XVII.

Venedig.

[679] Letzte Tage in Bayreuth. – Abreise nach Venedig: Palazzo Vendramin. – Freude an der Stadt und ihrer äußeren Erscheinung. – Lektüre: Oldenbergs Buddha. – Besuche: Gravinas, Levi, Schleinitzens, Dr. Thode. – Abreise Steins. – Tod Gobineaus. – Geschäftliche Ärgernisse. – Unerfreuliche Gesundheitszustände.


Mich hat eine ungemeine Mattigkeit ergriffen, für jetzt denke ich nur daran, mich jenseits der Alpen von der schrecklichen klimatischen Ungunst, der ich hier verfallen war, zu erholen.

Richard Wagner.


War schon die ganze Festspielzeit hindurch einerseits des Ankommens, andererseits des Abschiednehmens kein Ende gewesen, so waren die nächsten Tage von Abschieden ganz erfüllt. Das Schmerzlichste für ihn war es, daß Liszt auf keine Weise, auch für kürzeste Zeit nicht, zu halten war, sondern schon am Tage nach der letzten Aufführung (Mittwoch, 30. August) seine Rückfahrt nach Weimar antrat. Es war wieder ein trüber, regnerischer Tag. Am Vormittag empfing der Meister von seinen Sängern noch Reichmann, Hill, Fräulein Malten, Fräulein Galsi (von den Blumenmädchen) und gab einem jeden ein gutes herzliches Wort auf den Weg. Das Mittagessen nahm er allein mit seiner Familie, zum Kaffee erheiterte ihn die Anwesenheit der Freunde Schön und Frau; mit ersterem unterhielt er sich nun eingehend über die Organisation der geistigen Verbindung, welche an die Stelle des aufgelösten Patronatvereines treten sollte. Diese Organisation konnte ihm nicht einfach genug sein, von Statuten sollte dabei nichts vorkommen und am allerwenigsten der ominöse Ausdruck ›Patron‹. Vormittags hatte bereits eine Beratung über diesen Gegenstand in Schöns Wohnung zwischen Schön, Porges, Wolzogen, Prof. Höfler aus Wien und dem Straßburger Bibliothekar Oskar Meyer stattgefunden. Dann zog er sich völlig zurück und beteiligte sich auch nicht an einem kurzen Besuch, den Graf und Gräfin Schleinitz der ältesten Tochter Daniela machten. Er befand sich allein [679] im Saal, als es wieder klingelte, und ließ durch den Diener hinaussagen, er sei unwohl. Da sei ihm, so erzählte er später, eingefallen, ob es nicht sein guter Porges sei; er habe selbst nachgesehen, und es sei richtig Porges gewesen. Mit ihm verbrachte er eine halbe Stunde. Für den Abend waren ihm die Freundinnen Gräfin Schleinitz und Malwida, dazu Graf Wolkenstein und Stein sehr willkommen: er sprach sehr befriedigt über die Aufführungen und wieviel die Sänger dabei gelernt hätten. Die Materna habe ihn völlig in Erstaunen gesetzt; und er erzählte gern davon, wie sie ihm gesagt hätten: es sei etwas ganz anderes, wenn er hinter den Kulissen stünde. Auch erwähnte er scherzend Levis Sorge, daß er etwa durch sein plötzliches Eintreten am Dirigentenpult ›umwerfen‹ könnte! Den einzigen Ärger erregten ihm im Lauf dieses Tages allerlei erneute Bitten Neumanns um den ›Parsifal‹; die ihm allzu lebhaft vorschwebenden ›Millionen‹ (S. 651, Anm.) ließen diesen doch nicht völlig ruhen. Auch stand ihm für den folgenden Tag (31. August) in der Neumann-Batzschen Angelegenheit, den ›Tristan‹ betreffend,1 wiederum eine jener widerwärtigen gerichtlichen Vernehmungen bevor. Trotzdem war er mittags recht heiter und hatte die Freunde Heckel und Schön bei sich zu Tische Ersterer erzählte davon, daß er in eben diesen Tagen (29. August) wieder in das Mannheimer Theaterkomitee gewählt worden sei; er denke es aber abzulehnen. Er deutete diese unvermutete Wiederwahl dahin, daß die Mannheimer sich dächten: hätten sie ihn nur erst wieder im Komitee, so würden sie auch in vierzehn Tagen den ›Parsifal‹ haben, und der Meister war dadurch sehr erheitert.2 Mit Befriedigung blickte er auf das Überstandene zurück: zum erstenmal sei er Dem, was ihm in bezug auf die Erreichung eines dramatischen Stiles vorschwebe, durch rastlose Arbeit und den guten Willen aller Mitwirkenden einigermaßen nahegekommen. ›Gut‹, sagte er, ›was sie im Grunde alle bewegt, ist die Gefallsucht; nun aber lenke man diese Sucht auf das Edle, und man wird sie stets bereitfinden, ihm mit demselben Eifer zu dienen.‹ Daß er Fräulein Brandt aufgefordert habe, sei aber doch ein Versehen gewesen. ›Ich bin, spricht jener, zum Sterben bereit‹, zitierte er dann, ›das kann ich auch von mir sagen, wenn es so im Dusel geschehen könnte, ohne daß man es merkt.‹ Und er erzählte mit Humor eine Geschichte von zwei alten Jungfern, die immer zusammengelebt hätten; einmal aber hätten sie sich gezankt und wären in zwei verschiedene Zimmer gezogen; und als eines Morgens die eine nach der andern gesehen, da wäre sie gestorben gewesen. ›So wird es auch mit mir eines Tages sein; wenn man einmal nach mir fragt, werde ich tot sein.‹ Er klagte über das schlechte Klima von Bayreuth und das anhaltend schreckliche Wetter während der Proben und Aufführungen, und charakterisierte [680] ersteres mit den Worten: ›voriges Jahr haben die Kinder dreizehnmal kalt gebadet, das sei schon arg genug gewesen; dieses Jahr aber hätten sie es nur auf fünfmal gebracht‹. ›Ich muß immer bedauern, daß ich mein Haus nicht auf Sand gebaut habe; dann würde es eher zerfallen; aber nun ist es so stark und fest, es zerfällt gar nicht. In Italien haben wir nie nach dem Barometer gesehen, und hier hängt rechts und links, überall wohin man sieht, ein Barometer.‹ Im nächsten Jahre wolle er nicht sechzehn, sondern zwanzig Aufführungen veranstalten; auch sollte über der Restauration beim Festspielhause, wenn nur Geld dafür da wäre, ein Stockwerk errichtet werden, damit die Künstler und Künstlerinnen – so wie Frau Materna und die Blumenmädchen – dort, und nicht in der ›Sonne‹ wohnen könnten. Der Wirt in der ›Sonne‹ mache sich ein Geschäft daraus: ›er lockt sie an sich und gibt dann an seiner Tafel ein scheußliches Essen. Dagegen ist oben alles leer, der Wirt (Herr Albert) richtet sich oben für ein vorzügliches Menü ein, aber niemand macht Gebrauch davon‹ 1876 habe das Publikum wenigstens aus Adel und Aristokratie bestanden, Frau von Schleinitz habe sie alle eingeladen; ›jetzt kommen sie und wollen einen Schoppen Bier und eine Wurst‹. Und als von Dr. Landgraf und seinen Verdiensten die Rede war, scherzte er in Anknüpfung an dessen Namen: ›ich möchte nur Markgraf sein; ein Graf, der viele Mark hat‹. Bald darauf traten Levi und Brandt ein, und das Gespräch lenkte sich auf den König und seine Krankheit: der Meister sprach seine große Besorgnis um ihn aus: ›es wird ihn auch krank gemacht haben, daß er nicht hat herkommen können‹. Dann zog er sich von der kleinen Gesellschaft zur Ruhe zurück; um fünf Uhr wurde Feustel in geschäftlichen Angelegenheiten (Batz) von ihm erwartet, zu sechs Uhr war der junge Brandt wieder bestellt, mit dessen Leistungen er außerordentlich zufrieden war, um mit den Gebrüdern Brückner zu einer Besprechung wegen der nötigen Veränderungen für das nächste Jahr zusammenzutreffen. Das finanzielle Ergebnis der diesjährigen Aufführungen war, trotz des wiederholt nur halbgefüllten Hauses, über Erwarten günstig. Weder die ›Garantiescheine‹ (S. 422) waren in Anspruch genommen, noch der ›eiserne Fonds‹, sondern letzterer konnte wirklich als ein Grundstock für die künftigen Aufführungen betrachtet werden Abends erfreute es ihn, einen kleinen Kreis von Freunden um sich zu sehen: Graf und Gräfin Schleinitz, Graf Wolkenstein, Joukowsky, Stein, Friedrich Schön und ein Fräulein von Staff. Er sprach viel von seinem Sohne und dessen Erziehung und dem mangelhaften Umgang, auf welchen er hier angewiesen bleibe; auch machte ihm die allgemeine Wehrpflicht Sorgen. Wenn nur der König noch leben bliebe, der würde ihn schon davon dispensieren; wenn nicht, so bleibe ihm nur übrig zu tun, was jener Mann in Paris tat, der sich in die Seine stürzte, damit sein Sohn der einzige Sohn einer Witwe sei. Und er trällerte eine der [681] gemeinen Gassenhauer- oder Operettenmelodien, wie sie so oft aus dem Hofgarten zu ihm herüberdrangen: tra, taratatra – ›danach soll einmal mein Sohn marschieren‹. Er saß währenddessen mit seiner Gemahlin, dem Schleinitzschen Paar und Graf Wolkenstein am Flügel, während am entgegengesetzten Ende des Saales Daniela, Stein und Joukowsky eine jugendliche Gruppe für sich bildeten. Er schlug einige Akkorde aus dem ›Rheingold‹ an, und Frau von Schleinitz sagte darauf: ›Meister, keiner versteht aber doch das »Tristan«-Vorspiel so zu spielen, wie Sie‹, in Erinnerung daran, wie er es ihr einst in Breslau3 auswendig vorgespielt. Für jetzt aber schlug er den Klavierauszug auf, und die sehnsüchtigen Töne des Vorspiels erklangen, schwollen an, und man erlebte in seiner, mit nichts zu vergleichenden Wiedergabe den ungeheuren Verlauf des einzigen Tonstückes. Diesem folgte dann das Vorspiel zum dritten Akt und endlich Isoldens Liebestod, so daß durch diese Verbindung von Anfang und Schluß das ganze Drama vor den Hörern lebendig wurde. Das Vorspiel zum ersten Akt enthalte die Melancholie der Sehnsucht, es sei ›wie der Fisch im Trocknen‹; im Vorspiel zum dritten Akt aber sei die Schwermut vollständig, selbst die Sehnsucht erstorben. Am folgenden Abend (1. September) spielte er den Freunden das Cis moll-Präludium von Bach und das Vorspiel zu ›Parsifal‹. Es war der letzte Abend, den das ausgezeichnete Paar bei ihm verbrachte; für den 2. September war unwiderruflich ihre Abreise angesetzt. Erst für den Herbst – in Venedig – stand ein Wiedersehen bevor.

Immer stiller wurde es in der verlassenen Festspielstadt, und doch galt es noch ein ungefähr vierzehntägiges Verweilen darin: so mancherlei Geschäftliches war hier noch zum Abschluß zu bringen. Wir rechnen hierzu u.a. auch das vom 3. September datierte öffentliche Dankschreiben an seine Bayreuther Mitbürger, welches zwei Tage später an der Spitze des ›Bayreuther Tagblatts‹ erschien: ›Denjenigen meiner freundlichen Mitbürger, sowie den jungen Männern und artigen Töchtern, welche durch ebenso willige als würdevoll geschickte Mitwirkung zu dem Gelingen einer edlen Ausführung der szenischen Aktionen in den Vorstellungen des »Parsifal« so höchst erfreulich beitrugen, sage ich, wie dies bereits persönlich immer gern geschah,4 hiermit auch vor aller Öffentlichkeit meinen herzlichen Dank. Wir sind durch solche geglückte Mitwirkung auf die Pfade einer schönen Anteilnehmung der Bayreuther Bürgerschaft auch an dem der Welt vorzuführenden Kunstwerke selbst geraten, deren förderliche Bedeutung in Erwägung ziehen zu dürfen, mir als ein nicht wertloser Erfolg der erlebten Festspiele erscheint.‹5 Ein [682] Brief von Frau Wagner an Hill vom 9. September erwähnt immer noch der ›Menge von geschäftlichen Anliegen, welche sich angesammelt hätten‹ und ihrer Erledigung harrten. Es gab daher einen ziemlich stetigen Verkehr mit Feustel, der fast täglich um die Nachmittagsstunde (fünf Uhr) in Wahnfried erschien, um die immer noch widerhaarigen Rechtsverhältnisse mit den Herren Batz und Voltz zu regulieren, – zuweilen auch in Begleitung des Rechtsanwalts Dr. Meyer. Es war nach einer solchen Gelegenheit, daß Feustel abermals sein Erstaunen über die Unfehlbarkeit des Gedächtnisses äußerte, mit welcher der Meister, wiewohl er die bezüglichen Briefe, Papiere u. dgl. nicht aufzubewahren pflegte, jede Einzelheit einer vorgefallenen Verhandlung sicher in der Erinnerung behielt,6 so daß man sich unbedingt darauf verlassen könnte. Auch mit seinen Künstlern blieb er in mannigfachem schriftlichen Verkehr. So berichtet Levi von einer, in diese Tage fallenden Korrespondenz über die Stelle des dritten Aktes, in welcher Kundry mit der Schüssel erscheint und Gurnemanz sie mit einem feierlichen ›Nicht so!‹ zurückweist: ›die heil'ge Quelle selbst erquicke unsres Pilgers Bad‹. ›Ich empfand‹, so erzählt Levi, ›bei dieser Stelle eine gewisse Länge und erlaubte mir den Vorschlag, der Meister möchte den (dazwischenliegenden) Takt Pause streichen. Er gab mir zunächst keine Antwort; erst am folgenden Tage erhielt ich die Zustimmung: »Sie haben recht! Also die Taktpause fort!«‹7 Von Meran aus, wohin sich der Sänger Hill mit seiner damals etwas leidenden Gattin begeben, wandte sich dieser mit der Bitte an Frau Wagner, ihm des Meisters Zufriedenheit mit seiner Darstellung des Klingsor zu erkennen zu geben; er war durch irgendwelche abfällige Kritiken darüber bedenklich gemacht worden und bei der weitverbreiteten Neigung der Künstler, auf solche kritische Urteile etwas zu geben, schließlich in befangene Zweifel darüber geraten. ›Sehr waren wir über das von Ihnen Mitgeteilte erstaunt‹, erwiderte ihm zunächst (9. September) Frau Wagner in einem liebenswürdigen Schreiben; ›ich lese keine Zeitungen, aber was mir von der Besprechung Ihrer Leistungen zugekommen ist, gab die größte Anerkennung kund, wie dies nicht anders möglich erscheint.‹ Und einige Tage später (12. September), vermutlich infolge einer dankenden Erwiderung von seiten Hills, bestätigte ihm Wagner selbst in herzlicher Wärme das mit Vorstehendem Erklärte: ›mit einigem Erstaunen darüber, daß dieses noch als nötig erscheinen kann, aber mit großer Freude, spreche ich es Ihnen aus, wie hoch ich Ihre Leistungen[683] schätze, und daß, seitdem ich im Jahre 73. Ihre Darstellung des »Holländers« gesehen,8 ich nicht zweifelhaft blieb, daß ich Sie für meine künstlerischen Unternehmungen zu gewinnen hätte. Und so haben Sie Alberich und Klingsor zu unser aller Freude daran wiedergegeben, und zweifle ich nicht daran, daß Wotan und Hans Sachs Ihnen ebenso geglückt sind, als diese schwierigen, den Meisten wohl unter dem Begriff, undankbar, zu fassenden Aufgaben. Haben Sie Dank für die mir erwiesene Treue und Hingebung, und seien Sie meiner freundschaftlichsten Hochachtung versichert.‹9 Einer der eigenartig anmutigsten Nachklänge der Festspielzeit aber war die am 11. September erfolgende Überreichung einer prächtig geschmückten Dankadresse der vereinigten ›Blumenmädchen‹. Kunstvoll und reich mit Blumenornamenten geziert, an der Spitze mit den photographischen Portraits der sechs Solosängerinnen, am Schlusse mit den Unterschriften der 30 Blumenmädchen versehen, in einer Mappe, die selbst als ein Kunstwerk der Stickerei gelten konnte,10 hatte diese Adresse den nachstehenden Wortlaut:


Hochzuverehrender, erhabener und geliebter

Meister

Richard Wagner!


Wollen Sie gütig gestatten, daß wir Blumenmädchen alle, im Geiste vereint, hiermit noch einmal vor Ihren Blicken erscheinen, um den wärmsten Gefühlen Ausdruck zu geben, welche uns bei dem Gedanken beseelen, daß wir das Glück und die Ehre hatten, bei dem herrlichen Bühnen-Weihe- Festspiel ›Parsifal‹ mitzuwirken und Sie, erhabener Meister, unsere Leistungen stets mit so viel Güte und Wohlwollen entgegenzunehmen geruhten. Unseren eigenen Worten nicht vertrauend, nehmen wir Goethes Dichtergeist zu Hilfe:


Verehrung naht sich mit durchdrungnen Mienen

und Dankbarkeit mit frei erhobner Brust.

Die Treue folgt; mit Eifer Dir zu dienen,

ist unablässig ihre schönste Luft.

Bescheidenheit, in zitterndem Erkühnen,

ist sich der stummen Sprache wohl bewußt,

Und Wünsche knieen an den goldnen Stufen,

Dir tausendfält'ges Glück herabzurufen.


Von außen her drangen zu ihm in diesen Septembertagen noch die täglichen Depeschen Neumanns über den glücklichen Fortgang seines Wandertheater-Unternehmens, zu dessen Gedeihen der König sogar dem in München so schwer zu entbehrenden Voglschen Sängerpaar großmütig den Urlaub [684] bewilligt. Der Anfang war in den Tagen vom 2. bis zum 6. September in Breslau gemacht, woran sich nach einem dazwischen eingeschalteten ›großen Konzert‹ in Posen (7. September) in den Tagen vom 9. bis 13. September wiederum eine vollständige Vorführung der Trilogie in Königsberg anschloß; vom 16. bis 20. September Danzig, vom 23. bis 27. September aber Hannover. Die organisatorische Befähigung Neumanns hatte mit diesem vielverheißenden Beginn sich glänzend bewährt und stellte einen entsprechenden Fortgang des Unternehmens in Aussicht,11 welchem der Schöpfer des großen Werkes aus der Ferne mit freudiger Teilnahme zusah. Um die bevorstehende Abreise nach Venedig in jeder Hinsicht so vorzubereiten, daß alles für einen ausgedehnten Winteraufenthalt Nötige zuvor in Deutschland selbst erledigt war, dazu eben sollten diese vierzehn Tage eines verlängerten Verweilens im herbstlichen Bayreuth dienen: leider war dies in bezug auf die Voltz-Batzische Angelegenheit nicht ausführbar! Sie erstreckte sich mit all ihren quälenden Belästigungen noch bis weit in den Venediger Erholungsaufenthalt hinein. Auch mit dem königlichen Freunde trat er wieder in direkten Verkehr.12 Die Frage des Wagnervereins in seiner erneuten Gestalt berührte ihn peinlich, er wünschte die denkbar möglichste Vereinfachung und übersandte in diesem Sinne an Wolzogen sein, durch Heinrich von Stein redigiertes, Ultimatum. Letzterer verblieb bei der Familie; Joukowsky, der sich für einen Aufenthalt in Weimar entschieden hatte, war eifrig mit der Auflösung seines bisherigen Haushaltes beschäftigt. Noch am letzten Tage in Bayreuth (13. September) gab es für den Meister eine unvermeidliche Konferenz in der Batz- und Voltzischen Angelegenheit: jener Herr Batz hatte nämlich zur Wahrung seiner vermeintlich bedrohten Interessen eigens einen Rechtsanwalt nach Bayreuth entsandt und damit die Notwendigkeit einer erneuten Beratung veranlaßt, an welcher sich außer Feustel auch der bereits erwähnte Rechtsanwalt Meyer beteiligte. Auch das bloße Geschäft des ›Räumens‹ in einem so großen Haushalt war vor einer mehrmonatigen Entfernung einigermaßen zeitraubend, so daß es sich noch bis auf den Abreisetag selbst erstreckte. Am schwersten fiel ihm der Abschied von den Hunden, besonders Marke, von dem er – nach wiederholten Erfahrungen dieser Art – fürchtete, ihn nicht wiederzusehen. Anders, als er es damals glaubte, sollte sich diese Befürchtung erfüllen.

[685] Am Donnerstag, den 14. September, abends sieben Uhr ging die so lang hinausgeschobene Abreise endlich vonstatten. Es war die allerhöchste Zeit dafür: eine ungeheure Überschwemmung sollte bald darauf die Verbindung mit dem nördlichen Italien für einige Zeit ganz unmöglich machen. Durch anhaltende Regengüsse, ja Wolkenbrüche in Südtirol waren die Etsch, die Brenta und die zahlreichen Kanäle zu einer seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Höhe angeschwollen und ihre Wassermassen weithin aus den Ufern getreten.13 In Bozen fand bei strömendem Regen auf dem Bahnhof eine Begrüßung durch die verehrten Freunde Schleinitz statt, die ebenfalls nach Venedig zu kommen gedachten, aber etwas später Abends elf Uhr war man in Verona; in der Nacht trat daselbst aber auch schon die gewaltige Überschwemmung ein, so daß man anderen Morgens nur auf Umwegen und durch Wassermassen zur Bahnstation gelangen konnte, um den Salonwagen wieder zu besteigen.14 Man kam also gerade noch durch. Die Teilnehmer der Fahrt erinnerten sich ferner, daß der Meister, nachdem er alles soweit überwunden, auf der Fahrt recht heiter gewesen sei, auch eines abscheulich schlechten Punsches, den sie unterwegs gegen die rauhe Witterung getrunken, und der nach Tee schmeckte. Einmal habe er auch auf einer Station eine große Salamiwurst eingekauft und sei damit in den Salonwagen zurückgekehrt. Die Unterhaltungen waren bald heiterer, bald ernster Natur. In einem Zeitungsblatt fand sich eine Notiz darüber, der Naturforscher Wallace sei Spiritist geworden. ›Dahin geraten jetzt alle‹, bemerkte der Meister, zu seiner Gemahlin und Stein gewendet, ›die keine Geduld haben, die die Linien nicht groß genug ziehen. Wir aber, die wir Geduld haben, weil wir nur von dem vollständigen Untergang dieser Welt des Besitzes etwas erwarten, wir leben in der Stimmung einer hoffnungsvollen Resignation.‹ Er erging [686] sich dann in seiner, durch keine Reproduktion wiederzugebenden Weise, in welcher die Begeisterung eines Propheten sich mit der ruhigen Überlegenheit einer inneren Anschauung der Dinge durchdrang (erstere aus den Augen, letztere aus der mächtigen Stirn zu dem Hörer sprechend), in Gedanken über die Hervorbringung großer Individuen seitens der – über den Untergang einer Gattungsidee in Sorge geratenden – Natur und verglich dieses Phänomen mit den Zwillingsgeburten nach Kriegszeiten.15 – So wurde trotz Überschwemmung, Regengüssen und schließlich einem furchtbaren Sturm Venedig am 16. glücklich erreicht und – nach kaum achtundvierzigstündigem Verweilen im Hotel Europa – am Montag, den 18. September, nachmittags der ehrwürdig prächtige Palazzo Vendramin-Calergi, unter allen Palastbauten Venedigs der schönste und edelste, bezogen.

Die ersten Tage in der neuen Umgebung gehörten dem Anpassen und Einrichten, der angemessenen Verteilung der Wohnräume auf die zahlreiche Familie mit ihrer Bedienung, und ihre entsprechende heimische Ausschmückung für einen mehrmonatigen Aufenthalt. Und so verweilen auch wir, auf diesem Punkt angelangt, zunächst ein wenig bei der Schilderung des Äußeren dieser letzten Niederlassung unter italienischem Himmel. ›Das Appartement, welches Wagner in Miete genommenen‹, las man ein halbes Jahr später in einer kleinen wohlgemeinten Sensationsbroschüre,16 ›umfaßte den ganzen Halbstock und bestand aus achtundzwanzig Wohnzimmern, Küchen und Nebenlokalitäten.‹ Nicht ein Wort dieser Schilderung ist der Wahrheit entsprechend. Zunächst legt der Ausdruck ›den ganzen Halbstock‹ dem Leser, der die Fassade des alten Gebäudes nicht klar vor Augen hat, die Vorstellung nahe, daß die ganze vordere Front des Hauses gemeint und die gesamte Zimmerreihe dem Canal Grande zugewandt gewesen sei, während sie tatsächlich nur einen einzigen Salon mit dem direkten Ausblick auf diese große Verkehrsader der Lagunenstadt hatte, mit dem Gegenüber des aus dem 9. Jahrhundert stammenden Fondaco dei Turchi im altertümlichen Rundbogenstil, des ältesten Profangebäudes der Stadt;17 und weiter schräg nach rechts des Palazzo Correr mit dem reichhaltigen Museum seines letzten Besitzers, der seine Gemälde und anderweitigen venezianischen Kunstschätze und Antiquitäten bei seinem Tode der Vaterstadt vermachte. Alle übrigen Gemächer der Mezzaninwohnung gehörten dem Seitenflügel des Gebäudes an und hatten demnach [687] den Blick nicht direkt auf den Kanal, sondern auf ein – für das vegetationslose Venedig – recht hübsches Stück Garten im französischen Stil, dessen Laub noch im frischen Sommergrün prangte, und das offenbar bei der Wahl dieser Niederlassung mitbestimmend gewesen war, jenseits desselben auf den benachbarten Palazzo Erizzo. Über den Garten hinweg, der ihm stets eine freundliche Stimmung erweckte, unhörbar geisterhaft die Gondeln ›wie Elfen‹ huschen zu sehen, war für ihn voller Reiz und seine Freude an Venedig, wie an der Wohnung selbst, in stetem Wachsen. ›Palermo‹, so sagte er, ›habe das schönste Klima; aber Venedig sei die schönste Stadt‹. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten wird in einer brieflichen Schilderung Liszts (anstatt auf achtundzwanzig, was ein beschwerlicher Überfluß gewesen wäre!) vielmehr bloß auf fünfzehn bis achtzehn veranschlagt. ›Der Herzog della Grazia, der den Palast von seiner Mutter, der Herzogin von Berry, geerbt, hat der Familie Wagner das geräumige Entresol aus besonderem Entgegenkommen für den mäßigen Jahrespreis von 6000 Frs. vermietet: es besteht aus 15 bis 18 wohlbelegenen Zimmern, mit guten Ofen, Tapeten usw. versehen und mit einem schönen Mobiliar im Stil Louis' XVI. geschmückt, so daß keine außerordentlichen Ausgaben für die Einrichtung zu machen waren, ein sehr ausnahmsweise günstiger Umstand bei den Vermietern alter Palazzi.‹18 Immerhin bildete allein die zum Garten hin belegene Zimmerreihe eine vornehm herrschaftliche Enfilade, die ihrem Bewohner gestattete, gelegentlich bei ungünstigem Wetter sich im geschlossenen Raum zu ergehen.

Aus der imposanten Vorhalle, die man beim ersten Betreten des Palazzo Vendramin zu durchwandeln hat, nachdem man die zum Wasser hinabführenden Stufen beschritten, führt links hinauf die eigentliche Palasttreppe zur Wohnung des Besitzers, welche damals in dessen Abwesenheit leer stand, und in welcher zahlreiche Portraits und anderweitige Reliquien der Herzogin von Berry von ihrem Sohne pietätvoll bewahrt wurden, von denen Liszt der Fürstin berichtet, Mr. Cicogna, der – seit alters der Bourbonenfamilie treu anhänglich – die Funktionen eines Intendanten im Palazzo Vendramin ausübe, habe ihm daselbst mit wahrer Rührung von der Duchesse d'Angoulème und der Duchesse de Berry gesprochen und ihm auch Photographien der, vormals der Fürstin Wittgenstein befreundeten Fürstin Massimo und ihrer Kinder gezeigt.19 Aber nicht allein Liszt, sondern auch der Meister selbst hatte sich, wenige Tage nach seiner Ankunft (26. September), die gesamten Räumlichkeiten des schönen alten Palastes weisen lassen, sie am Arm seiner Gemahlin durchschritten und daran Gefallen gefunden. Auf der rechten Seite des Vestibüls finden sich die beiden Treppen zum Mezzanin, seiner eigenen Wohnung; die eine – schmälere – vorn auf der Wasserseite, führte in den [688] bereits erwähnten, in die Tiefe des Hauses hinein sich erstreckenden, mehr länglichen als breiten, rot tapezierten und möblierten Salon mit dem großen Doppelfenster zum Kanal, in dessen Nähe auch der Flügel stand; die andere – breitere – in eines der hinteren Zimmer, als eigentliches Entree für den Besuchenden dienend, der durch mehrere dazwischenliegende Räume in jenen Salon geleitet wurde. An den Saal stieß nach links hin das Arbeitszimmer Wagners, mit einem Erkerraum, dessen Fenster sein Licht aus der Vorhalle empfing, und den er als Rauchkabinett (›Raucheckchen‹) benutzte, mit schönen goldgepreßten venezianischen Ledertapeten. Alle anderen Räume waren höchst einfach, einen kleinen gelbseidenen Salon ausgenommen, wo die Familie den Tee zu nehmen pflegte, und von welchem aus man in einen Vorraum gelangte, der direkt auf die vorerwähnte Haupttreppe des Entresol-Appartements führte. An dieses ›Teezimmer‹ schlossen sich dann die verschiedenen Kinderzimmer und Schlafräume, sämtlich schmucklos und mit Möbeln aus allen Epochen ausgestattet, so daß für ein behagliches Verweilen in ihnen viel im einzelnen nachgeholfen werden mußte, um sie nach den eigenen Vorschriften und auf eigene Kosten des Mieters zu einigem künstlerischvornehmen Ansehen zu bringen. Im Verhältnis zu den häuslichen Bequemlichkeiten von Wahnfried waren die gesamten Räumlichkeiten, für eine so große Familie und mannigfach zu erwartenden Besuch, eher beschränkt als ausgiebig zu nennen.

Er war mit dem ausgesprochenen Vorsatz hierher gekommen: entweder hier sich wohl zu fühlen oder aber nach Wahnfried zurückzukehren und ganz da zu bleiben. Leider mußten ihn gleich in den ersten Tagen gewisse geschäftliche Ärgernisse, dazu das Verhalten des Königs in der ›Parsifal‹-Angelegenheit beängstigen und ihm die Nächte verderben; auch nötigten ihn die Arbeiten des Tapezierers, eines beweglichen kleinen siebzigjährigen Mannes, zu großer Unruhe, da dieser ihm seine Stube noch nicht hergerichtet hatte. Aber die Stadt an sich selbst machte ihm immer wieder große Freude: er erklärte Venedig für die eigentlich südliche Stadt: Palermo erinnere viel mehr an unsere deutschen Städte. Mehrmals am Tage ging oder fuhr er aus, in den Vormittagsstunden und nachmittags gegen fünf Uhr, allein oder mit den Seinigen; und insbesondere der Markusplatz und die Piazzetta waren ihm ein unerschöpflicher Quell der Heiterkeit, ja des lebhaften Entzückens. Den Weg dahin legte er in der Gondel zurück, den Heimweg nahm er mit Vorliebe zu Fuß quer durch die Merceria bis zur Rialtobrücke, um dort erst wieder die Gondel zu besteigen. Den Punkt, wo die Gondeln anhalten, erklärte er für den schönsten städtischen, den es gebe. Die Löwen des Arsenals machten ihm denselben großartigen Eindruck, wie früher (S. 591). ›Es sind die antiksten Antiken, die ich kenne‹, sagte er später zu seinem Schwiegersohn, Graf Gravina. Den Dogenpalast betrachtend, rühmte er die [689] mittelalterliche Baukunst: mit ihr sei alle Phantasie, alles Leben und alle Erfindung erloschen; die ganze Renaissance ließe ihn kalt. Ob es überhaupt unbedingt als ein Glück zu betrachten sei, daß die Antike ausgegraben wurde? Ob es nicht die Phantasie befangen machte, der schaffenden ihre ursprüngliche Naivetät benahm? Anläßlich eines langsamen Spazierganges an der Riva (mit seiner Gemahlin) gedachte er seines letzten Besuches bei Karl Ritter, der sich vor ihm verleugnen ließ (S. 592). Selbst bis in die äußerste Südspitze der Stadt, zu den Giardini Pubblici, ließ er sich rudern, um sich zu erkundigen, ob Siegfried, der recht blaß und angegriffen nach Venedig gekommen war, dort auf der Cavallerizza reiten lernen könne. Gern rastete er auf dem Markusplatz beim Konditor Lavena, wo ihn einzig die rauchenden Herren empörten, wenn sie den ganzen Raum rücksichtslos mit dem drückenden Dunst ihrer Zigarren erfüllten. Sein Lieblingsplatz, zu dem er immer gern wiederkehrte, aber war das Portal der Markuskirche, wo er auf einer Steinbank zwischen den Säulen sich niederließ. So ließ er einmal die Kinder auf den Markusturm mit seiner prächtigen Aussicht nach allen Weltrichtungen hinaufklettern, während er selbst wieder zwischen den Säulen ihrer harrte. ›Ich war Hagen auf dem Wasgenstein‹, sagte er, als sie zurückkehrten, und konnte sich nicht genugtun, um die Schönheit dieses Platzes würdig zu preisen. Es sei da so schon, daß man ihn einst dort als Leiche finden werde. Oder ein anderes Mal äußerte er, dem alles Gemalt- und Portraitiertwerden in der Seele verhaßt war, im gleichen Sinne: er möchte auf diesem Platz unter dem Portikus gemalt sein. Es sei nicht zu beschreiben, was man da alles sehe, und die Menschen, mit Ausnahme einiger Fremden, beachteten einen gar nicht. Wundervolle Sonnenuntergänge erhöhten die Pracht des Eindruckes, oder das herrlichste Leuchten des Mondes mit seinem starken Licht und scharfen Schatten. Auf der Heimfahrt fühlte er sich dann zauberisch von den alten Gebäuden des großen Kanals angeweht, oder der Mondglanzdunst gewährte bei der Heimfahrt durch die kleinen Kanäle eine träumerische Freude.

Gern durchstreifte er auch Venedig zu Fuß durch jene verwickelte Reihe zahlloser fortlaufender und sich durchkreuzender enger Gassen und Gäßchen (Calli), die, mit rauhen Trachyt- oder Sandsteinquadern gepflastert, sich oft so sehr verengen, daß sie kaum das Ausweichen gestatten und immer ganz wo anders hinausführen, als man es voraussetzt.20 Heimkehrend erzählte er dann von den mannigfachen Volksbegegnungen, die er gehabt, mit einem Manne, der, auf der Brücke mit einem andern hinter sich sprechend, ihn nicht [690] bemerkte, ihn anrannte und sich nachher gar nicht darüber beruhigen konnte, – oder aber mit einem Strolch, der ihn anbettelte und das Auge nicht von seinen Uhrgehängen abwenden konnte. Das hervorragendste Beispiel solcher Gassenverwickelung bietet ohne Zweifel der Weg, den man vom Markusplatz im Südosten bis zum Bahnhof im Nordosten in einem Zug verfolgen kann, wenn man genau den Aufschriften Via alla strada ferrata an den Ecken und Windungen folgt. So war er einmal mit seiner Gemahlin in der Gondel bis zum mitten zwischen beiden gelegenen – Rialto gefahren, um dort Käse einzukaufen und dann über die Rialtobrücke zu Faß in bester heiterster Stimmung bis nach der Eisenbahnbrücke gegangen, wohin er seine Gondel bestellt hatte. Natürlich gab es unterwegs kleine Verirrungen, eine Frau aus dem Volke wies den Spaziergängern den rechten Weg, und der große Volksfreund hatte viel Vergnügen daran. ›Die müßte man‹, sagte er, ›zum Kaffee einladen; die würde einem lauter hübsche Sachen erzählen.‹ Auch den Weg bis zum Rialto legte er häufig zu Fuß zurück; der breite Weg vom Palazzo Vendramin bis zur Kirche S. Felice gefiel ihm sehr. In solchem Falle erwartete ihn an der Rialtobrücke seine Gondel, die ihn bis zur Piazzetta führte. Nicht selten dirigierte er die Seinigen – mit Stein als stetem Begleiter Siegfrieds – zu einer der venezianischen Kirchen, die er auf seinen Gängen entdeckt und besucht, so z.B. nach der unweit der Riva (östlich von San Marco) belegenen Kirche S. Zaccaria. Das Gebäude selbst mit seiner mittelalterlichen Fassade und den schwülstigen Renaissancegebilden im Innern ließ ihn gleichgültig; das Äußere mit seiner Arkadenreihe, schlanken Nischen und farbiger Marmorinkrustation fand er weichlich, und das Innere sprach ihn nicht hervorragend an; das herrliche Bild des Giovanni Bellini aber (am vorletzten Altar gegen den Ausgang hin), die Madonna und vier Heilige darstellend, faszinierte ihn. Nach einer Weile Betrachtung sagte er: ›Wie doch das Gute sich gleich von der Kleckserei (er meinte die übrigen Bilder der Kirche) unterscheidet! Wie ein Traumbild steht so etwas da!‹21 Er bedauerte es, den einen der Heiligen mit einem Buch in der Hand dastehen zu sehen; es kam ihm zu jüdisch vor: ›wenn der Heilige selbst da ist, wozu bracht man das Buch? Aber‹, so schloß er, ›es ist schön, in der Nähe von so etwas zu leben!‹ Ein anderer ›Bellini‹ gefiel ihm in der Maria Gloriosa dei Frari (mit dem Grabmal des Tizian). Wiederum hatte die Kirche selbst – im frühgotischen Stil, großräumig und bedeutend für ihn das geringste Interesse: ›ich habe‹, sagte er nachher darüber, ›meine drei Kirchen: den Dom von Siena (S. 383), von Pisa und San Marco‹.22 [691] Der Apparat des Katholizismus blieb ihm peinlich widerwärtig; aber das dreiteilige große Altarbild des Giovanni Bellini in der Sakristei (Madonna mit vier Heiligen und musizierenden Engeln), eine der edelsten und zartesten Kunstschöpfungen, erfreute ihn innigst durch die Vollendung der Malerei. Unmittelbar hinter der Frari liegt die Kirche und Schule San Rocco, welcher ein anderer Besuch galt. Die Scuola di San Rocco gehörte in älteren Zeiten einer, aus den reichsten Bürgern der Stadt, vielen Adeligen und Senatoren bestehenden Brüderschaft, die sich unter dem Schutze des heiligen Rochus besonders der Armenpflege widmete. Seit ihrer Aufhebung durch die französischen Kommissäre i. J. 1806 nahm das Gebäude durch die darin angesammelten Meisterwerke des Tintoretto an Wänden und Decken den Charakter einer öffentlichen Galerie an Lange stand er hier in der Sala dell' Albergo vor dem großen Bilde der Kreuzigung (dem Eingang gegenüber) mit seiner Überfülle von Figuren, wie vor dem an der Wand zur Linken befindlichen: Christus vor Pilatus. Anderen Tages besuchte er die Academia delle belle Arti mit der über alles herrlichen ›Assunta‹, und sah sich mit großer Ruhe und tiefem Eindringen vieles andere an, z.B. auch die zahlreichen Carpaccio des 16. Saales. Er gab dem Johannes auf der Tintorettoschen Kreuzigung den Vorzug vor dem Johannes auf der ›Assunta‹, auf welcher ihn u.a. die üppigen Gewänder der zusammengesunkenen Frauen, sowie die übermäßige Anzahl der Menschen immer etwas störten. Auf dem Heimweg beschäftigte ihn die Frage, ob es überhaupt möglich sei, Christus zu malen,23 und erklärte die Aufgabe für unausführbar, weshalb sich die Maler damit geholfen, daß sie ihn entweder typisch dargestellt oder ein idealisiertes Portrait aus der Wirklichkeit dafür gewählt hätten. ›Christus kann man nicht malen; aber in Tönen kann man ihn wiedergeben.‹ So habe er es auf gegeben, seinen ›Jesus von Nazareth‹ für die Bühne zu gestalten und dafür seinen ›Parsifal‹ geschaffen ›Christus von einem Tenoristen gegeben – pfui Teufel!‹ sägte er hinzu. Bei der weiteren Erwägung dessen, daß es der Malerei dennoch glücken konnte, die ›Mutter Gottes‹ zu gestalten,24 stellte er das eine in Abrede, daß die ›Assunta‹ in Wahrheit als die ›Mutter Gottes‹ zu betrachten sei: ›es ist Isolde in der Liebesverklärung‹. Dagegen in der ›Sixtina‹, dieser ›wundervollen Inspiration‹, da sei mit vollendeter Schönheit die vollkommene Unnahbarkeit verbunden. Vor ihr sei man ›so entrückt, daß einem der Atem stocke‹. ›Und dieser Blick, dieser erhabene, auch bei ihr‹ – ›und dabei alles lieblich und schön.‹25

[692] Wagner war nicht der Mann der Galerien und Museen, überhaupt nicht der bildenden Künste; was ihn an Venedig fesselte, war im wesentlichen das abwechselungsreiche prächtige Stadtbild, das allein auf der Piazza mit ihrem Marmorboden die herrlichsten Vorbilder der Baukunst in fast tausendjähriger Folge vereinigt und selbst in den engeren Seitenkanälen überall hohe Palastwände in das dunkle stille Wasser ihre Schatten werfen sieht, – dazu das unerschöpfliche Volksleben mit seiner Bewegung und Mannigfaltigkeit! Wir haben daher im vorhergehenden in bezug auf die Besuche von Kirchen und Museen schon ein wenig vorausgegriffen, da sie nicht alle schon in die ersten Tage und Wochen fallen. Gerade diese ersten Tage und Wochen waren durch mehrfache Krampfanfälle getrübt, und geringe Diätfehler gaben dazu Anlaß. Eine Depesche Neumanns, welche weitere Erfolge seines rüstig kühnen Unternehmens meldete, wurde bei Tische mit einem Glase Champagner gefeiert; er trank etwas davon, fühlte sich aber infolgedessen unwohl. Ein anderes Mal war er nachmittags mit den Kindern ausgefahren und hatte ihnen im Restaurant Bauer Schokolade vorgesetzt, während er sich selbst Bier reichen ließ; auch dieses war ihm nicht gut bekommen. ›Denn alle Schuld rächt sich auf Erden, und trinkst du Bier, so fühlst du die Beschwerden‹, reimte er nachher melancholisch-humoristisch darüber. Bei einer der erwähnten Heimkehren zu Fuß durch die Merceria bis zum Rialto (S. 689) ging er nur mit Mühe und fühlte seinen Krampf immer im Anzug: in der Frühe des anderen Tages trat derselbe wirklich ein. Er verbrachte den Abend still für sich, da er sich noch sehr angegriffen fühlte, hatte dann aber eine so schlechte Nacht, daß er anderen Morgens traurig ausrief: ›wozu an einem Leben hängen, in welchem ich Denen, die ich liebe, nur Gesichter zeige?‹ Und doch verließ ihn, wenn er sich wieder wohler fühlte, nie der freundliche Humor. Er hatte einmal in der schwersten Münchener Zeit, als er bei einer Fahrt im Eisenbahnkupee sich trüb und schwermütig fragte: wie lange werde ich noch dieses unstäte und schreckliche Leben ertragen müssen? zufällig, wie als eine Antwort auf seine Schicksalsfrage, die Zahl 94 vor sich erblickt und daraufhin das Jahr 1894 als sein Todesjahr angenommen. Auch hatte er sich einmal im Traum von auswärts her im Sarge in den Garten von Wahnfried tragen sehen; die Bäume der Allee (damals noch jung) seien aber schon groß und hoch gewesen und hätten einen starken Schatten geworfen; daraus schloß er auf ein hohes Alter. Auch war ihm, seit sein Leben durch das Eingreifen einer hohen Liebe aufs neue begonnen, eben jene Zahl 04 der Gegenstand eines tröstlichen Glaubens geblieben. Darauf kam er denn auch in diesen Venediger Tagen wieder zurück, indem er, in etwas veränderter Auffassung der geheimnisvollen Zahl es wiederholt scherzend aussprach: ›ich werde noch 94 Jahre alt; ihr müßt mich noch 24 Jahre ertragen.‹

[693] Mit Ausnahme weniger schöner Tage blieb das Wetter andauernd grau, was ihn tief betrübte. Es machte ihn jedesmal traurig, wenn die Sonne wieder einmal bedrohlich unterging, und er behauptete seit der Rückkehr aus Sizilien nur in grauem Dunst gelebt zu haben. Auch die Nachrichten über den Fortgang der Überschwemmung lauteten den ganzen September hindurch trostlos; besonders auch, wenn man daran dachte, daß die werten Freunde Schleinitz inzwischen in Bozen gefangen gehalten und an ihrer Reise nach Venedig gehindert waren. Dazu kamen geschäftliche Angelegenheiten von unangenehm quälender Art, ein drohender Prozeß zwischen seinen beiden Verlegern:Dr. Strecker (Schotts Söhne) in Mainz und Frau Lucca. An einem Tage, da er sich leidlich wohl fühlte, traf ein Brief des ersteren mit Beilegung einer Kopie seines Kontraktes mit der letzteren ein, wonach sie – scheinbar – ein Anrecht auf die Publikation des ›Parsifal‹ im Italienischen aufzuweisen hätte.26 ›Eine schreckliche Welt!‹ rief er aus, und fügte halbleise, mit Kopfschütteln hinzu: ›Es ist ganz natürlich, daß sie auf die Frage des »Parsifal« mit Strecker, Lucca, Batz antwortet!‹ Sein erstes Wort am andern Morgen galt Dr. Strecker, und es war leicht zu erkennen, daß ein darauffolgender andauernder Krampfanfall unbedingt mit diesem Ärger zusammenhing. Er fühlte sich den ganzen Tag über unwohl, und da das Wetter sehr schlimm war, ging er auch am folgenden Tage nicht aus. Aber bei einer Gondelfahrt bald darauf, in der wohligen Empfindung des Zusammenseins mit seiner Gemahlin und des sanften Dahingleitens über die Wasserfläche, rief er schmerzlich: ›Man müßte alles hinter sich abschließen können, von nichts mehr hören; um es im Leben auszuhalten, müßte man darin tot sein.‹ – Eine Anfrage Wolzogens in Sachen der ›Vereins‹-Angelegenheit gab ihm Veranlassung, sich auch über diese noch einmal möglichst klar und deutlich auszudrücken. Wolzogen hatte, um für die neuzugewinnende Organisation (an Stelle des aufgelösten Patronatvereins) einen Namen zu finden, dafür das Wort einer bloßen ›Genossenschaft‹ vorgeschlagen; als solche sollten nach dem Willen des Meisters inskünftig nur die Abonnenten der ›Bayreuther Blätter‹, die Vertrauten seiner darin kundgegebenen Gedanken, gelten. Aber der Name einer ›Genossenschaft‹ widerstrebte ihm durchaus: ›Zu was ein Name, eine Vereinsmarke? Mir ist nie eingefallen, einen, »Verein« zu gründen; ganz hinter meinem Rücken gründete Heckel einen ersten Wagner-Verein; d.h. eine Vereinigung solcher, die so wohlfeil wie möglich zu Karten für die Festspiele kommen wollten. Hätte ich diesen Vereinen von vornherein keinen Wert beigemessen, so hätte ich bereits von 1877 an den »Ring des Nibelungen« alljährlich [694] für ein zahlendes Publikum aufgeführt, und nie hätte ich wieder Vereinsl(umpen) erfahren muß. Die gänzliche Impotenz solcher Vereinswirtschaft haben wir nun wieder erfahren, als ich nur durch die Hilfe des Königs dazu gelangte, den »Parsifal« überhaupt aufzuführen, eine Fortdauer der Aufführungen mir aber durch das zahlende Publikum sichern mußte, also durch Aufgebung der ganzen stolzen Idee, für welche ich einst ein Patronat anrief. Gänzlich unpraktisch im geschäftlichen Sinne, müßte mir nun aber ein Verein – oder eine Genossenschaft – im theoretisch-moralischen Sinne durchaus verwerflich dünken; etwa solch ein Ausschuß, der, nach meinem Tode, die Festspiele statt meiner anordnen und leiten sollte! Ich bin nun siebzig Jahre alt geworden, und kann nicht einen einzigen Menschen bezeichnen, der in meinem Sinne irgendeinem der bei solch einer Aufführung Beteiligten, sei es den Sängern, dem Orchesterdirigenten, dem Regisseur, dem Maschinisten, dem Dekorateur oder dem Kostümier, das Richtige sagen könnte. Ja, ich weiß fast keinen, der nur auch im Urteil über Gelungenes oder Nichtgelungenes mit mir zusammenträfe, so daß ich mich auf das seinige verlassen könnte ... Also – ein nach meinem Tode eintretendes, vielleicht schon bei meinen letzten Lebzeiten mich leitendes Komitee – will ich nicht!‹27 ›Am meisten Gutes verspreche ich mir von der Stipendienstiftung: sie wird die eigentliche Wohltäterin sein, und mit allen Kräften werde ich sie unterstützen, sobald dies möglich wird, selbst mit unseren Einnahmen.‹28 ›Wünschen wir denn nun, daß ich noch eine längere Reihe von Jahren meine Leute richtig anleiten und belehren kann, und daß einfach hieraus ein Erfolg sich herausstelle. Vom Gelde will ich jetzt und dereinst keinen Heller. (Dies zur Beruhigung der gewissen »Patronatsherren«!).‹29

›Alles hinter sich abschließen, von nichts mehr hören‹ – dafür war er hierher gekommen, und hätte er dieses Bedürfnis völliger Ruhe befriedigen können, – kein Zweifel, daß dann erst der Venediger Aufenthalt seinen Zweck tatsächlich erfüllt haben würde. Statt dessen verfolgten ihn den ganzen Winter hindurch von außen her die übelsten Ärgernisse, auf die wir leider noch mehrfach werden zurückkommen müssen, – eben weil sie ihn auch in dem gewonnenen schönen und befriedigenden Asyl nicht in Ruhe ließen, sondern immer von neuem aufstachelten. Die Anwesenheit Heinrichs von Stein während der ersten vier Wochen war ihm sehr willkommen Gern ließ er sich gleich an einem der ersten Abende von ihm seinen für die ›Bayreuther Blätter‹ verfaßten Aufsatz über Renans ›Marc Aurèle‹ vorlesen, äußerte aber [695] nach Anhörung desselben: ›Viel zu nobel!‹ ›Ich habe das so zu verstehen‹, schrieb darüber Stein brieflich an Wolzogen, ›daß er eine entschiedene Abfertigung Renans gebilligt haben würde, und daß das systematisch Hochernste ihm schon fast zu viel in die Besprechung hineingeraten ist. Der Meister liebt das Systematische nicht, verwirft es völlig in den Blättern.‹30 Als Begründung für sein Urteil (›viel zu nobel!‹) hob er u.a. jenen charakteristischen Satz des berühmten Franzosen hervor, wonach das Christentum durch das Verbot des Geldwuchers die Zivilisation um so viel Jahrhunderte zurückgehalten habe (S. 568)! Er riet Stein, einen Roman über den Zustand des neuen Lebens – nach der von ihm in ›Religion und Kunst‹ vorgeschlagenen großen ›Auswanderung‹ – zu schreiben, und rühmte es an Heinse, daß er am Schluß seines ›Ardinghello‹31 bei der Gründung seiner glücklichen Inseln seine Kolonisten beschließen ließ, keinen Besitz unter sich zu dulden. Den Besitz bezeichnete er als das Grundübel von allen.32 Scherzend sagte er von der Welt: wie der liebe Gott, um sich zu zerstreuen, einen dummen Streich machen wollte, habe er sie erschaffen. Auch der Rassengedanke wurde vielfach in den Abendunterhaltungen erörtert, und die Bedeutung der lieblosen Ehen; ein Punkt, der bei der Besprechung der Rassenvervollkommnung oder ihres Niederganges immer unberücksichtigt gelassen würde Gerade an diesen, stets übergangenen und ausgelassenen Punkt gedachte er seinen Aufsatz ›über das Weibliche im Menschlichen‹ anzuknüpfen. Auch bezogen sich seine Unterredungen häufig auf das neuerschienene Buch von Oldenberg über ›Buddha‹; es sei viel bedeutender als das von Köppen. Bei gutem Wetter pflegten die Kinder nachmittags auf dem Lido ein stärkendes Seebad zu nehmen, wobei sich Siegfried, wie schon in Neapel, als tüchtiger Schwimmer bewährte. Eines Tages fiel es dem Meister ein, in Begleitung seiner Gemahlin von der Piazzetta aus mit dem Dampfschiff nach dem Lido hinüberzufahren, um sie von dort aus abzuholen. Er traf daselbst auch Siegfried und Stein, nicht aber die jungen Mädchen, und nahm sich vor, sie bei ihrem Erscheinen mit ihrer Unpünktlichkeit zu necken; da mußte er erfahren, daß an ihrer Verspätung ein gräßliches Unglück schuld sei, das sich während des Bades zugetragen: ein junges Mädchen sei vor ihren Augen ertrunken, [696] und sie hätten die Verzweiflung ihrer Angehörigen erlebt. Auf der Rückfahrt wurde im Hotel Europa angehalten, wo die unselige Familie der Verunglückten wohnte, und es wurde daselbst in Erfahrung gebracht, daß sie seit acht Tagen Braut, und Lässigkeit und, Feigheit an ihrem Untergang schuld gewesen sei! – Als für Stein nach dem Ablauf der bestimmten Zeit die Stunde des Abschiedes schlug (15. Oktober) und er traurig von dannen zog, um nach Halle überzusiedeln, sprach der Meister noch nachträglich sein Bedauern aus, daß der junge Freund so wenig von sich und seinem Vater gesprochen und knüpfte, die Sache verallgemeinernd, daran die Betrachtung, wie wenig wertvoll das Schweigen sei. Noch während der letzten Tage seiner Anwesenheit war der von ihm, auf Grund brieflicher Anknüpfung, empfohlene zeitweilige Nachfolger eingetroffen, der junge Hausburg, welcher zuerst Jurist, dann Musiker gewesen und sich nun im besonderen Falle als Erzieher bewähren wollte. Seine Briefe hatten auf Stein einen günstigen Eindruck gemacht, und um ihn über die weiteren Studienerfolge seines Zöglings auf dem laufenden zu erhalten, verpflichtete er sich, am Ersten jedes folgenden Monates ihm Bericht über dessen inzwischen erfolgte Fortschritte zu senden. Daß er seine übernommene Aufgabe nicht eben sehr gewissenhaft löste und selbst seine täglichen 2 Stunden von 9 bis 11 Uhr nicht vollständig erteilte (wenn man um 1/211 ins Zimmer trat, hatten die Stunden meist schon ihr Ende erreicht) – war vielleicht für den Knaben nicht ohne Gewinn: er hatte bis dahin immer sehr blaß ausgesehen, und die Eltern gerieten in Sorge, ob nicht – bei seiner ohnehin großen geistigen Regsamkeit – der stete Umgang mit Stein, gerade wegen dessen großen Ernstes, auf ihm laste. Wenigstens entwickelte sich von nun an seine Gesundheit günstiger; er gewann auch mehr Zeit für seine stets gern gepflegten künstlerischen Neigungen, und eine von ihm in Grundriß, Durchschnitt, äußerer und innerer Ansicht entworfene Basilika eigener Erfindung erregte allgemeines Erstaunen, des Meisters, wie aller Kenner, und da unter seinen Neigungen diese – neben dem Theater – zeitweilig die Oberhand zu gewinnen schien, beschloß er ihr kein Hindernis in den Weg zu legen. Daneben übte er sich im Rudern, das er dem erfahrenen Gondolier Luigi mit scharfer Beobachtungsgabe abgesehen, und auch seine Gondolierrufe waren echt; wenngleich in den engeren Kanälen, in welchen das Ausbiegen große Geschicklichkeit erfordert, damit sich die einherschießenden Barken auch im schnellsten Fluge niemals berühren, der berufsmäßige Lenker zuweilen unmerklich durch Soufflieren eingriff, um jedem möglichen Unfall vorzubeugen, oder, wenn es galt, das Rufen selbst übernahm. Dagegen lenkte er sein Fahrzeug mit voller Sicherheit durch den großen Kanal oder auch ins offenere Wasser, wenn er die Seinen, am Vorsprung der Sta Maria della Salute vorbei, gelegentlich nach der Giudecca übersetzte. – Auf Steins Abschied kommen wir weiterhin noch zurück.

[697] Wir erwähnten soeben des Oldenbergschen Buches über ›Buddha‹,33 welchem der Meister, nachdem er sich in den ersten Tagen nach seiner Ankunft mit der zerstreuenden Lektüre eines, im Hotel Europa vorgefundenen französischen Buches über Balzac (›Balzac chez lui‹) beschäftigt, ein andauernd aufmerksames Studium widmete. Nicht gleich beim ersten Beginn war er davon eingenommen; vielmehr störte ihn anfangs die wiederholte Versicherung dessen, daß man aus der späten Legendenbildung nichts Sicheres über den Gegenstand erfahren könne: diese historische Kritik, erklärte er, wäre ganz gut; nur müsse sie sich nicht an solche Gegenstände machen. Indes beschied sich der Verfasser des Buches am Schluß seiner Einleitung dahin, daß er der Überlieferung in ihren Hauptzügen doch am Ende ein größeres Vertrauen beimesse, als der abenteuerlichen Behauptung des französischen Gelehrten Senart, wonach die Person und Schicksale des großen Religionsstifters auf einen bloßen Sonnenmythus zurückzuführen wären;34 und die genaue Verfolgung der Hauptpunkte jener Überlieferung fesselte ihn mehr und mehr. Die vielfache Beschäftigung mit ›Buddha‹ in unseren Tagen verhelfe wohl auch zum Verständnis des Christentums: jetzt begönnen die Leute wohl zu begreifen, daß Entsagung die höchste heroische Kraft sei.35 Abends las er den Seinen wundervolle Dinge daraus, die er tagsüber in dem Buche getroffen, oder ließ sie durch Frau Wagner vorlesen, wie die Gründe davon, daß sich der Erleuchtete nicht über ›Anfang und Ende der Dinge‹ aussprechen wollte. ›Weshalb hat Buddha seine Jünger nicht gelehrt, ob die Welt endlich oder unendlich ist, ob der Heilige im Jenseits fortlebt oder nicht? Weil das Wissen von diesen Dingen nicht den Wandel in Heiligkeit fördert, weil es nicht zum Frieden und zur Erleuchtung dient. Was zum Frieden und zur Erleuchtung dient, hat Buddha die Seinen gelehrt: die Wahrheit vom Leiden, die Wahrheit von der Entstehung des Leidens, die Wahrheit von der Aufhebung des Leidens, die Wahrheit vom Wege zu der Aufhebung des Leidens.‹ Die Lehre Buddhas will keine Philosophie sein, welche den letzten Gründen der Dinge nachforscht; sie wendet sich an den in Leiden versunkenen Menschen, und indem sie ihn sein Leiden verstehen lehrt, zeigt sie ihm den Weg, es mit der Wurzel zu vernichten. ›Ein Mann‹, so lehrte Buddha, ›wurde von einem vergifteten Pfeil getroffen; da riefen seine Freunde und Verwandten einen kundigen Arzt. Wie wenn der Kranke nun sagte: »ich will meine Wunde nicht behandeln lassen, bis ich weiß, wer der Mann ist, von [698] dem ich getroffen bin, ob er ein Adliger oder ein Brahmane, ob er ein Vaiçja oder ein Çudra ist« – oder wenn er sagte: »ich will meine Wunde nicht behandeln lassen, bis ich weiß, wie der Mann heißt, der mich getroffen hat, und von was für einer Familie er ist, ob er lang oder kurz oder mittelgroß ist, und wie seine Waffe beschaffen war, mit der er mich getroffen hat« – was würde das Ende der Sache sein? Der Mann würde an seiner Wunde sterben.‹36 Die wiederholte Erwähnung von Lotosteichen, duftenden Mangos, zierlichen, hoch über alles andere Laub sich erhebenden Fächerpalmen, gab ihm eines Tages den Ausspruch über seine ›Sieger‹ ein, wie unmöglich es ihm sein müßte, diesen Stoff noch zu dichten und zu komponieren, weil er dabei immer mit Mangobäumen, Lotosblumen usw. umzugehen hätte, die ihm aus der Anschauung ungeläufig seien, daher auch die Dichtung künstlich ausfallen müßte. Schon aus diesem Grunde müßte ›Parsifal‹ sein letztes Werk bleiben. Aussprüche aus dieser Lektüre beherrschten auf lange hinaus, auch nachdem er das Buch zu Ende gelesen, die ganze Unterhaltung und wurden auf Ausfahrten, Spaziergängen usw. gern von ihm angewandt: ›Von dem, was man liebt, getrennt, mit dem, was man haßt, vereint sein – wie gut haben da die Buddhisten das Leiden gefaßt, daraus besteht eigentlich die Welt, das hat diese Paläste eingegeben und all den Pomp, um sich darüber zu täuschen!‹ Buddha nehme die Kranken und Krüppel in seine Gemeinde nicht auf: ›das klingt zuerst sehr hart, und doch liegt ein tiefer Sinn, eine große Weisheit darin. Da alles in der Erlösung von der Begierde liegt, können diejenigen nicht aufgenommen werden, denen Krankheit die Begierde selbst versagt.‹37 Die Tugend des Wohlwollens gegen alle Wesen, durch welche der Erhabene den in enger Gasse auf ihn losgelassenen wilden Elefanten zähmt,38 findet ihren rührend ergreifenden Ausdruck in der Geschichte vom Häschen, einer der Erzählungen aus Buddhas früheren Existenzen, die der Meister einmal, nachdem er sie eben gelesen, über Tische den Seinen erzählte. Dem Götterkönig Sakkas, der in Brahmanengestalt in den Wald kam, habe es keine Gabe zum Opfer bieten können: ›ich habe nicht Sesam und nicht Bohnen, nicht Reis und nicht Butter; ich lebe nur von Gras, und Gras kann man nicht spen den‹. Da sei es, um dem Heiligen sich selbst zu opfern, ins Feuer gesprungen und habe es herrlich kühl gefunden: ›gleichwie frisches Wasser [699] Dem, welcher sich hineintaucht, die Qual der Hitze stillt, wie es Erquickung gibt und Freude, so stillte das flammende Feuer, in das ich mich stürzte, alle meine Qual gleich frischem Wasser‹.39 Sein Entzücken über diesen naiv überschwänglichen Zug war einzig mit dem zu vergleichen, das er einst über die Erzählung vom Usinara empfunden, der, um die zu ihm geflüchtete Taube vor ihrem Verfolger, dem Habicht, zu retten, sich willig so viel vom eigenen Fleisch ausschneidet, als das Gewicht der Taube beträgt, worauf sich dann der Habicht in Indra verwandelt und ihm den Himmel verheißt. ›Wollen Sie meine Religion kennen lernen, so lesen Sie Usinar‹, hatte er damals (30. April 1855) von London aus an Frau Wesendonck geschrieben. ›Wie beschämt steht unsere ganze Bildung da vor diesen reinsten Offenbarungen edelster Menschlichkeit im alten Orient!‹40 Das Häschen der buddhistischen Erzählung spielte noch im ferneren Verlauf dieses Winters seine Rolle als liebenswürdigstes Symbol, indem ihm Frau Wagner bei einem der Goldschmiede in den Markusplatzhallen ein solches aus Gold als Uhrgehänge anfertigen ließ und es ihm als Überraschung auf den Arbeitstisch stellte; er zeigte es noch am gleichen Tage den Kindern und trug es von nun ab an einer besonderen kleinen Kette; auch die bekannten Verse in den ›Gedichten‹: ›ich und der Doktor Luther trugen jeder ein Häslein klein‹41 beziehen sich auf diesen ganz intimen kleinen Vorfall. Und als er die Lektüre des Buches beendet, las er abends daraus noch den erhabenen Passus über die ›Taten‹ vor, wonach auch diese der Endlichkeit angehören und der Atma darüber erhaben sei, einerseits an die Lehre Paulus' und Luthers über die guten Werke erinnernd, andererseits auch auf die größten Geistestaten des Genius zu beziehen, die für sich allein den göttlichen Urquell nicht aufwiegen, aus dem sie entsprossen.42

Zwischenein war er doch auch während der Lektüre des ›Buddha‹ in alter Vorliebe immer wieder zum ›Faust‹ zurückgekehrt. So hatte er eines Vormittags darin gelesen und teilte sich darüber beim Kaffee nach Tische dem Kreise der Seinigen und dem mitanwesenden Stein in voller Begeisterung mit; dann aber sprang er selbst auf, holte das Buch und las das Gespräch zwischen Faust und Meohistopheles vor der Schlacht in einer Weise vor, wie man es nie wieder gehört. Bei der Bemerkung ›Trommeln und kriegerische Musik im Rücken der Zuschauer‹ hob er hervor, wie wichtig die Bühne [700] sei, die er für ›Faust‹ sich gedacht.43 Es sei der ›Faust‹ das schönste in deutscher Sprache geschriebene Buch. Und am Schluß der Szene, wie er das Buch zumachte, sagte er: ›einzig göttlich!‹ Durch den Knüttelvers sei etwas Unbeschreibliches gewonnen: ein Witz ganz verschiedener Art von dem Shakespeares, und die ›gewissen Zielen nähergerückte Zeit‹ hätte ganz solche Motive geboten. ›Er hat genossen, und wie!‹ Am Abend desselben, dem ›Faust‹ gewidmeten Tages fuhr er mit der Schilderung der Schlacht selbst fort: das hohle Pathos des Kaisers, die Bilder, welche Faust gebraucht, um ihm über das Grauen hinwegzuhelfen, der Inbegriff der Schlacht an sich, die ganz rohen Mächte der Habsucht und Beutegier, alles dieses, und vieles noch, erregte die freudigste Bewunderung aller, und die Verse, in denen der Kaiser die dämonischen Mächte kennen zu lernen wünscht, um sie womöglich auszuzeichnen, erregten bei dem Vorleser selbst ein Gelächter des anerkennungsvollen Verständnisses Andererseits betonte er ergänzend das Skizzenhafte des Ganzen, den Mangel an Verbindung in der Handlung, in welcher das bedeutsamste Moment auf dreiviertel Seiten abgemacht, bei allem übrigen aber übermäßig lange verweilt würde Trotzdem, von ihm mit aller Intensität des Genius vorgetragen, wie hellte sich alles auf! Frühgewonnene Eindrücke dieser unvergleichlichen Art mögen, durch Jahrzehnte hindurch schlummernd, bei dem jüngsten Zuhörer späterhin bei seiner Darstellung der Rabenschlacht im ›Banadietrich‹ unvertilgbar mitgewirkt haben.

Recht empfindlich war dem Meister während eines solchen Aufenthaltes in der Fremde der Mangel seiner Bibliothek, um den Eingebungen des Augenblicks folgend, von einem zum anderen übergehen zu können. Rubinstein hatte die ihm geliehenen Werke Calderons zurückgebracht; er schlug darin das Stück ›Liebe, Ehre, Macht‹ auf, brach aber bald in Unwillen dagegen aus: ›lauter Schachfiguren und ekelhafte Spielereien‹, über die er sich noch beim Abendbrot nachträglich ereiferte. Er fuhr noch einige Vormittage hindurch mit Calderon fort, aber ohne Freude daran; am Ende benutzte er den nächsten Ausgang auf den Markusplatz, um sich am Westende desselben in der Münsterschen Buchhandlung mit einigen Bänden Walter Scott zu versehen. Er nahm sich zunächst einen ihm noch unbekannten Roman, las aber nicht darin: ›er würde lieber etwas lesen, was er schon kenne; da habe er mehr künstlerische Freude daran‹. So machte er sich an den ›Piraten‹, der ihn zwar durch seine Weitschweifigkeit ermüdete ›man sähe ihm infolge derselben recht an, daß er für die vornehme Frauenwelt geschrieben sei‹ –, andererseits aber durch die Originalität und Vortrefflichkeit manches Gedankens ihm die Freude erkläre, welche Menschen, wie Schopenhauer und Gobineau, an diesem besonderen Schriftsteller gehabt. Es fiel ihm auf, daß der Dichter[701] darin die Bewohner der Insel Shetland in einer Art von ossianischem Bardenstil sprechen lasse, während doch die isländischen Sagen uns ein ganz anderes poetisches Gepräge zeigten; auch erinnerte er an den Ausspruch Carlyles, wonach die Figuren Scotts uns nicht eigentlich erwärmten: sie spielten ihre Charaktere, seien sie nicht. ›Er ist der Theaterdirektor, der dies alles in Bewegung setzt‹, fügte er in diesem Sinne hinzu, ›er selbst als solcher interessiert immer; seine Gestalten weniger.‹

Sehr zurückhaltend gegen die bunt internationale Gesellschaft, wie sie sich um diese Jahreszeit in den Hotels und Palazzi der Lagunenstadt zusammenzufinden pflegt, hatte er bis dahin keinerlei Besuche gemacht, noch empfangen, und jeden Verkehr nach außen hin gemieden. Bloß dem russischen Maler und Naturforscher Wolkoff war es geglückt, bei ihm Zutritt zu finden, und dessen lebhafte Unterhaltungen über die mannigfachen Probleme der modernen Naturwissenschaft, u.a. Über hypnotische Experimente, hatten ihn für einen Abend angenehm unterhalten. Auch war viel von der eben aufkommenden Richtung des sogenannten Impressionismus die Rede, von Malern, die sich mit der bloßen Darstellung von Stimmungen begnügten und in wenigen Minuten Nocturnes, Symphonien u. dgl. auf ihre Leinwand brächten. Der Meister sprach seine Vorliebe für saubere – nicht klecksende – Malerei aus und fügte scherzend hinzu: ›ich bin für den Zinsgroschen von Tizian‹. Nicht als eigentliche Berührung mit der Außenwelt konnten die mehrfachen Besuche Rubinsteins gelten, der sich schon seit den ersten Tagen in Venedig zu ihnen gefunden, ihm aber gerade jetzt durch sein Klavierspiel nicht viel bieten konnte, selbst nicht durch seine Tonbilder aus ›Parsifal‹. ›Ich finde‹, sagte er nach Rubinsteins Entfernung, ›das ganze Klavierspielen absurd.‹ Und als dieser gar anderen Tages bei Tisch ihn über seine Meinung wegen Orchestrierung jener Tonbilder befragte, gab er mild, aber bestimmt zu erkennen, daß er nicht gern mit derlei sich abgebe, was er als eine Konzession gegen den Verleger betrachte. Mit dem Beginn des Oktober begann ein regeres Leben, indem zunächst das junge Gravinasche Paar sich einstellte, ursprünglich nur zu vierzehntägigem Aufenthalt, der sich aber schließlich, auf wiederholte Einladung zu bleiben, über den ganzen Oktober erstreckte. Nicht unwillkommen war ihm auch ein dreitägiger Besuch Levis (3. bis 6. Oktober), mit dem er im ›Raucheckchen‹ (mit dem Blick aufs Vestibül) sich gern der ›Parsifal‹-Zeit entsann und nur bedauerte, nicht genug mit seinen Künstlern verkehrt zu haben.44 [702] Bei diesem Besuch besprach er mit ihm auch die von Levi angeregte Frage der ›Pause‹ im dritten Akt nach Gurnemanz' Worten: ›nicht so!‹ (S. 683) und stellte fest, daß es so bleiben solle, wie er es geschrieben, wegen der Struktur der Melodie; er wünschte aber, daß die Pause ›wie eine Fermate behandelt‹ würde. Abends wurde etwas musiziert; Rubinstein spielte die Fis dur-Sonate op. 78 von Beethoven. Der Meister gab ihm einige Winke für den Vortrag und hob hervor, wie ›persönlich‹ dieses Werk sei. ›Wenn man das im Wiener Konservatorium als Muster des Sonatenstiles gäbe, so konnte man sich wohl nichts Dümmeres denken.‹ Er kam dann auf den zweiten Teil des ersten Satzes der Es dur-Symphonie zu sprechen und sagte: ›Ich kenne nichts so Vollendetes in bezug auf den Aufbau, die Architektur der Musik! Wie die Themen ineinander greifen, wie Girlanden, die sich aneinander reihen.‹ Er hob hervor, daß gerade dieser Satz keinen stürmischen Beifall sich erringe. ›Er sei wohl zu geistvoll‹, bemerkte Frau Wagner, und er wiederholte: ›Ja, zu geistvoll.‹ Levi meinte, es läge wohl auch an der Instrumentation und gab dadurch dem Meister Anlaß zu bedauern, daß die Blasinstrumente zu Beethovens Zeit so beschränkt gewesen seien: ›er habe das Orchester von Haydn und Mozart verwendet und Gedanken gehabt, die über alle Welten hinausgingen‹. Auf den Vorschlag, daß er doch (u.a. auch im Adagio derselben Symphonie) die von ihm nötig befundenen Korrekturen ausführen sollte, erwiderte er: ›Das ginge nicht gut, wo da die Grenze finden? Jeder Dirigent, der einen solchen Mangel empfände, müßte, ohne viel zu sagen, aushelfen.‹ Da sich Levi auch am Whisttisch beteiligte, wurden zwischen dem Spiel Opern besprochen, mit einiger Vorliebe immer die ›Jädin‹, und am Schluß sang er einiges aus ›Rienzi‹ in seiner herrlichen, von keinem Sänger je nachzuahmenden Weise. Der Festspiele gedenkend, erwähnte er auch dessen, wie gern er dazu den ›Tannhäuser‹ aufführen möchte, den er als Drama für vollendet ansehe, und doch wieder auch nicht, weil ihm in der Musik einiges zu wenig ausgeführt sei. ›»Tannhäuser«, »Tristan« und »Parsifal«‹, meinte er, ›die gingen zusammen.‹ Und im Laufe des Winters sprach er sich mehrmals dahin aus, daß er ›der Welt noch einen »Tannhäuser« schuldig sei‹. – Ein anderes Mal kam er mit Levi darauf zu sprechen, was eigentlich Melodie [703] sei, und zitierte als Beispiel der Langatmigkeit und Vollendung einer solchen das Thema des Andante der C moll-Symphonie. Mozarts Kürze war ihm unlieb; aus der ›Jüdin‹, ja selbst aus Rossini ward einiges erwähnt, und Levi zitierte die Schlußarie der Gluckschen ›Iphigenie in Tauris‹. Dann hatte der Meister den herrlichen Gedanken, nach einem Band Shakespeare zu greifen und den Anwesenden (unter welchen auch Stein sich noch befand) die zwei ersten Szenen vom 2 Akt des ›Julius Cäsar‹ zu lesen. Wie er so las, traten ihm bei Porzias Rede die hellen Tränen ins Auge. Am Schluß der Lektüre gedachte er Calderons, um an ihm zu zeigen, wie unvergleichlich Shakespeare sei: keine ›Literatur‹, wie Calderon, nur Drama. Vor der Erfindung der Musik sei das geschrieben, und zuweilen fast nüchtern erscheinend, aber wie individuell menschlich beseelt! Dann las er seine Lieblingsszene aus ›Was ihr wollt‹, zwischen Junker Tobias, Bleichenwang und Marie. Er hob hervor, was selbst Marie für ein ausgeprägt lebendiger Charakter sei, zuerst den Junker so übel behandelnd und dann mit ihm gegen Malvolio sich verbindend. Alles sei bei Shakespeare Charakter. Der Knabe des Brutus, gewiß würde auch er, wenn man ihn des weiteren verfolgen könnte, als ein ganz besonderer Charakter sich ausweisen. Trotz des üblen Wetters und beständigen Regens dieser Tage war er dennoch heiter und voller Übermut, so daß er alle in beständigem Lachen erhielt, und als beim Abendtisch von Geisterklopferei die Rede war, schlug er plötzlich, zu aller Erstaunen, sitzend mit dem rechten Fuß auf den Tisch, mit einer Agilität, um die ihn jeder beneiden, die ihm aber gewiß keiner nachmachen konnte.

Dies war Levis einstweilen letzter Abend in Venedig; am andern Tage mußte er abreisen. Dafür trafen aber bald darauf die Freunde Schleinitz ein, die endlich wirklich aus ihrem unfreiwillig verlängerten Bozener Aufenthalt gut angekommen waren und bei der Fürstin Hatzfeldt-Trachenberg im Palazzo Malipiero am Canale Grande (Campo Samuele) Wohnung genommen hatten. ›Die Fürstin Hatzfeldt‹, schreibt einige Wochen später Liszt über sie, ›erhält sich wunderbar, als die verkörperte Liebenswürdigkeit und wohlwollende Gesinnung. Nach den Schicksalsschlägen, die sie durchgemacht, sind diese Verdienste nicht gering. Sie liest mit Vorliebe Balzac, in der schönen Pariser Ausgabe. Wenn ich nicht irre, ist es der dritte oder vierte Winter, den sie in Venedig im Palazzo Malipiero verbringt. Ihre Niederlassung ist eine der elegantesten; Frau Ada Pinelli‹ (mit Daniela v. Bülow befreundet) ›wohnt bei ihr.‹45 So sehr sich der Meister über diese Ankunft der ausgezeichneten, Freunde freute, war es ihm doch störend, daß Daniela nun viel von ihnen beansprucht und zu ihnen abgeholt wurde; es widerstand ihm stets, wenn ein Glied des zu ihm gehörigen Kreises denselben zeitweise [704] verließ; was zu ihm gehörte, mußte stets bei ihm und um ihn sein. Ihr zweiundzwanzigster Geburtstag stand (am 12. Oktober) nahe bevor; unter den ihr zu überreichenden Geschenken sollte sich u.a. auch Darus neunbändige ›Geschichte von Venedig‹ befinden, die leider um eine Woche zu spät eintraf, dafür aber später von allen auf das eifrigste studiert wurde. Mit einem für sie bestimmten Schmuck trug es sich zu, daß Wagner von einem der Juweliere am Markusplatz arg betrogen worden war; er merkte den Betrug erst bei der Zusendung, brachte ihm den Schmuck zurück und hielt dem Manne recht drastisch sein übles Verhalten vor. Er verlangte sein Geld zurück und begab sich zu einem anderen Juwelier, der bei der Besichtigung seiner Karte in einen völlig freudigen Schreck über die Person des Käufers geriet und ihn ganz nach Wunsche bediente. Ein merkwürdiger Zufall wollte es, daß gerade an diesem Geburtstage der junge Kunstforscher und Archäologe Dr. Henry Thode, ihr nachmaliger Gatte, seinen ersten Besuch im Hause des Meisters machte, natürlich ohne von der Bedeutung des Tages zu wissen oder etwas davon zu erfahren. In seinen uns zur Verfügung gestellten Tagebüchern findet sich eine genaue Beschreibung seiner damaligen Erlebnisse. Er hatte den Meister zweimal verfehlt und kehrte soeben in voller Resignation von dem zweiten dieser Versuche heim, als ihm auf der Straße die ihm bereits bekannt gewordenen Angehörigen des Hauses, Graf Gravina und Daniela v. Bülow begegneten und ihm zum anderen Tage um 3 Uhr eine Einladung von Frau Wagner überbrachten. Dieser andere Tag war eben der 12. Oktober. ›Ich hatte nicht lange zu warten‹, heißt es dann in seinen Tagebuchaufzeichnungen, ›als am Arm seiner Frau, gefolgt von der Kinderschar und einigen Gästen, Richard Wagner in das Zimmer hereintrat – es machte den Eindruck, als nahte ein Fürst mit seinem Gefolge – und mich nach allen vergeblichen Versuchen freundlich willkommen hieß. Er war in der behaglichsten Nachtischlaune und nach den nötigen Vorstellungen nahmen wir in einem auf den Canal grande gehenden Salon Platz: ich neben Frau Wagner, Er gegenüber dem Licht, was, wie er meinte, zwar nicht angenehm, aber vor ihm schon von Tristan und Isolde erlitten sei. Er befand sich in einem schwarzen gesteppten Atlasjäckchen, das übrigens nichts besonders Auffallendes hatte, und weißer Weste, und sah so wohl aus, daß ich ihm meine Zuversicht von seinem guten Befinden ausdrückte, worauf er mit humoristischem Ausdruck erwiderte: »Ja, da liege ich nun den ganzen Tag in den heftigsten Krämpfen und erhole mich erst am Abend, und dann kommt diese meine herzlose Familie und sagt: es ist doch eine Freude, wie gut es dem Vater hier geht.«46 In diesem häuslich gemütlichen Plauderton, mit kleinen, scherzhaften [705] Pointen ging es weiter; dann erkundigte er sich nach meinen Studien. Als ich meinte, ich wollte mich nächstes Jahr habilitieren, rief er aus: »Wieder einer! Warum die Leute sich nur alle immer habilitieren? In Leipzig mit meinem Schwager Brockhaus kam ich kaum zu einem vernünftigen Gespräch, weil stets so viele da waren, die sich habilitieren wollten. Und Sie haben Besitzungen in Schlesien, sind vermögend und unabhängig, und so ein Mensch hat nichts Besseres zu tun, als sich zu habilitieren! Nun, das fiele mir grad' ein!« Dann sprachen wir über Venedig und andere italienische Städte, und er fing an über »das steife Florenz« mit seinen »langweiligen Palästen« zu sprechen. Dies erschreckte mich einigermaßen, und ich nahm die Partei meiner Lieblingsstadt; ihm imponierte der malerische Stil in Venedig viel mehr, sehr charakteristisch für das Bedürfnis seiner Phantasie. Dann fügte er hinzu: »da hat nun derDr. Thode eine schöne Meinung von mir bekommen, und ich will lieber gehen, ehe es zum ärgsten kommt«, worauf er wohl sein Nachmittagsschläfchen machte, nachdem er noch gesagt: »heute abend geben wir ein großes Fest, alles erleuchtet, im großen Stil, da kommen Sie doch auch dazu?« Natürlich nahm ich mit Freuden an. Ich benutzte dann die Zeit, Frau Wagner meine Leidenschaft für die Wagnerschen Dramen kundzutun, und es überraschte mich, mit welcher Frische sie darauf einging und mit welcher Aufmerksamkeit sie meine Bemerkungen hinnahm. Wie oft muß sie derlei schon durchlebt haben!‹ Damit schloß der erste Besuch Thodes im Vendramin, der beim Verlassen des Hauses selbst über die Freiheit erstaunte, mit der er in dem erlanchten Kreise sich hatte bewegen und aussprechen können ›Von einer Befangenheit meinerseits, vor der ich mich etwas gefürchtet hatte, dem Manne gegenüber, dessen Werke ich als die merkwürdigsten und großartigsten Schöpfungen des menschlichen Geistes verehre, war dabei keine Rede, da die Aufnahme eine so freie, die Unterhaltung eine so ungezwungene und der ganze Ton ein so heiterer war, daß ich mich sofort zu Hause fühlte. – Abends fand ich mich dann wieder ein, und traf, wie vormittags, Josef Rubinstein, Baron Stein, den Schopenhauerianer aus Halle, und Herrn Hausburg‹ (Siegfrieds neuen Lehrer). ›Ich kam jetzt dazu, mich länger mit Daniela zu unterhalten, einem sehr anziehenden, seinen und liebenswürdigen Mädchen. Die Fürstin Hatzfeldt und Gräfin Schleinitz kamen nicht, wie erwartet worden war. Draußen strömte der Regen; ich äußerte meine Befürchtungen, daß in nicht langer Zeit das Fieber in der ganzen Gegend grassieren würde. Wagner hörte erschreckt zu und kam den ganzen Abend beständig darauf zurück: »ich bin so wie so schon krank vom Regen hier, und da kommt nun gar noch der Dr. Thode her und spricht, als wäre es gar nichts, vom Fieber. Eine schöne Geschichte, bin ich dazu von Bayreuth hierher gekommen? Ich glaube, wir reisen lieber wieder heim!« Wir lachten sehr, und ich entschuldigte mich, solch ein Unglücksprophet [706] gewesen zu sein; einen so vernichtenden Eindruck hätte ich von meinen Worten nicht erwartet. »Nein, Sie haben ja ganz recht, aber es ist furchtbar hart.« Der Meister befand sich in der aufgeräumtesten Stimmung, lief ab und zu im Zimmer und schaute zuweilen nach seinen Kindern Isolde, Evchen und Siegfried, die im Nebenzimmer saßen, und klagte denen sein Leid.47 Als Baron Stein die Witterungsverhältnisse an der dalmatinischen Küste erklärte, rief er komisch verzweifelt aus: »Ja, die dalmatinische Küste, die hatten wir ganz vergessen, das ist es ja eben. Wer denkt aber auch in Bayreuth an die dalmatinische Küste! Kinder, seht ihr's, jetzt wissen wir es: die dalmatinische Küste, die dalmatinische Küste!« Was ich Frau Wagner von meinem Wagner-Enthusiasmus erzählte, vermittelte sie meist laut an ihren Mann, worauf er nichts erwiderte, sich aber doch wohl darüber freute. So, daß ich die ›Walküre‹ in Wien 25 mal gehört.48 Nach längerem Plaudern sagte Wagner: »Rubinstein, spielen Sie doch einmal die berühmte Orgie von Meyerbeer, ich habe solche Sehnsucht danach; Sie wissen, die Orgie oder das Bacchanal oder das Nonplusultra von Fröhlichkeit im ersten Akt der Hugenotten!« Große Heiterkeit Schließlich setzte sich Rubinstein, von den Damen sehr gebeten, an den Flügel und spielte, »Siegfrieds Rheinfahrt« aus der, »Götterdämmerung«. Wagner ging ab und zu, am Schlusse meinte er: »aber Sie trainieren zu viel, Sie vergessen nie, daß sie am Klavier sitzen, lassen Sie sich nicht vom Klavier zu langsamen Tempi verleiten«. – Dann kam die Vergessenheitstrankszene, und als »Hagens Wacht« begann, schob der Meister die Daniela vom Flügel weg (wo sie bisher in die Noten geblickt) und fing nun an die herrliche Stelle eigentlich mehr zu deklamieren, als zu singen, und da wurde mit einem Schlage aus dem heiter gütigen Familienvater der – Richard Wagner. Obgleich er fast gar keine Stimme gab, brachte er doch die Worte zu einer solchen gewaltigen Wirkung, durch die schärfste Charakteristik und eine Leidenschaft, die mir durch Mark und Bein ging. Wie er geendet, schwiegen wir alle, – er ging vom Klavier weg: »Nun, eigentlich habe ich das für den Dr. Thode getan, damit er einmal Richard Wagner hat singen hören. Ein prachtvoller Baß, nicht wahr?« Dann spielte Rubinstein den Schluß der »Götterdämmerung«; Wagner kam ab und zu, und sagte: »es sind doch einige hübsche Stellen darin, aber da will meine Frau und alle Leute immer nur Tristan, Tristan« (er intonierte am Flügel Isoldes Verklärung), [707] »immer nur Tristan!« Es ging dies, wie Frau Wagner mir lachend erzählte, auf Mottl, der »Tristan« über alles setzt und immer wieder daraus spielt. Als Brünnhildes Abschiedsgesang begann, hielt es ihn wieder nicht länger, und trotz des Abmahnens seiner Iran, die für ihn die Anstrengung fürchtete, sang er dieselbe fort bis zu Ende. Das wird mir unvergeßlich bleiben. Das innerste Leben trat sichtbar zutage; solches vermochte nur Der, der das Werk selbst geschrieben. Ich werde ihn so in Erinnerung behalten, den Ewig-Jungen, ganz Leidenschaft, ganz Dichter und ganz Musiker, wie er dort am Klavier stand, alles vergessend, und auch als Mensch eins mit seiner gewaltigen Kunst. Wir blieben atemlos, als er geendigt, so daß er plötzlich wieder in den gewöhnlichen Ton verfallend sagte: »und da ruft einen keiner heraus«. Es kam dann zu keiner langen Unterhaltung mehr, der Conte Gravina erzählte mir eine lange Geschichte von Ausgrabungen auf dem Landgute eines Freundes, der ich nur halb zuhörte. Dann setzte sich Wagner ans Klavier und begann den Nachtwächter-Ruf aus den »Meistersingern« anzuschlagen, welche heiter zarte Anspielung von uns allen unter Lachen als verstanden zugegeben wurde, und wir verabschiedeten uns Beim Abschiede frug er mich: »Was hat Ihnen nun besser gefallen, mein Baß oder mein Sopran? Kommen Sie, sooft Sie Lust haben, abends zu uns!« – Wohl der eindrucksvollste Tag meines Lebens!‹

Mit Gravinas, die immer abreisen wollten und immer wieder zurückgehalten wurden, hätte der Meister gern noch gemeinschaftliche Ausflüge, z.B. nach dem 21/2 Stunden (Gondelfahrt) entfernten Torcello, unternommen, aber draußen blieb es, wenn nicht direkt regnerisch, doch so unfreundlich, daß hierfür ein besonderer Tag erst abgewartet werden mußte. Er begnügte sich daher mit vor- und nachmittäglichen Fahrten durch die Kanäle, auf denen ihn Siegfried ruderte, und einem Spaziergang auf den Markusplatz; abends kam es bloß zu einem häuslichen Whist. In der Zeitung fand sich die Notiz, daß eine Banditengesellschaft sich zur Plünderung der Überschwemmten in Padua organisiert habe. Den trostlosen Nachrichten aus der Umgegend gegenüber sagte er: ›Man kommt sich gerecht bestraft vor, in dieser Welt etwas Besseres gesucht zu haben, als was einem bestimmt ist.‹ Der 14. Oktober, den wir schon zuvor als Steins letzten Tag in Venedig bezeichneten (S. 697), begann leider für den Meister wieder mit einem seiner Krämpfe, von dem, wenn er vorüber war, kein, Fremder etwas wissen oder ihm etwas davon anmerken konnte. So war es auch am Abend des 14. Oktober der Fall, als sich der junge Dr. Thode, dessen Verweilen in Venedig nicht mehr lange dauerte, seiner Einladung folgend, noch einmal bei ihm einstellte. ›Ich traf‹, so erzählt er selbst, ›anfangs bloß Frau Wagner und Baron Stein an‹ (dessen letzter Abend in diesem Kreise es war, da ihm für morgen die Abreise bevorstand, um an seinen nunmehrigen [708] Berufsort Halle zurückzukehren) ›und wurde sehr freundlich aufgenommen. Die jungen Leute waren alle im Theater. Dann kam der Meister, und wir verplauderten zwei Stunden in der denkbar gemütlichsten Weise. Wir sprachen von Italien, seinem Wetter, den »spontinischen Sümpfen«, wie Wagner sie nannte, die das Land so gefährlich machten, von Siziliens Zauberlust, von der internen Politik der Römer‹ (der Meister kam dabei auf ihre fürchterliche Behandlung Siziliens zu sprechen, in dessen Innern kein Baum habe wachsen dürfen!); ›dann kamen wir auf die deutschen Verhältnisse und hielten uns lange bei dem Scheingebilde des deutschen Parlamentarismus auf, über welchen Wagner sich mit einer gewissen ingrimmigen Freude an Bismarcks Autokratentum aussprach, das ja gerade ihm so kongenial und verständlich sein muß und auch ist, auf Südamerika und die Chilenen (S. 445), kurz auf alles Mögliche, nur nicht auf Musik. Ich fühlte mich heute noch heimischer und behaglicher, als neulich, und nahm ungern Abschied, wobei ich Gelegenheit fand, Frau Wagner sowohl wie dem Meister meinen Dank für die Aufnahme und mein Glück, daß es mir endlich gelungen, sie wirklich kennen zu lernen, zum Ausdruck zu bringen. Wagner war dabei fast wie verlegen und murmelte etwas wie: er wäre so wenig umgänglich, namentlich jetzt immer so gereizt; ich sollte sie aufsuchen, wann immer ich wollte wenn nicht mehr in Venedig, so in Bayreuth im nächsten Sommer.‹ Dies war der eine Abschied, dem der andere noch in später Abendstunde auf dem Fuße folgte; denn er sah den armen Freund Stein, der sich nur mit blutendem Herzen losriß, nach diesem Lebewohl am folgenden Tage nicht wieder und überhaupt nicht mehr! Es war ein trüber Morgen, das Regenwetter ärger als es je gewesen; er fühlte sich den Tag über sehr gedrückt und gab sich Gedanken über eine vollständige Übersiedelung in wärmere Klimate hin, um die Maturität seines Sohnes noch zu erleben. Und doch schien ihn seine große Lebensaufgabe in Bayreuth an die Stätte seiner Taten zu fesseln, wo er noch alle seine Werke der Reihe nach aufzuführen wünschte und dann Siegfried so weit haben, daß er die Sache leiten könne: ›also noch zehn Jahre leben; denn mit 23 Jahren zeigt einer schon, was er ist‹.

Während eines Abends alle Kinder wiederum im gastlichen Palazzo Malipiero weilten, beschäftigte den Meister und seine Gemahlin eifrigst der Stundenplan Siegfrieds. Unter Leitung Steins hatte er seine musikalischen Studien am wenigsten pflegen können, ganz im Sinne des Meisters, der in der musikalischen Ausbildung alles haßte, was nach Pianistenfertigkeit und Virtuosentum aussah. In diesem Sinne ließ er sich durch den neuen Lehrer einiges über den Musikunterricht des Knaben mitteilen und wohnte einige Tage darauf dem Musikunterricht Siegfrieds bei. Er erging sich dann bei Tische selbst über das völlig Unnütze der sog Konservatorien. ›Was einer [709] nicht von selbst sich zu lehren weiß, das lernt er gewiß nicht, und zumal dort!‹ Er erzählte darauf von den Schwimmstunden ›Fidis‹ in der Bayreuther Schwimmschule und wie er es dort vergebens versucht; in Neapel sei es gleich gegangen, weil der Lehrer im Wasser stand. ›Aber von draußen lehren mit dem Strick, das ist wie das Erlernen der Sprachen mit der Grammaire, und der Musik mit den Methoden.‹ Auf dem Klavier fand er eines Abends ein, durch den Lehrer daselbst liegen gelassenes Heft Mendelssohnscher ›Lieder ohne Worte‹, darin blätternd, zeigte er seiner Gemahlin darin das ›Venezianische Gondellied‹, wobei Mendelssohn, unter Auslassung der Hauptsache, den Refrain des Rossinischen Gondelliedes im ›Otello‹ benutzt und es für eine Volksweise ausgegeben habe. Ein anderes Mal ärgerte er sich, indem er Herrn Hausburg seinem Schüler eine Melodie aus ›Lucia‹ vorspielen hörte. Er schrieb sogleich an seinen Verleger Fritzsch, um von ihm eine andere Sammlung Melodien für den Unterricht zu verlangen, als die Köhlersche, deren Zusammenstellung, Aufeinanderfolge und Verbindungsglieder ihm durchaus mißfielen. Aber auch die neueintreffende Melodiensammlung befriedigte äußerst wenig, ja war zum Teil abschreckend. Siegfrieds erste Klavierproduktion war das Thema des Allegretto aus der A dur-Symphonie. Schon lange vorher aber hatte ihn der Vater dabei belauscht, wie er, sich selbst am Klavier begleitend, allerhand Themen mit improvisierten Variationen pfiff. Er mußte es nach dem Abendbrot zum großen Ergötzen des Meisters wiederholen, und auch Liszt fand nachmals an den Improvisationen des jungen Musikers Gefallen. ›Geradeso‹, sagte Wagner, ›bin ich in der Jugend mit der Musik umgegangen.‹ Im Hinblick auf ihn und seine Studien fragte er sich einmal, ob er selbst je fleißig gewesen? Er glaube es, zuzeiten; aber er meinte von dem Gelernten nie eigentlich etwas angewandt zu haben. Nicht allein den abendlichen Vorlesungen des Vaters wohnte der Knabe häufig bei, sondern er griff auch wiederholt selbst nach Shakespeare, von dem er so viel vernahm und so vieles z.B. aus ›Macbeth‹ aktweise gehört hatte. Eines Tages wurde entdeckt, daß er für sich den ›Coriolan‹ lese. Lachend erzählte Wagner, Siegfried habe ihn gefragt: ›Papa, was heißt Kolik?‹ ›Leibschneiden‹, war die Antwort, ›wo kommt es vor?‹ ›Im »Coriolan«.‹ Daß er mit Cajus Marcius sympathisiere, fiel dem Meister auf; in seiner Jugend sei er von ihm und seinem Dünkel abgestoßen worden; erst später habe er das Rassehafte an ihm zu würdigen gelernt. Das läge wohl an der verschiedenen Erziehung und Umgebung. Der Hang zum Theater, den zukünftigen schaffenden Künstler charakterisierend, fiel schon damals bei ihm auf. Einmal ging Wagner ihm zuliebe in das Theater Malibran in ein Schauerstück (›Giani Lupo‹), das schließlich sehr langweilte, wiewohl er anfangs gern das Theater betrat und sich davon Vergnügen erwartete. Aber der Knabe besuchte die verschiedenen venezianischen Theater nun in Begleitung [710] seines Lehrers oder seiner Geschwister und hatte anderen Tages bei Tisch das Stück, das er gestern gesehen, wiederzuerzählen, ob es nun ein Goldonisches Lustspiel gewesen war oder ein Schauspiel ›Hannibal‹ oder dgl. Und von da aus war nur ein weiterer Schritt zu eigenen dramatischen Produktionen. Bereits Steins dramatische Szenen, wie nicht minder der ›Coriolan‹, hatten ihn auf die Römerwelt verwiesen; sein erstes groß angelegtes handlungsreiches Trauerspiel war dementsprechend ein ›Catilina‹, in welchem es in Worten und Taten hoch herging und der den Meister in bezug auf jugendliche Überschwänglichkeit an seine eigenen frühesten dramatischen Arbeiten erinnerte. Es dauerte nicht lange, so folgte dem ›Catilina‹ in gleich lebendiger Anlage, ein ›Hermann der Befreier‹, in welchem römische und germanische Welt sich berührten, und der in hohem Maße des Meisters gute Laune erregte. Als Siegfried Wagner 16 Jahre später nach einer unabsehbaren Reihe anderweitiger dramatischer Entwürfe – mit seinem ›Bärenhäuter‹ an die Öffentlichkeit trat, wußte er schon, was es heiße, Maß zu halten und deutschvolkstümlich zu sein, aber die Überraschung der Außenwelt war umso größer, weil sie von dem unausgesetzten Gestalten und Produzieren seines regsamen Geistes seit den frühesten Jugendjahren nie eine Kenntnis gewonnen.

Am schmerzlichsten und unbehaglichsten empfand es der Meister, seit seiner Ankunft in Venedig durch üble Witterung, geschäftliche Ärgernisse mit Verlegern und Bevollmächtigten und durch beides bedingte unerfreuliche Gesundheitsverhältnisse nicht zu gleichmäßiger, gewohnter Arbeit zu gelangen. So schwebte ihm, angeregt durch die Wahrnehmung dessen, wie wenig der Geist der Musik auf das Volk einwirke, auch wo die Gelegenheit zu einer solchen unmittelbaren Einwirkung außerhalb der Theater und Konzertlokale in der Öffentlichkeit sich bietet, ein Aufsatz über ›Italienische Kirchenmusik und deutsche Militärmusik‹ vor, den er einmal sogar schon Wolzogen als bevorstehend ankündigte,49 es durchaus falsch findend, daß man unsere Armeeorganisation als etwas positiv Gutes hinstelle. Dieses ewige Anknüpfen an die gegebenen Zustände, wie z.B. auch bei Konstantin Frantz, der es für gut hielte, daß ein Teil Deutschlands katholisch geblieben, höre sich zuerst gut an; aber man empfinde bald, es sei keine Tiefe darin: nie sei dem Menschen, der so etwas ausspräche, ein Seufzer des Schreckens über die Welt angekommen. Die einzige Freude erweckte ihm stets noch die Erinnerung an die Aufführungen dieses Sommers, sonst von außen nichts. Eine von einem Mitarbeiter der ›Blätter‹ abgefaßte ›Chronik der Festspieltage‹ erwies sich als untauglich; an ihrer Stelle plante er nun selbst etwas zu schreiben, womit er sich (unter der Aufschrift: ›An Euch‹) an seine Künstler zu wenden gedachte; auch hierzu wollte es aber vor lauter grauem Wetter [711] und anderen Trübseligkeiten nicht kommen. Wiederholt klagte er darüber, wie schwer sein Morgen sei, wie lange und krampfhaft es währe, bis er zur Ruhe gelange. Und doch kam auch hierfür der Tag, von dem er mit jenem hundertfach von ihm variierten Faustspruch humoristisch zu sich sagte: ›die Träne quillt, der Bleistift hat mich wieder!‹ So entstand, zwar durch Unwohlsein unterbrochen, der Rückblick auf die Festspiele für das Schlußheft des laufenden Jahrganges der ›Bayreuther Blätter‹, während er sich anderes, wie das längst von ihm beabsichtigte einführende Vorwort in Steins Dialoge, über ›Männliches und Weibliches‹, über ›Kirchen- und Militärmusik‹ für den kommenden Jahrgang vorbehielt. ›Ach Freund!‹ schrieb er darüber an Wolzogen, ›es kann etwas aus den »Bayreuther Blättern« werden. Die Wege einer großen Mannigfaltigkeit sind jetzt gewiesen, nicht minder das Ziel. Ich nehme nicht anders an, als daß Sie froh und glücklich seien, mit diesen Vereinsnörgeleien jetzt nichts mehr zu tun zu haben? Gebrauchen Sie nun diese Freiheit, – weit, groß und immer Ziel – bewußt! Ein unabhängiges Blatt wie dieses hat dann noch nie existiert: es kann von unermeßlicher Wichtigkeit werden!‹

Die geplante Ausfahrt mit Gravinas und der ganzen Familie nach Torcello, der berühmtesten Insel der nördlichen Lagune, auf welcher der Überlieferung nach die fliehenden Veneter zuerst sich ansiedelten, war an einem der wenigen schönen, wirklich strahlenden Tage tatsächlich zustandegekommen, aber für den Aufwand an Zeit und Ermüdung nicht sehr belohnt, wenn auch vieles anregend wirkte; am Ziele selbst, beim Verweilen in Torcello, hatte er vielmehr wieder einen seiner Krämpfe zu bestehen gehabt. Der Umgang mit dem jungen Paare, das nun ernstlich an seine Abreise dachte, blieb ihm gleichmäßig lieb, und wenn er seine Spaziergänge nicht immer gemeinschaftlich mit ihnen machen konnte, so wurden doch Rendezvous, meist auf dem Markusplatz – wie auch mit den Kindern verabredet, und er pflegte sie dann schon aus der Ferne durch einen Pfiff aus der 8. Symphonie zu errufen. Dem jungen Grafen, der im ausschließlichen Bannkreise italienischer Einflüsse aufgewachsen, vom Wesen deutscher Musik nur einen geringen Begriff hatte, suchte er einen solchen zu erwecken. Er spielte ihm am Klavier einige Themen aus Beethovenschen Symphonien (A Dur, C moll-Andante), um ihm zu zeigen, was ›unsere Melodie‹ sei, die zu uns spräche ›wie der größte bestimmteste Gedanke eines Dichters‹. Einzig war es ihm peinlich, daß bei den Mittagsmahlzeiten die Unterhaltung beständig in verschiedenerlei Sprachen deutsch, französisch, italienisch – sich bewegte, doch war er ängstlich darauf bedacht, daß das werte junge Paar nichts davon merke.50 Auch der Verkehr mit den Freunden Schleinitz und der [712] liebenswürdigen Fürstin Hatzfeldt in den beiderseitigen Häusern, oder bei häufigen Begegnungen auf dem Markusplatz bei Lavena bot eine anmutige Diversion. Nicht unangenehm im Verkehr war ihm auch die zum Kreise der Fürstin Hatzfeldt gehörige Frau Ada Pinelli, deren Erscheinung und geistvolle Unterhaltung ihm zusagte. Da sie auch mit der Fürstin Wittgenstein befreundet war und längere Zeit in Rom mit ihr verkehrt hatte, brachten ihm ihre Erinnerungen an sie diese grauenhafte Erscheinung des jüdischen Katholizismus auf eine völlig unheimliche Weise nahe. Für seine Person war er davon überzeugt, daß sie durch ihren Vater (mit dem weder echt polnischen, noch russischen Namen Iwanowski) jüdischer Herkunft und die Verheiratung des Fürsten Nikolaus Wittgenstein mit ihr eine Geldaffaire gewesen sei, welche diesem ihr Vermögen, ihr selbst aber den hochklingenden Fürstentitel eingebracht habe.51 Auch besuchte er einmal den russischen Maler Wolkoff, um in dessen Atelier seine zahlreichen Aquarelle aus Venedig zu besichtigen, und war dabei ganz heiter, wiewohl er noch am Morgen des gleichen Tages seinen Krampf gehabt hatte. Wir gedenken hier auch noch eines schönen Abends im Palazzo Malipiero, als eines der wenigen, die er außer Hause verbrachte. Er spielte dabei den verehrten Freunden das Cis moll-Präludium von Bach, und sang dann unter Begleitung der Gräfin Schleinitz in ergreifender Weise Markes Ansprache und Tristans Abschied. Bei ihrem letzten Zusammensein in Wahnfried hatte er ihr auf ihren Wunsch das ›Tristan‹-Vorspiel gespielt (S. 682); heute ließ er zum Abschluß des Abends wiederum Isoldes Liebestod und Verklärung folgen. Er sagte dann heiter von seinem Spiel. ›Ich spiele so, wie der berühmte Graf Sandór fuhr, der die Zügel seinen Pferden über den Hals warf und dann über Stock und Stein flog, mit dem Ruf: so fährt man in Ungarn!‹

Es war in diesen letzten Oktobertagen, daß wiederum ein Komet am Himmel stand, wie vor bald einem Vierteljahrhundert bei seinem ersten Aufenthalt in Venedig und der mannigfachen Konjekturen, von denen diese [713] Erscheinung damals begleitet war.52 Die Nachricht davon ließ ihn mehrmals in der Nacht, aber nicht um die rechte Zeit, vier Uhr morgens, mitten aus dem Schlaf heraus erwachen. Dafür träumte ihm lebhaft, er habe drei neue Planeten entdeckt. Besser war es den Kindern geglückt, die zur rechten Zeit aufgewacht waren. Dafür gelang ihm dies in einer der folgenden Nächte, und er weckte seine Gemahlin, um mit ihr gemeinsam ans Fenster zu treten: bei klarstem Himmel und vollem Mondschein, mildester Luft und tiefer regungsloser Stille der Umgebung zeigten sich da der Komet, der Wagen und der Orion, und Sternschnuppen schossen glänzend herab, so daß die Erinnerung daran noch anderen Tags sich wie ein herrlicher Traum ausnahm.

In der Frühe des 30. Oktobers verließen Gravinas Venedig, in der ersten Novemberwoche auch die Freunde Schleinitz, so daß der Palazzo Malipiero jetzt nur noch von der Fürstin Hatzfeldt bewohnt war. Aber schon kurz vorher hatte sich etwas zugetragen, was eine tiefe Erschütterung in ihm hervorrief: der ganz unerwartet plötzliche Tod Gobineaus. Wie sehr war ihm dieser persönlich und durch seine scharfe Erkenntnis nahegetreten! Bei tausend Anlässen war er ihm gegenwärtig. Schon kurz vor dem Thodeschen Besuch, der das Glück hatte, Brünnhildes Abschied von ihm vorgetragen zu hören, hatte er diesen gewaltigen Abschluß seines ›Ring‹-Gedichtes unter Rubinsteins Begleitung für die Seinigen zu Gehör gebracht und, indem er sich des Ganzen, Heidnisch-Germanischen freute (›es ist so frei und dabei doch zart!‹), Gobineaus gedacht und der germanischen Welt, die mit diesem Werk ende. In schlafloser Nacht hatte er dann wiederum den Aufsatz Gobineaus ›über die europäische Weltlage‹ mit seiner eigenen Einführung gelesen und bald darauf beim Eintreffen des neuesten Stückes der ›Blätter‹ sich eines Wolzogenschen Aufsatzes über ihn und die weltgeschichtliche Bedeutung des Rassegedankens gefreut. In den häuslichen Unterredungen war die Frage diskutiert worden, ob die Gobineausche oder Schopenhauersche Auffassung über die ursprüngliche Hautfarbe des Menschen (weiß oder schwarz) die rechte sei? Er hatte dazu die Meinung geäußert, beide ließen sich vereinigen: schwarz geboren, sei der Mensch – nach Norden gedrängt – zugleich weiß und durch Entstehung des neuen Typus ein ganz anderer geworden. ›Das ist Rassemusik! das ist für Gobineau!‹ rief er dann wieder einmal bei Anhörung des ›Siegfried‹. Und als einmal von ›Tell‹ und der Schweiz die Rede war: ›das ist germanisch, kann man mit Gobineau sagen, diese Genügsamkeit der Schweiz; alles übrige, alle Kaiser- und Königspracht, ist es nicht!‹ Und nun plötzlich die erschütternde Kunde von seinem Ende: ›Kaum ist man so Einem begegnet, so rinnt es einem wie Wasser aus der Hand!‹ Er ging gemeinsam mit seiner Frau alle die Merkmale dieses Lebens und [714] dieses Todes durch: die Unruhe, die Hast, die ihn von überall forttrieb, und schließlich der ganz einsame Tod, mitten auf der Reise in Turin! Bei Tisch strich er sich plötzlich die Nase, wie es der Freund zu tun pflegte, wenn er einen Witz in petto hatte. Der Tag nach Empfang der Nachricht verging in Versuchen, sich gegen den Schlag zu behaupten. Beim Nachmittagsspaziergang auf dem breiten Wege vom Vendramin nach S. Felice (S. 691) waren seine Nerven so angespannt, daß er das Aufschlagen der Holzschuhe der Frauen, das er sonst mit Castagnetten verglich, nicht ertragen konnte. So tief griff dieser Trauerfall in sein tägliches Dasein ein. Aus dieser Stimmung heraus entstand – als Nachruf für den Dahingeschiedenen – aus der Feder von Frau Wagner jenes klassische ›Erinnerungsbild aus Wahnfried‹, welches durch seine Konzentriertheit so lange fortleben wird, wie der Name Gobineaus, und welches der Verfasserin desselben die volle, uneingeschränkte Bewunderung des Meisters eintrug. So etwas, sagte er, dem sonst jede weibliche literarische Produktion verhaßt war, hätte nur eine Frau schreiben können, oder wenn ein Mann dazu imstande wäre, so sei es nur das ›Weibliche‹ in ihm, welches das hervorbrächte. Als in den nächsten Tagen von dem damals in Vorbereitung befindlichen oder eben errichteten Carlyle-Denkmal die Rede war, wurde er darüber befragt, wen er für bedeutender hielte: Carlyle oder Gobineau? Unbedenklich entschied er sich für den letzteren; bei Carlyle müsse man, selbst in seinem ›Friedrich dem Großen‹ so vieles als Kuriosität dahinnehmen. Wie eine Unterlassungsschuld empfand er es, ein Hauptwerk Gobineaus, seine ›Geschichte der Perser‹, nicht schon bei dessen Lebzeiten gelesen zu haben und unterließ es nicht, sich dieses Werk sogleich kommen zu lassen.

Ein Punkt, den wir im vorhergehenden schon wiederholt gestreift, aber nicht näher berührt haben, waren seine quälenden, mit so viel aufreizenden überflüssigen Ärgernissen verbundenen geschäftlichen Beziehungen zu seinen Bevollmächtigten Voltz und Batz. Wir erwähnten bereits, daß, wenn er zur Zeit seines Kontraktabschlusses Feustel schon gekannt hätte, er nie in ihre Hände gefallen wäre: leider war dieser Abschluß, durch welchen er ihnen seine sämtlichen älteren Werke zum sog. ›Vertrieb‹ auf den Theatern überließ, als einer seiner letzten dortigen Akte, noch in die Triebschener Zeit gefallen.53 Unter den seinerzeit an jene Herren überlassenen Werken befand [715] sich auch der ›Tristan‹ aber wohlweislich mit einem einschränkenden Zusatz, wonach er nicht wie die übrigen Werke zu behandeln, sondern das Aufführungsrecht an ein Theater im besonderen Falle von der eigens einzuholenden Zustimmung des Meisters abhängig zu machen sei. Mit diesem Zusatz meinte er sein Werk, wenigstens nach der künstlerischen Seite hin, genügend gesichert zu haben, indem er es sich damit vorbehielt, das Aufführungsrecht direkt zu erteilen. Nun stellte sich aber seit jener Leipziger Aufführung durch Angelo Neumann heraus, daß jene Herren es sich trotzdem angelegen sein ließen, in seine Verfügungen über dieses Werk nach der materiellen Seite hin eigenmächtig einzugreifen. Vergeblich waren alle Bemühungen, zu einem freundschaftlichen Abschluß dieser Differenzen zu gelangen; vergeblich eine Einladung nach Bayreuth, um in gemütlicher. Auseinandersetzung darüber ins reine zu kommen; vergeblich hatte er das Opfer gebracht, zu solchem Zweck vierzehn Tage länger in Bayreuth zurückzubleiben und seine Abreise nach Venedig aufzuschieben: der beständige Ärger über die starre Renitenz, die an einem längst unzulänglich gewordenen Kontraktpunkt festhielt, weil er den Herrn einseitig wohlgefiel, da er ihnen gegen den Willen des Autors die Taschen füllte, zog sich mit allem damit verknüpften Ärger durch den ganzen Winter hindurch, direkt gesundheitschädigend und lebenverkürzend. Als wenn er nicht schon genug anderweitige ernstliche Sorgen für sein großes Bayreuther Werk und alles damit Zusammenhängende gehabt hätte! Kamen nun noch, in lieblichster Verflechtung mit dieser ewig fließenden Quelle des Ärgers, die immer größere Dimensionen annehmenden Differenzen zwischen seinen Mainzer Verlegern und, Frau Lucca, während andererseits der Berliner Verleger Fürstner (als Nachfolger Mesers) die in seinem Besitz befindliche Partitur des ›Tannhäuser‹ gewaltsam zurückbehielt (›wenn ich jetzt den »Tannhäuser« überarbeiten will, habe ich keine Partitur!‹): so hatte er wohl Grund, mit Bitterkeit über das Leben, über all seine Verlegerverhältnisse und über den Geist des jetzigen Handels zu klagen, welcher nur noch darin bestünde: wohlfeil zu kaufen, was man für wertvoll hält, und es dann teuer zu verkaufen. In diesem Prinzip seien alle Geschäftsleute einig. Wer hat überhaupt an meine Fortune geglaubt? Ich war ja früher, wie eine Art Bettler, froh, wenn man mir etwas gab. Jetzt hängt sich alles an mich, um mich auszusaugen.54 Der widrige Gedanke [716] an diese seine Quälgeister verfolgte ihn zuzeiten Tag und Nacht; bei jedem Alleinsein schossen immer wieder Voltz und Batz hervor, und er verglich sie jenem Ungeziefer, das immer wieder aus den Betten hervorkröche. Seine Großherzigkeit im Verkehr auch mit ihnen sähen sie für die Torheit eines phantastischen Künstlers an und gedächten deshalb leicht mit ihm fertig zu werden. So hielten sie erst längere Zeit mit ihren Zahlungen hin, um gegen Ende Oktober an Feustel zwar eine Abrechnung zu schicken, aber ohne die Einnahmen vom ›Tristan‹. Einen kurzen Depeschenwechsel, der die ganze Erbärmlichkeit ihrer Gesinnung offen an den Tag legte, beschloß der Meister, ohne nochmaliges Eingehen auf Einzelheiten, bloß mit einem Telegramm ungefähr folgenden Wortlautes: ›Verlange mein schmählich mir vorenthaltenes Geld, Punktum.‹ Da seine in dieser Sache geschriebenen Briefe nicht immer in Feustels Händen verblieben, sondern weiterhin in die Hände von Advokaten gelangten, so erklärt es sich, daß einer oder der andere nach Jahren im Autographenhandel auftauchte. Einem derselben, (aus Venedig vom 27. November 1882 datiert) entnehmen wir die folgenden Sätze: ›Diese Angelegenheit steht so skandalös, daß ich mich entschlossen habe, bloß um nicht als Dummkopf behandelt zu werden, sie auf das energischeste in Ordnung bringen zu lassen. Alles, was zwischen mir und Voltz und Batz als wirklicher Vertrag aussieht, ist so wurmstichig, daß es vor keinem ernsten Richterspruch bestehen kann ... Ich trotze jedem Prozeßverfahren, selbst auf die Gefahr hin, nie mehr eine Note von diesem Werke (»Tristan«) in den Theatern spielen zu lassen. Mein Ehrgefühl leidet dies nicht anders ... Mit diesem Gesindel habe ich Lust meine Zähne zu wetzen.‹55 Einstweilen blieb er trotz allem Aufwand an Zeit und Erregung durchaus der leidende Teil; denn er kam aus der Korrespondenz mit den, Freunden Feustel und Groß über diesen Punkt nicht heraus, und wiederholt war er durch den Ärger darüber einem seiner Krampfanfälle ausgesetzt. Der Sieg wurde schließlich davongetragen, aber – er erlebte ihn nicht mehr!! – –

Und wären diese traurigen Verleger- und Verwaltungsangelegenheiten nur die einzigen gewesen, die nach dem ›Parsifal‹ an seiner Seele nagten und ihm Tage und Nächte verdarben! Eine nicht zu unterschätzende Prüfung war für ihn auch das Verhalten des Königs zu seinen Aufführungen gewesen. Er hatte es sich angelegen sein lassen, die Räumlichkeiten seines Festspielhauses für den Besuch seines erhabenen Wohltäters durch einen [717] zweckmäßigen Anbau würdig instand zu setzen; er hatte die Hoffnung auf sein schließliches Erscheinen bis zuletzt nie ganz aufgegeben, aber die Festspielzeit war vergangen und er hatte von nichts Weiterem vernommen als von der Absicht des Königs, sich das Bayreuther Weihefestspiel auf einem Boden und unter Umständen, die er durchaus nicht als hoffnungsvoll betrachten konnte, als Separatvorstellung vorführen zu lassen. Das verstimmte ihn in tiefster Seele. ›Es ist unmöglich‹, schrieb er an Herrn v. Bürkel, ›daß mein höchster Beschützer unter solchem Bewenden den Eindruck von meinem Werke erhält, den ich mit den Bayreuther Aufführungen Ihm bereitet zu haben glaubte. Sollte unser Allergnädigster Herr aber dennoch dadurch befriedigt werden, so dürfte mir leicht alles Interesse dafür ersterben, den »Parsifal« selbst für Bayreuth wieder aufzunehmen und weiterzuführen. Zu was diese Mühe, wenn alles so leicht ohne mich privatim abgehen kann? ... Ich sehe nicht, wie ich die Bühnenfestspiele ohne großes Wagnis fortsetzen können würde, wenn mir nicht noch durch zwei Jahre die großmütige Unterstützung meines erhabenen Schutzherrn durch kostenfreie Überlassung des königlichen Orchesters und Chores zuteil wird; mit welchem Mute aber soll ich dieser Opfer froh werden, wenn ich dem Allerhöchsten Spender dadurch keine Freude bereiten kann?‹56 Man kann es hiernach ermessen, wie so manches an diesem höchsten und reinsten Verhältnis ihm auch sonst am Herzen nagte, wenn er vernehmen mußte, welche Stücke sich der königliche Herr und Freund für seine luxuriösen Privataufführungen wählte oder eigens bestellte. Die Nachricht davon, daß er sich bei seinem neuerbauten Schlosse nach dem Muster Louis' XIV. auch einen Hirschpark einrichten lasse, entsetzte ihn förmlich: er erblickte ihn unwillkürlich im Geiste schon, den noblen Passionen seiner fürstlichen Standesgenossen gemäß, als Tiermörder zu seinem Vergnügen, und sah den Tag kommen, an dem er ihn bitten würde, ihm inskünftige keine Wohltaten mehr zu erweisen!

Kein Wunder, daß unter solchen Einwirkungen von außen, denen sich dann noch die Erschütterung durch den Tod Gobineaus zugesellte, so manches schon erreichte Günstige für sein Wohlbefinden wieder in Nichts dahinschwand. Der Brustkrampf, der ihn neuerdings wiederholt zwang, mitten im Spaziergang sich eine Rast aufzuerlegen, wurde besonders durch rascheres Gehen herausgefordert. So hatte er einmal, mit den Kindern zum Markusplatz fahrend, Klänge aus ›Lohengrin‹ von der Musikkapelle aus der Ferne vernommen, sich beeilt und wurde dabei von dem Übel gefaßt, das ihn zu Lavena trieb, wo er sich still in eine Ecke setzte, bis es vorbei war. ›Ich soll Das, was ich bin, fahren lassen‹, klagte er dann ›keine schnelle Bewegung machen, auch ein langweiliger alter Esel werden.‹ [718] Dann aber, nach überstandenem Anfall, winkte er gleich seinen alten Freund Tessarini herbei, um sich durch ihn mit dem Dirigenten der Militärkapelle in Beziehung zu setzen und beide, den Musikmeister und Tessarini, abends auf eine halbe Stunde zu sich einzuladen, um ihn wegen der mannigfachen unrichtigen Tempi zu belehren, die er in den ›Lohengrin‹-Fragmenten genommen, da es ihn kränkte, sie bei diesen Vorführungen so übel entstellt zu wissen. Und wirklich kam es dazu, und der Musikmeister empfing tiefbeglückt und dankbar die Weisungen des berühmten deutschen Maestro und erfreute ihn inskünftige durch einen richtigen Vortrag der gleichen Stücke. Tätig eingreifen, zum Besseren anleiten, das war nach jeder Richtung der Trieb, der ihn beseelte! So auch, wo er menschliches Leiden wahrnahm, überall drängte es ihn zu tätigem Beistand. So begab er sich einst am Vormittag mit seiner Gemahlin zu Faß nach der kleinen Kirche Madonna dell'Orto am nördlichen Ende der Stadt, und der kleine Spaziergang gefiel ihm sehr, trotz Regen und kleinem Verirren, das sie unerwartet an eine Ecke führte, wo sie das offene Meer sahen. Ein bleicher pensionierter Beamter, der sie auf den rechten Weg wies, war für das ihm überreichte kleine Geschenk sehr dankbar; der Bettler an der Kirchentür aber, der barfuß mit mühsamem Schritt den Kustoden herbeirief, bot ihm ein förmliches Problem, indem er, darüber befragt, weshalb er für diesen Gang seine Schuhe ausgezogen, zeigte, daß dieselben völlig durchgetreten seien. Wie ihm nun helfen? ›Ihm Geld für Schuhe geben‹, so erzählte er hinterher den Kindern, ›würde nichts genützt haben; ihn und den Schuster nach Vendramin bestellen, war, wie Mama gleich sah, ein Ding der Unmöglichkeit. Also gab man ihm denn doch etwas dazu.‹ Mißmutig bei schlechtem Wetter auf dem Markusplatz wandelnd, erfreute er sich an einem schönen, kaum dem Kindesalter entwachsenen Blumenmädchen in römischer Tracht; sie war anmutig und gesittet, so daß er gern von ihren Lebensschicksalen etwas erfahren hätte. Er dachte sich gleich, sie müßte bereits als Modell gedient haben, und diese Annahme wurde ihm bei Lavena bestätigt. Etwas später mit seiner Frau sich unter den Arkaden des Dogenpalastes ergehend, sah er sie wieder, umringt, vielleicht zudringlich belästigt. ›Sich zu denken, daß da ein schlechter Witz, eine rohe Bemerkung fallen könnte, ist herzbrechend‹, sagte er im Vorbeigehen.

Wir schalten hier eine auf richtiger Beobachtung beruhende Reflexion über das Verhältnis des Meisters zur venezianischen Bevölkerung ein, die zu dem Besten gehört, was die bereits von uns erwähnte, andererseits so manches Ungenaue und Unrichtige in sich schließende kleine Schrift ›Richard Wagner in Venedig‹57 enthält. ›Häufig geschah es, daß der Meister sich in [719] die abgelegenen Gäßchen der Stadt begab, sich dort unter das Volk mengte und den Bedürftigsten der zahllosen Armen je etwas und meist unaufgefordert einhändigte, was dann niemals weniger als ein Zwei-Lire-Schein war. Wieviel Freunde er sich durch diese Mildtätigkeit bei der armen, dankbaren Bevölkerung Venedigs erworben, wieviel Segenswünsche über sein und der Seinigen Haupt gesprochen wurden, darüber mag bloß das große Gedenkbuch Aufschluß geben, in dem Böses und Gutes verzeichnet stehen. Von der freundlichen Art, mit welcher er hier allen entgegenkam, die mit ihm in einem direkten Verkehr standen, werden die Leute noch heute nicht müde zu erzählen. Das sichtbare Behagen, welches ihm dieser Verkehr mit einer ursprünglichen, ihn zwar nicht erfassenden, aber auch nicht über ihn klügelnden Menge verursachte, hatte Richard Wagner hier, wo alles konzentrierter ist als in anderen Städten von ähnlicher Ausdehnung, und irgendwie hervorragende Persönlichkeiten bald von jedem Kinde gekannt sind, zu einer ganz außerordentlichen Popularität verholfen. Wagner ward hier geliebt und dies in ganz unmittelbarer Weise; das tat ihm wohl, machte ihn heiter und liebenswürdig auch außer dem Hause, sobald ihn seine physischen Leiden nicht gerade quälten Jedermann aus dem Volke wußte hier, was er von ihm zu halten habe und interessierte sich mit der, den Italiener auszeichnenden Art für das Genie, welches, wie ihm gesagt wurde, der alte freundliche Herr mit dem hellbraunen Überzieher und dem grauen Hute sei. »Egli é piu di un re, dicono, non é vero?« (»Man sagt, daß er mehr als ein König sei, nicht wahr?«). Ist es zu verwundern, wenn Wagner sich dieser ungekünstelten Verehrung gegenüber wohlfühlte, sich unter das Volk mischte und gern mit diesem verkehrte? Diese Popularität erstreckte sich auch auf den übrigen Teil der Familie. So waren seine Töchter hier sprichwörtlich bekannt ob ihrer Liebenswürdigkeit, Einfachheit und Höflichkeit gegen Untergebene, Siegfried aber vollends der Liebling aller, die ihn kannten und sahen. Die Töchter sprachen, dank Frl. Corsani, der anmutigen, schwarzäugigen Genueserin, die ihnen zur Gesellschaft beigegeben war, alle ganz vorzüglich das Italienische; wogegen der Meister keinerlei Gewandtheit in dieser Sprache besaß und häufig seinem Italienisch französische, noch öfter aber deutsche Worte beimengte.‹58

[720] Die schönen Tage waren selten, und kaum hatte man deren einige nacheinander genossen, so trat sicher in der Nacht ein Gewitter ein, es donnerte stark, und man erfuhr, es habe in der Giudecca eingeschlagen Eines Morgens meldete ihm der Diener Georg, man fahre mit Gondeln über den Markusplatz. Und dabei strömte derselbe warme Regen, der diese Überschwemmung herbeigeführt, fortdauernd weiter, und als tags darauf das Wasser abgeflossen, die ›Piazza‹ wieder betretbar wurde, war die Feuchtigkeit von gestern noch auf dem Pflaster zu spüren. Bei Tische entlockte ihm die Erzählung von der Rettung eines in den Kanal gefallenen Kindes durch eine Katze und einen Soldaten den Ausruf: ›Ja, die Not! die zeigt erst, was der Mensch sein und leisten kann! Und dabei kann er noch von den Tieren lernen!‹ Er erzählte dann seine Lieblingstiergeschichten und freute sich auch daran, daß die Bevölkerung dem wackeren Soldaten eine Art von Triumphzug bereitet hatte. Bei herrlichem Wetter begab er sich wieder einmal zu Fuß bis zum Bahnhof und der Eisenbahnbrücke (vergl. S. 691), traf daselbst die Gondel und fuhr in die Lagune hinaus, leider am Schlachthaus vorbei, wo man das Stöhnen der Tiere vernahm! Nachmittags ging es dann zum Markusplatz, der heute sehr belebt war. Sein Brustkrampf zwang ihn wieder unter dem Portal sich zu setzen. Der alte Freund Tessarin fand sich dazu und erzählte ihm Ergötzliches über Frau Lucca, die eben für Bologna den ›Lohengrin‹ vorbereitete: sie sei alle Monate in einen anderen jungen Opernkomponisten verliebt. Er besuchte mit seiner Gemahlin die Kirche Sta Maria Formosa (am gleichnamigen Campo zwischen S. Marco und S. Giovanni e Paolo), Kirche und Bild gefielen ihm, erstere durch ihre Traulichkeit, letzteres, die heilige Barbara von Palma Vecchio, durch seine Großartigkeit; auch empfand er mächtig die Schönheit der Farbe. Nur von einem Ausdruck des Grauens vor dem Martyrium im Auge der Heiligen wollte er nichts wissen; es könnte ebenso eine Königin von Palmyra als eine Märtyrerin sein.

Im Anschluß an seine Beschäftigung mit dem Buch über Buddha nahm er auch jene altindische Sammlung von Tierfabeln unter dem Titel ›Hitopadeça‹ vor, die er schon in alter Zeit durch seinen Schwager Hermann Brockhaus zuerst kennen gelernt. Ein Spruch über die Unveränderlichkeit des Charakters, am krummen Schwanz des Hundes nachgewiesen, erheiterte ihn sehr. Auch die Auffassung des Verstandes als ›sechsten Sinn‹ bei den Indern, in welcher die Idealität der Welt so schön sich darstellte, wurde in seinen Gesprächen wiederholt berührt und regte die Frage an, woran es läge, daß diese einmal gewonnene Erkenntnis uns wieder habe verschwinden können? ›Daran, daß wir Schafsköpfe sind und alles von den Juden herübergenommen haben!‹ Auch die Art, wie unsere Professoren über den lieben, oder ›unlustigen‹ (Ed. Hartmann) Gott sich ergingen, während die Kirche nach [721] wie vor unerschüttert ihre Macht erhielte, ließ ihn mit Heftigkeit betonen, wie sehr wir – gegen die Inder – in diesen Dingen Barbaren seien. Wie schlecht die heutige Welt sei, sagte er ein anderes Mal, das könne man schon daran erkennen, daß Menschen wie Nietzsche, die einst etwas versprochen hätten, so schnell in ihr verkämen Wolzogen hatte nämlich in einem Brief an Frau Wagner von dessen neuestem Buche ›die fröhliche Wissenschaft‹ gesprochen und er fragte sich, wo wohl Nietzsche jetzt sich aufhalten möchte. ›Das Schlimme ist‹, fügte er hinzu, ›daß diejenigen, welche diesen Torheiten entgegnen, einem auch wie Narren vorkommen.‹ Abends las er den Seinen noch einige Szenen aus ›Was ihr wollt‹: es waren die Malvolio-Szenen, an welche er die Bemerkung knüpfte: dieser geglückte Streich auf einen sonst rechtschaffenen Mann, mit Hilfe seiner Eitelkeit, zeige nur zu deutlich, wie nahe der Wahnsinn dem Menschen sei, bei Malvolio durch seine Eitelkeit, bei Othello durch seine Eifersucht. Übrigens gab er diesem Stücke den Vorzug vor ›Wie es euch gefällt‹, dessen Gestalten ihm zu locker aneinandergereiht waren. Die Bemerkung, dies sei vielleicht durch die Szenerie des Waldes gerechtfertigt, in welcher die Handlung vor sich gehe, erinnerte ihn aufs traurigste an die zuletzt von ihm gesehene Vorstellung dieses Stückes, mit Possart als Probstein (S. 404), und er ließ sich klagend über diesen alles verderbenden und verfälschenden jüdischen Einfluß auf unsere Kunst aus Wiederum ließ er dann einmal mehrere Szenen aus ›Romeo und Julia‹ (die Balkonszene, die Liebesszene und den Abschied, endlich die Meldung von Julias Tod) aufeinanderfolgen, zur tiefsten Ergriffenheit aller, er selbst in Tränen. Wer aber, so fragten sich wohl die Anwesenden im späteren Gedenken daran, hätte ihn je bei solchem Lesen schildern oder gar malen können? Sein Antlitz durchleuchtet, sein Auge entrückt und doch wie ein Stern strahlend, seine Hand magisch in der Ruhe, wie in der Bewegung, seine Stimme, wenn er Julia las, sanft mädchenhaft, nur Seele, aber in die Tiefe, wie auch durch die Weiten dringend. Ein anderes Mal versuchte er es mit den ›Venezianischen Epigrammen‹, aber ohne Glück, sie sagten ihm weder in Form noch Inhalt zu. Das war nicht der deutsche Dichter des ›Faust‹ und der ›zahmen Xenien‹! ›Dabei glaube ich gar nicht‹, rief er dazu aus, ›daß er so arg gelebt hat! Es ist nur eine Nachahmung von Catull, Tibull und Properz, und nur um so ekelhafter!‹ Bemerkenswert erschien es dabei, daß man ihm dieses Mißfallen beim Lesen nicht anmerkte, und es eher den Anschein hatte, daß sie ihm gefielen. Aus den ›Lehrjahren‹ las er alles auf Mignon Bezügliche mit immer steigender Bewunderung. Die Gestalt des alten Harfners in ihrer schließlichen Zurückführung auf eine romanhafte abenteuerliche Vorgeschichte mochte er nicht und behauptete, es habe nicht in der ursprünglichen Konzeption gelegen, daß er Mignons Vater sei; auch sei es immerhin merkwürdig, ihn zum deutschen Sänger (resp. Dichter) [722] gemacht zu sehen, da doch bei Mignon ausdrücklich der gebrochenen, mit Französisch und Italienisch durchflochtenen Sprache gedacht werde. Vorzugsweise rühmte er die Begegnung im Gasthof, die sei wundervoll, und das Zusammenleben mit Wilhelm nachher: dafür habe er das Bach geschrieben und dazu einige langweilige Zusätze gemacht.59 ›Dem Helden des Romans ist ein Genius beigegeben, den er nur oberflächlich versteht: ungefähr so, wie Goethe damals die Musik verstand, wird von Wilhelm Meister »Mignon« erkannt. Der Dichter läßt unsere Empfindung es deutlich innewerden, daß an ihr ein empörendes Verbrechen begangen wird; seinen Helden jedoch leitet er über die gleiche Empfindung hinweg, um ihn in einer, von aller Heftigkeit und tragischen Exzentrizität befreiten Sphäre, einer schönen Bildung zugeführt zu wissen. Er läßt ihn in einer Galerie sich Bilder besehen. Zu Mignons Tode wird Musik gemacht, und Robert Schumann hat diese später wirklich auch komponiert.‹60 Von den Exequien Mignons ging er dann zu dem Moment über, wo in den ›Wahlverwandtschaften‹ der Architekt am Sarge Ottiliens steht und dem Dichter dabei die Erinnerung an das lebende Bild ›Belisar‹ kommt, in welchem jener bereits einmal in gleicher Stellung gestanden: das sei diese Tendenz, auch das Tragische ›schön‹ erscheinen zu lassen, dieses Spielen mit der Sache, das er nicht ausstehen könne; den ganzen Architekten, mit dem Gewölbe und den Engeln, könne er nicht leiden. ›Und den Belisar hätte ihm Schiller gewiß nicht durchgelassen.‹61 – Nachdem erst Gobineaus ›Geschichte der Perser‹ eingetroffen war, vertiefte er sich eifrig und anhaltend in ihr Studium. Er mühte sich eifrig mit ihren minutiösen geographischen Auseinandersetzungen, fand das Kapitel über die Geschichtschreiber überaus geistvoll und erkannte in dem einen Satz ›il vaut mieux se méprendre que ne pas voir‹ den ganzen dahingeschiedenen Freund mit seiner Fähigkeit des Sehens, der beobachtenden Wahrnehmung. Auch in dem Kapitel über die Chronologie blieb er dabei, sich dieses Geistes zu freuen und sprach den Wunsch aus, daß das Werk weit verbreitet würde Wiederholt beklagte er es, wie eine Schuld, es nicht früher, nicht zu Gobineaus Lebzeiten gelesen und es ihm noch persönlich mitteilen gekonnt zu haben, wie sehr er es im ganzen und im einzelnen schätze.

[723] Wenn die geschäftlichen Ärgernisse eine Weile pausierten oder die Sache eine hoffnungsvollere Wendung zu nehmen schien, hob sich auch sein ganzes Befinden, und er konnte sich darüber täuschen, als wenn die Phantasie einen großen Anteil an all seinen Leiden habe. ›Ein jeder‹, so sagte er dann scherzend, ›hat die Krankheit, die er verdient, auch ich; ich habe die Krankheit meiner Ungezogenheit.‹ Zuweilen hatte er seinen Anfall sehr stark, erholte sich aber auffallend rasch; zuweilen gab es wilde Nächte mit viel Erregung, dann wieder sehr erträgliche, nach denen sich doch in der Frühe noch im Bett die quälende Erscheinung einstellte und sich bis zu viermal im Lauf des Tages wiederholte. Dann wieder gab es Tage ohne jeden Krampf, und wenn deren mehrere aufeinanderfolgten, pflegte er zu sagen, er habe heute ›sehr gut balanciert‹. Und wenn das Wetter nur eben nicht trübe und grau war, wenn die Sonne hell auf den Markusplatz und seine Umgebung brannte; wenn ein Sonnenuntergang mit purpur-goldig-violettem Glanze, wie er nur hier zu erleben war, ihre Heimfahrt zauberisch beleuchtete; wenn eine Mondscheinnacht ihn entzückte und er vom Fenster aus auf den zu ihren Fäßen liegenden in Strahlen gebadeten Garten zeigen konnte: so übte die herrliche Lagunenstadt ihre ganze heilende, zugleich angenehm erregende und wohltuend beruhigende Wirkung aus. Am 7. November war auch von seiten der Firma Ibach in Barmen für seinen Salon im Vendramin, worin der bisherige große Mietflügel zuviel Raum einnahm, ein kleiner Konzertflügel ›mit extra weich bearbeitetem Ton‹ eingetroffen, wie er ihn, nach einem gegen den Inhaber dieser Firma, Herrn Rudolf Ibach, getanen Ausspruch liebte. In der Tat erfreute ihn dieser sanfte Ton, und er schrieb unter dem gleichen Datum seinem ›geehrtesten Freunde und freundlichsten Wohltäter‹, daß er nur noch weiche Musik komponieren werde. ›Sie haben in der Auswahl Ihrer vorzüglichen Instrumente jedenfalls das für mich jetzt allergeeignetste getroffen: meine musikalische Stimmung ist jetzt durchaus mild und allem Schreienden abhold.‹ Abends phantasierte er darauf, und Loewes Ballade ›der Jüngling von Elbershöh‹ floß mit ein, die ihm durch ihren wohligen Schluß echt deutsch erschien. Wiederholt setzte er sich nun abends wieder an den Flügel, sei es nun für die A dur-Sonate Beethovens, deren ersten Satz er so recht für ein Beispiel dessen erklärte, was er unter ›unendlicher Melodie‹ verstehe; oder für die 1844 von ihm zu Webers Bestattung komponierte Trauermusik aus ›Euryanthe‹62 oder den Schluß der ›Egmont‹-Ou vertüre, die er nicht allein für ›heroisch‹, sondern ›echt niederländisch‹ erklärte. Er lächelte darüber, daß, nach einer brieflichen Äußerung Malwidas, sie – nach dem ›Parsifal‹[724] – selbst Beethoven nicht mehr recht würdige, was ihm gar nicht gefallen wollte.

Die Nachrichten über die bevorstehende Aufführung des ›Lohengrin‹ in Bologna gaben ihm sogar den Wunsch ein, den dringenden Einladungen dazu Folge zu leisten. Für diesmal war die Ausführung eines solchen Vorsatzes, wenn wir ihn so bezeichnen dürfen und nicht als eine bloße vorübergehende Anwandlung zu betrachten haben, schon durch den Umstand unmöglich gemacht, daß gerade um diese Zeit – Liszt seinen Besuch in Venedig ankündigte.

Fußnoten

1 Siehe: Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 242. 244/45.


2 Vgl. E. Heckel, ›Erinnerungen‹, S. 155.


3 Band III des vorliegenden Werkes, S. 440/41.


4 Man vergleiche hierzu die kleine Schrift von Dr. H. Schmidt und Ulrich Hartmann, ›R. Wagner in Bayreuth‹, S. 88 (›Richard Wagner als Freund und Gönner der Jugend‹).


5 ›Bayreuther Tagblatt‹, Nr. 246 vom Dienstag, den 5. September 1882.


6 Vgl. u.a. auch S. 316/17 dieses vorliegenden Bandes!


7 Vgl. den Briefband ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 353. Nur irrt Levi, wenn er diesen kurzen Briefwechsel in die Festspielzeit – ›Juli oder August 1882‹ – verlegt. Vielmehr sind wir in der glücklichen Lage, diese undatierten Zeiten mit Bestimmtheit auf den 12. September 1882 zu verlegen; zu definitivem Austrag kam die Angelegenheit erst einige Monate später bei mündlicher Unterredung in Venedig, worauf wir (S. 703) noch zurückkommen.


8 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 69.


9 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 356/57.


10 Das schönausgestattete Blatt in seiner schönen Umhüllung wird noch heute, als Erinnerung an die ersten ›Parsifal‹-Aufführungen, pietätvoll in Wahnfried aufbewahrt.


11 Wer sich über diesen Fortgang des näheren unterrichten will, findet das Material dazu in Neumanns eigenem Erinnerungsbuch, außerdem aber mit genauer Angabe sämtlicher Daten, Orte und Besetzungen in der älteren Schrift: ›Der Ring des Nibelungen. Erinnerung an die 100 Aufführungen des Richard Wagner-Theaters. Verfaßt von Josef Juhåsz, gen. Schäfer, Inspektor des Richard Wagner-Theaters‹ (Darmstadt, C. Hoffmann, 1883).


12 Siehe den an Herrn v. Bürkel gerichteten Begleitbrief seines Briefes an den König, vom 8. September datiert, in der Briefsammlung ›An Freunde und Zeitgenossen‹, S. 598/99.


13 Die Bewohner der niedrig belegenen Ortschaften flüchteten mit ihrer beweglichen Habe, Vieh, Möbeln, Geräten und Kleidungsstücken in die höherliegenden. ›Während man‹, so berichteten damals die öffentlichen Blätter, ›noch vor kurzem nur fröhliche Gesichter der Landbewohner sah, welche überall hoffnungsvoll einer reichen Weinernte entgegenblickten, begegnet man heute nur ernsten Gestalten, die mit ihrem Vieh und sonstiger beweglicher Habe ihr Heim verlassen. Statt des heiteren Gesanges, den man sonst allerwegs hörte, dröhnt der dumpfe Schall der Glocken, welcher ringsum die Bevölkerung von neuem mahnt, daß die Gefahr im Wachsen ist. Die traubenstrotzenden Weinstöcke sind zum Teil von den anhaltenden Regenströmen vernichtet, und was diese verschont haben, reißen die wilden Fluten mit sich fort. Die Hauptschuld an diesem furchtbaren Unglück schreibt man der immer noch sehr mangelhaften Regulierung der Etsch auf Tiroler Gebiet zu; hoffentlich wird man in Tirol endlich ernstlich daran denken, die gefährliche Etsch erfolgreich zu regulieren‹ (›Vossische Zeitung‹, September 1882).


14 ›Auf den Strecken nach Venedig und Bologna‹, meldeten wenige Tage später die Blätter, ›werden die Reisenden von Limena aus mit Wagen etwa eine Stunde weit bis zur nächsten Bahnstation befördert, von wo aus die Weiterbeförderung per Eisenbahn erfolgt. Vollständig intakt ist bis heute nur noch die Strecke von Abano bis Bologna‹ usw. (Ebenda).


15 Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 359/60, und S. 519 dieses vorliegenden Bandes.


16 ›Richard Wagner in Venedig‹ von Henry Perl (Augsburg, 1883), S. 24/25.


17 Im späteren Mittelalter den Herzogen von Ferrara gehörig, diente es u.a. auch Alfons II. v. Este und Tasso zum vorübergehenden Wohnsitz, wurde dann von der Republik Venedig angekauft und den türkischen Kaufleuten, welche damals die Stadt zahlreich besuchten, als Warenniederlage und Absteigequartier angewiesen, bei welcher Veranlassung starke bauliche Veränderungen gemacht wurden.


18 ›Liszts Briefe an die Fürstin‹ IV, S. 363.


19 Ebendaselbst, S. 364.


20 Man zählt in Venedig gegen 2000 solcher Calli; sie liegen meist nur einen halben Meter höher, als die Lagunenfläche bei Vollmondsflut, und wehren der Sonne so sehr, daß die von Osten nach Westen gelegenen nie von ihr beschienen werden, was wohl zur berühmten Morbidezza der Venezianerinnen wesentlich beiträgt (Gsellfels, ›Oberitalien‹, S. 234).


21 Man vgl. hierzu die überaus schöne symbolische Deutung dieser Bellini-Gruppen durch Joukowsky auf S. 301 dieses Bandes.


22 Doch erfreute ihn in Venedig u.a. auch die Kirche Madonna ai Miracoli, die er mit besonderem Wohlgefallen an ihrer Zierlichkeit gern ein ›Schmuckkästchen‹ nannte.


23 Auf einer Photographie nach Palma Vecchio hatte er kurz zuvor die Frauen schön, den Christus aber ›opernhaft‹ gefunden, mit seinen Locken und allzugroßer Schönheit.


24 Gesammelte Schriften X, S. 282 (›Religion und Kunst‹).


25 Vgl. die soeben zitierte Stelle.


26 Als ein Vorbote dieser Publikation war uns schon in den Augusttagen durch Kapellmeister Levi eine ziemlich mangelhafte italienische Übersetzung der Dichtung des Weihefestspieles (in Groß-Quart) gezeigt und als Andenken überreicht worden! Vgl. auch S. 672.


27 Briefe an H. v. Wolzogen, enthalten in dem Sammelbande ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 404/05.


28 Ebendaselbst, S. 406.


29 Brieflich an Friedrich Schön, Venedig, 9. Oktober 1882 (abgedruckt: ›Bayreuther Blätter‹, 1911, S. 5).


30 ›Briefwechsel zwischen Heinrich von Stein und Hans von Wolzogen‹ (Leipzig, Xenienverlag, 1910), S. 58.


31 ›Ardinghello, oder die glückseligen Inseln‹ II, S. 367 der Urausgabe (Lemgo, 1787): ›Platons doppelten Bürgerstand, wo die eine Klasse die Ehrenstellen haben, und die andre den Ackerbau treiben soll, vermieden wir weislich; behielten aber die Gemeinschaft der Güter gegen den Aristoteles. Der Haufen Übel, den wir dadurch verbannten, war allzugroß; und der scharfsinnige Prüfer aller zu seiner Zeit bekannten Republiken schien uns hierin die Vorurteile der Erziehung nicht genug abgelegt zu haben. Inzwischen fand noch immer Eigentum statt, nämlich öffentliche Belohnungen; und jedem blieb, was er mit sich brachte, bis ans Ende seiner Tage.‹


32 Vgl. Ges. Schriften X, S. 342 f.


33 Hermann Oldenberg, ›Buddha, sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde‹ (Berlin, W. Hertz, 1881).


34 Senart ›Essai sur la légende du Buddha‹ (Paris, 1875); in der Kühnheit ihres Skeptizismus nur noch durch die Ergebnisse des gelehrten französischen Bibliothekars Perès übertroffen, der die Frage: ›Hat Napoleon Bonaparte jemals gelebt?‹ in seinem bekannten Napoleonbuche Schritt für Schritt nach derselben Methode ironisierend in Abrede stellt, um sie durchweg symbolisch-allegorisch zu deuten.


35 Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 356.


36 Oldenberg, ›Buddha‹, S. 208 ff. 282.


37 Vgl. den entsprechenden Gedanken über die Heiligen der christlichen Kirche in ›Heldentum und Christentum‹ (Ges. Schriften X, S. 356).


38 Oldenberg, ›Buddha‹, S. 307: ›Im Walde auf einer Bergeshalde lebte ich, Löwen und Tiger zog ich durch die Kraft des Wohlwollens zu mir herbei. Von Löwen und Tigern, von Panthern, Bären und Büffeln, von Gazellen und Ebern umgeben, weilte ich im Walde. Kein Wesen erschrickt vor mir, und auch ich fürchte mich vor keinem Wesen. Die Kraft des Wohlwollens ist mein Halt; so weile ich auf der Bergeshalde.‹ Vgl. hierzu den ›Bruder Wolf‹ des heiligen Franziskus von Assisi.


39 Oldenberg, ›Buddha‹, S. 311.


40 ›Briefe an Frau Wesendonck‹, S. 7.


41 Richard Wagner, ›Gedichte‹ (Berlin, Grote, 1905), S. 152. Das Datum dieses kleinen Gedichtes ist das des 29. November 1882.


42 Man vgl. hierzu den aus der gleichen Empfindung seines großen Herzens entsprungenen Ausspruch zu Joukowsky über Kunstwerke und Menschenleben (›Da haben wir die Künstler, die Ästheten!‹ usw.), und wie gern er alle seine Kunstwerke aufopfern würde, was er je geschaffen, wenn er dadurch menschenwürdige Zustände herbeiführen könnte! (S. 309 dieses vorliegenden Bandes.)


43 Vgl. Gesammelte Schriften IX, S. 220, 230/32 (›Über Schauspieler und Sänger‹).


44 Die Briefsammlung ›Richard Wagner an seine Künstler‹ bekundet sub Nr. 318/22 (S. 357/62) deutlich, wieviel seinem Herzen daran gelegen war, sich auch in der Ferne mit ihnen zu beschäftigen. Wir finden da unter dem Datum des 28. September eines jener kleinen rührend zärtlichen Briefchen an Frau Materna, in welchem die Berührung der damals schwebenden Angelegenheit des ›Tristan‹ in Wien offenbar die Nebensache ist, die Hauptsache aber das Bedürfnis, sich ihr durch einige ›Fladusen‹ (wie er scherzhaft sich ausdrückte) in freundlich liebevoller Erinnerung zu erhalten. Vom 4. Oktober ist das ausführlichere Schreiben an Frl. Malten, vom 5. an Winkelmann, vom 6. an Scaria; ein Brief vom 7. an Gudehus, in welchem er ihm sein Nichtwiederkommen zur letzten Aufführung vorhält (S. 665 dieses Bandes), ist in jener Sammlung nicht mit enthalten; am 8. schrieb er an Frl. Luise Belce (nachmals Frau Reuß-Belce), gewissermaßen als Repräsentantin der Blumenmädchen, an die er sich doch nicht einzeln wenden konnte; auch ein Brief an Niemann (28. September?) fällt in diese Zeit, und seinen Rückblick auf die Festspiele dieses Sommers beabsichtigte er ursprünglich mit der Überschrift ›An Euch‹ zu versehen.


45 Liszts ›Briefe an die Fürstin‹ IV, S. 365.


46 Daniela hatte ihm einmal in ihrer liebevollen Weise gesagt, daß er alle Tage schöner und frischer aussehe. ›Das ist schon gut und schön‹, hatte er erwidert, ›aber wenn einmal der große Knacks kommt, dann werdet Ihr euch schon wundern.‹ So wurde uns nachträglich erzählt.


47 ›Von Siegfried sagte er: »Das ist ein penetranter Junge, wenn man ihn lange ansieht, sieht er einen auch so an!«‹


48 ›Dabei passierte es mir, daß ich Walküre sagte, und das brachte offenbar einen gewissen Schrecken hervor, da Frau Wagner mir dann später sagte: »Sie sagen besser Walküre, wenn mein Mann zugegen ist – Sie wissen, er hält sehr auf die richtige Aussprache: zur Wal kür' ich ihn mir.« Auf dem Heimweg gab mir Rubinstein zu verstehen, daß es sich mit Sieglinde, Wellgrunde usw. ebenso verhalte. Im übrigen ging die Sache gut vorüber, und ich sprach mit viel Betonung nur noch von der Walküre.‹


49 Brieflich, 15. November (›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 407).


50 Als dagegen späterhin bei Liszts Anwesenheit in Venedig Frau Wagner in der Unterhaltung mit ihrem Vater (im eifrigen Gespräch über Gobineau) ihm zuliebe ins Französische geriet, stand er ganz still auf und heftete an die Tür des Speisezimmers einen Zettel mit den Worten: ›ici on parle français‹, – womit alles ins rechte Geleise gelenkt war.


51 Für den ›Ring des Nibelungen‹ hatte sie einst geschwärmt; der ›Tristan‹ war ihr ein Buch mit sieben Siegeln geblieben, weil die Bedingungen für dessen Verständnis in ihrer Natur unvorhanden waren. Charakteristisch war es, daß sie, dem Katholizismus fanatisch ergeben, dennoch in Rom weder bei Papst Pius IX., noch bei irgend jemand in der höheren Geistlichkeit irgendwelcher Beliebtheit sich erfreute. Sie lebte nur in ihrem Hotel garni, ging gar nicht aus und hatte, weil sie immer rauchte, eine schreckliche Luft in ihrem Zimmer. Ihr Aussehen war – bei völliger Vernachlässigung ihres Äußeren – das einer alten Trödeljüdin. Unbegreiflich blieb es dem Meister, weshalb nun Leute wie Gobineau sie besuchten? Er konnte sich dieses nur durch ihre Beziehungen zu Gobineaus Freundin, der Gräfin Latour, erklären.


52 ›Briefe an Frau Wesendonck‹, S. 47.


53 Er war nicht immer mit ihnen unzufrieden gewesen, wie z.B. aus folgender auf sie bezüglichen Briefstelle an Neumann hervorgeht: ›Sie (die Herren Voltz und Batz) haben mir große Dienste geleistet, und mir Einnahmen verschafft, auf die ich selbst nie mehr gehofft hatte.‹ Charakteristisch lautet dann aber die Antwort Neumanns: ›Bei dieser Gelegenheit möchte ich einen Irrtum aufklären: Herr Batz hat sich ohne Zweifel um Ihre Interessen anderweitig Verdienste erworben, ich will dies nicht bestreiten, tatsächlich aber hat er es verschuldet, daß Sie nicht bereits seit 1. Juli 1876 für Ihre älteren Opern: »Rienzi«, »Holländer«, »Tannhäuser«, »Lohengrin« und »Meistersinger« Tantiemen beziehen.‹ Er führt dann des näheren aus, wie er aus eigener Initiative es als eine moralische Verpflichtung erkannt habe, Herrn Batz als Bevollmächtigtem des Meisters eine Tantieme von 3% anzubieten: ›Diese Offerte wurde aber, gelinde gesagt, in so brüsker Weise zurückgewiesen, daß mir nichts anderes übrigblieb, als jede Verbindung mit Herrn Batz abzubrechen‹ (Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 132. 135).


54 Dagegen las man eben damals in deutschen Zeitungen erlogene Nachrichten, wie die folgenden: ›Wagner hat der Verlagsfirma Schott in Mainz alle aus dem Verlag der Druckwerke und aus den Aufführungen entfließenden Erträge überlassen, und zwar gegen eine Jahresrente von 150000 Mark (!!). Diese Rente soll aber nicht nur dem Meister bis zu seinem Tode, sondern auch dessen Erben noch 30 Jahre nach seinem Ableben gezahlt werden‹ usw. usw.


55 Siehe: Leo Liepmannssohn, Katalog 174 (Musiker-Autographen), S. 119.


56 Richard Wagner, ›Briefe an Freunde und Zeitgenossen‹, S. 599/600.


57 Henry Perl, ›Richard Wagner in Venedig‹, (Augsburg, 1883). Ihre einzelnen Weitschweifigkeiten, Aufbauschungen, Ungenauigkeiten usw. hier an verschiedenen Stellen kritisch durchzugehen, würde ganz unzweckmäßig sein, da sie sich durch unsere Darstellung selbst widerlegen und auch das Schlimmste darin (z.B. die falsche Angabe über Wagners Wertschätzung seines ›Tannhäuser‹) nicht auf bösem Willen beruht, sondern auf völliger, ahnungsloser Unkenntnis. Vielmehr ist das kleine, nur allzusehr auf vorübergehende Wirkung berechnete Buch durchaus wohlgemeint und beruht auf fleißigen Informationen, nur nicht an den rechten Quellen, welche dem Verfasser desselben damals begreiflicherweise unzugänglich blieben.


58 A. a. O., S. 83/85.


59 Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 191: ›Goethe verfuhr in seinem, Wilhelm Meisterals Künstler, dem der Dichter sogar die Mitarbeit zur Auffindung eines befriedigenden Schlusses der Handlung versagte.‹


60 Ebendaselbst IX, S. 149.


61 ›Es scheint, daß Schiller von dem letzten Buche des, »Wilhelm Meister« empört war; doch wußte er wohl dem großen Freunde aus seiner seltsamen Verirrung nicht zu helfen; besonders da er anzunehmen hatte, Goethe, der eben doch Mignon gedichtet ... müßte in seinem tiefen Innern einer Zerstreuung verfallen sein, aus welcher es dem Freunde nicht gegeben war, ihn zu erwecken. Nur Goethe selbst konnte sich aus ihr erwecken; und – er erwachte: denn im höchsten Alter vollendete er seinen, »Faust«‹ (Gesammelte Schriften IX, S. 149).


62 Vgl. Band II des vorliegenden Werkes, S. 109.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 679-726.
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