XVI.

Das Weihefestspiel.

[633] Die sechzehn Aufführungen des ›Parsifal‹ (zwei für die ›Patrone‹, vierzehn für das allgemeine Publikum) nebst begleitenden Ereignissen und Zwischenfällen.


Die regelmäßigen Aufführungen des ›Parsifal‹ gelten mir als Schule für die Künstler, welche daran teilnehmen, und müssen diese Aufführungen wohl, da es einmal nicht anders durchzuführen war, weiter für das zahlende Publikum bestimmt bleiben.

Richard Wagner.


Wer am 26. Juli von außen her als eben angekommener Festspielgast vom neu errichteten Bahnhof die Stadt Bayreuth betrat, und auch wer schon Tage und Wochen darin weilte: beide konnten von dem – seit dem gestrigen Tage – veränderten Bilde überrascht sein: mit so festlich prangendem Gewande hatten sich Straßen und Häuser angetan. Das Magistratskollegium hatte in einer Sitzung den Beschluß gefaßt, zu Ehren der für die ganze Stadt bedeutungsvollen Eröffnung der Vorstellungen des Bühnenweihfestspieles die städtischen Gebäude zu beflaggen. ›Es unterliegt keinem Zweifel‹, schrieb das ›Tagblatt‹, ›daß die Bayreuther Einwohnerschaft ihren freudigen Anteil an der Feier dadurch bekunden wird, daß sie, dem Beispiele ihres Magistrats folgend, ihre Häuser gleichfalls mit Flaggen schmückt.‹ Und so war es geschehen und über Nacht, resp. in den ersten Frühstunden die ganze Stadt mit den bayerischen und den Reichsfarben beflaggt und bewimpelt; die Gastwirtschaften, unter ihnen besonders das Angermannsche Lokal in der Kanzleistraße, bis weit auf die Gasse hinaus mit frischem Tannengrün geputzt. Durch die Straßen aber wogte ein reges buntes Leben; hatten doch die letzten Tage, und insbesondere der Morgen des 26. Juli, ganze Ströme von Fremden herbeigeführt, in freudig festlicher Erwartung dem Bann des Alltagslebens entronnen. Von hohen Herrschaften fehlte zwar der alte Kaiser, welcher in Gastein seiner Gesundheit pflegte; vor allem der königliche Freund und Beschützer des Meisters, über dessen Kommen oder Nichtkommen die Bevölkerung [633] noch im ungewissen war; wohl aber war der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, Friedrich Franz II, ein edler deutscher Fürst, der schon 1876 den ersten Festspielen beigewohnt und dem Werke seitdem sich als tätiger Gönner erwiesen, sowie die Großfürstin Maria Paulowna von Rußland erschienen und – nebst Gefolge – in dem, zu solchem Zweck dem Verwaltungsrat zur Verfügung gestellten, neuen Schloß an der Ludwigstraße abgestiegen. Dagegen hatte der Erbgroßherzog von Sachsen-Weimar nebst Gemahlin die private Gastfreundschaft des Direktors Karl Kolb dankend angenommen und die Herzogin von Edinburgh in St. Georgen bei den angesehenen Bayreuther Bürgern Karl und Emil Rose ein entsprechendes privates Unterkommen gefunden. Doch wäre das hiermit ausgemalte äußere Bild des Festtages unvollständig ohne die Hinzufügung, daß schon in der Nacht nach dem eben geschilderten geselligen Zusammensein in der Festspielhaus-Restauration ein leichter Regen und damit ein erneuter Umschlag zu ungünstiger Witterung eingetreten war; am frühen Morgen, während tausend Hände an der Ausschmückung sich betätigten, deckte ein grauer Nebel die Stadt und Umgebung, und auch den Tag über traten wiederholte Regengüsse ein. Aber wer achtete dessen? Ein innerer Sonnenschein lag über allem und vergoldete auch die graue Umgebung.

Die erste Aufführung des Werkes war noch nicht dem allgemeinen Publikum, sondern den ›Patronen‹, d.h. denjenigen Freunden und Gönnern der Sache gewidmet, die während der letzten fünf Jahre treu zum Patronatverein gehalten hatten, oder im Verlaufe derselben allmählich dieser Vereinigung beigetreten waren. Schon von halb drei Uhr ab begann bei trübem Wetter der Zug der Fußgänger zum Festspielhügel, von halb vier Uhr an, bei leichtem Regen, setzte sich die geschlossene Wagenreihe in Bewegung. Kurz vor vier Uhr riefen die Fanfaren alle Diejenigen in den geweihten Raum, die sich noch nicht in das Innere des Hauses begeben hatten – es war ein Augenblick weihevollster Erwartung, als im verdunkelten Raum aus der Tiefe des Orchesters die ersten Klänge des Vorspiels inbrünstig geheimnisvoll aufstiegen. Der Eindruck des ersten Aktes war ein mächtiger, beispiellos wie das Werk selbst, das sich in einem einheitlichen großen Guß vor den Augen und Ohren der versammelten Zuschauer darstellte. Die innige Durchdringung des ethisch-religiösen und künstlerischen Gehaltes, die plastische Ruhe und Sicherheit der Solopartien, wie der Chöre, die wundervolle Klangwirkung des Orchesters, die stilvoll würdige Anordnung des szenischen und choreographischen Teiles, die in einfacher Erhabenheit überzeugende Größe der Dekoration und mit minutiöser Sicherheit arbeitende Maschinerie vereinigten sich zu einer, bis dahin in einem Theater noch nicht erlebten Gesamtwirkung. Die besondere Leistung Scarias als Gurnemanz erschien sowohl in gesanglicher, als in dramatischer Beziehung als der Typus der Vollendung, und das weiche volle Organ Reichmanns [634] als Amfortas erregte mit seiner tief schmerzlichen Leidensklage im Innersten jedes Mitgefühl. Am Schluß des ersten Aktes, welcher (mit Einschluß des Vorspiels) genau 1 Stunde 50 Minuten gedauert hatte, erhob sich lauter anhaltender Beifallsruf durch die weiten Räume nach der Loge zu, in welcher der Meister mit seiner Familie Platz genommen. Dann folgte die seitdem gleichmäßig beibehaltene dreiviertelstündige Pause bis zum Beginn des zweiten Aktes, in welchem zunächst Hill als Klingsor seine ganze dämonische Genialität entfaltete. Hinreißend schön wirkte bei dieser und jeder ihr folgenden Aufführung bei Frau Materna als Kundry sogleich ihr erster Anruf: ›Parsifal!‹ und die ihm folgende Anrede bis zu dem: ›was trieb dich her, wenn nicht der Kunde Wunsch?‹, in welcher die Rundung des großen melodischen Bogens in unvergleichlicher Weise wiedergegeben wurde. So stark war auch im weiteren leidenschaftlichen Verlauf der Szene die zwingende Gewalt ihrer Darstellung, die Kraft und Fülle ihres, allen Modulationen, allen höchstgespannten Anforderungen an seine Biegsamkeit und Sicherheit folgenden Organs, daß sie, bevor noch die anderen Darstellerinnen zu Gehör gekommen waren, im voraus als die ›eigentliche‹ Kundry bezeichnet wurde. Überwältigend wirkte, nach dem gewaltigen Aufbau dieses Aktes vom düster Dämonischen durch das Liebliche zur höchsten Leidenschaftsentfaltung, der Zusammenbruch der trügerischen Pracht, die Verwandlung des üppigen Zaubergartens zur nackten, dürren Einöde mit ihren am Boden liegenden verwelkten Blumen, das Enteilen Parsifals, das letzte Sichausrichten Kundrys – und noch ungezügelter, als bereits nach dem ersten Aufzug, wurden die Kundgebungen des ganzen vollen Hauses, bis der Schöpfer des Werkes, als sie kein Ende nehmen zu wollen und das Verlangen nach Erfüllung eines bestimmten Wunsches auszudrücken schienen, an die Brüstung seiner Loge tretend, die Bitte an das Publikum richtete, auf einem Hervorruf der Darsteller nicht weiter bestehen zu wollen. Er und seine Künstler, deren vereinten Bestrebungen er diese vortreffliche Aufführung zu danken habe, würden im stillen für den ihnen geschenkten Beifall dankbar sein; doch seien sie übereingekommen, auf ein Erscheinen auf der Bühne zu verzichten, um den Eindruck des Ganzen nicht zu stören. Und nun, nach fast einstündiger Pause, die erhabene Weihe des dritten Aufzuges, vom schwermütig Elegischen zur höchsten Kraft des feierlich Ekstatischen unaufhaltsam sich steigernd, die Gefühle der Begeisterung und Ergriffenheit in einem bisher noch nicht gekannten Maße hervorrufend! Als aber am Schlusse der gewaltsam durchbrechende Dankes- und Beifallssturm von vielen zu unterdrücken versucht wurde, und im Publikum ein innerer Kampf widerstrebender Meinungen zu entstehen schien, berührte dieses Mißverständnis seiner ersten Ansprache den Meister fast peinlich, und er ergriff nochmals das Wort. Nicht die Beifallsbezeigungen, sondern den ›Hervorruf‹ der Darsteller habe er vorhin im Sinne gehabt; er gönne vielmehr seinen Künstlern diese wohlverdienten Kundgebungen der Zufriedenheit [635] mit ihren Leistungen. Hiermit gab er, selbst applaudierend, das Zeichen zu einem, nun nicht mehr endenwollenden Sturm mit Hochrufen und Tücherschwenken nach seiner Loge hin, die er inzwischen verlassen hatte, um sich zur Bühne zu begeben, in der Absicht, sich in der Mitte seiner Darsteller jetzt am Schlusse des Ganzen, dem immer weiter rauschend applaudierenden Publikum zu zeigen. Doch kam diese Absicht an diesem ersten Aufführungsabend nicht zur Verwirklichung. Mehrere Minuten lang dauerte inzwischen der Sturm im Hause mit seinen Hochrufen fort, bis er vor dem Vorhang erschien und seine Künstler entschuldigte, daß sie dem Hervorruf nicht Folge leisten könnten, weil sie schon im Umkleiden begriffen seien. Diese Vorgänge waren insofern bedeutungsvoll, als sich hiernach für die Haltung des Publikums während aller folgenden Aufführungen eine Art fester Tradition konsolidierte, die auf lange hinaus unverändert gültig blieb: nach dem ersten Aufzug die glücklich neugewonnene Gewohnheit eines feierlichen Schweigens, wie es der weihevollen Ergriffenheit der Empfänger des Kunsteindruckes an dieser Stelle einzig würdig entsprechen konnte; nach dem zweiten Akt und am Schlusse aber eine ungehemmte Entladung der aufgesammelten Empfindung durch anhaltende Beifalls- und Dankesbezeigungen, denen am Schluß das szenische Bild mit dem glühenden Gral und der herabschwebenden Taube als harmonisch ausgleichendes Moment und letzter Eindruck sich nochmals von der Bühne aus enthüllte. Diese bestimmte, sinnvolle Regelung trat von der zweiten Aufführung ab in Kraft.

Die Überreizung seiner ganzen Konstitution konnte nicht größer sein, als nach diesem ersten Aufführungsabend, nach sechswöchiger unausgesetzter Betätigung in den Proben. Gegen einen teilnehmenden Besucher im ersten Zwischenakt klagte er über asthmatische Brustkrämpfe und Kopfweh: ›sechs Wochen unausgesetzter Arbeit, das sei doch zu hart gewesen‹. Von seiner Bankettrede erklärte er, gar nicht mehr zu wissen, was er da gesprochen habe: aus den Zeitungsberichten erkenne er es nicht wieder. Im zweiten Zwischenakt, nach seiner Ansprache, ließ er sich überhaupt von niemand sehen. Das Mißverständnis seiner Ansprache stimmte ihn ungemein ärgerlich; es kursierte damals der Ausspruch von ihm: die ›Wagnerianer‹ seien so dumme Leute, man könne die Wände mit ihnen durchrennen. Wir erinnern uns, diese Äußerung als den Ausdruck der starken Irritation jenes Abends durchaus für echt, ihre Ausbreitung von Mund zu Mund aber nicht für sehr liebevoll gehalten zu haben; denn die Sache war kein Scherz und jene Irritation selbst das Ergebnis einer verschwenderischen Aufopferung der unersetzlichsten edelsten Lebenskräfte. Er verbrachte den folgenden Tag (Donnerstag, 27. Juli) in vollster Abgeschiedenheit, mit der Lektüre einer französischen Übersetzung von Humes ›Geschichte von England.‹ Abends aber gab es in Wahnfried den ersten Empfang: Saal, Halle und Nebengemächer strahlten in hellstem Glanz, [636] und weit über 200 Personen waren anwesend, die Damen in den auserlesensten Toiletten usw. Der Meister selbst befand sich fast den ganzen Abend unter seinen Gästen, bald im Saal, bald in der Halle oder in einem der anstoßenden Gemächer und sprudelnd von Witz, Satire und Heiterkeit. ›Der Richard Wagner ist wohl ein großer Komponist; aber man sagt, der Humperdinck instrumentiere ihm das meiste, – aber in der Anlage ist er großartig.‹ Gleich darauf in anderer Wendung des gleichen Scherzes: ›Rubinstein mache den Entwurf, und Humperdinck die Komposition‹. In Zürich, als er fünf Jahre keine Note geschrieben, habe ein Freund ihm gesagt: er glaube gar nicht, daß er den ›Tannhäuser‹ geschrieben; Reißiger habe ihn wohl gemacht. Gleich darauf begegnete ihm wirklich eine alte Züricher Freundin, Frau Heim. Sie war noch in Trauer um den Tod ihres Mannes (S. 473 f.), und schon vor drei Tagen – gleich nach ihrer Ankunft – in Wahnfried empfangen worden; nur er hatte sie noch nicht begrüßen können. Jetzt küßte er sie herzlichst auf die Wange, und auf ihre Äußerung: ›ich bin schneeweiß geworden‹ erwiderte er lachend: ›ei was, ich bin schnee gelb geworden‹. Dann erinnerte er sie an die Züricher Musikaufführungen, in denen sie mitgewirkt, und wie sie an Liszts Geburtstag zusammen die ›Walküre‹ gesungen.1 Niemann machte er es scherzhaft zum Vorwurf, er habe den Parsifal nicht singen wollen, weil er sich den Bart nicht abrasieren lassen wollte Worauf Niemann: ›Nicht allein den Bart, auch die Nase wolle er sich jederzeit für ihn abschneiden lassen, wenn es nötig sei.‹ Dann fuhr er aber doch mit einer Anekdote fort (für deren geschichtliche Treue wir die Verantwortung nicht übernehmen möchten): der alte Blücher habe gern im Spiel betrogen; das sei jemandem einmal zu arg geworden und er habe gesagt: ›Exzellenz, wenn einer Sie zu arg betrügt, was würden Sie tun?‹ ›Ei‹, habe Blücher erwidert, ›wenn er sonst ein anständiger Kerl ist, würde ich tun, als bemerkte ich es nicht.‹ ›Nun, aber die Beziehung?‹ erwiderte Wagner, bereits etwas ungeduldig. ›Die Beziehung ist die: wenn einer sonst ein anständiger Kerl ist, kann er auch einen Bart tragen.‹ – ›Das geht aber doch nicht‹, entgegnete der Meister kurz und ging zu etwas anderem über. Tatsache ist, daß er Niemann, noch von Palermo aus (S. 549) den bald fertigzustellenden Klavierauszug seines ›Parsifal‹ mit den Worten ankündigte: ›sehen Sie sich den Mosjeh an und sagen Sie, wie Sie sich zu ihm verhalten wollen‹; doch hatte er keinesfalls auf ihn als Darsteller gerechnet.

Auch die zweite Aufführung (Freitag, 28. Juli) war – wenigstens der Idee nach – ausschließlich für die Patrone, nicht für eine weitere Öffentlichkeit bestimmt. Trotzdem war das Haus vollauf, bis auf den letzten Platz, gefüllt. Die Darsteller waren die der sog. ›zweiten Besetzung‹: Siehr, Frl. [637] Brandt, Gudehus; Dirigent auch dieses Mal Levi. Die Aufführung hatte wiederum den weihevollsten Verlauf, sämtliche Mitwirkende wurden ihren Aufgaben in jeder Beziehung nach bestem Vermögen gerecht, und als der Vorhang nach dem ersten Akte fiel, entstand anstatt des lärmenden Tobens ein wohltuendes Schweigen der Andacht. Dagegen berührte es nach dem zweiten Akte abermals peinlich, daß das bereits zurechtgestellte Mißverständnis immer noch fortdauerte und die Beifallspendenden niedergezischt wurden. Am Schluß des dritten Aktes brach dann der zurückgehaltene Sturm desto gewaltiger aus. Man rief nach dem Meister und den Darstellern, und dem privaten Charakter der Aufführung gemäß, zugleich auch, um gewisser maßen von seinen Patronen als solchen Abschied zu nehmen, ließ Wagner den Vorhang noch einmal öffnen, um sich ihnen im Kreise seiner, noch im vollen Kostüm befindlichen Sänger zu zeigen. Zwar nicht an seine Patrone, an die Künstler wandte sich seine längere Ansprache. Ihnen allen, die sichtbar auf der Szene, oder unsichtbar von den Kulissen her oder von der Höhe des Schnürbodens herab, als Solisten oder im Chor zum Gelingen beigetragen, sage er seinen herzlichen Dank. Ja, mehr als das, er müsse ihnen seine volle aufrichtige, Freude aussprechen über die hohe Vollendung, die sie seinem Werke gegeben hätten. Sie hätten seine künstlerische Konzeption, mit wievielen Mängeln sie immer behaftet sein möge, in der glücklichsten Weise zur Tat gemacht. Selbstlos hätten Sänger und Sängerinnen sich seiner Sache gewidmet; selbst auf den üblichen Hervorruf während und am Schluß des Aktes, den er ihnen allen von Herzen gegönnt, hätten sie mit ihm verzichtet, um die Illusion nicht durch das Einmischen der rohen Wirklichkeit zu stören. So hätten sie, seine Künstler, eine Leistung zustande gebracht, die in der Tat hoch erhaben über dem alltäglich Gemeinen stehe. Ihnen allen gelte sein Dank, vornehmlich aber seinem Freunde Levi, der als Kapellmeister des Münchener Hoforchesters, das sein erhabener Gönner hochherzig ihm zur Verfügung gestellt, mit einer Ausdauer, einem Verständnis und einer Begeisterung sondergleichen seine Musiker, seine Künstler geleitet habe. Durch sie sei der ›Parsifal‹ erst so geworden, wie er ihn gedacht, und in diesem Sinne, für seine Sänger, seine Musiker, seine Maschinisten, mit einem Worte: für seine Künstler, nehme er den Dank entgegen, den seine Patrone so reich und herzlich ihm darbrächten. Neue enthusiastische Akklamationen des ganzen Hauses folgten diesen Worten, als der Vorhang sich wieder schloß, und erst nach mehreren Minuten, als man erkannte, daß der Schöpfer des Werkes ebensowenig wie seine Darsteller noch ein zweites Mal sich zeigen würden, ließ der Beifallsjubel allmählich verstummend nach.

Einen ›Abschied‹ von seinen Patronen nannten wir diese Schlußansprache am Ende der zweiten Patronats-Aufführung: nachdem das bisherige Patronat trotz seines guten Willens zu einer materiellen Aufrechterhaltung [638] der Festspielinstitution sich als machtlos erwiesen und demzufolge, um jedem Mißverständnis und jeder daraus möglicherweise entstehenden Gefahr für das Unternehmen vorzubeugen, ausdrücklich aufgelöst worden war, um die geschäftliche Leitung ausschließlich dem Verwaltungsrat zu überlassen, hatte gerade am Vormittag desselben 28. Juli eine aus 500 Angehörigen des bisherigen Vereins bestehende Versammlung stattgefunden. Auf dieser war konstatiert worden, daß diese ›Auflösung‹ nicht erst beschlossen zu werden brauche, sondern bereits durch die Macht der Tatsachen erfolgt sei. Die alten ›Statuten‹ des Vereins hätten den neuen Verhältnissen gegenüber von selbst ihre Bedeutung verloren, indem sie noch von der ›Schule‹ und dem ausschließlichen Besuch der Festspiele durch ›Patrone‹ sprächen. Es ward der allgemeine Wunsch laut, daß die alten Vereinsmitglieder, nachdem sie fünf Jahre hindurch miteinander in Treue ausgeharrt, auch fernerhin in irgendeiner Form ungetrennt beisammenbleiben möchten, um in ganz unoffizieller Weise die gemeinsame Pflege der Bayreuther Idee nach allen Richtungen hin sich zur besonderen Aufgabe zu machen. Es ward ein Ausschuß von neun Personen erwählt, welchem die Redaktion einer Mitteilung an den Meister und die etwaigen Vorarbeiten zur Neuordnung der Angelegenheit übertragen wurden. Der Ausschuß, an welchem u.a. die Herren v. Baligand (München), Friedrich Schön (Worms), Dr. Boller (Wien), Hans von Wolzogen, Prof. Schemann (Göttingen), Prof. Sommer (Braunschweig) teilnahmen, hielt tags darauf (29. Juli) seine Sitzung, und die erstgenannten vier Herren wurden zu Überbringern des Schriftstückes gewählt. Der Meister hatte gleichzeitig seine Sänger Frau Materna, Winkelmann und Scaria bei sich zu Tisch und benutzte auch diese Gelegenheit, um sie zu belehren und ihnen Regeln für die Aussprache zu geben. Von 5 bis 8 Uhr hatte er im Theater eine eigens für Fräulein Malten und Herrn Jäger bestimmte Probe, wobei namentlich die erstere einen überraschend guten Eindruck auf ihn machte. Aber seine Ermüdung war grenzenlos, das Wetter trüb und unerfreulich. Beim Verwaltungsrat liefen von auswärtigen Festspielgästen zahlreiche Telegramme ein, deren Absender ihren für die dritte (erste öffentliche) Aufführung angesagten Besuch wegen dieser Ungunst der Witterung auf eine spätere Vorstellung verlegten.

Diese dritte Aufführung ging am Sonntag, den 30. Juli, wiederum in der ersten Besetzung (Scaria, Frau Materna, Winkelmann) in der glänzendsten Weise vor sich und hatte gegen die erste Aufführung wesentlich an Vollkommenheit gewonnen. Die Auffahrt fand bei bedecktem Himmel und leichtem Regenguß statt; im Hause dachte niemand mehr daran, wie es draußen aussah. Die Darsteller übertrafen sich selbst, geradezu hinreißend war die Wirkung der Chöre im Gralstempel; der Beifall war ein ganz gewaltiger, stürmischer, doch, trotzdem das Publikum diesmal eine ganz andere Zusammensetzung [639] zeigte, war es auffallend, wie schnell dessen Kundgebungen sich bereits einer bestimmten Tradition fügten. Nach dem ersten Aufzuge war kein Laut hörbar, keine Hand rührte sich; alles war sichtlich ergriffen. Um so stürmischer brach der Jubel nach dem zweiten und dritten Akte los: wiederum mit Hochrufen und Tücherschwenken gegen die Loge des Meisters. Nach dem dritten Aufzug trat er an die Brüstung vor und sprach mit sichtlicher Ergriffenheit: ›Ich danke Ihnen herzlichst für den meinen Künstlern gespendeten reichen Beifall; er ist mir ein Beweis, daß Sie mit deren Leistungen zufrieden waren.‹ Hierauf neuer Beifallssturm, der nicht ruhte, bis der Vorhang sich teilte und als ruhendes Bild die Mitwirkenden in der Gruppierung der letzten Szene sich zeigten. Dies blieb von nun an die stehende Gewohnheit. Recht erregend wirkten auf ihn die ihm täglich zugehenden Nachrichten über die schlechte Bewirtung der Fremden in den Gasthöfen des Ortes; so war ihm von glaubwürdiger Seite her versichert worden, daß im Hotel zur ›Sonne‹ bei einer Table d'hôte zu 7 Mark nicht ein gesundes Stück Fleisch zu bekommen sei. Noch spät am Abend – die Unterschrift lautet: ›Sonntag Mitternacht‹ teilte er sich über diese Kalamität eingehend gegen den Bürgermeister mit. ›Wenn Sie, hochgeehrter Freund, auf das sorgsamste für gutes Unterkommen unserer Gäste bedacht waren, so scheint doch jetzt die Klage über schlechte Bewirtung und Nahrung, und zwar in den drei ersten Gasthöfen, nicht mehr zurückzuweisen.‹ Als schlagender Beweis dafür wird das soeben erwähnte Beispiel vom Hotel ›Sonne‹ von ihm angeführt. ›Da andrerseits bei dem vorherrschend schlechten Wetter die Restauration beim Theater nicht unterstützt werden kann,2 entsteht für unsere Gäste ein Unbehagen, welches, benützt von ungünstigen Zeitungsschreibern, sehr wohl geeignet sein dürfte, Bayreuth als Bühnenfestspielort in gründlichen Verruf zu bringen. Sollten meine vom künstlerischen Erfolg so sehr gekrönten Bemühungen unvermögend sein, mir die Fortsetzung der alljährlichen Bühnenfestspiele zu gestatten, so hätte ich tief zu beklagen, daß hieran der (Mangel an) Gemeinsinn der Bürgerschaft schuld wäre. Ich wende mich deshalb an Sie mit der ergebenen Bitte, alles, was in Ihrer bevorzugten Stellung Ihnen gestattet ist, anzuwenden, um den von mir bezeichneten gefahrbringenden Übelständen zu wehren.‹3 Das waren, neben den fortlaufenden Bemühungen um die künstlerische Vollendung der Aufführungen, die quälenden und ärgerlichen Gedanken, die ihn bis zur späten nächtlichen Ruhezeit – diesmal wieder weit nach Mitternacht in Anspruch nahmen, und mit denen er morgens wieder erwachte, und es drängte sich ihm dabei wohl [640] wieder der Zweifel auf, ob es nicht notwendig sein würde, sein großes Unternehmen der Festspiele schon wegen des dafür ungenügenden Ortes aufzugeben. Trübe Nachrichten über das Befinden Gobineaus dienten auch nicht zur Ermutigung! Am Montag sah er seine englischen Freunde Dannreuthers bei sich zu Tisch und erörterte mit ihnen die irische Frage und ihre beklagenswerte Unlösbarkeit; dann kam das Gespräch auf die Oupnekhats. Abends füllten sich die Räume des Hauses wieder für einen jener glänzenden Empfänge, die seiner Anordnung zufolge nunmehr regelmäßig zweimal in der Woche (am Montag und Donnerstag) die ganze Festspielzeit hindurch stattfanden, zu welchem er selbst aber diesmal recht spät erst unter den Gästen erschien und sich, während er bei diesem Erscheinen alles rings um sich durch Witz und Scherz bezauberte, doch recht sehr gequält dabei vorkam. Nur der, mit welchem er eben gerade zu tun hatte und an den er seine Worte richtete, sollte nichts davon spüren.

Das unerfreulich trübe Wetter dauerte auch am Tage der vierten Aufführung (Dienstag, 1. August) fort, und der Meister nannte deshalb das Barometer ein ›menschliches Wesen‹: ›es lüge, wenn es auf gut Wetter stünde‹. Ein unbedeutender Vorfall beschäftigte ihn schon seit gestern: er war im Hofgarten einem Mädchen begegnet, das ihn um ein Almosen bat, und hatte die Bettelei gerügt. Sie tue es für ihren Vater, hatte das Mädchen erwidert, und auf die weitere Frage: ›nun, und dein Vater?‹ erfolgte die Antwort: ›er sitzt!‹ Die Erinnerung daran beherrschte ihn bis zum folgenden Tage, beim Mittagsmahl mit Stein und Malwida rief er aus: ›ach, wir sind unmoralisch, an das Schöne zu denken, in einer Welt, wo einem solche Dinge begegnen!‹4 Die Aufführung selbst (mit Siehr, Frl. Brandt und Gudehus) geriet nach seinem Empfinden nur mäßig. Auch wurde die Wandeldekoration durch einen Luftzug zerstört und erhielt plötzlich einen Riß, so daß die Verwandlungsmusik dreimal wiederholt werben mußte,5 ohne daß die Stimmung irgend gestört worden wäre. Der größere Teil des Publikums ward sich dessen kaum bewußt. Als nach dem zweiten Akt wiederum ein Sturm des allgemeinen Jubels laut wurde, sprach Wagner von der Loge[641] aus die Worte: ›ich will gleich zu meinen lieben Künstlern gehen und ihnen sagen, daß Sie mit ihnen zufrieden sind‹. Nur er selbst (wie andererseits auch ein Teil der ausübenden Künstler) konnten diesmal mit dem Geleisteten nicht ganz zufrieden sein. An Scarias Leistung gemessen, war die etwas trockene Eigenart des stimmbegabten Siehr doch nicht in vollem Maße befriedigend; auch intonierte der Schlußchor nicht recht und war – bei seiner enormen technischen Schwierigkeit – überhaupt unsicher, so daß der Schöpfer all dieser erhabenen Herrlichkeit, nachdem er schon vor der Aufführung infolge Überreizung seines ganzen Nervensystems Tränen vergossen, am Schluß derselben zu einem Freunde die unvergeßlichen Worte sprach: ›Ich kann fast mit meiner Kundry im ersten Akte sagen: ich bin müde.‹ Und für den folgenden Tag stand eine vierstündige Probe mit Fräulein Malten und dem Tenoristen Jäger bevor. Bei strömendem Regen verließ das begeisterte Publikum die Aufführung, zu welcher das Haus nur zu drei Vierteilen besetzt war; einen beträchtlichen Teil der Festspielgäste hatte die ungünstige Witterung zu telegraphischer Absage veranlaßt.

Und dieser Regen dauerte fort. Zu Mittag hatte er am Mittwoch, den 2. August, außer Liszts Freundin, Frau von Meyendorff und Gräfin Voß, die beiden dimittierten Leipziger Theaterdirektoren Angelo Neumann und Dr. Förster, die ihre Laufbahn am Leipziger Stadttheater, an welchem ihnen bereits ein Nachfolger ernannt worden war, in den Tagen vom 14 bis zum 30. Juni mit einer, für die dortigen Verhältnisse von beispiellosem Gelingen begleiteten Aufführung sämtlicher Werke vom ›Rienzi‹ bis zur ›Götterdämmerung‹ abgeschlossen und gekrönt hatten. Beide hatten nach Neumanns Bericht darüber mit ihren Familien auf ›Fantaisie‹ ihren Sommeraufenthalt genommen und den Aufführungen von Anbeginn beigewohnt, um nach Schluß derselben in nächtlicher Fahrt an ihren entlegenen Wohnort zurückzukehren. Doch war Neumann bisher, da der Meister von Proben, Aufführungen und wieder Proben bis zur Erschöpfung in Anspruch genommen war, noch wenig zu persönlichem Verkehr mit ihm gelangt. Daher knüpfen sich an diesen seinen ersten Mittagsbesuch eine ganze Anzahl von Erinnerungen. ›Bei Tische‹, so erzählt er, ›kam die Rede auf Scarias Leistung als Gurnemanz. Ich muß meiner Bewunderung sehr lebhaften Ausdruck gegeben haben, da der Meister plötzlich an seinem Platze aufsprang, mich umarmte und ein um das andere Mal rief: »Nein, Neumann, was haben Sie mir jetzt für eine Freude gemacht, daß Sie Scarias Leistung so begeistert anerkennen; ich hatte große Angst, Sie würden wegen der Spannung mit Scaria6 seine Leistung absprechend beurteilen: Sie sind wirklich ein famoser[642] Mensch. Sie haben heute Scaria beschämt, denn er konnte sich zu solcher Objektivität nicht aufschwingen!« – »Aber, Meister«, sagte ich, »das versteht sich doch, Scarias Gurnemanz ist ja einfach unübertrefflich.« – Wagner drückte mir warm die Hand und wandte sich an Liszt: »Was sagst du, hab' ich nicht recht gehabt, daß ich immer an ihm festgehalten habe?« Er freute sich wie ein Kind, und ich hatte das Gefühl, daß ich seit diesem Tage dem Meister noch vertrauter geworden war. Nach Tisch entwickelte sich im Salon eine lebhafte Unterhaltung‹ (es waren außer Liszt auch Gräfin Voß und Frau v. Meyendorff anwesend). ›Da ich schon bei Tisch jeden Alkohol abgelehnt, fiel es auf, daß ich nun auch Kaffee und Zigarre verschmähte; dies veranlaßte Frau Wagner mir zu sagen: »ich bewundere Ihre Konsequenz«. Doch der Meister meinte in guter Laune: »Da ist gar nichts zu bewundern. Neumann lebt offenbar sehr gern, und da er sich einbildet, daß ihm Wein, Kaffee und Zigarre schaden, so entsagt er dem. Das beweist nur, daß er gern lebt!« Lächelnd mußte ich ihm das Zutreffende seiner Bemerkung einräumen.‹ Pünktlich um 5 Uhr war er zu der angesagten Probe mit Fräulein Malten und Jäger im Theater; sie griff ihn an, aber befriedigte ihn doch. Wirklich rührend wirkte auf ihn die Wahrnehmung, wie alle Mitwirkenden bis zum letzten herab unermüdet und mit unerschütterlichem Ernst bei der Sache waren, und auf Frl. Malten durfte er bei mancher Unfertigkeit im einzelnen die größten Hoffnungen setzen. Dagegen hatte es ihn verstimmt, die Ruhebänke vor dem Festspielhaus, wenn es nicht eben regnete, konsequent von der gemütlichen Bürgerschaft Bayreuths, zumal ihrem weiblichen Teile, besetzt zu finden. Noch in vorgerückter Nachtstunde schrieb er an den für alles einstehenden Adolf Groß einige fliegende Zeilen, in welchen er ihm vorschlug, die Tische, Stühle und Bänke auf dem Rundell vor dem Theater kurzweg fortzunehmen und zu verkaufen. ›Es setzen sich doch nur die sonstigen Besucher der Bürgerreuth – mit Strickstrümpfen usw. darauf; ein Theaterbesucher findet nie (in den Zwischenpausen) dort Platz, und Alles gafft – und gafft nur, was z.B. für mich – sehr unangenehm ist. Herr Gott, wenn der König einmal käme!!! – Ich gebe Ihnen dies so, gelegentlich, zu bedenken.‹ Im übrigen war er so ermüdet, daß er an diesem Abend kein Wort mehr sprach, am wenigsten aber mit Fremden zusammensein konnte, so daß es ihm sehr willkommen war, daß Gräfin Schleinitz es auf sich nahm, einen bevorzugten Teil der zahlreichen anwesenden Freunde zu einer Soiree, an welcher auch Liszt teilnahm und die bis gegen Mitternacht dauerte, in [643] ihren Salons zu vereinigen, während für den folgenden Abend wieder der regelmäßige Empfang in Wahnfried bestimmt war.

Es lag in der Natur der Sache, daß das anwesende Publikum der Aufführungen des Weihefestspiels beständig wechselte; nur wenige blieben die ganze Zeit hindurch. Für die nächstfolgende Vorstellung war eine große Anzahl von Wienern angesagt, die sich zum Teil schon an dem Empfangsabend des 3. August in Wahnfried einfanden. Das Mittagsmahl dieses Tages war Fräulein Malten und den ausgezeichneten jungen Freunden Schön (aus Worms) zugedacht; leider war es ihm ganz unmöglich, selbst daran teilzunehmen; doch stellte er sich nach Schluß der Mahlzeit ein, und man merkte ihm die Übermüdung nicht an. Nachdem er einige Stunden im Garten zugebracht, fühlte er sich abends wohler, so daß gerade dieser Empfangsabend auf alle Teilnehmer den schönsten, durch nichts getrübten Eindruck hinterließ. Er er schien, als der größte Teil der Gäste schon in Halle und Saal versammelt war. Nach einer Reihe von Begrüßungen und Unterhaltungen mit verschiedenen Neuangekommenen fand er einen Augenblick der Ruhe, indem ein Teil der Anwesenden der Halle zugeströmt war. Er saß am Ofen rechts einen Moment allein, erhob sich dann aber sofort wieder, um einige der in der Nähe stehenden Blumenmädchen zu sich heranzurufen, die alsbald, durch ihre Kolleginnen vermehrt, eine der anmutigsten Gruppen um ihn bildeten, mit denen er scherzte, die er auf das freundlichste lobte. Welche Rollen sie denn zunächst an ihren verschiedenen Bühnen zu singen bekommen würden? Fräulein Belce nannte eine Partie aus irgend einer neuen Oper; Frl. Galsi aber die Elisabeth, und er sprach seine Befriedigung darüber aus, da er die Elisabeth durchaus immer nur einer ganz jugendlichen Sängerin anvertraut sehen möchte. Weniger erfreulich war eine kurze Unterredung mit einem jungen Wiener vom akademischen Wagner-Verein, der den sehr jugendlichen Kopf weniger von der Würde der Kunst, als der Universitätswissenschaft voll zu haben schien und dem er die Zwecklosigkeit und Nichtsnutzigkeit des Universitätswesens gegen dessen wiederholten Einspruch mit einer Lebhaftigkeit auseinandersetzte, die fast an Heftigkeit grenzte. Offenbar war er recht überflüssiger und taktloser Weise von diesem hoffnungsvollen Jünger der Musikwissenschaft belästigt worden. Es interessierte uns in späteren Jahren wahrzunehmen, wie unreif dieser auch in seiner ganzen weiteren Entwickelung als Wiener Dozent und Professor verblieb, in welch letzterer Eigenschaft er nachmals als Erfinder des Schlagworts des ›Wagneritentums‹ sich bekannt machte, das er u.a. auch in einem höchst überflüssigen Buche über den Meister mit Vorliebe gegen alle diejenigen anwandte, von denen er immer noch hätte lernen können, nachdem die vernichtende Zurechtweisung seiner jugendlichen Irrtümer durch den Schöpfer des ›Parsifal‹ so erfolglos an ihm abgeglitten war. Man hätte es immerhin gern gesehen, wären Begegnungen dieser Art [644] ganz am Schlusse des Abends dem Meister erspart geblieben, aber was blieb ihm erspart? Selbst die Anwesenheit seines alten ›Freundes‹ Präger nicht; auch er war an diesem Abend in Wahnfried und suchte sich recht augenfällig in des Meisters Nähe zu drängen, hatte damit aber nur wenig Erfolg. Erst ganz gegen Ende des Abends beglückte ihn Wagner durch ein Zeichen ehemaliger Vertraulichkeit, indem er, an ihm vorübergleitend, ihm mit seinem Sammetbarett einen derben Schlag über den Rücken versetzte. Das war immerhin etwas für den wunderlichen, verkommen aussehenden alten Mann, der in den zwei Tagen seiner Bayreuther Anwesenheit einen jeden, der ihn anhören wollte, mit einer Flut prahlerisch romanhafter ›Erinnerungen‹ überschüttete, fast schon so, wie später in seinem berüchtigten Buch. Ganz handgreiflich hatte er es gerade durch diese oberflächliche Geschwätzigkeit und Hervorkehrung seiner nichtigen Person selbst verschuldet, daß er später von spekulativer Seite her auf den Gedanken gebracht wurde, sich kurz vor seinem Ende öffentlich damit zu kompromittieren und an seinen unbedeutenden, aber auch unbescholtenen Namen für immer einen schwer abzuwischenden häßlichen Makel zu heften. Tags darauf reiste er ab, zugleich mit Cyriax, Dannreuthers und anderen Londoner Festgästen.

Was die zuletzt genannten Londoner Freunde, Edward Dannreuther und seine Gattin, betrifft, so erinnern wir uns, daß ihm der Meister während des Londoner ›Festivals‹ herzlich nahegetreten war.7 Wagner hatte damals für die Dauer seines dortigen Aufenthaltes in seinem gastlichen Heim Wohnung genommen; Grund genug für seine unbegrenzte, auf keine Selbstschonung bedachte Liebenswürdigkeit und dankbare Freundschaft, ihm nun auch hier in Bayreuth, wie schon bei früheren Besuchen, jede mögliche Gegenaufmerksamkeit zu erweisen und das Dannreuthersche Paar noch an dessen Abreisetage zu sich zum Mittag einzuladen: er wollte ihn über den gestrigen Empfangsabend hin aus durchaus noch einmal bei sich haben. Unter den anderweitigen Fluktuationen des Festspielpublikums ging eine ihm ganz besonders nahe: die bevorstehende Abreise Liszts, der sich auf das Drängen der befreundeten Frau von Meyendorff plötzlich auf vierzehn Tage nach Weimar begab, man kann wohl sagen, fast unfreiwillig, da auch er zu keiner Zeit von Selbstschonung etwas wissen wollte. Mit dem Meister durfte man gar nicht davon sprechen, so unwillig war er über diese plötzliche Abreise. Die – vorläufig, bis zu seiner Rückkehr – letzte Aufführung des ›Parsifal‹, welcher Liszt beiwohnte, war die fünfte, vom Freitag, 4. August, mit Fräulein Malten, Jäger und Scaria, und dem jungen Fuchs als Klingsor. Der Meister freute sich [645] ungemein der schönen energischen Akzente seiner jugendlichen Kundry. Gewiß schwebte über allen dreien Darstellerinnen noch etwas Höheres, das Ideal; doch gab es bei jeder einzelnen von ihnen Momente, die, in diese Höhe hineinragend, einen tiefinnersten Einblick in das Wesen der Kundry boten und durch ihre Schönheit hinrissen. Frl. Malten glückte vorzüglich das ›Ruhe, Ruhe, ach, der Müden‹ mit der, wirkliche Erschöpfung ausdrückenden Pantomime; wild, aber einfach im Ausdruck, fern von jeder arienhaften Übertreibung, war ihr: ›hilft der Balsam nicht‹ usw.8 Unübertrefflich groß empfunden war im zweiten Akte ihr Zwischenspiel vor den Worten: ›da traf mich sein Blick‹; am schönsten, ja einzig mit solcher Energie, brachte sie auch die Verwünschung des Amfortas: ›den Unseligen, Schmachlüsternen‹; dieser vernichtende Hohn schien die junge Künstlerin ganz besonders für die Rolle der Isolde zu empfehlen Verschiedenes noch Unfertige in ihrer Wiedergabe veranlaßte ihn aber doch, noch eine fernere Privatprobe mit ihr anzustellen, für die sich zwischen den Aufführungen die Zeit und Kraft finden mußte. Auch bei der heutigen Aufführung war er selbst in aufgeregter Stimmung; doch freute ihn immer wieder der Eifer seiner Sänger. Es war anläßlich dieser fünften Vorstellung, daß er die, später schriftlich von ihm festgehaltene, und von uns (S. 615) bereits vorausgenommene These formulierte: ›Hier auf meiner Bühne herrscht die Anarchie; ein jeder tut, was er will; aber jeder will das Gute!‹ Ein großer Teil der Künstler war nach der Aufführung mit Jäger als – Helden des Tages im oberen Angermannschen Saale versammelt. Levi tat dabei den Ausspruch: die heutige Vorstellung sei als ein Höhepunkt zu betrachten; besser könne es nicht werden. Statt dessen wurde es tatsächlich mit jeder folgenden Aufführung immer noch besser, dank dem Eifer aller Beteiligten und der beständigen hinreißenden Mitbetätigung, mit welcher der Schöpfer des erhabenen Werkes fortfuhr, jedem der Mitwirkenden immer mehr die Seele des Darzustellenden durch seine Anleitung fühlbar zu machen und ihren unmittelbaren Ausdruck aus ihnen allen hervorzulocken. Während das Zusammensein bei Angermann, um die hochgehenden Wogen der Begeisterung auszugleichen, sich spät in die Nacht hineinzog, fand er selbst daheim auch keine Ruhe. Ihn bekümmerte, wie gesagt, der bloße Gedanke an Liszts Abreise; andererseits beschäftigte ihn wie Frage der Verteilung der Eintrittskarten an unbemittelte Bewerber so angelegentlich, daß er noch in der Nacht zwischen 3 und 4 Uhr vom Bett aufstand, um einen darauf bezüglichen Brief an den Verwaltungsrat zu richten.

Am nächsten Morgen hatte er wieder unter einem seiner Krampfanfälle zu leiden, von welchem Scaria später zu melden wußte, er sei zufällig und [646] zu seinem Schrecken davon Zeuge gewesen. Er sei im Empfangszimmer links von der Halle mit dem Meister gerade allein gewesen: da sei, zu seiner peinlichsten Überraschung, der von seiner Krankheit, wie alle anderen, keine Ahnung hatte, Wagner plötzlich im Gesichte ganz blau geworden, von seinem Herzkrampf befallen auf das Sofa hingesunken und habe mit den Händen so lebhafte Bewegungen gemacht, als ränge er buchstäblich mit einem unsichtbaren Feinde. In seiner Ratlosigkeit habe Scaria schleunigst den ›Kammerdiener‹ Wagners (Schnappauf) aus dem Vorzimmer herbeigerufen und den vereinten Bemühungen beider sei es, mit Anwendungen von Essenzen usw., gelungen, den Ohnmächtigen ins Leben zurückzurufen. Nach einigen Minuten sei dann Wagner plötzlich vom Sofa aufgesprungen und habe mit erschöpfter Stimme, aber wie von einer schweren Last befreit, ausgerufen: ›Na, ich bin dem Tode doch entronnen!‹ An diesem Bericht scheinen uns bloß die ›vereinten Bemühungen‹ Scarias und Schnappaufs um die Person des Leidenden und die ›angewandten Essenzen‹ ein ausmalender Zusatz zu sein, um das Schreckliche des Momentes mit einigen näheren Zügen zu vergegenwärtigen; denn wir wissen es von früheren Anlässen her zur Genüge, daß keine äußeren lindernden Mittel, sondern einzig seine Willenskraft die jedesmalige Wendung zum Guten herbeiführte ein Umstand, dessen er sich selbst wohl bewußt war (S. 153). Auf alle Fälle wurde Scaria zum Schweigen über den Vorgang verpflichtet; nichts hätte den Meister so unangenehm berühren können, als der Widerhall davon in einer teilnahmlosen Öffentlichkeit, mit der er nur als Künstler etwas zu tun hatte. Die Überreizung der letzten Wochen und Monate war darin wieder einmal zu gewaltsamem Durchbruch gelangt, und wie so oft, war die letzte Veranlassung dazu gewiß keine hervorragende gewesen, und er kehrte danach, wie sonst, ins tätige Leben zurück Nur, daß er Frühstück und Mittag für sich allein einnahm und einen für diesen Tag vorgesehenen Empfang Neumanns nicht ausführen konnte. ›Heute‹, so schrieb er an diesen letzteren, ›mußte ich mich selbst für meine Familie absperren, um nicht zum Sprechen verleitet zu werden und durch Schweigen meine armen Nerven auszuruhen.‹ Er bestellte ihn demnach für den kommenden Montag nachmittags 5 Uhr, ›aus Rücksicht für mein Wohlsein‹.9 Liszt, von dem er es so gern gesehen, wenn er die ganze Festspielzeit in einem Zuge um ihn geblieben wäre, war leider nicht zu halten und schon am Vormittag nach Weimar abgereist, von wo er tags darauf der Fürstin mitteilte, er sei ›un peu à l'improviste‹ von Bayreuth fortgegangen.10 Dem Meister wurde zunächst, um ihn zu schonen, gar keine Mitteilung davon gemacht. Um die Mittagszeit hielt er sich allein im Saale auf, und die Saaltür blieb geschlossen, während seine Gemahlin es auf sich nahm, den unvermeidlichen täglichen [647] Gästen des Hauses in den drei anderen Räumen die Honneurs zu machen. Diesmal waren es Fürst und Fürstin Liechtenstein, Joukowsky, Giuseppe Buonamici (aus Florenz), der junge Baron Meyendorff u.a., wozu dann später noch Frau Ritter mit ihrer Tochter Julie kam. Fürst Liechtenstein erzählte über Tische, wie er soeben im Steingräberschen Lokal Hill den Amfortas habe singen hören; er sei dazu, ohne einzutreten, drei Viertelstunden im Nebenraum an der Saaltür gestanden und habe einen großen Eindruck davon empfangen. Es war Hills besonderer, brennender, fast schmerzlich von ihm selbst getragener Künstlerehrgeiz, an Reichmanns Stelle einmal den Amfortas singen zu dürfen und nicht einzig auf die dämonische Partie Klingsors beschränkt zu sein, in welcher er nach seiner Ansicht nur einen Bruchteil seiner Fähigkeit entfalten konnte; und wiewohl der Meister in dieser Beziehung seine feste Wahl getroffen und auf seiner Bühne kein Experimentieren seiner Sänger mit ganz verschiedenartigen Partien zu dulden geneigt war, wünschte sich Hill durch seine Leistung wenigstens einem privaten Kreise seiner Verehrer angelegentlich zu empfehlen und hoffte auf eine vielleicht zufällig eintretende Vakanz durch eine vorübergehende Indisposition oder ein Unwohlsein Reichmanns. Reichmann jedoch war auf eine Schonung seiner Gesundheit eifrigst bedacht und hielt an seiner Rolle fest, bis zum Schluß, wie andererseits der Meister an dem von ihm erwählten Sänger. Und gewiß wäre Hill trotz all seiner hervorragenden Gaben mit dem ihm eigenen dämonisch leidenschaftlichen Temperament nicht der rechte Amfortas gewesen, nicht das, was dem Schöpfer dieser Gestalt vorschwebte. Im Lauf des Nachmittags gingen die letzten der Gäste in ziemlich vorgerückter Stunde auseinander, und der Meister hatte sich soweit erholt, daß er, Fräulein Malten empfangen konnte, um ihr noch einiges besonders Wichtige über ihre gestrige Darstellung auseinanderzusetzen, unter wärmster Anerkennung des von ihr bereits Geleisteten.

Das Beharren des üblen Wetters ließ ihn fortdauernd seine ganze Bayreuther Niederlassung verwünschen, so daß immer wieder der Gedanke sich in ihm Luft machte, seine persönliche Mitwirkung am Bayreuther Werke ganz aufzugeben und ausschließlich der Erhaltung seiner Gesundheit zu leben. Da am gestrigen Tage eine ganze Anzahl von Festspielgästen abgereist und demnach für die sechste Aufführung (Sonntag, den 6. August) eine ganz neue Besetzung auch des Zuschauerraumes stattfand, war es für den Verwaltungsrat erfreulich, ein beinahe ›ausverkauftes‹ Haus zu haben. Daß dieses neue Publikum in seiner Begeisterung noch nicht ganz so wohlerzogen war, wie das der ersten fünf Vorstellungen, bekundete sich darin, daß wieder einmal – in Scarias Erzählung bei der Stelle ›das gaben sie in unseres Königs Hut‹ – ein durch nichts zu beschwichtigender Applaus bei offener Szene sich erhob; aber nur dieses eine Mal; nach dem Schluß des ersten Aktes herrschte das ehrerbietigste Schweigen. Zum erstenmal dirigierte nicht Levi, sondern [648] Kapellmeister Fischer; die Mitwirkenden waren, außer Scaria, Frau Materna, Hill und, wegen Erkrankung Winkelmanns, Gudehus. Der Meister hatte heute einen ruhigeren Tag gehabt: immer aufs neue rührte ihn der Eifer seiner Künstler, ihre schrankenlose Hingabe an ihre Aufgaben, wodurch sich die erstrebte Vollendung der Gesamtdarstellung von einer Aufführung zur andern in stets gleichmäßigem Fluß erhielt. An der Darstellung der Kundry durch Frau Materna hatte er immer noch einige Unvollkommheiten zu rügen, besonders bei ihrer Annäherung an Parsifal nach der ›großen Explosion‹; aber er setzte es sich vor, die ganze Szene noch einmal eigens mit ihr zu probieren. Beim Nachhauseströmen des Publikums hatten einige der Festspielgäste das Vergnügen, August Wilhelmj auf der Straße zu begegnen; er hatte den Meister schon einige Tage zuvor durch einen hübschen Brief erfreut und war soeben in Bayreuth eingetroffen, – das erstemal nach seiner, nun hinter ihm liegenden, großen amerikanischen und australischen Tournee. Bereits für den folgenden Tag (Montag, 7. August) war er – mit Stein und Malwida – Mittagsgast in Wahnfried und erheiterte durch mancherlei Erzählungen und Mitteilungen von seiner großen Reise. Wagner neckte ihn damit, ob er auch bis zu den ›Menschenfressern‹ gelangt sei, und eine Unterhaltung über Niemann und sein Verhältnis zu den gegenwärtigen ›Parsifal‹-Darstellern11 schloß damit, daß er Wilhelmj scherzend den Auftrag gab, sofort an jenen zu telegraphieren, daß er hierherkommen solle, um den Parsifal zu singen. Kaum hatten die Gäste sich entfernt, so erschien Levi, den Wagner zu sich bestellt, und es wurde die Besetzung für die nächste Aufführung geordnet. Nach kurzer Erholung empfing er um 5 Uhr bereits wieder Angelo Neumann, um mit ihm über seine bevorstehende Wandertheater-Unternehmung zu verhandeln Gar wichtige Dinge gab es zu besprechen. Der Vertrag, welcher diesem das ausschließliche Aufführungsrecht des ›Ringes‹ übertrug, hatte Wagners endgültige Billigung gefunden; er sah nunmehr dessen Überreichung zum Zwecke der Unterschrift entgegen. Mit Ausschluß derjenigen Hoftheater und Direktionen, welche das Aufführungsrecht bis zu jenem Zeitpunkt bereits erworben, wurde dasselbe demnach für das ganze übrige Deutschland, sowie für alle kontinentalen und überseeischen Länder in Neumanns Hände niedergelegt, mit voller Ermächtigung, dieses Recht an andere Theaterleiter zu übertragen (mit Gültigkeit bis zum Jahresschluß 1889). Der Schöpfer des ›Ringes‹ war somit von diesem Zeitpunkt an von allen derartigen Verhandlungen mit Theaterdirektoren usw. befreit, und hatte es nunmehr bloß noch mit dem einzigen Manne zu tun, dem er nach allem Vorausgegangenen [649] sein volles Vertrauen schenkte. Neumann war aber in seinem Unternehmungsgeist noch um einen Schritt weiter gegangen: nachdem ihm der Meister einmal von fern die Möglichkeit eines wandernden ›Bühnen- Weih-Theaters‹ (S. 532 f.) angedeutet, vermeinte er auch den ›Gral‹ bereits sein eigen und hatte bereits bei ihrem letzten Zusammensein vom 2. August (S. 612 f.) das Gespräch auf diesen Gegenstand gebracht. ›Ich enthüllte dem Meister rückhaltlos den geheimsten Wunsch meines Herzens (!), daß er mir noch das letzte Kleinod seines Hortes, den »Parsifal«, anvertraue. Zu meiner eigenen Überraschung verhielt er sich nicht etwa ohne weiteres ablehnend; ja er gestattete mir auf meine Bitte, bei unserer nächsten Begegnung mit dem Vertragsinstrument des »Ringes« auch eines für den »Parsifal« vorzulegen.‹ Und nun war dieser Augenblick gekommen, und Neumann schildert denselben so ausführlich, als hätte er jedes Wort ihres Gespräches gleich darauf protokolliert. Daß er bei aller ehrlichen Liebe zu dem Meister nicht über seine Natur hinaus konnte, daß der geheimste Wunsch seines ›Herzens‹ doch auf die zu gewinnenden ›Millionen‹ hinausging (worauf auch der Schluß seiner Erzählung hindeutet), wird kein gerecht Denkender dem Geschäftsmann zum Vorwurf machen. Nichtsdestoweniger möchte man jeden Zug seiner Schilderung unwillkürlich mit erläuternden Bemerkungen begleiten, vielleicht auch gegen die Wörtlichkeit der von ihm wiedergegebenen Äußerungen Wagners hier und da ein Bedenken erheben. Und wie sein ganzes ›Erinnerungs‹-Buch doch überall von Ungenauigkeiten der Auffassung, der Daten, der Personen wimmelt,12 so wird man seine Erzählung hier erst recht mit Vorsicht aufzufassen haben. ›Der Meister‹, so schildert er diesen Nachmittagsbesuch vom 7. August, ›schien der Erfüllung meiner sehnlichen Wünsche überaus geneigt zu sein. Die lästigen geschäftlichen Arbeiten, die mit dem Bayreuther Unternehmen zusammenhingen, und von denen ihn der auch noch so rührige Verwaltungsrat mit bestem Willen nicht entlasten konnte, mögen mit dazu beigetragen haben, Wagner in der Frage des »Parsifal« mir immer näher kommen zu lassen (!). »Neumann, [650] helfen Sie mir von Bayreuth!« rief er mir in dieser Stimmung in leidenschaftlicher Aufwallung zu. Als es dann zur Unterschrift der mit ihm verabredeten Verträge kam, unterschrieb er sogleich den »Nibelungen«-Kontrakt. Nun war der, Parsifal. – Vertrag an der Reihe, der, laut der zwischen uns getroffenen Vereinbarung, die Bestimmung enthielt, daß der »Parsifal«, falls der Meister sich dazu entschließen sollte, das Werk von Bayreuth loszulösen, mit dem ausschließlichen Aufführungsrecht für alle Länder mir vorbehalten bliebe. Wagner war eben daran, zu unterzeichnen, als er plötzlich innehielt. Mit der Feder in der Hand saß er eine Weile nachdenklich vor dem Schreibtisch; dann wandte er sich langsam zu mir: »Neumann«, sagte er mit weicher Stimme, »ich habe es Ihnen versprochen, und wenn Sie darauf bestehen, unterschreibe ich Ihnen den Vertrag Sie wurden mir aber einen großen Gefallen tun, wenn Sie heute nicht darauf bestünden. Sie haben mein Wort, der Parsifal gehört keinem andern als Ihnen.« Ich erwiderte: »Meister, wenn Sie mir sagen, daß ich Ihnen einen großen Gefallen damit tue, ist es ja selbstverständlich, daß ich mich mit Ihrem Wort begnüge.« Da rief Wagner mit Nachdruck: »Neumann, ich danke Ihnen!« Und mit einem kräftigen Händedruck und Kuß schloß einer der bedeutungsvollsten Augenblicke meines Lebens.13 Nachdem wir sodann noch manche Einzelheiten über Einrichtung und Ausgestaltung des Richard Wagner-Theaters und so manche Pläne für die Zukunft besprochen hatten, nahm ich unter des Meisters wärmsten Glück- und Segenswünschen zur bevorstehenden Tournee von ihm Abschied.‹14

Wenige Stunden später erstrahlte wieder das ganze Haus Wahnfried im hellen Glanz zum Empfang der unvermeidlichen Gäste, deren Zahl heute wiederum gegen 200 betragen mochte. Mit seiner gewohnten Liberalität hatte er sich dieses Opfer zweimal wöchentlich auferlegt und ertrug es, soweit seine Kräfte laugten, mit Heiterkeit, so daß auch dieser Empfang gut verlief. Am verschwenderischesten war seine Gute und Liebenswürdigkeit gegen seine Blumenmädchen, so daß zwei von diesen – Frl. Horson und Galsi – durch einen Kuß von ihm ausgezeichnet wurden, der zugleich allen übrigen galt. Mitten hinein erschien dann plötzlich noch einmal Neumann, nachdem er sich erst vor wenigen Stunden verabschiedet. ›Wagner kam sogleich auf mich zu und mich in ein Nebenzimmer zu ziehen, wo wir uns, ungestört vom Trubel der Gäste, aussprechen konnten. Eine Gräfin, deren Name mir entfallen ist und die berauscht von der Nähe des großen Mannes sich an [651] ihn herandrängte und uns bis in jenes Seitenzimmer verfolgte, hatte es schwer zu büßen. »Sehen Sie denn nicht, daß ich mit dem Manne allein sein will?« donnerte er plötzlich hervor wie ein erzürnter Gott. Dann faßte er mich unter den Arm, um mich in die andere Ecke zu führen, während die Bedauernswerte zitternd und schlotternd von dannen schlich.‹ Ein soeben eingelaufenes Telegramm seines geschäftlichen Vertreters an Neumann hatte diesem nämlich gemeldet, daß in Breslau, wo die Neumannsche Tournee vierzehn Tage später ihren Ausgang zu nehmen hatte, bereits in den ersten 31/2 Stunden des Vorverkaufs 41000 Mark für die 4 Abende eingegangen seien. ›Ich überreichte ihm das Telegramm und sagte: »Hier ist das erste Zeichen für das Gelingen unseres großen Planes.« Den Arm um meine Schulter legend, sagte der Meister mit freundlichem Lächeln: »Neumann, das ist ein gutes Zeichen; Sie haben recht getan, mir die Nachricht noch heute zu melden. Eine große und gewaltige, aber auch eine schöne Aufgabe haben Sie übernommen. Es gehört nicht allein unbeugsame Kraft und Energie zu ihrer Durchführung, sondern auch Gottvertrauen. Nun denn: Sie haben das, und es möge der Himmel Ihnen und allen, die sich Ihnen anschließen, seinen Schutz verleihen.«‹15

Ein so bewegter Tag, wie der soeben geschilderte, konnte – besonders in Verbindung mit einem, noch so geringen, Diätfehler – wiederum nicht ohne nachteiligsten Einfluß auf sein Befinden bleiben. Er empfing am folgenden Tage niemand, nicht einmal Feustel, der mit des Meisters Bevollmächtigtem, Herrn Voltz aus Wiesbaden, in geschäftlichen Angelegenheiten ihn aufzusuchen kam, nahm die Mahlzeiten für sich allein und erschien auch zu Beginn der siebenten Aufführung (Dienstag, 8. August) nicht im Festspielhause. Diese Vorstellung, unter Mitwirkung von Siehr, Frl. Malten, Gudehus und Hill, war unter den bisher erlebten die ›besetzteste‹: noch nie war das Haus so gedrängt voll gewesen. Erst gegen die Mitte des ersten Aufzuges traf er selbst im Theater ein, um sich zu seiner Familie in die Loge zu begeben, und in der Mitte des zweiten Aktes fuhr er wieder zurück. Die begeisterten Beifallsbezeigungen des ganzen Hauses waren so rauschend und andauernd, auch nachdem sich der Vorhang noch einmal aufgetan und das Schlußbild mit dem erglühenden Gral und der herabschwebenden Taube noch einmal gezeigt hatte, daß man sah: das Publikum wollte dem Schöpfer des gewaltigen Kunstwerkes unmittelbar seinen Dank darbringen, selbst der Ruf: ›Wagner! Wagner!‹ ließ sich aus dem übermächtigen Sturm immer wieder heraushören. Es blieb daher nichts anderes übrig, als daß endlich Levi vor die Gardine [652] trat, um zu melden: der Meister sei nicht gegenwärtig; er habe wegen Unwohlseins schon im zweiten Akt das Haus verlassen.

Eine günstige Wendung trat mit dem nächsten Tage (Mittwoch, 9. August) ein; nachdem bis dahin ein ewig grauer Himmel mit zeitweiligen Regengüssen die Stimmung nachteilig beeinflußt, strahlte wieder die helle Sonne vom Himmel herab, und man war in der Lage, an den Zwischentagen größere Spaziergänge und Ausfahrten zu unternehmen. Nichtsdestoweniger mußte sich der Meister noch mit aller Vorsicht behandeln, so daß er sein Mittagsmahl allein im Gartenpavillon einnahm, und selbst seinen Schwiegersohn Gravina, der vormittags um 10 Uhr von einem Ausflug nach Venedig heimkehrte, nicht empfing und begrüßte, und sich auch an der allgemeinen Mittagstafel nicht sehen ließ Unter den Gästen befanden sich, außer Joukowsky und Stein, das fürstlich Liechtensteinsche Paar, der Maler Passini und der junge Graf Arnim (Sohn des Botschafters). Die ganze Gesellschaft kam auf den Einfall, von dem bisherigen üblen Wetter aufatmend, den Garten der Harmonie zu besuchen, um daselbst Kegel zu schieben. Gegen sieben Uhr machte der Meister seinen ersten Ausgang, um (in der naheliegenden ›Sonne‹) Frau Materna zu besuchen, wurde aber unterwegs so oft angeredet, daß es ihn verdroß und er wieder umkehrte, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Die ersten Begegnenden waren Schemann und Porges, von einem Spaziergang nach Eremitage heimkehrend, die er scherzend als ›vergnügungssüchtige Gesellschaft‹ anredete. Sehr wenig erfreute es ihn auch, in der Fürstin Liechtenstein eine Vorliebe für den ›Spiritismus‹ zu entdecken. Von dem vergeblichen Versuch eines Ausganges kehrte er in sein Gartenhaus zurück, war aber für den Aufenthalt darin zu leicht gekleidet, so daß er sich erkältet fühlte und abends in etwas gereizter Stimmung war. Er ließ daher zu seiner Gesellschaft Malwida deren ruhig gleichmäßiges Wesen ihn nie störte und Stein zu sich herüberkommen. So verhielt er sich auch am folgenden Tage (Donnerstag, 10. August) völlig zurückgezogen, nahm bloß am Familien-Mittagstisch teil, legte sich aber dann zu Bett und las mit vielem Vergnügen Hoffmanns ›Fräulein von Scudery‹, während in den unteren Räumen von acht Uhr abends ab der offizielle Empfang ohne sein Beisein vor sich ging. So war er auch tags darauf (Freitag, 11. August) zur achten Aufführung (mit Jäger, Siehr und Frl. Brandt) auf Schonung seines Befindens bedacht und im Beginn derselben nicht anwesend; in der zweiten Hälfte des 1. Aktes, während Amfortas' Klage, konnte man an dem einfallenden schwachen Lichtschein in seiner Loge bemerken, daß er die Tür derselben zum Eintreten öffnete. Er erzählte anderen Tages genau, wie er, anstatt direkt zum Theater zu fahren, zuerst eine große Spazierfahrt über Eremitage gemacht habe. Nicht genug konnte er sich in Lobeserhebungen über seine Blumenmädchen ergehen, wie alles schön und gut gewesen sei und so deutlich in der Aussprache, [653] daß man jedes Wort verstehen konnte. Wie das aus gewesen und ›das Nervöse‹ darangekommen sei, da wäre er wieder weggefahren, nachdem er zuerst noch im Speisesaal der großen Restauration einen ›halben Hering‹ gegessen, der ihm ausgezeichnet wohlgetan. Hierauf sei er nach Hause gefahren, habe sich ein kleines Beefsteak reichen lassen und eine Novelle von Cervantes (›Rintonate und Contadilla‹) gelesen, die zu dem Genialsten gehöre, was der Geist des großen Dichters geschaffen. Dann sei der Kutscher erschienen, um Frau Wagner vom Festspielhaus abzuholen; da sei er dann noch einmal mit hinausgefahren, nachdem er sich zu Hause in vollster Stille recht wohl gefühlt. Im übrigen bot der Zuschauerraum diesmal, recht im Gegensatz zur letztvorhergehenden Aufführung, einen wenig erfreulichen Anblick: Platz an Platz besetzt war eigentlich nur die Mitte desselben; nicht so sehr die Seiten, und oben links, unterhalb der Fürstengalerie, herrschte eine gähnende Leere Trotzdem bewiesen die Anwesenden eine hervorragende Gesinnungstüchtigkeit: als der Meister, um den Blumenmädchen seine tiefe Freude an ihrer herrlichen Leistung durch Beifallklatschen und ein lautes ›Bravo‹ aus seiner Loge zum Ausdruck brachte, wurde er von einigen Ahnungslosen in den vorderen Reihen dafür ausgezischt. Das hielt ihn nicht davon ab, ihnen bei fast sämtlichen folgenden Vorstellungen an derselben Stelle die gleiche unscheinbare Auszeichnung zuteil werden zu lassen; man war bald ganz gewohnt daran, bei dem ›wir welken und sterben von hinnen‹ das Händeklatschen aus der Loge im Hintergrunde zu hören. Zu den Teilnehmern dieser achten Aufführung gehörte u.a. auch die soeben von Palermo her eingetroffene Gräfin Tasca. Unter den bunt wechselnden mannigfachen Erscheinungen im Gedränge vor dem Festspielhaus ist uns eine als besonders rührend im Gedächtnis verblieben, die eines etwas verwachsenen Sachsen aus Chemnitz, von schulmeisterlichem Aussehen, der sich rühmte, ›von so weit her‹ gekommen zu sein, bloß um den Meister und sein Werk mit Augen zu sehen.

Der 12. August (Sonnabend) war wiederum für einen größeren Teil der Festgäste der Abreisetag, so daß Frau Wagner bereits von acht Uhr an unermüdlich im Empfang der sich Verabschiedenden sein mußte, insbesondere der verwandten Familien Fritz Brockhaus und Kessinger und zahlloser anderer, darunter auch Schemanns. Nachmittags um vier machten Liechtensteins ihren Abschiedsbesuch; der Meister ließ den alten Freund aber nicht fort; sie mußten noch anderen Tages in seiner Loge der Aufführung beiwohnen, so daß sich ihre Abreise auf den Montag vertagte. Zum Mittagsmahl hatte er Porges bei sich, später kam dann auch noch Levi zu Besprechungen. Für den Spätnachmittag von 5 Uhr ab war in Ansehung des nun eingetretenen schönen Wetters ein großes ländliches geselliges Zusammensein von Künstlern und Festspielgästen auf Feustels gastlicher Besitzung, dem prachtvoll gelegenen Riedelsberg, angesagt, wohin sich denn auch der Meister mit den Seinen im[654] Familienwagen, der ›Tonne‹, begab. Er war in glänzendster Laune und sprach sich, in den wechselnd um ihn sich bildenden intimen Kreisen, sehr offen auch über die Einzelheiten der diesjährigen Aufführungen aus, auch über das, was ihm nicht gefiel, die ausgesprochene Parteinahme einzelner für bestimmte Sänger und Sängerinnen. Gewisse Leute hielten z.B. gerade die Brandt und Hill für die Besten.16 Hill wolle er überhaupt gar nicht mehr auffordern, er entwickele in seinem ›Klingsor‹ zu viel Satire und Ironie; wenn dagegen der junge Sänger Fuchs das r nur nicht so schnarren wollte, so könnte er mit der Zeit ein ganz befriedigender Klingsor werden. Bald darauf trat Fräulein Brandt an den Tisch, von dem man über die Terrasse hinaus des prächtigsten Ausblickes über die grünenden Umgebungen von Bayreuth genoß. Er begrüßte sie freundlich, aber doch ein wenig zurückhaltend als Diejenige, der man ›nichts mehr zu sagen habe‹; worauf sie für diesmal bescheiden erwiderte: ›gerade ihr habe er doch noch sehr viel zu sagen‹. Mit großer Befriedigung sprach er sich über die jungen kräftigen Stimmen von Winkelmann und Gudehus aus: da brauche man doch nicht Angst zu haben, ob sie aushielten; man könne sich auf sie verlassen. Dagegen schwieg er ganz über Jäger, der in den nächsten Tagen Bayreuth verließ, da er ein Engagement in Stuttgart angenommen hatte. Auch Scaria zeigte sich im behaglich würdevollen Bewußtsein seiner allgemein bewunderten Künstlerschaft; auf seinem runden geröteten Antlitz ein leichtes weißes Filzhütchen, wie sie der Londoner Freund Cyriax zur Verteilung unter seine Bayreuther Freunde in größerer Anzahl mitgebracht. Viel erging sich der Meister an diesem schönen Abend im wechselnden Geplauder über die mannigfachsten Gegenstände, auch über Palermo und die dortige Gesellschaft: alle diese Leute seien untereinander verwandt, Graf Gravina als jüngerer Sohn nicht vermögend, vielmehr auf Karriere angewiesen, die er leider dadurch verdorben habe, daß er als Marineoffizier im Eifer seinen Vorgesetzten einen ›Esel‹ genannt: einen solchen Befehl, wie den, daß die Mannschaft drei Tage hungern solle, könne nur ein Esel erteilen! Die Gruft des Gravinaschen Geschlechtes sei neben derjenigen der Könige von Sizilien (S. 579); es sei die einzige italienische Familie, die einer solchen Auszeichnung sich [655] rühmen könne. Die Gravinas seien früher sehr reich gewesen, hätten aber, fügte er in heiterer Ausführung hinzu, in Mailand – dem italienischen Paris – alles durchgebracht; auch seien ihre Güter inzwischen schlecht bewirtschaftet worden. Wenn aber der Vater des jungen Grafen einmal sterbe, werde er besser situiert sein als gegenwärtig. ›Hier kriegt man kein frisches Bier, wenn man das alte noch nicht ausgetrunken hat‹, sagte er dann heiter mit Bezug auf ein halbgefülltes Glas, das schon längere Zeit vor ihm stand, und bewirkte dadurch, daß sofort mehrere Personen vom Platz aufsprangen, um ihn zu bedienen. Mit Ernst und Rührung gedachte er der früheren Herrin des Riedelsbergs, der ersten Gemahlin Fenstels (S. 149). Im übrigen ging er von einem Scherz, einer liebenswürdigen Neckerei zur andern über, bis er, bald nach sieben Uhr – während die Gesellschaft noch lange zusammenblieb – um sich noch etwas abendliche Ruhe zu gönnen, wiederum mit den Seinen den Wagen bestieg, der ihn nach Wahnfried zurückführte. Hier verbrachte er den Abend im Gespräch mit Malwida und Stein, während der junge Gravina mit den Kindern des Hauses sich unterhielt, da das viele Französischsprechen dem Meister immer noch peinlich war. Dies wäre nicht der Fall gewesen, hätte er sich nicht beständig dazu verpflichtet gefühlt, auf die Anwesenheit eines fremdsprachigen Gastes Rücksicht zu nehmen und ihm das deutsch Ausgesprochene immer noch eigens zu übersetzen. Selbst die kleinen Scherze, von denen seine tägliche Unterhaltung erfüllt war. So, wenn er das ›mich fliehen alle Freuden‹ in ›mich freuen alle Fliegen‹ verkehrte und dies dann dem zuhörenden jungen Freunde durch ›toutes les mouches me réjouissent‹ verdolmetschte, oder es nicht unterließ, wenn er anläßlich einer verkehrten Einrichtung empört ausrief: und das nennt sich einen Rechtsstaat! – diesen als ›état par le droit‹ eigens auf französisch zu erklären. Seine Gäste und Angehörigen sollten an allem teilnehmen können, was ihm gerade den Geist oder das Herz erfüllte.

Der Tag der 9. Aufführung mit Winkelmann, Scaria und Frau Materna, war wiederum durch das nun anhaltende herrlichste Wetter begünstigt. Aber der Meister fühlte sich erkältet und blieb den Vormittag über zu Bett. Auch kam er wieder nicht zum Beginn der Vorstellung, sondern schickte die Kinder allein ins Theater voran, während er selbst mit seiner Gemahlin erst inmitten des ersten Aktes sich einstellte Uns ist vom ersten Zwischenakt der Moment recht gegenwärtig, wo er, aus seiner Loge tretend, einer jungen Freundin, die mit dem Rücken ihm zugewandt stand, unbemerkt die Augen mit seinen Händen zuhalten wollte. Aber sein Vorhaben ward dadurch vereitelt, daß der unwillkürliche Reflex desselben im Gesicht der Gegenüberstehenden allzu deutlich sich ausdrückte. Mit Scaria und Frau Materna war er diesmal wieder recht zufrieden; mit letzterer besonders aus dem Grunde, weil sie die ihr erteilten Winke und Anweisungen zum Vorteil ihrer Darstellung beobachtet[656] hatte. In seiner Loge befanden sich außer der Familie auch Joukowsky, Stein und das eigens von ihm eingeladene Liechtensteinsche Paar; doch war es ihm nicht möglich, an der gemeinsamen Kollation im 2. Zwischenakt teilzunehmen. Er speiste vielmehr allein auf seinem Zimmer und verließ die Aufführung vor dem Schluß. Einzig auf diese Art konnte er sich bei erträglichem Wohlsein erhalten; doch brachte schon tags darauf ein ganz geringer Diätfehler – er hatte bei Tisch ein wenig vom aufgetragenen Thunfisch genommen – ihm Indigestionskrämpfe! Trotzdem empfing er nachmittags 5 Uhr die von ihm zur Probe bestellten Künstler, Reichmann, Levi und den Chordirektor; aber es dauerte eine Weile, bis er imstande war, sie zu sprechen und mit ihnen über die Tempi des ersten Aufzuges, besonders der Waldszene (von ›Recht so! habt Dank‹) die nötigen Vereinbarungen zu treffen. Er nahm dann wieder die neulich begonnene Cervantessche Novelle vor und legte sich um 8 Uhr abends zu Bett, ohne an dem in den unteren Räumen vor sich gehenden großen Empfang teilnehmen zu können. Leider nahmen die Krampferscheinungen zunächst eher zu als ab; trotz warmer Umschläge und endlich eintretender Besserung fühlte er sich am Dienstag, den 15. August, dem Tage der 10. Aufführung noch immer nicht wohl und hielt sein Mittagsmahl im Saale allein. Der Tenorist Jäger kam, um vor seiner definitiven Abreise von Bayreuth Abschied zu nehmen; es war ihm aber unter diesen Umständen nicht möglich, den Scheidenden zu sehen. Um die Zeit der Aufführung – leider wieder bei bedecktem Himmel und leichtem Regen während der Auffahrt – hatte er sich gerade soweit erholt, daß er direkt zum Beginn derselben sich aufmachen und wieder einmal dem ganzen ersten Akt beiwohnen konnte. Die Mitwirkenden waren diesmal: Gudehus, Siehr, Frl. Malten und der junge Sänger Fuchs, auf den er damals noch manche Hoffnung setzte. Mit dem Erfolg seiner gestrigen Ermahnungen an den Sänger des Amfortas war er so zufrieden, daß er gleich nach dem Aktschluß sich auf die Bühne begab und ihm ein Zehnmarkstück, als improvisierte Gedenkmünze an den heutigen Tag, zur Erinnerung schenkte. Dann schickte er Rubinstein nach seiner alten Mainzer Freundin Mathilde Maier aus,17 die er über eine erste Begrüßung hinaus nur wenig gesehen und von der er nun vernommen hatte, daß sie morgen abzureisen gedenke. Leider konnte sie sich zu diesem Wiedersehen nicht entschließen: durch den zunehmenden Verlust ihres Gehörs und die dadurch entstehende traurige Vereinsamung melancholisch geworden, erklärte sie, lieber ohne Abschied abreisen zu wollen; sie habe ohnehin das Gefühl, daß sie schon zu lange in Bayreuth geblieben sei, und bereue es immer, wenn sie einem solchen Gefühl [657] nicht Folge leiste. Da es ihrerseits dabei blieb und der Zwischenakt seinem Ende zuging, kam sie ganz um die ihr zugedachte letzte Begegnung und konnte das Unterlassene nie wieder einholen. Im zweiten Zwischenakt hielt der Meister sich von Begegnungen aller Art zurück; er setzte sich zu seinen Kindern, fühlte sich aber recht ›nervös‹. So verbrachte er auch die letzten Abendstunden nach der Aufführung ganz still mit den Seinigen. Als am folgenden Tage (16. August) die Gräfin Schleinitz bei einem Besuch gegen ihn äußerte, der erhebende Eindruck auf alle, die seinem Werke lauschten, müsse ihm doch Freude bereiten, erklärte er, für dergleichen ganz unempfänglich geworden zu sein. Allzu vieles hatte sich angesammelt, um seinen Geist in beständiger Anspannung zu erhalten! Wir erwähnen darunter nur die mancherlei Kabalen von seiten der katholischen Geistlichkeit gegen die Verbindung des jungen Paares, die nur um so schwieriger und umständlicher sich gestalteten, je näher der für die Vermählung bestimmte Tag heranrückte Blandine v. Bülow war protestantisch getauft und für ihre Person keineswegs zu einer Konversion geneigt: es galt demnach einer sog. ›gemischten Ehe‹. Für diese war ein Dispens erforderlich, den in Italien nur der Papst erteilen konnte, in Deutschland allerdings auch der Erzbischof, als nächster Kommissionär des Papstes, im gegebenen Falle der Erzbischof von Bamberg. Die Bewerbung um Erlangung dieses Dispenses lag in den Händen des Pfarrers der Bayreuther katholischen Hofkirche; nun hatte man leider zu erfahren, daß gerade dieser, der die protestantischen Gesinnungen des Meisters wohl kannte, nach Palermo geschrieben: die zukünftige junge Gräfin sei für die katholische Kirche als ›keine gute Akquisition‹ zu bezeichnen!18 So sehr man nun den Meister mit dieser Art von Beunruhigungen verschonte, drang davon doch immer mehr als nötig zu ihm, und er hatte sich sehr zu mäßigen, als er zum ersten und einzigen Mal mit jenem Pfarrer persönlich in dieser Angelegenheit verkehrte! Am Nachmittag des 16. August gelangte der Sänger Hill, anläßlich einer Privatprobe des Klingsor, die Wagner mit ihm abhielt, auch noch zur Erfüllung seines sehnlichen Wunsches (S. 648), ihm in Wahnfried den Amfortas vorsingen zu dürfen, was mit großer Wucht, wenn auch nicht ohne gewisse Eigenheiten der Aussprache geschah, auf welche Wagner ihn aufmerksam machte. [658] Von dem Abende dieses Tages berichtete uns Malwida, sie habe ihn zum erstenmal wieder in ruhig heiterer ›kontemplativer‹ Stimmung, wie sonst, getroffen, als wäre es gar nicht die unruhige Festspielzeit: es sei auch gar nicht von Sängern usw. die Rede gewesen. Bei der Schilderung dieses Abends erging sich die alte Freundin des Hauses sehr ausdrucksvoll über den ›Dämon‹ des Meisters: wenn der ihn beherrsche, sei er wie der zürnende Christus auf Michelangelos ›jüngstem Gericht‹. Dann aber zeige sich wieder, um alles zu versöhnen und auszugleichen, sein ›gutes Herz‹. Besonders beruhige sich der Ausdruck seines Auges beim Lesen; und schon ein gutes Zeichen sei es, wenn er still aufstehe, zur Bibliothek gehe und ein Buch herausnehme. Diesmal war es Homer. Anfangs wären bloß sie selbst und Stein zugegen gewesen; dann habe er nach Levi und Joukowsky geschickt. Dieser war einige Zeit mit ihm gespannt gewesen, da ihn der Meister einmal als ›Herr Kammerherr‹ angeredet, für seine tief anhängliche und verehrungsvolle, dabei aber doch sein empfindliche Natur Grund genug zu düsterer Melancholie. Nun habe Wagner im Gedenken an ihn gesagt: ›warum kommt man denn nicht mehr zu mir? ich habe ihm doch nichts getan?‹, habe ihn holen lassen und ihn nachher geküßt, wonach denn auch Joukowsky sich wieder ganz aufgeheitert und ein strahlendes Gesicht gezeigt habe. So sei es wieder ein rechter ›Wahnfried‹-Abend geworden; der Meister habe viel von vergangenen, weit entfernten Zeiten gesprochen und die Stelle aus der ›Ilias‹ ergreifend vorgelesen, wo Achilleus durch sein Roß Xanthos vor dem Tode gewarnt wird. Auch von der eigentümlichen ›Grausamkeit‹ des Homer sei die Rede gewesen, wenn er die ›rauchenden Eingeweide‹ der erschlagenen Opfertiere schildere; aber auch diese Grausamkeit sei ›echt‹ (vgl. S. 328).

Unablässig darauf bedacht, seine Künstler zur Vollendung anzuleiten, hatte er für den folgenden Nachmittag 5 Uhr Frau Materna und Winkelmann zu einer Privatprobe eingeladen, bei welcher er die große Szene des zweiten Aktes mit ihnen beiden in ihren Hauptmomenten durchging, unter genauer Angabe der noch nicht genügend beachteten Stellungen. Er zerlegte seiner Kundry-Darstellerin das Wesen des von ihr darzustellenden Charakters in dieser Szene mit eindringlicher Klarheit in seine drei Entwickelungsmomente: die Verführerin Kundry, die gar keine Erinnerung an das Vergangene hat; die grauenhaft wild sich Entsinnende, nun von dem ›Erlöser‹ Mitleid in der Liebe Begehrende und endlich die in Wut Auflodernde. Der Ausdruck der Überraschung, wie durch etwas Unbegreifliches, bei Parsifals Aufschrei ›Amfortas!‹ sollte deutlich bekunden, daß sie in diesem Augenblick, im Banne Klingsors stehend, gar nichts von Amfortas wisse; weil sie ihn gar nicht verstanden hat, tritt sie mit dem ›Gelobter Held, entflieh' dem Wahn‹ auf ihn zu. Erst mit seinem Ausruf: ›Ha, dieser Kuß!‹ tritt der Wendepunkt der ganzen Szene ein; jetzt erwacht ihr die Erinnerung an Amfortas, jetzt geht es ihr [659] auf: das ist kein Knabe, den du verführen, das ist ein Erlöser, dem du dein Leid klagen kannst! Jetzt plötzlich appelliert sie an sein Mitleid: ›Grausamer! fühlst du im Herzen nur andrer Schmerzen usw.‹ Erst von dieser Privatprobe ab erhielt das Spiel und der Vortrag der großen Darstellerin seine eigentliche Vollendung, durch welche sie – wie die anderen Kundrysängerinnen in anderen Momenten an das über allen schwebende Kundry-Ideal heranreichte. Keine jener Darstellerinnen aber hat die zuletzt angeführten Worte mit solcher unmittelbaren Gewalt hervorgebracht, mit so charakteristischer Dehnung des ›andrer‹, wie dies hier ganz nach dem Wunsche des Meisters geschah; und nur das ›so war es mein Kuß, der welthellsichtig dich machte‹ konnte die bedeutungsvoll große Wendung durch die Gewalt einer wahnbefangenen Leidenschaft noch überbieten. Ingleichem erhielt die Darstellung und der Vortrag der Vision Parsifals (›so flatterten lachend die Locken‹ usw.) durch Winkelmann erst von dieser Privatprobe des 17. August an ihre rechte Vollendung. Trotz der anstrengenden anderthalbstündigen Beschäftigung spürte der Meister keine eigentliche Müdigkeit; er empfand vielmehr mit Befriedigung, daß er mit diesen Bemühungen nicht ins Leere hinein wirke, daß seine Anweisungen in seinen Künstlern hafteten und gute Frucht trugen, wovon er sich bei der nächsten Aufführung überzeugen konnte. So war er denn auch abends bei dem großen Empfang ungemein heiter und freundlich, begrüßte u.a. auch seine Nichte, Frau Johanna Jachmann-Wagner, die mit ihren Töchtern kürzlich eingetroffen war und bei Adolf Groß logierte, und verkehrte mit Frl. Brandt über ihre Kundry-Darstellung, indem er sie insbesondere vor dem Verschlucken der Endsilben und der Auftakte (z.B. in ›ich sah ihn‹) warnte. ›Aber Sie müssen nur die Geduld nicht verlieren, lieber Meister.‹ Er erwiderte ihr mit einem beschwichtigenden ›Sie sind ein gutes Weibchen‹ und küßte sie auf die Stirn, ihr damit zeigend, wie wenig er ihr die voreiligen Lobeserhebungen ihrer Freunde nachtrug. In Wahrheit konnte es ihn vielfach ärgern, wenn er sah, wie weit auch die wohlgesinnten öffentlichen Kundgebungen in ihrem Urteil von dem seinen abirrten, indem sie gerade diejenigen seiner Künstler am lautesten priesen, die ihm noch am wenigsten genügten, wie z.B. Jäger und Frl. Brandt Jäger ward von den Wienern, die er durch seinen ›Siegfried‹ ganz für sich eingenommen, auf den Schild erhoben, Frl. Brandt durch die Berliner. Gewiß hatte diese Sängerin nicht bloß in der ›Brangäne‹, in welcher sie ihm vor 6 Jahren aufgefallen war,19 sondern auch in ihrer ›Kundry‹ große Vorzüge. So war der zweite Teil ihrer Erzählung von Herzeleide unübertrefflich schön phrasiert; ihr ganzer zweiter Akt hatte etwas Vornehmes, edel Dämonisches. Und doch konnte er im einzelnen nichts daran loben und empfand alles als verfehlt. [660] Eine besondere Schwierigkeit bot ihr die Gralsbotin im ersten Akte, wo das tierisch Dumpfe, im edlen Sinne dem Hunde Ähnliche, das Kundry hier zeigt, eine Vereinigung von Wildheit und Einfachheit gebot: sie weiß nichts vom Vergangenen, da sie damals unter dem Banne Klingsors stand, die Erzählung Gurnemanz' von Amfortas darf nur wie ein beunruhigender Traum an ihr vorübergehen. Diesem Verhältnis trug die Darstellerin nicht Rechnung und störte den Eindruck durch eine Überladung mit Bewegungen. Wild, aber einfach, fern von jeder arienhaften Übertreibung, war gleich das ›hilft der Balsam nicht‹ zu geben. Sie brachte etwas hinein, was dem Stile des Kunstwerkes fremd war, sie ›machte eine Arie daraus‹. ›Arabia – was ist Arabia?‹ sagte er dann. ›Der Name eines Landes, nichts weiter; es ist kein solcher Akzent darauf zu legen.‹ So auch wieder bei dem ›Ruhe, ach! der Müden‹ – : ›sie ist wirklich erschöpft, es ist keine Arie‹. Sie habe Schule, sie habe Stil, das gab er zu; aber es sei etwas vom Stil Meyerbeers, von der französischen Schule Rogers, der ›Harangue‹.20 Sie habe bei der Viardot studiert, ihre Glanzrolle sei die Fides im ›Propheten‹ gewesen, und davon haste ihr immer noch etwas an, ihr fehle die schöne Linie. Er achtete ihren Charakter, sie sei eine ›vortreffliche Person‹; aber vor ihrer Vortragsweise hatte er sein Werk zu bewahren.

Der 11. Aufführung am Freitag, 18. August, mit Frau Materna, Winkelmann und Scaria wohnte er mit der Befriedigung darüber bei, wieviel gutes Material unter seinen Künstlern doch vorhanden sei, wieviel sie noch von Aufführung zu Aufführung hinzutäten, um seinen Anweisungen nachzukommen und wie sich dadurch die Leistungen vervollkommneten. So erfreute er sich an Frau Materna und Winkelmann des Erfolges der gestrigen Probe. Auch Hill war seit der letzten Probe mit ihm weit besser geworden und hatte von einzelnen seiner Eigenheiten abgelassen. Dagegen war es nicht möglich, seinen Wunsch wegen des Amfortas zu erfüllen, schon weil der beglückte Inhaber dieser Partie durchaus dabei beharrte, sie unter keinen Umständen einem anderen abzutreten, und hier mit Gewalt nichts auszurichten war. Im Verhältnis zu der ›Ring‹-Aufführung von 1876, die er nur als einen ersten Anfang, einen Versuch, betrachtete, zeigten die Aufführungen dieses Jahres in seinen eigenen Augen einen ganz erheblichen Fortschritt; das empfand er selbst, der es am besten wissen konnte, am meisten, trotz aller Mängel im einzelnen. Da diesmal wieder Kapellmeister Fischer dirigierte, wohnte Levi der Vorstellung als Zuschauer an der Seite des Meisters in dessen Loge bei und empfing dabei noch manche Belehrung über unrichtige Tempi und gelegentlich unzarten Vortrag des Orchesters. Den Chören war eine noch am Vormittag abgehaltene Probe auf das günstigste anzumerken. Auch eine kleine [661] Veränderung in der Schlußszene diente zur Vervollkommnung des Gesamteindruckes und wurde von jetzt ab für immer beibehalten: Parsifal trat im letzten Akte von links kommend in die Gralshalle ein (was nun auch seiner Bewegung in der vorausgegangenen Szene besser entsprach) und berührte mit seinem Speer die rechte Seite des Amfortas Bereits an dem von uns geschilderten schönen Riedelsberg-Abend waren seine Gedanken offenbar mit diesem Gegenstande beschäftigt gewesen: er hatte in dem ihn umgebenden Kreise gebildeter Kunstfreunde die Frage aufgeworfen, auf welche Seite am Körper des gekreuzigten Heilandes die ihn darstellenden Künstler wohl die Speerwunde verlegt hätten, und wir entsinnen uns, daß darüber niemand von den Anwesenden eine befriedigende Auskunft erteilen konnte. Das Haus war weit mehr besetzt, als bei den vorausgehenden Vorstellungen, und daß das heutige Publikum wieder anders zusammengesetzt war, bekundete sich u.a. darin, daß der erste Akt gegen die bereits befestigte Gewohnheit einen energischen Beifallssturm durch das ganze Haus wachrief. Wiederum vernahm man im zweiten Akte das, den Blumenmädchen gewidmete ›Bravo‹ des Meisters aus seiner Loge. Daß die Tempi, besonders im dritten Akt, recht verschleppt wurden, erfreute ihn weniger; doch teilte er sich gegen Levi darüber bestimmt genug mit, um einer Wiederholung vorzubeugen. Im übrigen war er mit der Gesamtleistung in dem zuvor näher bezeichneten Sinne recht zufrieden: der von ihm gewünschte ›Stil‹ schwebte bereits über allem, und er durfte wohl hoffen, daß bei fortgesetzten Studien unter seiner Anleitung in den nächsten Jahren das von ihm Erstrebte und Gewollte noch klarer hervortreten würde.

Zu den ›Unzufriedenen‹ im Personal, die ihm das Leben schwer machten, gesellte sich auch der Sänger Gustav Siehr, seitdem der Meister es – ganz wie bei Reichmann in bezug auf den Amfortas – bei Scaria nicht durchsetzen konnte, daß das bisher durchaus regelmäßig verlaufene Alternieren der beiden Darsteller des ›Gurnemanz‹21 in gleicher Weise seinen Fortgang nahm, vielmehr Scaria die Rollenbesetzungsfrage schroff zu seinen Gunsten entschieden wissen wollte. Hier war nun ein Wetteifer, der allerdings nicht, wie sonst an Theatern, als ein Kampf um irgend ein ›Spielhonorar‹ oder dgl. gelten konnte, das es ja in Bayreuth nicht gab; es war die im Gegenstand selbst liegende ungeheure Anziehungskraft, der ein Scaria nicht zu widerstehen vermochte, von Siehrs Seite wiederum die Vertretung seiner sogenannten ›Künstlerehre‹. Auch letztere immerhin unbayreuthisch genug, und als kleinliche Auffassung von dem Schöpfer und Lenker des Ganzen schmerzlich und betrübend empfunden. Hier sollte es, auf dem Boden der reinen Kunst, keine Streitigkeiten um den persönlichen Vorrang geben! In gleicher Weise erregte ein ihm zugesandter [662] Bericht der ›Kölnischen Zeitung‹ (Nr. 228 vom 18. August) über die am 28. Juli stattgefundene Versammlung der Vereinsmitglieder (S. 639) seinen empfindlichen Ärger. Mit Erstaunen hatte er hier von der anmaßenden Einbildung zu erfahren, welcher diese Herren 15 Mark-Patrone sich hingaben: auf Grund ihrer bescheidenen jährlichen Opfer sogar ein ›Eigentumsrecht an den Dekorationen des Parsifal‹ zu besitzen und was dgl. mehr war! So schlimm, sagte er, habe er es sich doch nicht vorgestellt und war nur be friedigt, rechtzeitig zu dem Schritt dieser Auflösung sich entschlossen zu haben, um keine weiteren Mißverständnisse und drohenden Mißverhältnisse aufkommen zu lassen.22 Trotzdem war er abends im Verkehr mit Malwida und Stein, während die Kinder mit Gravina im gleichen Raume am Kartentisch saßen, ruhig und heiter, unterredete sich mit ihnen über die verschiedenartigsten Dinge, wie z.B. den Nihilismus in Rußland, und faßte u.a. den Gedanken ins Auge, eine der letzten Vorstellungen (am 22. oder 25. August) eigens bei freiem Eintritt den Volksschullehrern von Bayreuth und Umgegend zu widmen. Mit dem Entwurfe einer entsprechenden Einladung wurde Stein betraut, der sie anderen Vormittags der Gemahlin des Meisters unterbreitete. Wir haben nicht näher verfolgen können, in welcher Weise diese Einladung schließlich verwendet wurde, da wir uns einer Publikation derselben nicht erinnern können; aber der Gedanke selbst gelangte nach Möglichkeit zur Ausführung, und bis Mitte September liefen täglich Briefe von dankbaren Schullehrern ein, denen die beabsichtigte Vergünstigung zuteil geworden war.

Der Tag der 12. Aufführung, Sonntag, der 20. August, war leider wieder ein Regentag; doch merkte man dies dem stark besetzten Hause nicht an. Die Besetzung der alternierenden Rollen war in den Händen von Fräulein Brandt, Winkelmann, Siehr und – als Klingsor – Fuchs. Im zweiten Akt war er, wie so oft, auf der Bühne anwesend und erfreute sich an einem wahrhaft begeisterten Blick seiner Kundry-Sängerin, im dritten abwechselnd im Orchester und auf der Bühne, überall durch sein Erscheinen Leben und Enthusiasmus verbreitend, die Stimmung aller Mitwirkenden erhöhend, und wiederum selbst befriedigt, im mitwirkenden Personal keinen Moment der Gleichgültigkeit wahrzunehmen, vielmehr auch die im Augenblick Unbeschäftigten mit dem größten Eifer zwischen den Kulissen aufmerksam zugegen zu sehen. Nur hatte er es zu bedauern, Scaria von seiner schroffen Haltung gegen Siehr nicht abbringen zu können.23 Tags darauf (Montag, den 21.) [663] korrespondierte er mit den bereits nach Dresden in ihre dortige Berufstätigkeit zurückgekehrten Sängern Frl. Malten und Gudehus wegen eines nochmaligen Auftretens und scherzte bei der Mahlzeit darüber, daß Scaria das letztemal von ›wilder Feinde List und Kraft‹ gesungen hätte: ›Wie es im Barbier von Sevilla heiße: »die liebliche Rosine – eigentlich heißt es Pauline, ich aber singe Rosine«, so halte es auch Scaria: »eigentlich heißt es Macht, ich aber singe Kraft«.‹24 Hill sei als Klingsor, seit er seine Aussprache verbessert, doch befriedigender als Fuchs u. dgl. Und in ernsterem Tone fügte er dann hinzu: ›Wenn er am Schlusse dieser Aufführungen noch einmal zu reden Veranlassung finden sollte, würde er wieder nur sagen können: »alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier ward es Ereignis!«‹ Das Wetter war trübe und seine Stimmung trotz aller freundlichen Scherze wehmütig; nachmittags erging er sich in den Gängen seines Gartens und freute sich an Markes Zärtlichkeit. Recht unbehaglich fühlte er sich auch beim abendlichen Empfang und mußte es fast beklagen, daß er ihn während dieser Festspielzeit anzwei Abenden in der Woche eingeführt. Trotzdem merkte man ihm dies äußerlich nicht an, da er jedem ein gütig heiteres Gesicht zeigte. Noch immer beschäftigte ihn der abschreckende Gedanke an die Mißstände in dem nun aufgehobenen Patronatverein: das sei alles nichts mit jenem Verein, erklärte er; wer zur Sache gehören wolle, der werde es inskünftige damit zeigen, daß er auf die ›Bayreuther Blätter‹ abonniere, seine zwanzig Mark zahle und dafür einen Freiplatz zu den Aufführungen erhalte. Aber einem jungen Vereins-Vertreter in der Gesellschaft versicherte er doch lebhaft, daß er keinerlei Geringschätzung für die Bemühungen des Vereins empfinde; das solle er ja nicht glauben, wenn er auch gezwungen sei, gewissen Anmaßungen gegenüber sich sehr zurückhaltend zu zeigen. Leider verdarb ihm dieses abendliche Zusammensein durch Überreizung seiner so vielseitig angespannten Nerven wieder einmal die Nachtruhe, – dazu herrschte am Morgen des folgenden Tages (22. August) in der ganzen Atmosphäre eine rauhe, fast winterliche Kälte. Und die Rivalitätsstreitigkeiten zwischen Siehr und Scaria waren nicht zu beschwichtigen. Siehr seinerseits bestand hartnäckig darauf, in den beiden letzten Vorstellungen zu singen und drohte mit sofortiger Abreise. In einem (noch nicht vor der Öffentlichkeit aufgetauchten) Briefe vom 22., dessen Inhalt uns Levi referierte, schrieb [664] der Meister an Siehr, diese Dissonanz an sich werde er wohl schon zu ertragen wissen; nur müsse er es bedauern, daß sich Siehr dabei in ihrem Kreise als der erste Unverträgliche erweise. Worauf Siehr erwiderte, es handle sich um keine Unverträglichkeit, sondern er bestehe nur auf seinem Recht, mit Scaria abwechselnd zu singen. Vergebens, daß nach der abendlichen Vorstellung Levi noch eine ganze Stunde bis Mitternacht mit ihm verhandelte; es kam zu keiner Einigung. Vielmehr erschien er noch am Morgen des 23. wieder bei Levi, während dieser noch im Bette lag und in Kleists ›Michael Kohlhaas‹ las; da habe er denn zu Siehr gesagt: an Kohlhaas könne er sehen, wohin man komme, wenn man immer nur bei seinem ›Recht‹ beharre. Am Nachmittag desselben Tages reiste der jedem Zuspruch unzugängliche Künstler wirklich ab.

Dazwischen lag dann noch die 13. Aufführung des Werkes am Dienstag, den 22. August. Die Mitwirkenden waren diesmal: Scaria, Winkelmann, Frau Materna und Hill. Jeder von ihnen hielt seine Partie so fest als möglich, und allerdings vervollkommneten sich ihre Leistungen mit jeder Vorstellung. Nichtsdestoweniger hätte der Meister für die drei letzten Aufführungen gern, um des Prinzips willen und um niemand Grund zur Klage über eine Zurücksetzung zu geben, nicht ausschließlich mit Winkelmann zu tun gehabt und rechnete für den Freitag auf Jäger, für den Sonntag auf Gudehus in Verbindung mit Fräulein Malten; in der letzten Aufführung sollten dann wieder die beiden Wiener Winkelmann und Frau Materna darankommen. Es lag bloß an den Sängern, daß dieses nicht geschah. Jäger war durch seine Verpflichtungen im neuen Engagement verhindert.25 Und wie es mit Gudehus stand, werden wir gleich sehen. Einstweilen richtete er, unter dem Datum des 23. August, an Fräulein Malten die freundlichen Worte: ›Bestes Fräulein und liebstes Kind! Also Sonntag! Suchen Sie aber (mit Gudehus) auch den Dienstag abend hierzubleiben; ich habe etwas Hübsches vor, wobei Sie sich auch beteiligen müssen. Tausend Dank für Ihren schönen Anteil an meinem Werke! Ihr herzlichst ergebener Richard Wagner.‹26 Diesem Brief war ein photographisches Portrait des Absenders beigefügt, mit der Aufschrift: ›Auch deine Träne ward zum Segen staue.‹ Frau Materna erhielt ein solches, mit den Worten: ›Brünnhilde dort, Kundry hier, überall des Werkes Zier!‹ Leider war Gudehus imstande, die an ihn gerichtete Einladung mit der törichten Erklärung zu beantworten: seine ›Künstlerehre‹ ließe es nicht zu, daß er bloß in der vorletzten Aufführung mitwirken, die letzte aber seinem Kollegen Winkelmann überlassen sollte! O welch ein seltsames Ding, [665] diese Künstlerehre! Und immer wieder ganz wo anders gesucht, als wo sie in Wahrheit zu finden wäre! Auch erachtete es der kommandierende General des für die ganze Festspielzeit fest zugesicherten Militärmusikkorps plötzlich – aus unerfindlichen Gründen für angemessen, diese zugesagte Mitwirkung für die letzten Aufführungen wieder abzubefehlen! In solchem Falle war es doch wenigstens gut, daß hinter dem Künstler ein – mindestens in den Augen des Herrn Kommandierenden – noch Höherstehender als Schutz und Deckung stand; eine Depesche an Herrn v. Bürkel in München brachte alles wieder in Ordnung, bevor noch dem Meister selbst etwas davon zu Ohren gekommen war. Glücklicherweise kam endlich auch von Palermo die Nachricht, daß der für den 25. August, des Königs Geburtstag und des Meisters eigenen Hochzeitstag,27 angesetzten Vermählungsfeier nichts mehr im Wege stehe, ein Schlußergebnis, das man allerdings ohne sonderliche Beunruhigung mit Bestimmtheit voraus gesehen, an dessen Verzögerung aber einzig der ungeschickte Bericht des Bayreuther katholischen Geistlichen die Schuld trug!

Den Abend des 23. verbrachte der Meister wiederum in voller Zurückgezogenheit und im heitern Gespräch mit Malwida von Meysenbug, Gräfin Schleinitz und Stein; anderen Tages traf dann auch Liszt – nach mehr als vierzehntägiger Abwesenheit um die Mittagszeit wieder ein, nachdem er um 1 Uhr nachts von Weimar ausgereist war. Sein schöner Ausspruch über die weihevolle Schöpfung, den er nach der ersten Aufführung zu Wolzogen getan: ›es lasse sich über dieses Wunderwerk nichts sagen; es lasse die davon tief Ergriffenen verstummen; sein weihevoller Pendel schwinge vom Erhabenen zum Erhabensten‹ war inzwischen von Mund zu Mund gegangen. Anläßlich der bevorstehenden Familienfeier in Wahnfried war auch der treffliche Wiener Freund Dr. Standthartner wieder in Bayreuth erschienen und nahm bereits am Empfangsabend des 24. August teil. Dem Meister war, dank seiner einzigen Selbstbeherrschung, keine der überstandenen Prüfungen anzumerken; er zeigte sich in der abendlichen Versammlung von über hundert Personen in glänzender Heiterkeit. So hatte er, der Feind aller Orden, sich in improvisiertem Scherz den großmächtigen silbernen Stern des tunesischen Ordens angesteckt, den ihm vor Jahren ein mal der Bey von Tunis übersandt, und betrat damit gravitätischen Schrittes die Halle; dann aber löste er ihn von der eigenen Brust, um ihn an diejenige Fräulein Horsons, einer der anmutigsten Fährerinnen seiner Blumenmädchenschar, zu befestigen, die ihn den ganzen Abend über trug und ihn als ein Geschenk des Meisters betrachtete; zu einiger Unruhe Liszts, der es mit Ordensauszeichnungen und den daran geknüpften Verpflichtungen viel genauer nahm.

[666] So brach der 25. August an, zu welchem der Meister schon tags zuvor jenes tiefernste Begrüßungstelegramm an seinen königlichen Beschützer aufgesetzt hatte: ›Verschmähtest Du des Grales Labe, sie war mein Alles Dir zur Gabe! Sei nun der Arme nicht verachtet, der Dir nur gönnen, nicht geben mehr kann!‹ Wenn etwas ihm während der ganzen Festspielzeit schmerzlich nahegegangen war, so war es diese Abwesenheit des hohen Freundes und Protektors seiner Kunst. Die Natur zeichnete im übrigen diesen Festtag durch den heitersten blauen Himmel, das herrlichste sonnige Wetter von früh bis zum Abend aus, was um so auffälliger war, als es bereits tags darauf wieder trübe wurde. Überdies prangte die ganze Stadt zu Ehren des Königstages in festlichem Flaggenschmuck. Schon früh um 5 Uhr sandten die Böller der Kolbschen Baumwollspinnerei ihre Salutschüsse über die Stadt hin, die Schläfer zum festlichen Tage weckend, und die früh um 6 Uhr durch die Hauptstraßen ziehende musikalische Tagreveille fand bereits eine zahlreiche Begleitung. Um dem freudigen Anteil der gesamten Bürgerschaft an der Familienfeier im Hause ihres großen Mitbürgers einen offiziellen Ausdruck zu geben, begab sich um 9 Uhr eine Deputation des Gemeinderats der städtischen Kollegien, mit Bürgermeister Muncker an der Spitze, in das Haus Wahnfried, um dem Brautpaar und der ganzen Familie namens der Stadt Bayreuth den Glückwunsch auszusprechen. Muncker überreichte dabei der Braut ein Blumenbukett, und die Deputation einen in Silber und Gold gearbeiteten Tischaufsatz. Um 1/212 ging die feierliche Ziviltrauung im Saale vor sich, welcher tags darauf die kirchliche Trauung folgen sollte. Der Meister selbst führte die Braut in den Raum, in welchem sämtliche näheren Freunde als Hochzeitsgäste versammelt waren, darunter Liszt, Graf und Gräfin Schleinitz, Standthartner, Malwida v. Meysenbug, Feustels, Wolzogens, Hans Richter mit Frau, Stein, Herr v. Mihalowicz usw.; als offizielle Trauzeugen unterzeichneten Adolf Groß und Joukowsky. In seiner würdigen Ansprache nahm Muncker, gleichsam um den Akt der bloßen Ziviltrauung dadurch in seiner Bedeutsamkeit zu zeigen, von den Worten des Stifters der christlichen Religion seinen Ausgang: ›gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist‹. Gleich nach erfolgter Trauung setzte sich Liszt an den Flügel, um die ersten Takte des ›Treulich geführt, ziehet dahin‹ darauf anzuschlagen. Daran schloß sich um 1/21 Uhr das festliche Mittagsmahl, zu welchem in der Halle (da der Raum des Familienspeisezimmers für die Zahl der nahezu vierzig Teilnehmer nicht ausreichte) drei lange Tische in Hufeisenform aufgestellt waren. Als im Verlauf der Mahlzeit der Moment für die feierlichen Toaste gekommen war, erhob sich zunächst, dem Meister wie dem Brautpaar gegenüber, Graf Schleinitz, indem er der Braut, wie zum Trost für ihr schmerzliches Scheiden aus einem so unvergleichlichen Kreise, die Schönheit des Landes pries, das ihr nun zur zweiten Heimat werden sollte. [667] Er führte die Worte eines italienischen Gesandten an einen König von Frankreich an: Sire, la lune de mon pays vaut mieux que le soleil de Votre Majesté, mit der heiteren Hinzufügung: ›besonders wenn diese Sonne, wie hier in Bayreuth, durch Abwesenheit glänzt‹, und schloß mit einem Hoch auf das Haus Gravina. Glücklicherweise bezog sich sein Ausspruch auf die Bayreuther Sonne (wie bereits erwähnt) nicht buchstäblich auf den heutigen Tag, den sie vielmehr, wie so oft die Familienfeste des Hauses, nach Kräften mit ihrem hellsten Schein vergoldete. Seiner Ansprache folgte der Meister, indem er, sich vom Platze erhebend, in heiterer Weise die erste Bekanntschaft der Familie mit dem jungen Grafen schilderte. Sie seien gleich im Beginn ihres Aufenthalts in Palermo zu Tascas eingeladen gewesen, und da sei denn auch der Liebling der ganzen palermitanischen hohen Aristokratie in der Gesellschaft erschienen, der inzwischen seinem Herzen so nahe getreten sei und dem er das Hoch ausbringe. Daran schloß sich Bürgermeister Muncker mit einem beredten Hoch auf die ihm gegenübersitzende Gräfin Schleinitz als die verehrte Freundin des Hauses und bewährte hohe Gönnerin der Kunst des Meisters; nach ihm sprach Graf Schleinitz, um ›den Genien des Hauses Wahnfried‹ und damit vor allen der edlen Gemahlin des Hausherrn den Weihegruß darzubringen. Dann aber erhob sich Wagner zum andern Male von seinem Platz, und während bei seiner ersten kurzen Ansprache freudige Heiterkeit seine Züge erfüllt hatte, verklärte jetzt ein zunehmend hoher Ernst jeden Muskel in den mächtigen Zügen seines Antlitzes, als die Worte seiner Rede sich zu einer der ergreifendsten Ansprachen gestalteten, die vor dem versammelten intimen Kreise – die tiefere Bedeutung dieser traulichen, Feier den Hörern erschloß: als einen Gegensatz und zugleich eine harmonische Ergänzung, einen sanften und lieblichen Ausfluß seines eigenen sturmbewegten Daseins. So wie heute und hier, hatte er sonst nur im engsten Kreise der Seinen, im Schoß der Familie, etwa an seinen Geburtstagen, gesprochen, indem er seine innersten Empfindungen zu Worte kommen ließ. Er ging davon aus, daß er sein ganzes vorausgegangenes Leben mit einem ›Krampf‹ verglich. So sei es in unserer jetzigen Zeit: es gebe nichts Ruhiges, Heiteres mehr darin; alles sei nur Krampf, wechselnd mit zeitweiliger Ausgleichung. So sei denn auch sein Leben ein beständiger Krampf gewesen. Nur zweimal sei ein beruhigendes, heiter beschwichtigendes Element in sein Leben getreten: von einem solchen heftigen Krampf sei ihm die erste Ausgleichung durch Liszt zuteil geworden, indem sich dieser, als er ganz allein und von allen verlassen dastand, ihm als treuester und tätigster Freund bewährte. Und dann wieder, nachdem der Krampf abermals seine Höhe erreicht habe, durch den König von Bayern: dieser habe ihn vom Erliegen in diesem zweiten Krampfe gerettet, zur rechten Zeit, so daß er ihm ewig dafür dankbar sein werde. In ihm habe er den hohen Gönner gefunden, der mit einem [668] Hochsinn und Vertrauen ohnegleichen ihm die Stätte für sein Wirken und Schaffen bereitete; er habe sich ihm auch immer als Freund bewiesen, er sei der gute schützende Engel seines Lebens. Und doch sei dieses Leben ihm in anderer Beziehung immer noch ein Krampf geblieben. Als ganz unerfahrener Mensch sei er in eine erste Ehe getreten, in eine Kette qualvoller Mißverständnisse, einen fortwährenden Krampf; man könne wohl sagen: es hätte nicht sein sollen. Und als er dann wieder mit einer Frau sich verbunden habe, die in jedem Sinne das Glück seines Lebens begründete, da sei für ihn eine Erlösung eingetreten, aber wieder durch einen inneren Seelenkrampf: es war der Krampf der Erlösung, der ihn zu ihr führte. ›Auch die Kinder haben wir da mit herüberbekommen.‹ Und nun wandte er sich in der herzlichsten Weise an die tief ergriffene Braut, an sein ›liebes blondes Kind‹, das so jung, ohne von diesem ›Krampf‹ noch viel erfahren zu haben, in das Leben hinaustrete. Wie schön sei es, aus jenem krampfartigen Leben etwas so Natürliches, Einfaches hervortreten zu sehen, wie diese Verbindung der beiden jungen Leutchen, die so ganz sanft, ohne Krampf, sich gefunden hätten, wie zwei Flüßchen ineinanderfließen. Und mit dieser Ausmalung eines friedlichen ›krampflosen‹ Glückes gab er ihr die innigsten Segenssprüche auf den Weg, in Worten so voll tiefen Ernstes und väterlichen Glückes, daß sie zwar allen Anwesenden tief in die Seele drangen und den Höhepunkt der ganzen Feier bildeten, niemand aber es nachher wagen wollte, das Gehörte gedächtnismäßig zu fixieren und damit die herrlichste aller Ansprachen für die Dauer festzuhalten. Doch war es begreiflich, daß hiernach keiner der Anwesenden mehr das Wort nahm. Der Heiterkeit der Festfeier war damit ein so tiefernster Untergrund gegeben, daß jedes Herz davon ergriffen und erfüllt war. Nach Tische strömte alles in den Saal, und teilte sich dort beim Kaffee in verschiedene Gruppen; eine halbe Stunde später ging man auseinander, um für die Aufführung des Abends auszuruhen.

Es war dies die 14. Aufführung, mit Scaria, Winkelmann, Hill und Marianne Brandt. Die ganze Stadt prangte zu Ehren des königlichen Geburtstags im reichsten Flaggenschmuck. Schon von 2 Uhr an wallte eine endlose Reihe von Einheimischen und Fremden zum Festspielhügel hinauf; der ganze Weg dahin war in kurzen Zwischenräumen mit ragenden Fahnenstangen besteckt, von denen die Flaggen bis tief herab wehten; man fuhr durch einen Flaggenwald. Dies war das Werk des Verwaltungsrates, der das königliche Geburtsfest sinnreich zum Anlaß nahm, um damit gleichzeitig das Familienfest im Hause des Meisters zu ehren. Das Festspielhaus selbst hatte die Königsstandarte aufgehißt; vor dem Eingang in des Meisters Privatloge waren Blumen gestreut, die sich wie ein bunter Teppich ausbreiteten, der innere Raum und Treppenaufgang mit Festons und Girlanden geschmückt, in den Ecken überall frisches Laubwerk. Für das alles hatte Adolf [669] Groß liebevolle Sorge getragen und Hunderte von Händen mit der Herstellung beschäftigt. Der Beginn der Aufführung wurde diesmal, noch bevor die Fanfaren ertönten, durch Böllerschüsse extra angezeigt. Das ganze versammelte Publikum befand sich in festlich gehobener Stimmung, und die Vorstellung ging ausgezeichnet vonstatten; sämtliche Mitwirkende waren wetteifernd bestrebt, auch ihrerseits den festlichen Tag durch ihre besten Leistungen zu verherrlichen. Unter den Neuangekommenen hatte der Meister Gelegenheit, einen ältesten und würdigsten Freund, Dr. Johann Jakob Sulzer aus Winterthur,28 zu begrüßen; diesen hatte er im Laufe der Festspielzeit wiederholt telegraphisch zu den Aufführungen eingeladen; nun war er endlich erschienen, gerade noch rechtzeitig, um dem Meister und Freunde seine Glückwünsche darzubringen und anderen Tages auch noch der kirchlichen Trauung des jungen Paares beizuwohnen. Nach dem zweiten Akte, in welchem Wagner es sich wiederum nicht hatte nehmen lassen, den Blumenmädchen sein ›Bravo!‹ zuzurufen und ihnen zu applaudieren, bot sich den aus dem Hause Tretenden eine neue festliche Überraschung: die sämtlichen Bayreuth umkränzenden Höhen, der Sophienberg, die Hübl, sowie die nächste Umgebung der Stadt erglänzten in mächtig auflodernden Feuern, deren man über fünfzig zählte. Der nahe Siegesturm, dessen Zinne mit riesigen Pechfackeln beleuchtet war, erstrahlte mehrmals in bengalischem Lichte, das die umliegenden Waldpartien weithin in magischem Schein hervortreten ließ. Die Bärgerreuth und das, Festspielhaus selbst waren ebenfalls glänzend illuminiert, und von der nahen Luisenburg – gerade gegenüber der Fensterreihe des Familiensalons stiegen Raketen und Brillantfeuer in reichlicher Fülle empor. Der ganze Festspielhügel bot, umrahmt von einer Kopf an Kopf wogenden Menge und der Beleuchtung ringsumher, einen wundervoll festlichen Anblick: rote und grüne bengalische Flammen drangen überall zauberisch durch das dichte Grün der umgebenden Bäume und Sträucher, in deren Mitte die Festspielbesucher sich ergingen. Nach dem leidenschaftlich gewaltigen Kampfe des zweiten Aufzuges, in welchem Winkelmann und Fräulein Brandt ihr Bestes geleistet und sich selbst übertroffen hatten, ergoß sodann der dritte Akt seine feierliche Stimmung, von den ersten weihevollen Tönen des Vorspiels und Scarias Erscheinen als Gurnemanz bis zum Auftreten Parsifals und der ganzen weiteren Entwickelung der Handlung; wiederum teilte sich nach dem Schlusse des Ganzen, wie bei jeder der vorhergehenden Aufführungen, auf die stürmischen Beifallskundgebungen des ganzen Hauses der Vorhang und ließ noch einmal das Schlußbild mit der herabschwebenden Taube erblicken. Und als das Publikum in voller Ergriffenheit hinausströmte, fand es draußen die ganze Umgebung durch ein blendend helles Licht erleuchtet, das, von zwei oberhalb [670] des Zuschauerraumes am Dache des Festspielhauses angebrachten, riesigen elektrischen Lampen ausgehend, mit seiner Intensität die ganze Umgebung sowie den Weg zur Stadt taghell beleuchtete und die Konturen aller dazwischen befindlichen Gegenstände, der Bäume, Wagen und Passanten in den schärfsten Schattenumrissen vor sich abzeichnete. Erst bei der unteren Biegung des Weges hörte seine Wirkung auf; dafür erglänzte aber die Stadt selbst in allen ihren Straßen im Lichtermeer einer feierlichen Illumination, und über dem still daliegenden Hause Wahnfried prangte der herrlichste Mondschein auf durchleuchtetem Wolkengrund.

Bereits der folgende Tag (Sonnabend, 26. August) war, nach seinem heiter sonnigen Vorgänger, wieder trüb, wenn auch kein Regentropfen vom Himmel herabfiel. Um 1/211 Uhr bereits strömte alles in die katholische Hofkirche, wo zunächst die Freunde des Hauses auf den für die Angehörigen reservierten vorderen Bänken Platz nahmen. Unmittelbar dahinter war bald alles gedrängt voll von teilnehmenden, oder auch bloß neugierigen Zuschauern; den ersteren durften jedenfalls die zahlreichen mitwirkenden Künstler, im Vordergrunde derselben u.a. Frau Materna, zugezählt werden. Pünktlich um 11 erschien das Brautpaar mit seinen Angehörigen; die Braut, im Schleier, von ergreifender Schönheit, der Bräutigam in männlich feierlichem Ernst. In der vordersten Sitzreihe hatte auf der einen Seite Frau Wagner zwischen dem Meister und Liszt Platz genommen, auf der andern saß Siegfried für sich allein, hinter ihm Malwida und das Schleinitzsche Paar, dann Muncker usw. Die Ansprache desselben katholischen Geistlichen, der zuvor nach Palermo hin den denunziatorisch aufreizenden Hetzer gespielt, wirkte wenig erbaulich; dann trat befreiend die Musik vom Kirchenchor ein, eine kleine a capella-Messe von Palestrina, von Levi einstudiert und dirigiert, von den Chorsängern der Festspiele gesungen. Unmittelbar nach Erledigung dieser Feier begab sich das junge Paar, nachdem es bloß das Hochzeitskleid mit dem Reisekostüm vertauscht, auf den Bahnhof, um seine Hochzeitsreise über Nürnberg und Würzburg an den Rhein und in die Schweiz anzutreten und mit mehrfachen Aufenthalten unterwegs nach zwei Monaten in Palermo einzutreffen. Der Meister und Liszt hatten eigentlich ihren Abschied von den jungen Reisenden schon zu Hause genommen; um so größer war die allgemeine Freude und Überraschung, als sie doch noch auf dem Bahnhof erschienen, wo Wagner alsbald sich und die Seinigen durch Vorlegung der Perronkette von dem Zudrang der Unbeteiligten absperrte und seine tiefe Ergriffenheit unter unaufhörlichen Scherzen verbarg. Dem Brautpaar war seitens der Bahnverwaltung ein eigener Salonwagen mit zwei Abteilungen zur Verfügung gestellt; die eine dieser Abteilungen, sagte der Meister, sei für das Gepäck, die andere pour les délices de la conversation. Der eigentliche Abschied, den der väterliche Freund und Beschützer, der sorgend über ihrem ganzen jugendlichen Lebensgang gewacht, [671] von der lieblichen Braut nahm, fand im Innern des Coupés statt und entzog sich den Augen der Zuschauer; nach dem Verlassen desselben fuhr er, so schwer ihm dieses Scheiden fiel, nur noch mit leichten liebkosenden Scherzworten fort, die sich hier nicht wiederholen lassen. Dann setzte der Zug sich in Bewegung, dem Festspielhaus zu und an diesem vorüber, um bald dem Auge zu verschwinden. Er aber kehrte mit den Seinen in sein Haus zurück, um sich den mannigfachen Obliegenheiten zu widmen, die nach Ablauf der bewegten Festtage seiner harrten, u.a. einen (vom 26. August datierten) Brief an Dr. Strecker in Mainz zu schreiben, der sich über eine widerrechtliche italienische Ausgabe des ›Parsifal‹ beklagt hatte, die Frau Lucca in Mailand hatte erscheinen lassen. Im übrigen fühlte er sich nicht wohl, ja durch die mannigfachen Schwierigkeiten, die ihm die Sänger fortgesetzt in der Besetzungsfrage machten, auch durch die tief von ihm empfundene Abwesenheit des Königs von den Aufführungen, zuzeiten schmerzlich gekränkt. Trotz dieser vorherrschenden Mißstimmung mußte er es ertragen, daß abends von 9 Uhr ab sich das Haus mit all den Gästen füllte, die er in seiner Großmut dazu aufgefordert: einerseits den zur Trauung Eingeladenen, andererseits den Sängern, die dazu mitgewirkt, endlich einer Anzahl von Freunden, denen er ›nichts schuldig bleiben wollte‹ und die er zum nächsten Montag nicht zum gewohnten Empfang einladen konnte, weil dieser Abend wegen eines beabsichtigten ›Gartenfestes‹ für seine Künstler eine andere Bestimmung erhalten hatte.

Für die vorletzte (15.) Aufführung am Sonntag, den 27. August, hatte sich der Kronprinz des Deutschen Reiches als Festspielgast angemeldet und die Aussicht auf diesen hohen Besuch die Gemüter der Bayreuther Bevölkerung vielfach beschäftigt, trotzdem eine Notiz des ›Bayreuther Tagblattes‹ zeitig darauf hingewiesen hatte, daß wegen eines beabsichtigten ›strengsten Inkognitos‹ jeder feierliche Empfang unterbleiben müßte. Dementsprechend würde der hohe Herr erst eine halbe Stunde vor der Aufführung mit dem Schnellzug eintreffen und gleich nach Schluß der Vorstellung mittelst Extrazuges wieder nach Bamberg zurückkehren. Zur gleichen Aufführung hatte sich auch die Prinzessin Marie von Meiningen gemeldet und mit ihrem Gefolge im Hotel ›Reichsadler‹ Wohnung genommen. Sie machte vormittags ihren Besuch in Wahnfried und wurde durch Frau Wagner empfangen. Weniger erfreulich war – kurz vor dem allgemeinen Aufbruch ins Festspielhaus – ein erregter Besuch von Fräulein Brandt, die sich in leidenschaftlicher Ergießung über eine vermeintliche Zurücksetzung beschwerte. Wie die Güte eines großen Herzens selbst dem schlimmsten Element der Komödiantenlaune (alias ›Künstlerehre‹) siegreich sich bewährt, das zeigte sich darin, daß eine Einladung an Siehr zur letzten Aufführung in die Loge des Meisters den besten Erfolg hatte. Daß sich dieser in seiner starren Weise durch die Ansprüche Scarias so gekränkt fühlte, hatte dem Meister überaus [672] leid getan; es war gar nicht in seinem Sinne. Scaria mit seiner vorzüglichen, wenn auch freilich, so sehr er sie hochstellte, durchaus nicht gleichmäßig vollkommenen Leistung war ihm dadurch ganz verleidet worden, und stets war er einer rücksichtslosen Prävalenz eines Mitwirkenden vor den anderen abgeneigt gewesen. So hatte er in der Frühe des gestrigen Sonntags ein herzliches Wort an Siehr abgesandt; sofort erfolgte dessen tiefbeglückte Zusage; es hatte nur dieses leichten Anstoßes bedurft, um alles freudig auszugleichen. Somit war der Zwischenfall mit Fräulein Brandt (von jener kindischen Erwiderung Gudehus' abgesehen!) buchstäblich der einzige Mißton in der allgemeinen Harmonie; und auch dieser schließlich einzig in der heftig leidenschaftlichen Natur der Künstlerin begründet, die, wie in solchen Fällen so häufig, natürlich selbst am schmerzlichsten darunter zu leiden hatte. Hätte sie Geduld gehabt, so wäre sie in allem befriedigt worden, da der Meister sie persönlich in allem übrigen, außer ihrer Heftigkeit, durchaus gern hatte und als hervorragende Künstlerin schätzte. Weder der Zuspruch Levis, noch selbst ein Besuch Liszts in ihrer Wohnung, vermochten sie aber mit der angeblichen ›Zurücksetzung‹ auszusöhnen. Wäre sie geblieben, sie wäre mit Frl. Malten und Siehr zur letzten Aufführung in des Meisters Loge gewesen und hätte damit sich und ihm eine Freude bereitet. Nun konnte es ihm nur leid sein, daß Herr von Hülsen – wenn er erführe, sie sei so ohne Abschied abgereist – wirklich recht behalten sollte, da dieser ihm stets gesagt, mit ihr könne niemand auskommen. Im übrigen schrieb er auch dieser ihrer neuesten Verstimmung nur eine vorübergehende Bedeutung zu und trug sich mit der Absicht, sie im nächsten Jahr wieder zur Mitwirkung aufzufordern.

Die Hauptdarsteller der 15. und vorletzten Aufführung waren wiederum: Frau Materna, Winkelmann, Scaria, Reichmann und Fachs. Nach dem ersten Aufzug trat Heckel als Vertreter des Verwaltungsrates in die Loge des Kronprinzen,29 um sich nach dessen etwaigen Befehlen zu erkundigen; da sagte ihm dieser: ›Ich finde keine Worte für den empfangenen Eindruck; er übersteigt [673] alles, was ich erwartet. Ich bin tief ergriffen, und begreife, daß das Werk im modernen Repertoire nicht gegeben werden kann.‹ Und als nach dem Schluß der Vorstellung auch Bürgermeister Muncker und Feustel in demselben Vorsalon der Königsloge auf ihn zutraten, wiederholte er das Gesagte. ›Herr Heckel‹, sprach er, ›war Zeuge meiner Begeisterung; ich kann nur nochmals meine Bewunderung ausdrücken. Es ist mir, als wäre ich nicht in einem Theater, so erhaben ist alles!‹30 Im zweiten Akt applaudierte der Meister wiederum den Blumenmädchen; beim Schlußchor des dritten Aufzuges war er auf der Bühne hinter den Kulissen, und es ging darum heute besonders gut. ›Wenn es immer gut gehen sollte, müßte er nur immer bei ihnen sein‹, versicherten ihm die braven Leute.

Bereits am gestrigen Tage und so auch heute, am Montag, den 28. August, hatte er den alten Züricher Freund Sulzer nebst dessen Sohn bei sich zu Tisch, sich des seltenen Mannes ungemein erfreuend. Um fünf Uhr war ein großes Gartenfest für sämtliche Mitwirkenden, auch des Chors und Orchesters, angesagt, die sich denn auch – mit einziger Ausnahme des ebenfalls eingeladenen Frl. Brandt – vollzählig einfanden; Frau Materna sogar mit einem geschwollenen Knie, dessen Zustand sie unter anderen Umständen veranlaßt haben würde, sich ruhig zu Hause zu halten. Der Empfang fand im Garten statt, und der Meister selbst war als erster auf dem Platz. Es ärgerte ihn bloß, daß zu diesem Fest, bei welchem er sich ausschließlich seinen Künstlern zu widmen gedacht hatte, auch eine Anzahl von Nichtkünstlern sich eingefunden hatte. Er verschwand zuerst ganz und kehrte erst nach einer Weile wieder. Trotzdem heiterten sich seine Züge allmählich auf, und er hatte für jeden ein gutes, ermunterndes und freundliches Wort. Mit einem fast wehmütigen Ausdruck wandte er sich zu einer Gruppe seiner Blumenmädchen. ›Jetzt werdet Ihr ein ganzes Jahr hindurch andere Rollen spielen, als Königinnen und Prinzessinnen in Prachtgewändern einherschwimmen, aber Ihr werdet nicht, wie hier, als Kinder umherspringen.‹ Von weitem erblickte er Friedrich Schön: ›da kommt‹, so rief er, ›der Urwohltäter des Patronatvereins!‹ und benutzte auch diese Gelegenheit, mit ihm seinen Plan eines Zwanzigmark-Abonnements auf die ›Bayreuther Blätter‹ mit Freiplätzen für die Abonnenten, zu erörtern. ›Das wollen wir schon in den nächsten Tagen gut besprechen‹, sagte er, als er davon abbrach. Er war inzwischen in den Saal zurückgelangt und erblickte draußen Frau Materna, mit welcher er heute über so vielen anderen Begegnungen kaum ein Wort gewechselt. ›Amalia! Amalia! Karl ist hier!‹ rief er ihr mit lauter Stimme zu, und als sie so über den ganzen Platz auf ihn zukam, lobte er sie recht von Herzen: [674] ›Sie sei die einzige, die etwas von ihm gelernt habe! Winkelmann habe wohl auch damit angefangen, aber es fehle noch viel; sie aber habe wirklich von ihm gelernt.‹ Er rühmte den Enthusiasmus, mit welchem sie an einer bestimmten Stelle des zweiten Aktes (wohl: ›So war es mein Kuß‹ usw.) auf Parsifal zutrete: ›ja, ich habe es wohl gesehen; ich habe es gesehen, wie Sie sich meine Anweisung zunutze gemacht. Sie lieben mich auch etwas, und das ist schon viel‹. ›Ihr beiden österreichischen Slawen‹, äußerte er sich später (brieflich an Scaria), ›seid ja gerade meine besten deutschen Sänger, die ich als Vorbild hinstellen kann in bezug auf das, was mir am wichtigsten ist: dramatischer Gesang!‹31 Erst um 3/48 ging die bunte Gesellschaft auseinander, und es wurde im Hause wieder ruhig. Für Liszt wurde der Whisttisch hergerichtet, mit Joukowsky und Stein als Mitspielenden; der Meister selbst verhielt sich still und abseits, in den Abendstunden bemächtigte sich seiner wiederholt eine starke Depression. Die konsequent durchgeführte Enthaltung des Königs von den Festspielen dieses Jahres schmerzte ihn auch; gerade heute hatte er noch bei Herrn von Bürkel deshalb telegraphisch angefragt, aber die ›beruhigende‹ Antwort desselben gab als Ursache seines Ausbleibens doch immer nur die Fortdauer des schon früher erwähnten Unwohlseins an. War doch in tiefster Verschwiegenheit, unter den Wissenden, selbst von einem ›Schlaganfall‹ die Rede gewesen.

Der Tag der 16. und letzten Aufführung, Dienstag, der 29. August, brach bei trübem Himmel an. Der Meister hatte keine gute Nacht gehabt; überall herrschte Erkältung, und geschwollene Wangen waren an der Tagesordnung. Levi erschien ganz verpackt und eingehüllt, er war soeben aus dem Bette aufgestanden. Bei strömendem Gewitterregen hatte die Auffahrt zum Theater stattgefunden, selbst die wenigen Schritte vom geschlossenen Wagen bis in das Haus genügten, um die Aussteigenden völlig zu durchnässen. Und doch, wie verschwand das alles und geriet in völlige Vergessenheit, als die ersten Töne des Vorspiels aus der Tiefe heraufdrangen, als der Vorhang sich teilte und in ihren mächtigen Zügen die feierliche Handlung des ersten Aufzuges unter stetiger Steigerung vor sich ging. Zum letztenmal in diesem weihevollen Festspielsommer! Aber selbst daran dachte man kaum, gab es doch gar manche Zuhörer und Zuschauer im dunklen Raum, für die dieses letzte Mal zugleich das erste war, und wer sämtlichen sechzehn Aufführungen vom Beginn bis zum Schluß beigewohnt hatte, dem schmolzen sie vollends in einen einzigen unzertrennlichen Eindruck zusammen. In der Fürstenloge des wiederum nahezu ›ausverkauften‹ Hauses befanden sich verschiedene hohe Gäste, wie der Großfürst Wladimir von Rußland nebst seiner Gemahlin, der Herzog und die Herzogin von Edinburg, der regierende Großherzog Karl [675] Alexander von Sachsen-Weimar nebst dem Erbprinzen Gustav. Auch die Familienloge zeigte neben Frl. Malten und dem sehr beglückten Siehr noch andere Gäste: das Schleinitzsche Paar, den Grafen Wolkenstein, Malwida mit ihrem Neffen, dem Hofmarschall Karl v. Meysenbug (S. 138) und dessen Gattin. Der Meister selbst war zum ersten Aufzug noch nicht anwesend; obgleich er sich morgens unwohl gefühlt, hatte er sich doch sehr über die Nachricht gefreut, daß Frl. Malten auf seine Einladung, der Aufführung beizuwohnen, erschienen und auch Siehr dazu eingetroffen war, um, wie der Meister scherzend sagte, ›glühende Kohlen auf die Häupter der anderen zu sammeln‹ Der Mittagstisch mit Liszt war wegen dessen bevorstehender Abreise das letzte gemeinsame Mahl, und es kam zwischen beiden Meistern zu großer gemütlicher Expansion. Um sich für das noch Bevorstehende auszuruhen, kam er demzufolge erst im zweiten Zwischenakt vorgefahren, nachdem auch der Regen sich etwas gelegt hatte, und begrüßte seine Gäste, insbesondere Frl. Malten und Siehr, auf das freundlichste. Auf der Bühne befriedigte ihn alles. Die Besetzung war im wesentlichen die gleiche, wie in den letzten Vorstellungen (Winkelmann, Frau Materna, Reichmann, Scaria, Hill). Im zweiten Akt stand er auf der Szene, hinter den Kulissen, und seine Anwesenheit wirkte auf alle wie eine Inspiration. Im dritten Akt, nach der Verwandlungsmusik, befand er sich im Orchester, und da er Levis Unwohlsein schon vorher bedauernd bemerkt hatte, gab dies den Anlaß zu dem allerergreifendsten Abschluß der Aufführung, indem er mitten im Spiel des Orchesters selbst den Dirigierstab ergriff und nun vollends, wie ein Zauber, sein elektrisierender Einfluß auf alle Musiker und Sänger wirkte. So dirigierte er den dritten Akt bis zum Schluß. Levi und Fischer, die gewohnten Dirigenten, blieben außerdem im Orchesterraum, um die Ausführenden an bestimmten Stellen nicht die gewohnten Zeichen vermissen zu lassen. Er konnte daher ohne die üblichen praktischen Rücksichten ausschließlich auf eine im Rhythmus und Ausdruck, die Seele des Vortrages, durchaus adäquate Wiedergabe bedacht sein, auf Wucht und Zartheit, jedes an seinem Platz. Es war wunderbar, mit welcher Tiefe der Empfindung und mit welcher gewaltigen Breite namentlich die getragenen Stellen zum Vortrag gelangten. Als er bei der letzten großen Amfortasklage an einer bestimmten Stelle (Klav.-A. S. 248, 4, 2) eigens für Reichmann das von diesem regelmäßig beliebte fünfte Viertel – im Viervierteltakt – extra ausschlug, erhielt er von dem neben ihm stehenden Levi für dieses freundliche Zugeständnis an die Schwächen des Sängers ein belobigendes: ›Bravo, Meister!‹ Dafür holte er aber auch aus jedem der Mitwirkenden das Letzte heraus, was in ihm steckte, und die Wucht der Amfortasszene überstieg an Mächtigkeit alles bis her Erlebte.32 Dem entsprechend war auch alles übrige, bis zum letzten Tone [676] der in feierlich weitgespannten Harmonien in überirdischer Verklärung sanft anschwellenden Verbindung des Gralmotivs mit dem Glaubensthema, in welchem der Schöpfer des Werkes von allen, die ihm beigewohnt und es mit erlebt, Abschied zu nehmen schien mit einem: ›So, das war es, was ich Euch sagen wollte!‹ Als er seinen Zauberstab aus der Hand legte, war es bereits nach 1/210 Uhr; noch einmal teilte sich nach dem gewohnten Begeisterungsausbruch die Gardine und zeigte das weihevolle Schlußbild mit der herabschwebenden Taube; aber der aus dem ganzen Hause und selbst dem Orchester sich erhebende gewaltige Sturm dauerte ohne Ende eine volle Viertelstunde hindurch fort. Man wünschte offenbar den Schöpfer des Werkes auf der Bühne zu sehen und hielt dies für so leicht erreichbar. Allerdings öffnete sich, da das Rufen und Applaudieren nicht enden wollte, der Vorhang noch einmal; aber nicht. Er wurde auf der Bühne sichtbar; er wollte seinen Künstlern die Ehre nicht streitig machen, daß sie es gewesen waren, die sein Werk so hinreißend verkörpert, und sie allein (mit wenigen – an der Schlußszene unbeteiligten – Ausnahmen noch im vollen Kostüm) sollten sich statt seiner dem Publikum zeigen. Er selbst blieb an seinem Platz im Orchester, wo er, da der rauschende Jubel mit Hochrufen auf ihn und die Künstler unaufhörlich fortdauerte, noch ein letztes Schlußwort – nicht an das Publikum, sondern an seine Musiker und Sänger richtete Daher erklang plötzlich aus dem Orchester herauf der wiederholte Ruf: ›Ruhe! Ruhe!, worauf im Hause sogleich ein tiefes atemloses Stillschweigen eintrat. Vieles von seinen Worten vernahm man auch oben im Zuschauerraum, vieles andere ward bloß dort unten vernommen, von denen, an die es unmittelbar gerichtet war. In ergreifender Weise wies er auf die Bedeutung dieses Momentes, als eines Scheidens von erhabensten Erlebnissen: ›Wir gehen nicht gern auseinander, ein jeder von uns begibt sich an seinen Ort, in seinen Beruf, aber widerwillig, keiner geht gern von dieser Stätte weg. Daß die Kunst nur durch die Künstler zu heben sei, das haben wir nun wieder erfahren. Wir sind es, durch deren Vereinigung die künstlerische Tat geschaffen ward; nicht von außen her ist es gekommen. Ihr habt alles vollendet gemacht, oben das[677] Vollendetste in der Dramatik, unten eine fortlaufende Symphonie. Wir haben den Souffleurkasten abgeschafft, aber dafür habe ich Euch einen großen Souffleurkasten aufgebaut‹ (er wies dabei auf die Wölbung des Schalldeckels nach dem Zuschauerraum hin), ›da sind wir ganz unter uns, liebe Freunde, und das Publikum kann uns nicht sehen.‹ Er schloß mit der Aufforderung, nächstes Jahr wiederzukommen, und ein jubelndes ›Ja!‹ von der Bühne und dem Orchester aus war die Antwort. Kaum hatte er geendet, so ging das Tosen und Toben im ganzen weiten Hause wieder an; man hoffte ihn dadurch doch noch zu einem Abschiedsgruß auf die Bühne zu locken. So dauerte es bis nach 11 Uhr, ohne jeden Erfolg. Man konnte Sinn und Bedeutung seines Nichterscheinens vor einem fremden Publikum auf bezahlten Plätzen sehr wohl verstehen. Vor sechs Jahren hatte er hier im Kreis seiner Künstler vor seinen Patronen gestanden. Damals hatte er zu ihnen das: ›Wollen Sie, und wir haben eine Kunst!‹ gesprochen. Das konnte sich nicht wiederholen. Man hatte nicht gewollt, man hatte ihn allein gelassen; das war über seine Kräfte gegangen, hatte an seinem Leben gezehrt und war nicht dadurch gutmachen, daß das unter so viel Nöten geschaffene und szenisch verwirklichte Werk von einigen tausend Neugierigen besucht worden war. Den Hinaustretenden leuchtete nach allem Unwetter des Tages der schönste Vollmond; aber sein helles Licht fiel eine Viertelstunde später auch schon auf die Dampf- und Rauchwolke des forteilenden Eisenbahnzuges, der einen großen Teil dieses vor wenig Stunden angekommenen applaudierenden Publikums wieder hinwegführte. Vieles Warme, Herzliche hatte er dagegen noch auf der Bühne hinter dem geschlossenen Vorhang seinen Künstlern zu sagen, bevor er in still feierlicher Stimmung die Heimfahrt antrat; er hatte zuvor noch in seiner Garderobe mit seinen beiden Dirigenten Levi und Fischer eine Weile Grog trinkend gesessen, während draußen mehrere Blumenmädchen auf ihn warteten, um ihn noch einmal zu sehen. Es war ihm nicht möglich, von jedem einzelnen Abschied zu nehmen, so z.B. auch von Winkelmann nicht; ›was wohl daher kam, daß ich nach dem von mir an meine künstlerischen Freunde alle gerichteten Abschiedsworte mich zu sehr angegriffen fühlte, um mich nicht selbst eine längere Zeit erholen zu müssen, nach welcher ich auch Sie bereits nicht mehr im Theater anwesend fand‹.33 Erst nach halb zwölf fuhr der erste der beiden geschlossenen Wagen durch das Gartentor von Wahnfried ein: er führte Liszt und die Kinder nach Hause; der zweite, in welchem er selbst mit seiner Gemahlin saß, ließ erst kurz vor Mitternacht den Kies der Einfahrt unter seinen Rädern knirschen; dann schloß sich das Gitter, tiefe Stille senkte sich über alles, und das Tagewerk dieses Sommers war getan.

Fußnoten

1 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 124/25.


2 In der Tat waren erst ganz kurz zuvor wiederum die Klagen des Restaurateurs am Theater zu besänftigen gewesen, welcher der mangelnden Beteiligung halber drauf und dran war, die Wirtschaft aufzugeben.


3 Richard Wagner ›Bayreuther Briefe‹, S. 309/10.


4 Vgl. die ganz entsprechende Äußerung in seinem Einführungswort für die ›Bayreuther Blätter‹ (1880): ›Wo erfrorene Handwerker auf den Straßen aufgefunden werden, sollte eigentlich selbst von der Kunst, die gegen gute Honorare sich mitten unter uns ganz behaglich fühlt, nicht die Rede sein dürfen, wieviel weniger nun von derjenigen, die wir im Sinne haben und die gar nichts einbringt, sondern nur kostet‹ (Ges. Schr. X, S. 39).


5 Nach Neumanns Bericht habe Fritz Brandt den Fortgang der ins Stocken geratenen Dekoration dadurch gerettet, daß er mit eigener Lebensgefahr behend hinaufkletterte und oben, an einem Balken hängend, mit kühnem Messerschnitt das Hindernis beseitigte. Es bedurfte geraumer Zeit, ehe man ihm mit Leitern beikommen und den in Gefahr Schwebenden von der schwindelnden Höhe herabholen konnte (›Erinnerungen‹, S. 240).


6 Eine derartige Spannung zwischen beiden bestand seit der Londoner ›Nibelungen‹-Aufführung, in welcher Scarias spätere geistige Erkrankung sich zuerst durch eine auffällige Gedrücktheit, sodann im völligen Vergessen ganzer Strecken seiner Rolle bereits bedenklich ankündigte, so daß es zu einem ernsten Konflikt zwischen dem Direktor und dem Sänger kam, weil sich Neumann gezwungen sah, ihm die Partie des Wotan ganz zu entziehen und sie an Schelper und Reichmann zu übertragen. Vgl. Neumanns ›Erinnerungen‹, S. 230/31.


7 Band V des vorliegenden Werkes, S. 348 und öfters. Die an Dannreuther gerichteten Briefe sind in dem von Erich Kloss herausgegebenen Briefbande ›Richard Wagner an seine Künstler‹ zusammengestellt.


8 In bezug auf Frl. Brandt beklagte der Meister stets, daß sie aus dieser Stelle, dem ›Arabia birgt dann nichts mehr zu seinem Heil‹, eine ›Arie‹ mache.


9 Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 242.


10 Vgl. ›Liszts Briefe‹ VII, S. 352.


11 Mit den beiden Vertretern der Rolle, Winkelmann und Gudehus, war Niemann wenig zufrieden; erst an dem ›Parsifal‹ van Dyks hat er später Gefallen gefunden (vgl. Sternfelds) biographische Studie ›Albert Niemann‹ (Berlin, 1905), S. 54.


12 So erzählt er (beispielsweise) von seinem Aufenthalt in der Fantaisie, es sei daselbst auch ›der spätere Gurnemanz und damalige Klingsor, der Münchener Bassist Siehr‹ mit seiner Frau und Tochter mit anwesend gewesen; dabei hat doch Siehr niemals, weder im ersten ›Parsifal‹-Jahr noch in einem der folgenden, den ›Klingsor‹ gesungen, war auch nicht einmal je dafür in Aussicht genommen, weil dies seinen Anlagen zu sehr widersprochen hätte; dagegen war er ebensowenig als ›späterer Gurnemanz‹ zu bezeichnen, da er ja vielmehr in eben diesem selben ersten Festspieljahr die Partie des Gurnemanz wechselnd mit Scaria sang! Neumann hatte ihn selbst damals soeben auf der Bühne gehört und gesehen. So sind auch die meisten seiner unterhaltendsten Anekdoten unkontrollierbar, und die Wirklichkeit dürfte weniger anekdotenhaft gewesen sein. Auch diesen Umstand führen wir hier natürlich ohne die Absicht eines Vorwurfs an! Er konnte nicht anders erzählen, als wie er die Dinge auffaßte, die Auffassung kam aus seiner Natur und deren Beschränkung; sicher aber ist er nie bewußt unwahr, sondern hatte bei aller Flüchtigkeit den besten Willen zur Wahrheit.


13 ›Im Laubengang der Villa‹, berichtet Neumann weiter, ›erwartete mich mein Sohn, dem ich den Verlauf dieser denkwürdigen Stunde erzählte, indem ich hinzufügte: »Karl, heute habe ich durch Verzicht auf den Parsifal Millionen preisgegeben.« – »Vater«, sagte der Siebzehnjährige »daß Richard Wagner dir diesen Dank sagen konnte, gilt mir mehr als Millionen.«‹ (Neumann, ›Erinnerungen an R. Wagner‹, S. 243).


14 Ebendaselbst, S. 242/45.


15 In seinen ›Erinnerungen‹ (S. 237/38 und 245/46) hat Neumann diesen Bericht in zwei voneinander getrennte Begebenheiten auseinandergerissen und den letzteren Teil auf den 10. August verlegt. Aber exakte Daten sind niemals seine Sache.


16 Und doch waren diese Beiden in der von solcher Weiheerfüllten ›Parsifal‹-Zeit die eigentlich Unzufriedenen im Personal, die sich an offener Mittagstafel im ›Reichsadler‹ vor fremden Festspielgästen oft recht ungezogen gehen ließen, indem Frl. Brandt ihre Auffassung des Kundry-Charakters auseinandersetzte und Hill erklärte: er komme gewiß nächstes Jahr nicht wieder. In gleichem Sinne schrieb er Frl. Brandt ins Stammbuch: ›seine Wunde trägt jeder noch heim‹. In welchem Tone dergleichen in der öffentlichen sog. ›Kritik‹ in weitere Kreise getragen wurde, das beweist unter anderen ähnlichen Kundgebungen die damals vielgelesene ›Allg. Deutsche Musikzeitung‹ (O. Leßmann), indem sie, dem eigenen Urteil des Meisters direkt vorgreifend, der Leistung von Frl. Brandt ihre ›ungeteilteste Bewunderung‹ entgegenbrachte, mit dem frechen Zusatz: der Meister ›scheine, wie Bismarck, die Individualitäten neben sich(!) nicht vertragen zu können‹ (a.a.O., Jahrg. 1882, S. 276)!!!


17 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 357 f. (wo übrigens der Weißheimersche Bericht über die erste Bekanntschaft in künftiger Auflage einer eingreifenden Berichtigung auf Grund einer authentischen Schilderung durch Frl. Maier selbst entgegensieht), S. 372 u. sonst.


18 Wir hören noch heute den empörten Ton, mit welchem uns Malwida darüber berichtete: der hiesige katholische Geistliche habe an den Geistlichen in Palermo geschrieben, daß Blandine Lutheranerin sei und in einer Familie aufgewachsen, wo der Katholizismus geradezu verhöhnt (!!) werde (woher konnte das der gute Pfarrer doch wissen?), und daß sie infolgedessen keine gute Akquisition für die katholische Kirche sein werde. ›Infam!‹ mit diesem Schlußwort wandte sie sich an den anwesenden jungen Grafen Gravina. – Aber um uns nicht eine einseitige Verurteilung eines Vertreters der katholischen Geistlichkeit zuschulden kommen zu lassen, verweisen wir hier auf seinen protestantischen Amtsbruder auf S. 126 f. dieses Bandes!


19 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 237.


20 Vgl. Ges. Schriften IX, S. 321 (›Ein Einblick in das heutige deutsche Opernwesen‹).


21 In der 5. und 6. Aufführung war Scaria zweimal nacheinander aufgetreten, dafür aber wiederum Siehr in der 7. und 8. Aufführung ebenfalls zweimal nacheinander.


22 Indes kann nicht verschwiegen werden, daß jener Bericht durch seine besonders gehässige Färbung den wirklichen Verlauf jener Tagung recht erheblich entstellte!


23 Ein in der Sammlung ›Künstlerbriefe‹ nicht mit abgedruckter, aber im Besitz des Eisenacher Wagner-Museums befindlicher Brief des Meisters an Scaria vom 20. August beginnt mit den Worten: ›Lieber Herr Scaria! Einer festen Übereinkunft, daß Sie heute den Gurnemanz sängen, entsinne ich mich nicht‹ usw.


24 Derartige kleine Abweichungen, wie sie bei Scaria häufiger vorkamen, ohne daß das Publikum sie bemerkte (am 25. August sang er z.B. ›Geschloßnen Helmes, Helm und Speer‹, ›versagt‹ statt ›versiegt‹, und endlich: ›Mittag! Gestatte, Herr, daß dein Knecht‹ usw., mit Auslassung des Satzes ›die Stund' ist da‹) beruhten offenbar auf seiner vorübergehenden Gedächtnisschwäche, die mit der späteren Umnachtung seines Geistes zusammenhing, und die schon bei der Londoner Aufführung des ›Ringes‹ ihre Schatten vorauswarf (vgl. Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 230/31).


25 ›Herr Jäger war von Meister Wagner telegraphisch eingeladen worden, für Freitag noch einmal den Parsifal zu übernehmen, mußte aber dankend ablehnen, da ihn Verpflichtungen gegen die Stuttgarter Hofbühne festhalten‹, meldete das ›Bayreuther Tagblatt‹ vom 23. August.


26 ›Richard Wagner an seine Künstler‹ (herausgegeben von Erich Kloss), S. 354.


27 Vgl. Band IV des vorliegenden Werkes, S. 331.


28 Vgl. Band II des vorliegenden Bandes, S. 403 u. öfter.


29 Dieser war – ohne seine hohe Gemahlin – in Begleitung des Kgl. Bayerischen Oberhofmarschalls Freiherrn von Malsen und mehrerer Kavaliere und Adjutanten kurz nach 1/24 am Bahnhof eingetroffen, wo der Regierungspräsident v. Burchtorff, Feustel und einige andere Bayreuther Herren ihn begrüßten. Eine zahlreiche Menschenmenge hatte sich, trotz des Inkognito's versammelt, und ihre stürmischen Hochrufe wiederholten sich auf dem Wege zum Festspielhaus, der von der Bayreuther Bevölkerung beiderlei Geschlechts dicht besetzt war. Am Festspielhause wurde er von den Herren des Verwaltungsrats, Muncker, Groß und Heckel, empfangen. ›Se. Königl. Kaiserl. Hoheit begrüßte hierauf die Frau Gräfin von Schleinitz, bot derselben den Arm und besichtigte die Umgebung des Wagnertheaters von der Terrasse und dem Balkon der Königsloge aus, von der reizenden Gegend sichtlich überrascht und über dieselbe erfreut. Punkt 4 Uhr erschien Se. K. K. Hoheit mit Ihrer Hoheit der Herzogin Marie Elisabeth von Meiningen in der Königsloge, worauf alsbald die Vorstellung ihren Anfang nahm‹ (›Bayreuther Tagblatt‹, Nr. 238 vom 28. August 1882).


30 Vgl. Heckel, ›Erinnerungen‹ (unter dem Titel: ›Briefe Richard Wagners an Ernst Heckel‹), S. 153.


31 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 367.


32 Heckel zitiert in seinen ›Erinnerungen‹ die an ihn gerichteten Worte Reichmanns: ›So etwas hält man nur einmal aus. Zu einem solchen Aufwand von Atem, überhaupt an Kraftentfaltung der Stimme, vermag einen nur der Meister selbst zu zwingen‹ (a.a.O., S. 154). Indes täuschte sich der liebenswürdige Sänger, durch das Milde, Leidende seines Organs so ganz zur Verkörperung des Amfortas berufen, mit diesen Worten ganz über das Wesen seiner Leistung. Wir erinnern uns vielmehr eines Ausspruches Wagners an einem der folgenden Tage: ›Reichmann müsse jedesmal immer erst hineinkommen, in Wärme geraten; deshalb sei es mit ihm in der Waldszene nichts, und der letzte Akt immer der beste‹. Der Kraftaufwand an Atem und Stimme war dabei ganz Nebensache; er war bloß wieder einmal so recht aus sich heraus und in seine Rolle ›hineingekommen‹ Das ›Tod! Sterben! einzige Gnade!‹ war immer das Ergreifendste von ihm, und erforderte am wenigsten Stimmentfaltung, am meisten inneres Erlebnis.


33 Brieflich an H. Winkelmann, 5. Oktober 1882 (›Künstlerbriefe‹, S. 359).


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 633-679.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon