil hier ein bestimmter ›Herr‹ genannt worden sein soll, während es doch nach seiner eigener Erzählung um einen ›anonymen‹ Brief sich handelte, über dessen – tatsächlich niemals bekannt gewordenen – Verfasser, nach dem Berichte selbst, damals bei Tische kein Wort der Vermutung ausgesprochen ward. So wiederum die autoritative Erklärung der ›Bayreuther Blätter‹ v. Jahre 1901.


8 ›Bayr. Blätter‹, Jahrg. 1901, und S. 326 der Briefsammlung: ›Richard Wagner an seine Künstler.‹


9 Wir wollen übrigens hier bemerken, daß die oben von uns reproduzierten Daten Levis in bezug auf seine Abreise nach Humperdincks exakten schriftlichen Aufzeichnungen aus jenen Tagen nicht ganz genau sind. Levi reiste nicht, wie er erzählt, gleich nach Durchlesung des ›anonymen Briefes‹ ab, sondern war noch mit Marianne Brandt in Bayreuth und verließ es folgenden Tages, gerade als Richter ankam, nachdem er inzwischen vergeblich die Fassung wiederzugewinnen gesucht, und war überhaupt nur zweimal vierundzwanzig Stunden abwesend.


10 Vgl. die Briefsammlung ›Bayreuther Briefe‹, S. 299.


11 Er mochte es nie, wenn die wenigen Personen, die er als zu sich gehörig betrachtete, sich entfernten, und so ärgerte ihn auch diese kurze Abwesenheit des jungen Freundes, der sich so eng an ihn geschlossen: wenn er die Rosen im Garten blühen sah, wollte er sie gern dem für alles Schöne empfänglichen Joukowsky zeigen und hatte daher, wie er selbst sagte, nur halbe Freude daran.


12 ›Für alte Leute ist ein Sturz immer gefährlich, wenn es sich auch in die Länge zieht – il y a un âge où les chutes font surtout mal par l'ébranlement intérieur qu'elles causent‹ schrieb die Fürstin aus Rom an Fräulein v. Schorn und drückt damit auch die gleichzeitig in Wahnfried empfundenen Besorgnisse aus.


13 A. v. Schorn, ›Zwei Menschenalter‹ (Berlin 1901), S. 390/91.


14 Siehe S. 500.


15 Wir zitieren diesen Brief auf Grundlage eines Liepmannsohnschen Autographenkatalogs.


16 ›Wohl muß uns‹, schrieb er bald darauf, ›die brahmanische Religion als staunenswürdigstes Zeugnis für die Weitsichtigkeit, wie die fehlerlose Korrektheit des Geistes jener zuerst uns begegnenden arischen Geschlechter gelten, welche auf dem Grunde einer allerwesenhaftesten Welterkenntnis ein religiöses Gebäude aufführten, das wir, nach so vielen tausend Jahren unerschüttert, von vielen Millionen Menschen heute noch als jede Gewohnheit des Lebens, Denkens, Leidens und Sterbens durchdringendes und bestimmendes Dogma erhalten sehen.‹ ›Eine Meisterschöpfung sondergleichen: Herrscher und grauenvoll Bedrückte in ein Band metaphysischer Übereinstimmung solchermaßen verschlingend, daß eine Auflehnung des Bedrückten undenklich gemacht ist; wie denn auch die weitherzige Bewegung des Buddha zugunsten der menschlichen Gattung an dem Widerstande der starren Rassenkraft der weißen Herrscher sich brechen mußte, um als bieder abergläubische Heilsordnung von der gelben Rasse zu neuer Erstarrung aufgenommen zu werden‹ (›Heldentum und Christentum‹, Gesammelte Schriften X, S. 358/59).


17 Dieser Aufforderung hat sich Porges seit dem Jahre 1880 durch seine in mehreren aufeinanderfolgenden Jahrgängen allmählich vorschreitenden dramaturgischen Betrachtungen unter dem Titel. ›Die Bühnenproben zu den Festspielen des Jahres 1876‹ mit dankenswertem Eifer unterzogen. Im zusammenfassenden Sonderabdruck hat diese Schrift eine gewisse wohlverdiente Popularität erlangt. Auch brachte der Jahrgang 1881 im Oktoberheft (zu Liszts Geburtstag!) den ersten Abschnitt seines weitangelegten und in dieser Fassung unvollendet gebliebenen Aufsatzes ›Franz Liszt‹. Auch dieser Aufsatz schließt in seiner vorliegenden Gestalt mit der Beziehung beider Meister, Liszts und Wagners, zur ›Religion‹.


18 Auch die (durch Dannreuther besorgten?A1) tamtamähnlichen Instrumente für die Gralsglocken wurden probiert; doch heißt es in Humperdincks Notizen darüber: ›Erster Glockenversuch im Festspielhaus mit Tamtams – sehr mangelhaft!‹ Und es dauerte noch lange Zeit, bis man durch Konstruktion eines ganz neu zu erfindenden Tasteninstrumentes, um dessen Herstellung sich der Bayreuther Piano- und Flügelfabrikant Ed. SteingräberA2 mühte, auch nur annähernd Befriedigendes erreichte.


19 Siehe: ›Gedichte‹, S. 148. Es lag bei Steins Ankunft auf dessen Tische.


20 Später mit anderen Bayreuther Aufsätzen Steins vereinigt in dem von Fr. Poske herausgegebenen Nachlaßbande: ›Zur Kultur der Seele‹ (J. G. Cottasche Buchhdlg.), S. 20/40.


21 Stein, der es sonst überall als eine Unart schlechter Schriftsteller verabscheute, einzelne Worte oder Sätze durch den Druck hervorzuheben, hat dennoch in der späteren Gesamtausgabe dieser Dialoge unter dem Titel ›Helden und Welt‹ jenen Satz in gesperrtem Druck wiedergegeben, weil sich an ihn die ihm zuteil gewordene Anerkennung Wagners knüpfte.


22 Wir sahen es zuletzt – kurze Zeit vor Steins Hingang († 22. Juni 1887) – in seiner Berliner Wohnung eingerahmt an der Wand und geben uns gern der Hoffnung hin, daß es aus seinem Nachlaß in den Besitz des Hauses Wahnfried zurückgelangt sei.


23 In Humperdincks ausschließlich für den eigenen Bedarf aufgezeichneten und für keinerlei Öffentlichkeit bestimmten, bloß für den gegenwärtigen Zweck uns vertrauensvoll im Auszug mitgeteilten Tagesnotizen finden sich sogar Andeutungen darüber, er sei in seinem grüblerischen Sinn vorübergehend mit sich und dem Meister selbst zerfallen gewesen; Frau Wagner habe in ihrer Güte heilend eingegriffen, indem sie seine Klagen anhörte. Und Humperdinck mußte das wissen, da er ihn so beständig unter den Augen hatte und sogar an schönen Julitagen mit ihm in kameradschaftlicher Gemeinsamkeit von Bayreuth aus mehrtägige Ausflüge nach Kulmbach oder in die Fränkische Schweiz unternommen hatte.


24 ›17. August. Einführung der Kopisten in die Parsifal-Kanzlei, im Hintergebäude der Restauration Angermann‹, heißt es bei Humperdinck.


25 Ouvertüre für Orchester (›Zug des Dionysos‹) zu den ›Fröschen‹ des Aristophanes, eine dramatische Kantate und eine achtstimmige Vokalfuge mit drei Themen für zwei Chöre.


26 Vgl. Band II des vorliegenden Werkes, S. 179 ff.


27 Ebendaselbst, S. 182.


28 Ebendaselbst, Band II, S. 99.


29 Vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 85.


30 Richard Wagner, ›Bayreuther Briefe‹, S. 302 und 327/28.


31 Zu weiterem Schutze des Werkes verzichteten nach Wagners Tode seine Erben (durch Rückzahlung) auf 15000 Mark von der im Kontrakte namhaft gemachten Kaufsumme gegen die Stipulation, daß auch ›das Aufführungsrecht in Konzerten, soweit eine ganze Aufführung des Wertes in Oratorienform oder nur wenig verkürzter Weise im Konzertsaal in Betracht käme‹, an sie zurückfiele, – natürlich nur, um sie zu verhindern!


32 Vgl. Band II des vorliegenden Werkes, S. 384 (5. Auflage).


33 Liszts ›Briefe an die Fürstin Wittgenstein‹ IV, S. 330.


34 ›Fürstin Hohenlohe war damals in Rom‹, berichtet A. v. Schorn, ›und ich fast jeden Abend mit ihr und ihrer Mutter zusammen. Daß Liszt immer noch nicht wieder ganz gesund war, hörten wir aus Weimar und Bayreuth. Die Fürstin sorgte sich, ihn so ganz allein für den Winter in einem römischen Hotel zu wissen; so wurde denn ausgemacht‹ (nämlich: in Rom, durch die Fürstin Wittgenstein!), ›daß seine Enkelin, Daniela von Bülow, ihn von Bayreuth nach Rom begleiten und ich so lange mit ihnen bleiben solle, bis er im Januar nach Pest reisen würde‹ (›Zwei Menschenalter‹, S. 397/98). Und Liszt schreibt von Bayreuth aus am 8. Oktober an die Fürstin: ›Cosima me dit que vous exigez presque de me voir arriver à Rome accompagné par sa fille, ma très chère petite-fille Daniela. Je m'en faisais scrupule, et voulais vous en parler avant – mais je ne résiste plus, et viendrai vous retrouver avec Daniela dans 8 jours. Feu La Fayette a prononcé autrefois le célèbre adage: ›l'insurrection est le plus saint des devoirs‹. Je change le mot d'insurrection en celui d'obéissance (Liszts ›Briefe an die Fürstin‹ IV, S. 330). Über die Erfolge dieses ritterlichen Gehorsams im Laufe des Winters von 1881/82 meldet übrigens A. v. Schorn: ›Die Fürstin war ganz in ihre Stube gebannt; wir besuchten sie abwechselnd, und sie dirigierte unser Leben von ihrem Lehnstuhl aus, was manchmal nicht ganz bequem für uns war – ich habe früher schon erwähnt, daß ihre Anschauung der Dinge des täglichen Lebens nicht immer ganz der Wirklichkeit entsprach‹ (a.a.O., S. 398).


35 Außer der Fürstin war Fräulein v. Schorn, als freundschaftlich liebevolle Pflegerin Liszt aufs beste vertraut, den ganzen Winter in Rom.


36 Vgl. Band IV des vorl. Werkes, S. 353. 393 f.


37 Neumann hatte veranschlagt, daß jeder der zehn Sozietäre jenes Konsortiums eine Einlage von 25000 Mark zu machen habe, durch welche er mit dem zehnten Teil Eigentümer an dem Grundbesitz jenes zu errichtenden Wagner-Theaters würde; die Einzahlung der auf Wagner selbst entfallenden 25000 Mark wolle er, falls sie ihm Ungelegenheiten bereiten sollte, gern aus eigenen Mitteln für den Meister übernehmen.


38 Man vgl. dazu den Fall mit Gedon, S. 290 dieses vorliegenden Bandes.


39 Wir erwähnen dieses Zeugnis einer der hervorragendsten ärztlichen Autoritäten jener Tage im Gegensatz zu der verbreiteten ungerechtfertigten Behauptung: bereits bei dieser und schon der früheren italienischen Reise hätten die Ärzte dem Meister eine ›infauste Prognose‹ gestellt (vide: Henry Perl, ›Richard Wagner in Venedig‹, S. 55).


40 Vgl. die an ihn gerichtete Einladung dazu in den ›Bayreuther Briefen‹, S. 303/04.


A1 Siehe: ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 323.


A2 Vgl. in dem schon genannten Büchlein von Schmidt und Hartmann: ›Richard Wagner in Bayreuth‹ den Abschnitt: ›Die Gralsglocken‹ (S. 114/16).


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 494-536.
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