IV.

Komposition des zweiten Aktes beendet.

[102] Geburtstagsfeier. – Marienbader Trinkkur mit Morgenspaziergängen. – Ausfahrten im neuen Wagen. – Bemühungen für Jäger und Seidl. – Lektüre: Renan und französische Geschichtschreiber. – Besuche: Liszt, Malwida v. Meysenbug, Standthartner. – ›Siegfried‹ und ›Götterdämmerung‹ in München und Leipzig. – Zweiter Akt des ›Parsifal‹ beendet.


Die Werkstätte des wahrhaft Guten in der Kunst liegt fern vom eigentlichen Publikum ab. Hier muß die Kunst des Schaffens ein Geheimnis bleiben, ein Geheimnis vielleicht für den Schöpfer selber.

Richard Wagner.


Seit den goldenen Tagen der Triebschener Einsamkeit hatte es keine so freudige Geburtstagsfeier gegeben, als die des 22. Mai 1878, seines fünfundsechzigsten Geburtstages. Noch ein Jahr zuvor hatte er diesen Tag in weitester Entfernung von seiner Häuslichkeit, in der Londoner Fremde, um ringt von einer enthusiastischen Verehrerschar, aber getrennt von den Seinigen, bei einem glänzenden Bankett begehen müssen.1 Welch ein Gegensatz, ihn nun im sichern heimatlichen Port im Kreise derer feiern zu dürfen, die seinem Herzen einzig nahestanden und ihm eine ganze Welt nicht etwa bloß ersetzten, sondern wirklich bedeuteten. Nach den eingehenden Angaben der edlen Meisterin hatte Wolzogen für diesen Tag ein eigenes Festspiel, ein ›Maienfestspiel‹ gedichtet, dessen einzige Darsteller die Kinder des Hauses waren. Die geheimen Vorbereitungen dazu waren schon seit Beginn des Jahres getroffen, die Bühnenvorrichtung sinnig erdacht, die Kostüme zum Teil aus den Vorräten des Festspielhauses ausgewählt und ergänzt, und durch beständig erneute Proben der ganze Vorgang seinen jugendlichen Darstellern in Fleisch und Blut übergegangen und zur andern Natur geworden, obgleich jedes einzelne der Kinder der Reihe nach fünf verschiedene Rollen auszuführen [102] hatte. Erda (Daniela) im Vordergrunde rechts schlafend, in der Mitte die drei Nornen mit dem Schicksalsseil. Was die Urmutter Erda in tiefem Schlummer träumend sinnt, wachend und webend künden es die drei Schicksalsschwestern (Eva, Blandine, Isolde). Die Mutter ist aus wechselndem Leben zur Urnacht entwichen, um träumend ›das Ewig-Eine zu schauen‹: ihre Kinder sehen dieses Ewig-Eine mit wachenden Augen in der Person des Siegers, Verjüngers und Vereiners vor sich und begrüßen ihn als den Versöhner der Gegensätze, wie sie sich in den nun folgenden einzelnen Bildern kundgeben. Ein mittlerer Vorhang, den Hintergrund der Bühne abschließend, deckt die Gestalten der drei Nornen zu, unter deren grauen Gewändern bereits die Kostüme für einen nun folgenden Abschnitt der Handlung vorbereitet sind, in welchem Erda im Vordergrund weiter schlummert, die vier Geschwister Eva, Siegfried, Blandine, Isolde aber nun nacheinander in einer ausdrucksvollen pantomimischen Szene mit den charakteristischen Abzeichen der vier Tageszeiten: Morgen, Mittag, Abend und Nacht, erscheinen. Der Morgen rosenstreuend, der Mittag in lichter Farbenpracht, der Abend im blauen Gewande, den Abendstern auf dem Haupte tragend, die Nacht im dunklen Sternenmantel. Unter den Klängen der Morgentraumdeutweise, der Mittagsklänge aus dem zweiten ›Siegfried‹-Akt, des Abendgeplauders von Sachs und Evchen und der Nachtmusik aus ›Tristan‹ begrüßen sie feierlich umwandelnd und mit Erhebung der Hand die Büste des Meisters, welche nun die Stelle einnimmt, an welcher zuvor die Nornen sichtbar waren, und legen ihre Gaben auf den Stufen vor der Büste nieder. Mit der Hirtenschalmei aus dem ›Tannhäuser‹ bricht die Musik plötzlich ab, Erda erwacht: der ›ewig junge Maienton‹ hat sie vom Schlummer wieder aufgerufen. In Urnachtfriedensruh' geborgen hat sie ein sel'ger Wahn umwebt; sie berichtet, was sie im Traume geschaut. Wie im frischen Wald der Morgen angebrochen und ein Knabe gekommen sei, einen Drachen zu schlagen. Und weiter habe sich der goldne Schein über die Mauer zum Burghof hineingeschlichen, wo er die Ritter des Königs wachrief, so daß sie in Früh'n der Tag versammelt. Dann sei er gewachsen und über das Land gewandert, bis er durch enge Gassen sich wand, ›da verscheucht' er die Nachtgespenster, zur Schusterstuben blickt' er ins Fenster: da saß ein Alter, der las in Ruh', Schuhmacher war er und Dichter dazu‹. Dann sei es Mittag geworden: der Wurm besiegt, und der Jüngling habe unter der Linde den Vöglein gelauscht; die Ritter des Königs sich auf weiter Aue zum Gottesgericht um ihn geschart, die Städter aus engenden Gassen in buntem Gewimmel zum Wettgesang der Zünfte auf der Wiese sich versammelt. ›Dann ward es Abend, die Nebel stiegen, den Helden sah ich erschlagen liegen; die Ritter des Königs geleiteten traut zur Kammer Bräutigam und Braut.‹ Doch unter dem duftenden Fliederstrauch habe sie noch einmal den Alten gesehen, im traulichen Abendgeplauder [103] mit einem lieblichen Mägdlein. So hätten Leben und Tod, Lust und Leid, Morgen- und Abendrot wunderbar miteinander gewechselt, bis das ganze Treiben in ewige Nacht versank, die Welt umher erloschen lag und das letzte Paar, das sich liebend gesellte, von seligem Schlummer umfangen war. ›Sie tauchten sich tief in den Frieden der Nacht; da hab' ich erlöst mich durch Liebe gedacht!‹ Wehe der Täuschung – nach kurzem Traum sei der Zauber gebrochen. Wohl ist der Mai gekommen, das Leben erweckt, aber es beginne von neuem das alte Spiel: der Streit sei da, der Friede gewichen, wer bringe ihn wieder zurück? In der nun folgenden lebhaft bewegten Szene erscheinen nacheinander die vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter (Siegfried, Eva, Blandine, Isolde). Erda erblickt in ihnen nur das alte Bild ewigen Wechsels und Gegensatzes; sie wird aber zu ihrem Staunen gewahr, daß Kampf und Gegensätze einer höheren Macht gewichen sind: Frühling und Sommer sind in holder Johannistagsträumerei miteinander vereinigt; die Töne des Pilgerchors aus dem ›Tannhäuser‹ verbinden Frühling und Herbst: ›dreieinig durch des Sanges Macht‹ können sie den Bruder Winter frisch verlachen. Aber auch dieser weiß durch die Macht desselben Sängers sich mit ihnen versöhnt: es ertönen zunächst Klänge aus dem Idyll, dann aus einer – nur der Familie bekannten – Hausmusik des Meisters zu den Worten: ›wißt ihr Kinder, was blüh't am Maitag? wißt ihr Kinder, was blüh't in der Weihnacht?‹ Diese liebliche Weihnachtsmusik hatte der Meister seiner Gemahlin zu ihrem Geburtstag am 25. Dezember gewidmet: es ist das traute Band, welches Maienkind und Weihnachtskind umschlingt und den feindlichen Gegensatz zwischen Mai und Winter aufhebt, so daß sich alle vier im geschwisterlichen Reigen froh vereinigen können. Vor dem Abgehen legen auch sie ihre Gaben vor der Büste nieder. Die Gegensätze der Tages- und Jahreszeiten sind geeint und versöhnt, und doch, meint Erda trüb, der alte Streit sei dadurch nicht aufgehoben. Der bloße ›Zeitenwechsel‹ sei Spiel und Wahn, und ›Geburtstagszauber‹ habe wohl zu ihrer Einigung mitgewirkt. Sie aber kenne nur allzuwohl den ewigen Kampf der Elemente miteinander, ob wohl der Sänger auch deren alte Feindschaft auszutilgen vermöchte? Und wirklich erscheinen nun nacheinander das Feuer unter Loges Tönen, das Wasser als Nixe, zu letzt der Wind, mit Wotans Mantel und Hut, den heftig entbrannten Streit zwischen Feuer und Wasser mit Sturmesgewalt anfachend und schürend. Aber die Sturmmusik bricht plötzlich mit dem Schwertmotiv ab: zu ihrem Erstaunen gewahrt Erda die Gestalt Siegfrieds mit erhobenem Schwert: ›euren Sieger ahn' ich dort‹. Und Wasser, Feuer und Wind müssen sich als durch ihn bezwungen bekennen: ›Der fängt sich das Wasser zum Kühlen ein, das Feuer muß Knecht ihm beim Schmieden sein; er fesselt im Balge den blasenden Sturm: er schafft sich die Waffe, er schlägt den Wurm! Ihm [104] dienen wir alle Drei in Treue, Siegfried, der sich des Siegs erfreue!‹ Mit Staunen erkennt Erda in ihm den Knaben, den sie im Traume gesehen: wer ihm wohl die Gabe geschenkt, Feuer, Wasser und Wind zu frieden, um sie in seinen Dienst zu zwingen? Und wieder muß sie vernehmen, es sei der Sänger gewesen, der Sänger, der von den Nixen und Nornen sang, dem die Götter, die Riesen, die Geister dienen und den er selber seinen Meister nenne. ›Drum kommt, ihr treuen Elemente‹, ruft der junge Held ihnen zu ›bringt unserm Meister eure Spende!‹ Und indem sie, ein jedes, vor der Büste ihre Gaben niederlegen, lassen sie Erda sinnend allein. Was könnte sie dem Zauberer spenden, den sie weit über die Erde und ihre Schätze sich erheben sehe? Sie ruft die Weltteile auf, ihr die schönsten ihrer Güter zu senden und sie auf den Gabenhort zu häufen. Unter den Klängen des Philadelphiamarsches erscheinen zunächst die Botinnen von Nordamerika, mit dem Sternenbanner, und von Südamerika, mit einer gestickten Decke, die sie vor der Büste ausbreiten; dann unter der Musik von Lohengrins Ankunft, der Schwanenritter als Bote von Australien Erda vermißt die Botin der ›alten Welt‹, die doch füglich die Allererste sein müßte; ihr erwidern die drei andern mit Humor: ›die alte Welt hat das Geschick: sie bleibt stets hundert Schritt zurück!‹ Da erscheint mit einer heftigen musikalischen Figur Kundry als ›Botin der alten Welt‹: sie läßt sich nicht Schande und Schmach zusprechen, weit durch die Lande sei sie geflogen, von Asien, wo ihre Wiege stand, mit dem Arabervolk über Afrikas Strand, bis auf den europäischen Grund: da sei ihr Grales Wunder kund geworden! Da habe sie von Einem vernommen, der ihr des Fluches Joch gelöst, des Grales Tempel neu aufgebaut und Gralsritter um sich zuhauf geschart: nun sei ›die ganze alte Welt von seines Grales Glut erhellt!‹ Und in heiligem Entzücken aufflammend vernimmt Erda das Wunder, daß sich aller Lande Geister durch ihn und für ihn, den einen Meister, vereinigen. Das bringt ihr Verjüngung und neues Leben, und indem sie hinter den Felsen tritt, an dem sie bisher ruhte, wirst sie ihr Erda-Gewand von sich, damit die ›verjüngte Erde‹ als Erste wieder ›des Meisters Kind‹ werde. Ihrem Beispiel folgen nun die anderen Kinder, indem sie Fahnen, Schilder und andere Attribute fallen lassen ›Jawohl, Geschwister‹, spricht nun die in Daniela zurückverwandelte ›Erda‹:


›des Meisters Ruhm

den laßt nur dem großen Menschentum:

die Weltteile werden's besorgen!

Wir feiern des Vaters Geburtstagsmorgen;

drum ohne uns mit fremden Federn zu zieren,

frisch, bringt ihm die Gaben als Kinder frei:

lieber Papa, wir gratulieren

zum neuen Jahre, zum jungen Mai!‹


[105] Nicht einen Augenblick verleugnete sich der Ernst des Spieles von seiten der jungen Darsteller und mit stummer Ergriffenheit lauschte der Gefeierte diesem Geburtstagsgruß. Manche Träne erhabener Rührung rann ihm dabei über die Wange, und er erklärte am Schluß, es sei ›das Schönste, was er erlebt: welch ein schöner Tod wäre das gewesen, wenn ich am Schluß dieser Feier eingeschlummert wäre!‹2 Nun aber behauptete das Leben sein Recht und die Liebe hatte dafür gesorgt, daß er im Laufe des Tages aus einer Überraschung in die andere fiel. So war das Erste, was er erblickte, als er in der Pause nach der Aufführung in den Garten trat, ein schöner neuer, leicht und fest gebauter Familienwagen, der bis zu diesem Augenblick in Wahnfried noch gefehlt hatte, und der von nun ab unter dem Namen der ›Tonne‹ ihn und die Seinigen, anstatt des bisherigen gemieteten Landauers, auf mannigfachen sommerlichen Ausfahrten, nach Fantaisie oder der Waldhütte, nach dem Sophienberg oder dem Tiergarten brachte. Er sah ihn, ließ sogleich seine Frau rufen, stieg mit ihr ein, und die Kinder nebst Seidl und Wolzogens ließen es sich nicht nehmen, den Wagen sogleich in muntere Bewegung zu setzen und ihn in jubelnder Rundfahrt durch alle Gänge des Gartens zu ziehen. Viele Zeichen rührender Liebe fanden sich unter den eingegangenen Briefen und Telegrammen; der Glückwunsch des Königs, durch einen eigenen Boten früh am Morgen über reicht, war der erste darunter. Einiges Erstaunen erregte eine Glückwunsch-Depesche des Herrn von Hülsen in Berlin! Abends gab es einige Freunde, darunter Feustel und Groß, die schon am Vormittag den Versuch einer Gratulation gemacht hatten, aber gerade mitten in die kleine Aufführung hineingekommen waren und deshalb nicht vorgelassen werden konnten. Die Vorführung der zweiten Hälfte des ersten Aktes des ›Parsifal‹, vom Einzug in die Gralshalle an, gab dem seligen Tage die höchste Weihe.

Wie gewöhnlich, ließ der Meister die zahlreich bei ihm eingelaufenen Grüße nicht unerwidert; dem Könige antwortete er gleich am Festtage selbst; einen vom 24. Mai datierten Dankesbrief an Prof. Overbeck in Basel haben erst kürzlich die ›Bayreuther Blätter‹ veröffentlicht.3 Wir entnehmen demselben die wenigen auf Nietzsche bezüglichen Zeilen: ›Aus Ihren kurzen Andeutungen entnehme ich, daß unser alter Freund sich auch von Ihnen zurückgezogen erhält. Gewiß sind sehr auffällige Veränderungen mit ihm vorgegangen: wer ihn jedoch schon vor Jahren in seinen psychischen Krämpfen [106] beobachtete, durfte sich fast nur sagen, daß eine längst befürchtete Katastrophe nicht ganz unerwartet bei ihm eingetreten ist. Ich habe für ihn die Freundschaft bewahrt, sein Buch – nachdem ich es beim Aufschneiden durchblättert – nicht zu lesen, und möchte weiter nichts wünschen und hoffen, als daß er mir dies dereinst noch danke.‹4

Gegen Ende Mai kehrte er, nachdem er eben noch Parsifals schmerzlichen Ausbruch bei der Kunde vom Tode seiner Mutter in Tinte ausgearbeitet und die darauf folgende Tröstung Kundrys seiner Gattin am Klavier vorgespielt, wieder zu seinen Bleistiftskizzen zurück. Hierbei kam es denn wieder vor, daß er sich mit einem täglichen Arbeitspensum von 7 bis 8 Takten begnügte: ›Was ich mir da eingebrockt habe!‹ rief er öfters aus. ›Es geht über »Tristan« hinaus, obgleich ich doch da im dritten Akt schon Genügendes vom Leiden der Liebe gegeben habe!‹ Eines Abends sang er aus ›Tristan‹ und machte dabei die Bemerkung, das Werk habe eine ganz eigentümliche Farbe; es sei darin alles wie Violett, wie ein tiefes Lila. Der Entscheidungspunkt der großen Szene, der Aufschrei Parsifals, nachdem ihm mit Kundrys Kuß die plötzliche. Erleuchtung gekommen, der große entscheidende Riß, der die Szene in zwei Teile zerschneidet und dem gesamten Drama die Wendung aus Not und Schuld zur Erlösung gibt, erhielt ihn in großer innerer Erregung, so daß er bei gleichzeitiger Fortdauer seines Unterleibsleidens eine Nacht fast schlaflos verbrachte und im Hause umherging. ›Es geht los!‹ rief er eines Nachmittags, als er bis zum Aufschrei: ›Amfortas!‹ gelangt war und seine Frau rufen ließ, um ihr die ganze Entwickelung bis zu diesem entscheidenden Moment vorzuspielen. ›Ein Augenblick dämonischen Versenkens‹, – so bezeichnete er die Takte, welche den Kuß Kundrys begleiten und in welchem Parsifal blitzschnell, im Licht eines inneren Wunders, eines hellsichtigen Schauens die Leidensgestalt des Amfortas sichtbar vor sich gewahrt. Mit jäher Stärke reißt sich die Schmerzensfigur aus dem Liebesmahlspruch (das Speermotiv) aus den chromatischen Windungen von Kundrys Zaubermotiv los: in stark abgekürzter Form führt sie in reißender Beschleunigung zu den Wehelauten des Amfortas, wie sie uns im ersten Akte bei Gurnemanz' Erzählung von der Verführung und Verwundung des Gralskönigs entgegentraten: ›in der Erinnerung Parsifals überstürzt sich natürlich alles‹. Da sein Arbeitseifer grenzenlos war, weil er dabei das ungeheuere Werk eigentlich zum erstenmal im Innersten erlebte, fiel es ihm äußerst schwer, eine Unterbrechung eintreten zu lassen, doch war dies schließlich seines Gesundheitszustandes wegen unvermeidlich. Er mußte sich unterbrechen, um ernstlich an eine Kur zu denken. Seit Anfang Juni war dies beschlossene Sache; doch fand er keine Stelle geeignet, um einen vorläufigen Abschluß zu machen; als [107] er daher mit der Überarbeitung der ursprünglichen Skizze bis: ›die Liebe lerne kennen‹ gekommen war und gerade wieder eine ›Transposition‹ ihm Not machte (vgl. S. 72), sagte er: wenn er schon seine Arbeit für eine Kur unterbrechen solle, so wäre er froh es wenigstens nicht mit dem Gefühl der Unbefriedigung wegen einer unfertigen Stelle zu tun. Doch mußte er es wegen wiederholter Störung seiner Nachtruhe vorläufig dabei bewenden lassen, und nachdem er am 10. Juni noch einmal den ganzen zweiten Akt bis zum Kuß am Klavier durchgegangen, war die Unterbrechung unvermeidlich und in der, Frühe des 12 begann er seine Kur mit Marienbader Wasser und Morgenspaziergängen im Hofgarten.

Schwül und drückend war damals im neuen ›Deutschen Reich‹ die politische Atmosphäre: es war die Periode der Attentate, der Repressivmaßregeln, Denunziationsprozesse, drohenden Reichstagsauflösungen und – des ›Berliner Kongresses‹. Soeben hatte die verbrecherische Tat des Sozialisten Hödel (12. Mai) die Gemüter erregt, doch fand der Meister in all dieser Erregung immer nur die Kundgebungen der Entrüstung, nicht aber einer eigentlichen Erschütterung: keiner sei eigentlich über sich selbst, als das Mitglied einer Gesellschaft erschrocken gewesen, aus welcher solche Taten hervorgingen Repressivgesetze gegen die Sozialisten, wie sie damals seitens der Regierung vorgeschlagen wurden, konnten ihn nicht befriedigen: es erschien ihm geistlos und kindisch, für eine bestimmte Gattung von Menschen besondere Gesetze zu erlassen, anstatt an die Besserung der aller Not und allem Elend zugrundeliegenden Zustände zu denken. Die Verwerfung der Regierungsvorlage durch den Reichstag fand daher seine Zustimmung: Bennigsen, sonst ein Schwächling, habe verständig gehandelt, aber – ohne den Kern der Sache zu berühren. Er sei nahe daran gewesen, als er von ›unserer Schuld‹ gesprochen, doch habe er es nicht getan und auch sonst keiner aus der Versammlung. Als Feustel einmal bei Tisch erwähnte, daß er mit schwerem Herzen sein ablehnendes Votum gegen die Regierungsvorlage gegeben, ließ sich der Meister mit lebhafter Ereiferung über dieses Thema vernehmen: ›Reaktion sei immer schlimm; wir aber hätten eine leichtsinnige Gesetzgebung, deren Folgen wir jetzt büßen Gewiß seien die Führer der Bewegung konfuse, und vielleicht selbst intrigante Menschen; der Bewegung selbst aber gehöre die Zukunft an, um so mehr als wir nichts wissen, um sie aufzuhalten, als törichte Repressionsmaßregeln. Napoleon III. habe wenigstens dadurch den Zusammensturz aufzuhalten gesucht, daß er sein Volk wohlhabend machte und die Arbeiter unausgesetzt durch neue Unternehmungen beschäftigte: was tun wir aber? So sei es auch mit dem Kampf gegen Rom, auch da nur Polizei-Maßregeln, nichts, wobei das deutsche Gemüt aufatmen könne! Es sei trostlos. Nun bitte sich der deutsche Kaiser »mehr Christentum« aus, und die einfachsten Versammlungen der Sozialisten, in denen [108] z.B. die Abgeordneten ihren Wählern Bericht erstatteten, würden polizeilich aufgehoben‹. ...

Eines schönen Sonntags zu Anfang Juni, vor Beginn seiner Kur, nachdem er eine recht üble Nacht hinter sich hatte und ihm von jeder Arbeit dringend abgeraten war, beschloß er mit den Kindern und Wolzogens eine Ausfahrt nach dem, dreizehn Kilometer südwestlich von Bayreuth entfernt, auf einem felsigen Hügel an der Vereinigungsstelle der Heerstraßen von Nürnberg und Regensburg gelegenen altertümlichen Städtchen Creußen. Die Stimmung war ruhig und heiter, der Ort gefiel allen; er stellte sich, als die Gesellschaft auf der Landstraße sich ergehend ihn von außen erblickte, gar anmutig dar: ›ganz wie auf einem alten Stiche‹. Man lagerte sich auf einer üppigen Wiese, die Kinder pflückten Blumen und man gab sich dem frohen Genuß des Augenblicks hin. Die gleiche behagliche Stimmung hielt allgemein an, als man zu den mitgebrachten Vorräten im ländlichen Wirtshaus bei Bier und Milch sich erlabte, und jeder der Anwesenden schloß sich gern seinem Ausspruch an, daß solch ein einfaches bürgerliches Vergnügen das Beste sei, was man sich wünschen könne. Auch auf der Heimfahrt im Abendsonnenschein bewährte sich der schöne neue Familienwagen und in wahrer Befriedigung bekannte er ›mit allem und allem‹ ein wahres Bayreuther Heimatgefühl, wie er es so gern empfand und aussprach. In entsetzlicher Weise aber ward der heitere Tag durch die Nachricht von einem neuen Attentat auf den Kaiser beschlossen! Eine Extraausgabe des ›Bayreuther Tageblattes‹ meldete die Einzelheiten des Vorfalles, wie der Kaiser auf der heutigen Nachmittagsspazierfahrt durch Schüsse verwundet, die aus dem Hause Nr. 18 unter den Linden gefallen seien, und sofort zu ärztlicher Behandlung in sein Palais zurückgebracht worden sei. Er würde nichts dagegen haben, sagte der Meister, wenn die verhaßten Sozialisten ganz unterdrückt würden; allein die rechten Mittel müsse man anwenden. Ginge es nach ihm, so sollte ein Bußtag angeordnet werden, damit die ganze Nation in sich gehe! An dem Namen ›Sozialdemokrat‹ mißfiel ihm der ›Demokrat‹; es sei ein Unding, aus diesen, jeden Deutschen so nahe angehenden Bestrebungen eine politische Partei konstituieren zu wollen. Die Lage in Deutschland sei furchtbar traurig, als ob alles sänke, wie das neue Schiff, der ›große Kurfürst‹, das kürzlich durch Ungeschick untergegangen war und auf welchem mehr als 200 Personen ertranken. Die nächsten Tage brachten dann verhältnismäßig gute Nachrichten über das Befinden des Kaisers, und während Bismarck den Reichstag auflösen wollte, wenn er die Regierungsvorlage nicht annähme, und selbst Moltke öffentlich von der traurigen Möglichkeit sprach, daß die Armee gegen das Volk einzuschreiten haben werde, zeigte sich das greise Reichshaupt in Wagners Augen durch die Schlichtheit seines Wesens förmlich groß. Dagegen nun wieder die trostlosen Nachrichten über massenhafte Einsperrungen[109] wegen Majestätsbeleidigung, bis zu fünf und zehn Jahren Zuchthaus, wovon in einem Jahrzehnt die schrecklichste Generation von Menschen zu erwarten wäre! Er griff nach Goethes ›Egmont‹ und las das Gespräch zwischen Egmont und Alba, wo diese Dinge ›so menschlich, so gar nicht politisch‹ besprochen würden. Und dabei sei es nicht zu denken, daß ein Mensch jetzt diese edle Sprache auch nur anhöre, daß ein Wort davon verstanden würde! Als Feustel eines Tages anläßlich der eingetretenen Genesung des Kaisers die Frage an ihn richtete, ob er, der Meister, dem greifen Monarchen nicht seine Freude darüber ausdrücken wolle, erwiderte er in dem gleichen Sinne völliger Hoffnungslosigkeit: ›ach, wozu sollte das führen? Der Kaiser würde sich fragen: was will Der? Ah, er hat sein Defizit, er braucht Geld!‹ In einer Rede an seine Wähler hatte Feustel, um diesen Mut zu machen, davon gesprochen, daß die Sozialisten eine leicht zu bezwingende Macht darstellten. ›Gewiß seien sie das‹, erwiderte Wagner, ›für jetzt! Aber sie würden immer wiederkehren! Nicht Stimmen im Reichstag hätte man ihnen gewähren sollen, aber sich um die Fragen kümmern, die Prinzipien untersuchen und der Not entgegenarbeiten.5 Alles aber sei stupid und roh, stupid vor allem auch die Sozialisten selbst; denn schließlich wollten sie auch nur des Staates sich bemächtigen, um einen unmöglichen Zustand zu organisieren.‹ Bei solchen Erwägungen tauchte ihm dann wohl das sympathische Bild jenes überzeugungstreuen Achtundvierzigers Adolf von Trützschler auf, der ihm einst, als er ihm gegenüber vom ›Staate‹ gesprochen, die Antwort gab: ›ich kenne keinen Staat, ich kenne nur die Gesellschaft‹, und für diese seine Überzeugung dann in Baden willig den standrechtlichen Tod durch Erschießen auf sich nahm.6

Inzwischen dauerten den ganzen Sommer die Arrestationen wegen Majestätsbeleidigung ununterbrochen fort, woran sich dann jene abscheulichen Denunziationen seitens angeblicher Patrioten schlossen, von denen der fast unglaubliche Fall des Münchener Malers Piloty, also eines Mannes aus den gebildeten Ständen, den Höhepunkt bildete,7 die aber, vorzüglich in der [110] Reichshauptstadt gar kein Ende nehmen wollten. Mit tiefer Trauer erfüllten ihn diese verwilderten Zustände und vor allem die Wahrnehmung, daß die Regierung ihrerseits dagegen keinen Einspruch erhob. Nicht minder aber die Vorgänge des soeben tagenden Berliner Kongresses, die Sprache, welche sich der englische Premier Disraeli zu führen erlaubte, das Kongreß-Diner bei Herrn von Bleichröder, der sich dabei eigentlich als eine Hauptperson fühlen konnte, die Großmächte, welche auf ihren Kongressen über das Schicksal ganzer Nationen entschieden, ohne diese Nationen zu befragen, die nur ihre eigenen Interessen im Auge hatten und höchstens das ›europäische Gleichgewicht‹ untereinander selbst. Der Berliner Kongreß hatte kein Ohr für die Klagen der Balkanvölker, über deren Schicksal er bestimmte, und so kam es, daß der Berliner Vertrag ihnen allen ohne Ausnahme ein großes Unrecht antat, dessen üble Folgen sich erst im Verlauf von Jahrzehnten in voller Blöße zeigten. Er begann seine Tätigkeit damit, die Juden in Rumänien sicherzustellen und endete mit Beschlüssen, für welche, als eine Schmach Deutschlands, die Juden an den Reichskanzler eine Dankadresse ergehen ließen. Aus Furcht oder aus Schlaffheit getraue sich Keiner das Thema des Judentums auch nur zu berühren. Entweder hätten die Juden eine Vergangenheit, dann hinge diese mit dem Talmud zusammen, oder sie seien von gestern: ›wie kann so einer meine Werke lieben oder was kann mir daran liegen, ob er sie liebt?‹ Sie möchten aber sein, wie sie wollten, die Hauptschuld läge an den Deutschen. ›Was sind wir?‹ rief er in warmer Empörung aus. ›Kein Staatsmann, welcher dies überlegt! Sie spielen mit uns, wie mit Spatzen, und das erste, worüber man sich beim Kongreß einigt, ist die Gleichstellung der Juden in Rumänien; Bessarabien lassen sie fahren, alles – nur die Juden werden gerettet!‹

Jener, gerade am Tage des verhängnisvollen Attentates unternommene, Ausflug nach Creußen, dessen wir zuvor gedachten, war einer der ersten in diesem Sommer, an welchem der neue Familienwagen (S. 106) in Aktion trat, als ein wahres ›erfülltes Bedürfnis‹ für den Meister, der nicht anders genießen konnte, als im Kreise der Seinen. So hatte er es ja schon in seiner ersten – kinderlosen! – Ehe gehalten, wo denn wenigstens Minna, solange es ihre Gesundheit zuließ, die Teilnehmerin solcher Ausflüge sein mußte;8 und wenn es auf seinen allein unternommenen Erholungsreisen für ihn zu einem wirklichen Wohlgefühl kam, wurde sie regelmäßig dazu nachbestellt.9 Jetzt war es ihm eine ungetrübte reine Freude, seine Exkursionen in die landschaftlich so reizvolle Umgebung als Patriarch im Familienkreise, oder [111] auch mit Schülern und Jüngern, wie Seidl und Wolzogens, zu unternehmen. Um den 20. Juni besuchte ihn von London aus ein dortiger treuer Anhänger Julius Cyriax mit Familie, dessen beide Knaben er freundlich kosend auf die Knie nahm und mit dem es dann eine schöne Fahrt zur Waldhütte gab, die den ganzen Nachmittag und Abend ausfüllte und wobei sich auf dem Waldspaziergang zeigte, daß er aus der ganzen Gesellschaft der Jugendlichste und Leistungsfähigste war. Kurz vorher (8. Juni) hatte es eine gemeinsame göttliche Partie auf den Sophienberg gegeben, den Teilnehmern unvergeßlich durch die heitere Laune, die von ihm auf alle andern überging. Wie gern sah er dabei alles glücklich, was in seine Nähe kam! Eine arme Frau, die sich der Mühe unterzog, das mitgebrachte Bierfäßchen auf die Anhöhe zu schaffen, erhielt dafür zwei Mark; sie sah ihn sehr ernst an, reichte ihm dann in der, dem Bayreuther Volk eigenen traulichen Weise die Hand und sagte: ›Sie sollen dafür eine Freude haben, daß Sie an den Tag denken.‹ Und wirklich war es so: das Leben und Weben der Kinder, die gleich Sendboten der Freude talab und wieder bergauf liefen, der bierzapfende ›Onkel‹ Seidl, der wundervolle Ausblick auf die weite Umgebung, Siegfrieds lebhafte Erinnerungen an den in der Ferne sichtbaren ›rauhen Culm‹, den er früher bestiegen, das hügelige Land ringsum, wie mitten im Fluß aufgehaltene und erstarrte Wellen, eine Schar Gänse, die sich von oben wie ein ›bewegliches Silberband‹ ausnahm, das verschiedene Grün der Wiesen und des Tales, entlockten ihm den Ausruf: ›nicht zehn Pferde bringen mich von hier weg‹. Allerlei scherzhaftes Lamento über zu wenig Tabak in der Dose oder gar die zuweilen bei ihm eintretenden ›Stiche‹ im Herzen, die er humoristisch dem zuvielen Schinken zuschrieb, den er zu sich genommen,10 konnte diese Wohligkeit nicht beeinträchtigen, so daß die um 1/29 Uhr abends angetretene Rückfahrt allen viel zu früh dünkte. Wie sehr er diese Fähigkeit zur Freude, zum Genuß der landschaftlichen Natur- und lebendigen Familien-Umgebung als etwas Unveräußerliches in sich trug, zeigte sich, wenn er etwa tags darauf nachmittags auf der Bank in seinem Garten saß und das geliebte, in den verschiedensten Schattierungen sich aufbauschende Grün der Bäume genoß, welches ihm die ›schwellenden Hügel unserer Landschaft‹ vergegenwärtigte. Der Springbrunnen ließ ihn der wilden Kraft des Wassers gedenken, welche gleichwohl ein Damm, ein Krahn bändigen könne: ›dies gab Goethe seine Kulturgedanken ein‹. Eine Schwalbe zog über seinem Haupte dahin: ›welch ein schönes Tier!‹ ruft er aus. ›Sie hat etwas von der Fledermaus, sie ist die Tag-Fledermaus.‹ Ein andermal ging es, mit Wolzogens, über Goldkronach nach Berneck, mit vielem Hochgenuß an der herrlichen Gegend. [112] Nicht immer band er sich dabei an die junge Gesellschaft; aber nachdem er mit seiner Frau lange allein im Walde sich ergangen, vereinigte alle ein heiteres Abendbrot im Molkengarten angesichts der Ruinen, mit schönem Sonnenschein. Bei der Heimfahrt über Bindlach lag Bayreuth in strahlender Abendröte vor ihnen, beherrscht von der mächtigen Erhebung des Festspielhauses und der hohen Warte. Er gedachte des Eindruckes, den er bei seiner ersten Durchreise durch den Ort i. J. 1835 gehabt, wie der Postillion ihm die Stadt genannt, die großen Alleen ihm imponiert hätten und die ganze Stadt ihm vorgekommen sei ›als ob da was los wäre‹.

In allen Perioden seines Lebens, seit seiner frühesten Kindheit, bewies er für die Natur und die Tierwelt eine lebhafte Zuneigung.11 Wir erinnern uns aus den früheren Bänden, mit welchem Kummer er in den Artichauts bei Genf seinen treuen Freund aus der Wiener Periode, den Hund Pohl, begraben mußte12 und wie dessen Nachfolger, der durch die treue Vreneli aus ihren Ersparnissen ihm geschenkte Ruß13 ihn aus den Artichauts nach Triebschen, von Triebschen nach Bayreuth begleitete, wie er gleichsam selbst als ein Haus- und Familienzugehöriger betrachtet, ein Zeuge des Triebschener Glückes und der ersten unruhigen Bayreuther Jahre gewesen war, bis zu seinem, durch seine leidenschaftliche Anhänglichkeit verursachten allzufrühen Ende.14 Auch seiner, der gleichen neufundländischen Rasse angehöriger. Nachfolger haben wir bereits zu wiederholten Malen gedacht. Sie hatten, als sie ursprünglich bei ihm eintrafen, die fremdartig bedeutungslosen Namen ›Marco‹ und ›Bianca‹ getragen, welche alsbald, in möglichstem Anklang an die ihrem Gehör eingeprägten Benennungen, in ›Marke‹ und ›Brange‹ (Brangäne) wahnfriedlich umgeändert wurden. Ein majestätisches Paar von urwüchsiger Naturkraft und zartester Anhänglichkeit an ihren Herrn und seine Familie. So viele Unannehmlichkeiten er durch allerlei Beschwerden wegen ihrer Unbändigkeit auf Spaziergängen (S. 23) beständig zu ertragen hatte, verlor er doch niemals die Geduld, und die schönsten psychologischen Erfahrungen an der Tierwelt über ihren Zartsinn, ihr Mitgefühl hat er an diesen seinen häuslichen Genossen gemacht und ihnen bei gegebener Veranlassung einen vollwichtigen Ausdruck verliehen. ›Sollten wir in einer Welt, aus welcher die Verehrung gänzlich geschwunden, oder, wo sie anzutreffen, ein heuchlerisches Vorgebnis ist, an den von uns beherrschten Tieren nicht ein, durch Rührung belehrendes, Beispiel uns nehmen? Wo unter Menschen hingebende Treue bis zum Tode angetroffen wird, hätten wir schon jetzt ein edles Band der Verwandtschaft mit der Tierwelt keineswegs zu unserer Erniedrigung zu erkennen, da manche Gründe sogar dafür [113] sprechen, daß jene Tugend von den Tieren reiner, ja göttlicher als von den Menschen ausgeübt wird; denn der Mensch ist befähigt, in Leiden und Tod, ganz abgesehen von dem, der Anerkennung der Welt übergebenen Werte derselben, eine beseligende Sühnung zu erkennen, während das Tier, ohne jede Vernunfterwägung eines etwaigen sittlichen Vorteiles, ganz und rein nur der Liebe und Treue sich opfert.‹ ›In seiner großen Wahrhaftigkeit und Unbefangenheit versteht das Tier nicht das moralisch Verächtliche der Kunst abzuschätzen, durch welche wir es unterworfen haben, jedenfalls erkennt es etwas Dämonisches darin, dem es scheu gehorcht. Übt jedoch der herrschende Mensch Milde und freundliche Güte gegen das nun furchtsam gewordene Tier, so dürfen wir annehmen, daß es in seinem Herrn etwas Göttliches erkennt, und selbst vollbewußt für ihn sich quälen und martern ließe, wenn es seinem Intellekte deutlich gemacht werden könnte, daß es sich hierbei um das Wohl seines menschlichen Freundes handele. Daß hiermit nicht zuviel gesagt sei, dürfte sich aus der Wahrnehmung ergeben können, daß Hunde, Pferde, sowie fast alle Haus- und gezähmten Tiere, nur dadurch abgerichtet werden, daß ihrem Verstande es deutlich gemacht wird, welche Leistungen wir von ihnen verlangen. Sobald sie dies verstehen, sind sie stets und freudig willig, das Verlangte auszuführen; wogegen rohe und dumme Menschen dem von ihnen unaufgeklärten Tiere ihre Wünsche durch Züchtigungen beibringen zu müssen glauben, deren das Tier nicht versteht und sie deshalb falsch deutet, was dann wiederum zu Mißhandlungen führt, welche auf den Herrn, der den Sinn der Bestrafung kennt, angewendet, füglich von Nutzen sein könnten, dem wahnsinnig behandelten Tiere dennoch aber die Liebe und Treue für seinen Peiniger nicht beeinträchtigen.‹ Wir glauben bei all diesen warm und tief empfundenen Äußerungen recht unmittelbar die Stimme des großen Tierfreundes zu vernehmen, wie er zu seinem häuslichen Kreise zu reden pflegte. Wohl hat sein Blick hierbei schärfer und eindringender, auch in ethischer Hinsicht, in das große Mysterium der uns umgebenden Tierwelt gesehen, als das sonst so klarschauende Auge Goethes, der zeitlebens kein hervorragender Tierfreund war und für den eigentümlichen Fehlgriff eines gewissen Epigrammes auf ›Hunde und Menschen‹ nachmals durch Schopenhauer eine, ihm selbst allerdings nicht mehr bekannt gewordene Zurechtweisung erfuhr.15 Offenbar ist ihm, der so vieles sah und erkannte, jener von Wagner hervorgehobene Blick in das ›Auge‹ des Tieres versagt geblieben, in welchem ›der wissenschaftliche Forscher zum ersten Male das Allermenschenwürdigste ausgedrückt finden konnte, nämlich: Wahrhaftigkeit, die Unmöglichkeit der Lüge‹.

[114] Und wie ihm selbst diese Wahrhaftigkeit, in der Kunst wie im Leben, das höchste Gesetz seiner Natur war und blieb, so mußte unwillkürlich die Tiefe seiner Sympathie mit der Reihe der lebenden Wesen recht eigentlich von unten auf ihren Anfang nehmen, wo er der größten Unverfälschtheit sich bewußt war. In diesem Sinne äußerte er sich einmal mündlich über die ›Vielheit der Motive‹, die den Menschen, wenn er nicht bis zur Vollendung gelangt, gegenüber dem Tiere und seiner Wahrhaftigkeit und Einfachheit, so wenig erhaben erscheinen lasse. ›Auch dem Künstler‹, fügte er hinzu, ›böten sich immer zu viele Motive, und der allein bewähre sich als der echte, der sie zu einem Ganzen zu bändigen wisse.‹ Nicht den glänzenden höheren Schichten der ordengeschmückten menschlichen Gesellschaft mit ihrer unwahren, überfeinerten und doch unechten, unkünstlerischen Zivilisation galt seine wahre Zuneigung, sondern nächst der Natur und Tierwelt stand seinem Herzen zu allen Zeiten, in allen Perioden seines Lebens das schlichte arme Volk am nächsten. Er freute sich an dessen Freuden und litt seine Leiden in Not, Entbehrung, Unzulänglichkeit der Lebensverhältnisse so heftig mit, daß sie ihn erschütterten und ihm die Freude am eigenen Dasein raubten. Der Vorfall, den die nachschaffende Phantasie Heinrichs von Stein einige Jahre später in seinem Dialog ›Heimatlos‹ in den Hauptzügen ganz treu nach der Wirklichkeit schilderte, war ihm durch die Erzählung Wagners vermittelt und hat sich in Bayreuth um die Mitte Juni 1878 zugetragen. Ein Bierbrauergesell im Dampfbräuhaus war in Ausübung seiner Berufspflicht, um das ihm anvertraute Gebräu vor irgendeinem Unfall zu retten, in den siedenden Braukessel gestürzt und dem Tode nahe; der Bräuhausbesitzer wollte ihn nicht zur Pflege bei sich behalten, das Spital ihn nicht aufnehmen und sein eigener Vater wegen Mangel an Raum nicht bei sich haben; schließlich war er nach allen Irrfahrten von einer Behörde zur andern gewaltsam zu seinem Vater gebracht worden, wo er doch keine Pflege erhalten konnte. Der Meister war darüber außer sich und wollte ihn schon im eigenen Hause unterbringen; dann sandte er seinen treuen Barbier und Chirurgen Schnappauf aus, um ihn, falls er noch transportabel wäre, auf seine Kosten ins Krankenhaus überzuführen. Doch war der Unglückliche nicht mehr zu retten und starb schon nach wenigen Tagen.16 So ging ihm auch das Schicksal eines jungen Seiltänzers nahe, der mit einer ganzen Seiltänzergesellschaft sich für einige Wochen in Bayreuth aufhielt, die ihre Künste an der Maximilianstraße auf dem geräumigen freien Platze beim alten Schloß produzierten. Wir erinnern uns noch lebhaft des heiteren Spätnachmittages, als sich der Meister mit einem kleinen Freundeskreis zu dem Sänger Ferdinand Jäger begab, der seine [115] Wohnung in einem Seitenflügel des Schlosses innehatte (S. 96). Er hatte soeben unter Seidls Anleitung das Studium des dritten Aktes ›Siegfried‹ beendet und sollte Probe singen, was denn auch wirklich geschah und wobei der Meister selbst in wunderbar ergreifender Weise den Wanderer vortrug. Um zu Jägers Wohnung zu gelangen, mußte man sich durch die angesammelte Menge auf dem Schloßhof (um das Maximiliansstandbild) erst hindurchdrängen. Für dieses Mal war die Produktion gerade beendet; am folgenden Sonntag aber folgte er mit den Kindern und Wolzogens der Einladung der Frau Jäger in ihre Wohnung, um von den Fenstern aus einer solchen Schaustellung zuzusehen. Der große freie Platz, die sonntäglich geputzte Menge im Schein des Sonnenunterganges, die charakteristischen Gebäude als Umrahmung des Ganzen ergaben ein heiteres Bild: dazu die erstaunliche Sicherheit und Gewandtheit der Leute bei der Ausübung ihrer halsbrecherischen Kunstfertigkeiten, für die er von seiner frühen Kindheit an, noch von Eisleben17 her, wo er eine solche Truppe bewundert, ein Interesse bewahrt hatte. Zum Schluß, als die ›Sammlung‹ eingeleitet wurde, begab er sich mit den Kindern hinab, um der Kollekte einen ansehnlichen Beitrag hinzuzufügen. Er traf dabei auf den anmutig kecken jungen Mann, der soeben mit Mut und Geistesgegenwart leicht und kühn auf ausgespanntem Seil bis zum Dach des Schlosses hinaufgeschritten war, und freute sich des ungemein schicklichen Benehmens, mit welchem dieser nicht allein den gespendeten Beitrag, sondern auch die Anerkennung seines Talentes entgegennahm. Eigentümlich traurig berührte ihn nun, kaum vier Wochen später, die von den Kindern gebrachte Nachricht, daß eben derselbe junge Seiltänzer, an dessen Mut und Geschicklichkeit sie so viel Wohlgefallen gefunden und den er durch seine freundlichen Worte ausgezeichnet, in Regensburg vom Seile gestürzt und nicht mehr unter den Lebenden sei. Die Behörden, meinte er kummervoll, sollten diese Produktionen streng verbieten.

In all solchen Fällen war der glühende Wunsch, das Verlangen nach unmittelbarer tätiger Hilfeleistung sein erster, alles andere zurückdrängender, seines ganzen Wesens sich unwiderstehlich bemächtigender Gedanke. Er habe, so sagte er von sich, das Bestreben Wilhelm Meisters nach Erlangung wundärztlicher Geschicklichkeit und seine beständige Ausrüstung mit Lanzette und chirurgischem Etui so lange nicht begriffen,18 bis er einst in Luzern bei einem Unfall dieser Art das Erlebnis hatte: vor Mitleid außer sich, wie ein Unsinniger [116] sich gebärden zu müssen, weil er – nicht helfend eingreifen konnte. Vor dieser Unfähigkeit wenigstens seinen Sohn zu bewahren, war schon bald nach dessen Geburt sein Gedanke: ›er ist schön und stark, und soll Wundarzt werden‹, schrieb er damals seiner Schwester Ottilie;19 vielleicht hatte dieser Wunsch sogar bei der Namengebung ›Helferich Siegfried Richard‹ mitgewirkt, die er dem Kinde im Gedenken an seinen Arzt Helferich, Wielands Bruder,20 zuteil werden ließ. Wie unfehlbar er schon früh in ihm die künstlerisch produktive Natur des Dichters und Musikers erkannte, geht aus manchen seiner Äußerungen hervor, wie z.B. der von uns bereits zitierten, wonach er noch zu erleben hoffte, daß Siegfried mit 24 Jahren seinen ›Götz von Berlichingen‹ schreiben würde (S. 9). Oder, noch während der Instrumentierung der ›Götterdämmerung‹, als die ganze Aufgabe der Bayreuther Aufführung des ›Ringes‹ wie eine drohende Wolke sich vor ihm lagerte und der Gedanke an die Ausführung des ›Parsifal‹ noch in weiter Ferne lag: ›ich schreibe keine Partitur mehr, als bis Fidi sie mir instrumentieren kann‹. Und als ›Parsifal‹ komponiert und die Orchestrierung desselben seine nächste Aufgabe war, sprach er den Wunsch aus, daß diese letztere Arbeit bis in sein hohes Alter dauern und er ihm ihre szenische Verwirklichung nach seinem Tode als Aufgabe hinterlassen könnte. Und doch ließ ihn sein von Mitleid überschwellendes großes Herz jenen Wunsch und Gedanken stets wiederkehren, daß wenigstens seinem Sohne die, ihm selbst versagt gebliebene und bei jeder Gelegenheit an sich selbst so schmerzlich vermißte Fähigkeit und Kenntnis zu hilfreichem Eingreifen bei plötzlichen Unglücksfällen nicht mangeln solle. ›Mein Sohn soll werden und lernen, was er Lust hat‹, schrieb er ein Jahr später (14. August 1879), ›nur dazu werde ich ihn anhalten, so viel von der Chirurgie zu erlernen, daß er, Menschen oder Tieren, erste Verbände anlegen kann und – etwas mehr als sein Vater – sich gegen den Anblick des physischen Leidens stähle.‹21 An diese Vorstellung einer besonderen Ausbildung Siegfrieds zum ›Wundarzt‹ schloß sich dann weiterhin wohl auch die Ausmalung seiner Zukunft in dem Sinne, daß er hier am Orte, wo sein Vater ein glorreichstes Ideal verwirklichte, ein nützlicher wohltätiger Mensch werden könnte; natürlich sollte er dann unentgeltliche Hilfe leisten und, unabhängig vom Weltgetriebe, den Gedanken seines Vaters vertreten. Seine Abneigung gegen die bestehenden öffentlichen Schulen sprach sich deutlich darin aus, daß, solange er lebe, der Knabe keine Schulen besuchen, sondern im Hause erzogen werden solle, damit ihm das Bild seines Vaters durch nichts getrübt würde und er diesen Segen seiner Jugend voll und ganz [117] genieße. Dagegen sollte er sein hiesiges fränkisches Land genau kennen lernen und fest mit ihm verwachsen bleiben. Diese, in der dankbaren Anhänglichkeit an seine neue Heimat begründete Vorstellung und der Wunsch, sein Werk und seine Idee durch ihn sicher bewahrt und behütet zu wissen, lagen schließlich immer zugrunde; die Bestimmung des Knaben für irgendeinen bürgerlichen oder künstlerischen Lebenslauf hingegen durch einen autoritativen Ausspruch im voraus festlegen zu wollen, kam ihm nie in den Sinn, da eine solche voreilige Entscheidung all seinen Begriffen von persönlicher Freiheit widersprach. Als er im folgenden Sommer (1879) mit der Lektüre von Konstantin Frantz' ›Föderalismus‹ eifrig beschäftigt war und dieses Buch seinen Freunden lebhaft empfahl, rief er auch gelegentlich aus: sein Sohn könnte Nationalökonom werden, da wäre er imstande etwas zu nützen!

Wenige Tage nach der eben erwähnten Audition Jägers (S. 116) war dieser in Begleitung Seidls, nachdem beide noch – am 14. Juli – ein Abschiedsbankett in Wahnfried erhalten hatten, nach Leipzig abgereist, wohin ihn der Meister dringend für den ›Siegfried‹ empfohlen hatte Leider erwies es sich durchaus unmöglich, daß sein Wunsch erfüllt wurde. Neumann hatte sich bereits fest für Unger gebunden, dessen von Hause aus verbildetes, unzuverlässiges Stimmorgan (S. 95) ihm jeden Augenblick zu versagen drohte. Die ernstlichsten und entschiedensten Willensäußerungen des Meisters kamen hiergegen nicht mehr auf, und er konnte seinerseits, da ein übler Wille nicht vorlag, nichts anderes tun, als sich weiter bemühen und zum bösen Spiel des Schicksals eine möglichst gute Miene und Haltung bewahren.22 Unter den auswärtigen Aufführungen der einzelnen Teile des ›Ringes‹ war auf die Leipziger ›Rheingold‹- und ›Walküre‹-Aufführung zunächst, am 1. Juni, Weimar mit dem ›Rheingold‹ gefolgt; schon vorher hatte sich Köln (Direktor Ernst) um die ›Walküre‹ beworben, war aber dann, eines Bessern belehrt, rückhaltlos auf die ihm gestellten Bedingungen, auf die Annahme des ganzen ungeteilten Werkes eingegangen. Am 10. Juni folgte München mit dem ›Siegfried‹: zu dieser Aufführung war Seidl als Abgesandter geschickt worden, um sie auf ihre Tüchtigkeit hin zu prüfen, und brachte heimkehrend eigentlich nur schlimme Nachrichten: offenbar habe man dort die Bayreuther Originalaufführung ›verbessern‹ wollen und grundsätzlich alles anders gemacht. Kapellmeister Levi selbst, der einige Wochen später – in den ersten Julitagen – in Bayreuth eintraf, war nicht in allen Stücken damit zufrieden: er habe bei dieser Gelegenheit bestimmt erkannt, daß außerhalb Bayreuths eine gute Aufführung nicht möglich sei. ›Nur nichts von alledem hören!‹ hatte der Meister schon bei den Nachrichten Seidls ausgerufen. Bei den für den Herbst bevorstehenden Aufführungen der ›Götterdämmerung‹ in Leipzig sollte [118] das Werk in ein Vorspiel und drei Akte geteilt und somit Siegfrieds Rheinfahrt als unmittelbar überleitendes Zwischenspiel aufgeopfert werden. All diese Eingriffe empfand er schmerzlich und wollte dann doch lieber noch Streichungen in der Nornen- und Waltrautenszene empfehlen, im Bewußtsein dessen, daß diese beiden Szenen – schlecht aufgeführt – dem Publikum unverständlich bleiben müßten, während er der dramatischen Wirkung seines Zwischenspieles gewiß war. Doch empfand er es mit tiefer Schwermut, bei diesen Verstümmelungen seines Werkes durch seinen Rat selbst mit Hand anlegen zu sollen. ›Nur nichts von alledem hören!‹ das blieb sein einziges Auskunfts- und Rettungsmittel. Statt dessen wurde er unausgesetzt damit geplagt, von diesen Dingen nicht allein zu hören, sondern sie auch noch zu sehen, wie ihm denn um die Mitte Juli von München aus eine neue Skizze zu Walhall im ›Rheingold‹ eingesandt wurde, zu der er nur traurig ausrufen konnte: ›Fasolt und Fafner wußten von diesem Baustil noch nichts!‹ Er könne diese Schöpfung der Münchener Hoftheatermalerphantasie nur als Vorlage für die Ausführung einer ›Synagoge zur Feier des Berliner Kongresses‹ empfehlen.23 Dies war nun das ›technische Personal‹ des Münchener Hoftheaters, mit welchem er, dem zuletzt abgeschlossenen Kontrakte gemäß, künftighin wegen der szenischen Ausstattung seines ›Parsifal‹ (S. 43) zu verkehren haben würde, und auf dessen schöpferische Phantasie er demgemäß für die sichtbare Ausgestaltung des ihm in reinster Weihe Vorschwebenden angewiesen war! Um so betrübender mußte es für ihn sein zu erfahren, daß sein königlicher Schirmherr, wenn auch nicht eben dieser unglaublichen Skizze, so doch den Münchener Dekorationen des ›Ringes‹ im allgemeinen vor der Bayreuther dekorativen Ausstattung den Vorzug gebe. Wir wissen es nach allem früher Gesagten, wie viele Unvollkommenheiten Richard Wagner an der einstweiligen Bayreuther Inszenierung seines großen Werkes bitter zu beklagen hatte; eine Verbesserung dieser Mängel aber kam nur ihm selbst und der Bayreuther Bühne zu, nicht dem herrschenden Operndekorationsgeschmack, der für die hier gestellten Aufgaben nicht das geringste Verständnis mitbrachte und der Natur der Sache nach bei der einmal bestehenden Verwahrlosung aller Theaterverhältnisse auch mitbringen konnte. Leider war es nun aber in allen anderen Beziehungen, sowohl des Vortrages als der Tempi, vor allem aber des gesamten Stiles der Darstellung, und ihrer Übereinstimmung mit der Musik, gar nicht anders bestellt; so daß sein förderndes Interesse für all diese auswärtigen Aufführungen einzig darin bestehen [119] konnte, daß er eben seine Schüler, die bei ihm und unter seiner Anleitung ihre Aufgaben studiert hatten, möglichst daran beteiligt zu sehen wünschte. Für den Augenblick waren dies Seidl als Dirigent und Jäger als Darsteller, und wir haben bereits seine Schritte in dieser Beziehung beobachtet, und auf seine unablässigen, leider aber fruchtlosen Bemühungen, sowohl für den einen wie für den anderen durch seine Empfehlung in dem meist schon bestehenden festen Gefüge der vorhandenen ›Engage ments‹ eine geeignete Lücke zu finden. Leipzig hielt an Unger, Wien an Glatz (S. 96) fest; und für Seidl wollte sich lange die geeignete Stätte nicht finden.

Am 12. Juni hatte er seine Marienbader Wasserkur angefangen, mit regelmäßigen Frühspaziergängen im Hofgarten und vielem Aufenthalt im Freien, Fußwanderungen in die nächsten Umgebungen von Bayreuth, ins ›Studentenwäldchen‹ und auf die Oberkonnersreuther Landstraße. Es machte ihm Vergnügen, seinen Sohn in die Schwimmschule zu begleiten, um ihn dabei zu beaufsichtigen, wenn er auch mit der Art, wie den Knaben das Schwimmen gelehrt wurde, nicht immer zufrieden war. Bei den Morgenspaziergängen im Garten waren Siegfried und Isolde seine regelmäßigen Begleiter, und er vermißte die beiden Kinder, als sie in den Tagen vom 1. bis 4. Juli unter Wolzogens Schutz nach Dresden zum Zahnarzt gereist waren. Dann trat rauhes Wetter ein, die Kur mußte eine Unterbrechung erleiden, nachdem sie allerdings schon vorher allerlei Symptome der Angegriffenheit, wie Ohrensausen, Kongestionen, unruhige Nächte und einen, zwar an sich unbedeutenden, aber durch seine häufige Wiederholung beunruhigenden Blutauswurf aus der Kehle hervorgerufen hatte. Nach dieser Unterbrechung wurde die Kur wieder aufgenommen; dann aber schien der Sommer ganz zu Ende; anhaltender Regen, Kälte und Wind fielen beschwerlich Bereits am 26. Juli ging er wieder an seine Komposition, doch fühlte er sich matt und angegriffen, und Doktor Landgraf meinte, er dürfe sich nicht anstrengen. Zu diesen Anstrengungen gehörte für ihn hauptsächlich jeder Besuch von außen, jeder Verkehr mit Fremden, an dem es, wie immer, in diesen Sommermonaten (1878) in Wahnfried nicht fehlte.

Alles Reden mit Fremden, ja mit Freunden, empfand er dann als Krampf, und es bedrückte ihm physisch die Brust. Das Feuerwerk an Witz und Geist, woran er es trotzdem bei solchen Anlässen nicht fehlen ließ, beruhte dabei oft genug auf der Kraft seiner Selbstbeherrschung, mit welcher er es sein Gegenüber nicht merken lassen wollte, wie sehr es ihn durch seine, noch so wohlgemeinte, Anwesenheit belästigte. Wer ihn wirklich kannte, wußte wohl, daß dieser tolle Wellenschlag des Scherzes und Witzes nicht eigentlich. Er selbst war, vielmehr der Ausdruck eines Sichverschließens nach außen, ein Abwehren alles dessen, was aus solchem Verkehr bis in sein Inneres dringen konnte und in einem gewissen Sinne die Stelle eines tiefen [120] Schweigens vertrat, in welches sich zu flüchten er in Gegenwart eines Gastes für unschicklich gehalten haben würde. Bei den so zahlreichen Schilderungen seiner Persönlichkeit im Umgang mit Besuchern von außen her (und gerade die allerfremdesten, denen er am wenigsten zu sagen hatte, sind mit solchen Schilderungen am freigebigsten gewesen!) ist dieses Moment, von welchem der jedesmalige Gast nichts wußte, immer mit in Betracht zu ziehen, – weshalb auch alle derartigen Berichte, so unterhaltend sie sein mögen, stets mit Vorsicht aufzunehmen sind. Insbesondere erklärt sich daraus mancher hier und da erwähnte Ausbruch von Heftigkeit, dessen eigentliche Ursache ein Fremder nicht ahnen konnte, weil ihm eben der Maßstab für die, ihm gegenüber bereits aufgewandte Geduld fehlte. Eine eintretende Reizbarkeit im täglichen Verkehr spürte er immer am ehesten selbst und führte sie scherzend auf einen Diätfehler zurück: ›ich habe zu viel Bier getrunken; ich werde dann zänkisch und übelnehmerisch, wie Schumann‹.24 Insbesondere machten sich, vorzugsweise beim Bergsteigen, gewisse Stiche im Herzen bemerkbar, wie wir sie bereits anläßlich jenes schönen Tages auf dem Sophienberge (S. 112) erwähnten, und wie sie ihn zuweilen auf den angenehmsten, genußreichsten Ausflügen nach der Waldhütte oder sonst wohin unvermutet überfielen, wenn er sich in der Freude an der schönen Naturumgebung auf zu vieles ›Steigen‹ eingelassen, etwa um einen schönen Aussichtspunkt zu erreichen und ihn begleitenden Freunden zu zeigen. Er verstummte dann, und allein aus diesem plötzlich eintretenden, anhaltenden Schweigen war zu entnehmen, daß er leide.25 Trotzdem wollten die Ärzte von einem eigentlichen Herzleiden bei ihm nichts wissen. Vor allem belästigte ihn das rauhe Klima mit Regen, Wind und Zugluft, und inmitten dieser grauen und rauhen Sommerfreuden der deutschen Heimat stieg wohl ab und zu die Erinnerung an jenen leisen Chor in Berlioz' ›Trojanern‹: ›Italie! Italie!‹ mahnend in seinem Innern auf.

Wir holen an dieser Stelle einiges von dem nach, was uns aus seiner unausgesetzten rezeptiven Beschäftigung mit Lektüre aus allen Wissensgebieten während dieser Periode bekannt geworden ist. Die Art, wie Wagner las, haben wir bereits wiederholt zu bezeichnen versucht: selten hat es wohl einen [121] so impulsiven, in jedem Augenblick subjektiv mittätigen Leser gegeben, der bei hochgesteigertem Bedürfnis nach geistiger Anregung den jeweiligen Autor, mit dem er es zu tun hatte, wie eine lebende Person ansah, zu der er unwillkürlich in eine Art dialogischen Wechselverkehr trat, in dem er sich willig von ihm belehren ließ, wobei er ihm jedoch andererseits – besonders bei erstmaliger Bekanntschaft – so viel von der Energie seiner eigenen persönlichen Auffassung lieh, daß er bei späterem Wiederlesen den ursprünglichen Eindruck nicht mehr gewann. Goethe sagt von sich, er habe durchschnittlich in seinem Leben täglich ca. 80 Oktavseiten gelesen; das Quantum des geistigen Nahrungsbedürfnisses mag bei Wagner ziemlich das gleiche gewesen sein Goethe rühmte sich der glücklichen Eigenschaft als Leser, vermöge deren er, wenn er ein Buch beim Durchblättern aufs Geratewohl in der Mitte aufschlug, immer auf die bedeutendsten Gedanken des Schriftstellers gestoßen sei. Ganz derselben glücklichen Eigenschaft durfte sich Wagner erfreuen: doch schlug er nur ausnahmsweise ein Buch in der Mitte auf, sondern pflegte es, zuweilen in Absätzen und mit größeren Unterbrechungen, dennoch von Anfang bis zu Ende zu lesen. Bei der gemeinschaftlichen Abendlektüre ließ er auf eine gelegentliche leichtere Unterhaltung doch gern die Beschäftigung mit dem ›ganz Großen‹ folgen. So erfreute ihn die Wiederauffindung einiger seiner Aufsätze aus frühen Tagen: sein Artikel über ›die deutsche Oper‹ aus dem Jahre 183426 und der aus der Rigaschen Periode stammende Aufsatz über Bellini27 machte ihm viel Vergnügen. Überall, selbst in den übermütigsten Auslassungen dieser frühen Entwickelungszeit, war doch derselbe empfängliche Sinn für das Wahre, der Kampf gegen alle Heuchelei, der scharfe Blick für alles dramatisch Bedeutende, in welcher Form es sich auch zeige, mit einer Schärfe und Klarheit gegenwärtig, welche bei ihm die strenge Einheit seines Wesens auf allen seinen Entwickelungsstufen bezeichnet.28 Auf die Bemerkung eines Anwesenden, was wohl der Bellini-Verehrer Schopenhauer gesagt haben würde, hätte er diesen Bellini-Aufsatz Wagners gekannt, erwiderte er mit Heiterkeit: ›Ja, dann hätte er seinen Kossak über den [122] Haufen geworfen!‹29 Trotzdem mochte er, aus jenem Verlangen nach dem ›ganz Großen‹, den Abend nicht mit dieser Lektüre beschließen, sondern las dann selbst noch aus dem ersten Akte des ›Macbeth‹ vor. Neben ihm, Shakespeare, sei alles wie Kinderspiel; das ganze Dämonium des Daseins stehe greifbar vor einem da: ›alles vor ihm und nach ihm muß schweigen‹.30 In ähnlicher Weise ging er nach Beendigung von Walter Scotts ›Kenilworth‹ als Abendlektüre (S. 62) zu Schillers ›Maria Stuart‹ über, indem er aus dem 2. Akte die Szene des Staatsrats der Königin und die Szene zwischen Leicester und Mortimer vorlas. Er betonte dabei die Vornehmheit der Sprache Schillers, und worin sich diese von der Vornehmheit in der Sprache Shakespeares unterscheide: bei letzterem sei der eigentümliche Adel des Ausdrucks durch die Wucht der Charaktere bedingt, während bei Schiller in der Tat eine höfische Sprache von höchster verfeinerter Konvention ausgebildet sei.31 Dann ergaben die Briefe Schopenhauers mit reichlichen daran geknüpften Betrachtungen und Ausführungen einen weiteren nachhaltigen Stoff für eine Reihe von Abenden. – Für sich allein war er, nachdem Renans ›Apostel‹ ihn in vielen Stücken befriedigt, zu dessen ›Leben Jesu‹ übergegangen, dessen Gesamtaufbau ihm nicht mißfiel Immer über gewisse Wendungen, Ausdrücke und Auffassungen des modernen Pariser Gelehrten lächelnd, fand er doch andererseits, daß der Autor den Begriff des ›Gott-Vater‹ gut entwickelt und die, ›unification‹ Jesu mit Gott schön dargestellt habe. ›Die Esel‹, rief er einmal in seiner drastischen Weise, ›die nicht an Gott glauben und der Meinung sind, daß eine Erscheinung, wie die Jesu, und wiederum die des schaffenden Genius, nach dem gewöhnlichen natürlichen Prozeß vor sich gehe! die nicht fühlen, daß da ein besonderer Drang waltet, eine erhabene Not, welche doch immer zum Guten führt! Man muß nur nicht an den alten Judengott dabei denken! Das könnte der Erfolg unserer heutigen Kritik sein, uns Jesus ganz rein wiederzugeben, denn von wie vielem muß man auch in den Evangelien abstrahieren. Ich muß gestehen, daß Renan der erste ist, der in etwas der Hauptsache, dem eigentlichen Kernpunkt sich nähert, aber auch er hat den »Gott« nicht erkannt. Ich muß‹, fügte er dann halb ernst, halb scherzend hinzu, ›ich muß durchaus einmal meine »Theologie« schreiben.‹ Auch Strauß' ›Leben Jesu‹ ward im Anschluß daran wieder vorgenommen, aber – wegen des ausschließlich Negierenden seiner Kritik, bei völlig mangelnder Fähigkeit zu einer eigenen positiven Anschauung und Darstellung – ohne jede Befriedigung; er legte ihn bald wieder weg, und bezeichnete ihn als das ›Ginnungagap der Langeweile‹. Bloß den klassischen [123] Ausspruch, wonach die kritische Geschichtsforschung ›mit einem sündenlosen Jesus nichts anzufangen wisse‹, zitierte er gern als einen wahren Abgrund des Mißverständnisses.32 Dagegen vertiefte er sich für mehrere Wochen in das Bhagavadgita (in französischer Übersetzung). Erläuternde, rezensierende oder panegyrische Schriften, deren Gegenstand er selbst und seine Kunst war, pflegte er nicht zu lesen, machte aber eine Ausnahme mit den wenigen darunter, denen ein literarischer Wert zugesprochen werden durfte, wie mit Wolzogens damals eben erschienenem vortrefflichem Büchlein ›über die Sprache in Wagners Dichtungen‹. ›Ich lasse mir so Weihrauch streuen‹, sagte er lachend, ›aber ich kann mir das Zeugnis geben, daß es die Gedanken der andern sind, woran ich mich freue, nicht das mir gespendete Lob.‹ Selbst das neue Nietzschesche Buch, dessen Lektüre er eigentlich verschworen hatte, nahm er dann doch, als es ihm zufällig in die Hände fiel, wieder vor, um abermals über dessen prätentiöse Gewöhnlichkeit zu erstaunen. ›Ich begreife‹, sagte er, ›daß Rées33 Umgang ihm mehr behagt, als der meinige. Es macht mir keine große Ehre, daß dieser mich gepriesen!‹ Als er seinen dritten Artikel über ›Publikum und Popularität‹ schrieb (18./21. Juli), erklärte er: er nehme darin Nietzsche vor, aber ohne daß ein Uneingeweihter etwas davon merken werde. Während nämlich die beiden ersten Kapitel dieser Abhandlung sich mit dem Zeitungsleser- und dem Theaterpublikum beschäftigen, ist das dritte dem akademischen Bildungspublikum gewidmet, der Kritik unserer sog. ›historischen Schule‹ im weitesten Sinne, und ihres bewußten Gegensatzes zu dem ihr so beschwerlichen ›Genie‹, dessen ganzen Begriff sie als grundirrtümlich über Bord geworfen habe. Diese Leugnung des Genies, und die Reduzierung seines Wesens auf gemeinere Naturkräfte, meist Temperamentfehler, als Heftigkeit des Willens, einseitige Energie und Obstination, hatte ja der unglückliche Freund, wie zu seiner eigenen Betäubung, in seinem Buche durchzuführen sich gemüht. Die eindringliche Kritik unseres Universitätswesens in diesem Abschnitt erreicht ihren Höhepunkt in dem Urteile über die Beschaffenheit unserer heutigen Theologie. In welcher trübseligen, ja ganz unwürdigen Lage werde diese erhalten, da sie unseren Kirchenlehrern und Volkspredigern fast nichts anderes beizubringen habe, als die Anleitung zu einer unaufrichtigen Erklärung des wahren Inhaltes unserer so über alles teuren Evangelien. ›Zu was anderem ist der Prediger auf der Kanzel angehalten, als zu Kompromissen zwischen den tiefsten Widersprüchen, deren Subtilitäten uns notwendig im Glauben selbst irremachen, so daß wir endlich fragen müssen, wer denn noch Jesus kenne? – Vielleicht die historische Kritik? Sie steht mitten unter dem Judentum und verwundert sich, daß [124] heute des Sonntags früh noch die Glocken für einen vor zweitausend Jahren gekreuzigten Juden läuten, ganz wie dies jeder Jude auch tut.‹34 Es müsse uns trösten, daß es endlich doch noch zweierlei kritische Geister, und zweierlei Methoden der Erkenntnis-Wissenschaft gibt. ›Der große Kritiker Voltaire, dieser Abgott aller freien Geister, erkannte das »Mädchen von Orleans« nach den ihm zurzeit vorliegenden historischen Dokumenten, und glaubte sich durch diese zu der in seinem berühmt gewordenen Schmutzgedichte ausgeführten Ansicht über die »Pucelle« berechtigt. Noch Schiller lagen keine anderen Dokumente vor: sei es nun aber eine andere, wahrscheinlich fehlerhafte Kritik, oder sei es die von unseren freien Geistern verachtete Inspiration des Dichters, was es ihm eingab, »der Menschheit edles Bild« in jener Jungfrau von Orleans zu erkennen, – er schenkte dem Volke durch seine dichterische Heiligsprechung der Heldin nicht nur ein unendlich rührendes und stets geliebtes Werk, sondern arbeitete damit auch der ihm nachhinkenden historischen Kritik vor, welcher endlich ein glücklicher Fund die richtigen Dokumente zur Beurteilung einer wundervollen Erscheinung zuführte. Diese Jeanne d'Arc war Jungfrau und konnte es nie anders sein, weil aller Naturtrieb in ihr, durch eine wunderbare Umkehr seiner selbst, zum Heldentriebe für die Errettung ihres Vaterlandes geworden sei.‹35 Das rührend Erhabene dieser edlen Dichtung war schon in früher Jugend auf ihn von Eindruck gewesen, und er erzählte den Kindern davon, wie namenlos ihn als Knaben der ganze Schluß ergriffen habe: ihre Fesselung, die Befreiung, dann der Sieg, der Tod, die Wiedererlangung der Fahne, die ihr dann zum Leichentuch diene Gerade die musikalische Ausgestaltung des zweiten Aktes seines ›Parsifal‹ führte die Gestalt der Jungfrau und ihre, seinem wissenden Toren verwandte Natur, seinem Gefühl innig nahe, und er stellte beide gern zusammen. Mit dem Gott in ihrem Innern seien solche Wesen durch einen, in ihren Entwickelungsjahren empfangenen großen Eindruck, der Sinnenlust auf ewig entrissen; der Naturtrieb in ihnen völlig umgeschlagen: das sei das große vorbildliche Erlebnis aller Heiligen. Beim Heilande sei diese Umkehr, dieses Umschlagen, sozusagen bereits vom Mutterleibe aus, prädestiniert gewesen. ›Was dort unserem Schiller für die Erkennung der wunderbar begabten Vaterlandsbefreierin eingegeben, war – in seiner Sixtinischen Madonna – Raphael für den theologisch entstellten und unkenntlich gewordenen Erlöser der Welt aufgegangen. Sollte es der Theologie so ganz unmöglich sein, den großen Schritt zu tun, welcher der Wissenschaft ihre unbestreitbare Wahrheit [125] durch Auslieferung des Jehova, der christlichen Welt aber ihren rein offenbarten Gott in Jesus dem Einzigen zugestatte?‹36 Er selbst, so erklärte er, glaube fest daran, daß das Christentum in der von ihm dargelegten Weise noch einmal rein und klar der Welt gepredigt werden könne.

Mit dem leider allzufrüh durch den Tod entrissenen geistlichen Freunde der ersten Bayreuther Jahre, dem hochgebildeten Dekan Dittmar, hatte er sich in den ihm so nahe am Herzen liegenden religiösen Fragen stets auf das beste verständigen können. Auch mit den sonstigen Vertretern der protestantischen Geistlichkeit, vor allem dem ehrwürdigen Konsistorialrat Kraußold, blieb er gern befreundet, und es ist für seine versöhnliche Gesinnung in dieser Beziehung charakteristisch, daß er die Widmung des, dem ehemaligen jungen Freunde Nietzsche übersandten Exemplares seiner ›Parsifal‹-Dichtung, auf welche jener leider mit seinem unheilvollen Buche und erklärten Abfall antwortete, mit der humoristischen Unterschrift versah: ›Richard Wagner, Ober-Kirchenrat‹. Schlimmer erging es ihm – wo er mit ihnen in eine ganz unfreiwillige Berührung trat – mit den kleineren Geistern aus den umliegenden Ortschaften, wie sie sich in der Kreisstadt Bayreuth gelegentlich zu Synoden oder ähnlichen Zusammenkünften einfanden, und von denen jeder einzelne in der Beschränktheit seines engen Horizontes sich mindestens ein Papst zu sein dünkte. So überfiel ihn bei einer derartigen Gelegenheit, um die Mitte August, als er sich eben recht unwohl fühlte und zur Erholung einsam im Hofgarten hinter seinem Hause erging, ein solcher evangelischer Geistlicher aus einem fränkischen Dorf mit der Reisetasche, sozusagen auf offener Straße, nämlich in der Eschenallee des Hofgartens, mit der Frage: ›wann er ihn sprechen könne?‹ Verwundert sah ihm der Meister ins Auge und lud ihn ein, mit ihm zu gehen. Es mochte wohl, sagt Wolzogen von dieser Begegnung, ›ein Weniges aus der Weltpresse bis zu der Landpfarre gedrungen sein‹: kurz, der sichtlich tief erregte Eiferer begann dem Nibelungendichter in wohlgesetzter Rede eine Bußpredigt über seine Sündhaftigkeit zu halten, forderte ihn auf, mit seinem Einfluß die Interessen der Kirche zu verteidigen und – keine Unsittlichkeiten mehr zu komponieren. ›Welche denn zum Beispiel?‹ ›Nun, die Seejungfern‹ (womit er die Rheintöchter meinte). Ruhig wies da Wagner über sich nach den Wipfeln der alten Eschen und sprach: ›Hören Sie dort die Vögel zwitschern und singen? Nennen sie die auch sündhaft? Da wären ja Bäume, Vögel, ja die ganze Natur unsittlich?‹ ›Sie hören nur auf Schmeichler, und wollen die Stimme der Wahrheit nicht vernehmen.‹ ›Sie sollten wissen, mit wem Sie es zu tun haben!‹ rief der Meister unwillig; da er aber schon in den Garten von Wahnfried mit ihm eingetreten war, wollte er den Mann doch nicht ohne jede Aufklärung über seine verstockten [126] Irrtümer entlassen. Er ging mit ihm an seinem still harrenden Grabe vorbei, in sein Haus zurück und überreichte dem draußen Harrenden in seiner Gutherzigkeit ein Exemplar der ›Parsifal‹-Dichtung: ›da werden Sie sehen, daß ich christlicher gesinnt bin als Sie‹. ›Das werden wir sehen‹, erwiderte der verstockte Fanatiker, ›wenn wir dereinst zur Rechten Gottes stehen.‹ ›Oder zur Linken des Teufels!‹ rief da der Meister, welchem jetzt die Geduld riß, und entließ ihn wieder in den Hofgarten, mehr über sich selbst im Ärger, daß er den Zudringlichen nicht einfach zurückgewiesen, als über dessen Ungezogenheit und geistlichen Dünkel, der ja dem Beschränkten und Unwissenden in um so höherem Maße eigen ist. ›Ich weiß nicht‹, so beschließt Wolzogen seine Erzählung dieses Vorganges, ›wie der Gute mit den »Blumenmädchen« fertig geworden ist. Hoffentlich hat ihn der Blick in des Dichters Auge und das Wort, das er dort von ihm vernahm, die unschuldige Heiterkeit und Grazie der reinen Natur auch darin erkennen lassen.‹37

Das Bedürfnis des Genies nach beständiger und starker Beschäftigung, das Verlangen seines rastlosen Geistes, von jedem Punkte aus in die Tiefe zu drin gen, den Quellen des Wissens nachzuspüren und den Umfang seines Bildungshorizontes zu erweitern, schuf sich aus allem und jedem, was ihm begegnete, neue Anlässe des Studiums und der Selbstbelehrung. Mit Thukydides wie mit Tacitus war er seit je wohlvertraut; fand er in einem gerade von ihm gelesenen Werke z.B. den Polybius als Quelle zitiert, so war ihm dies Grund genug, diesen Schriftsteller aufzuschlagen und die betreffenden Abschnitte prüfend nachzulesen. Von Nietzsche behauptet einer seiner glühendsten Verehrer anläßlich einer späteren Ausgabe seiner – für damals – neuesten Schrift, er habe sich ›nie mit Voltaire beschäftigt‹: die Widmung an der Spitze seines Buches sei nur ›ein Zufall hinterher‹ gewesen, den er lediglich dazu benutzt habe, um durch die Heranziehung eines berühmten Namens ein größeres Aufsehen zu erregen.38 In vollem Gegensatz [127] hierzu war jene gesuchte und anspruchsvolle, dabei aus keinem innerlichen Verhältnis hervorgegangene Dedikation einer Schrift, die Wagner nur peinliche Empfindungen erregen konnte, die rein äußerlich zufällige Veranlassung dazu, gerade jenen ›Abgott der freien Geister‹ gelegentlich wieder einmal zu seinem unterhaltenden Gesellschafter zu machen. Einmal war es der Essay über Cromwell im ›Dictionnaire philosophique‹, der ihn bei der lebhaften Darstellung der bereits verlorenen und durch Cromwells Energie wieder gewonnenen Schlacht bei York mit seiner Zitation von ›Moses, Gideon und Josua‹, ganz allein dasitzend, plötzlich zu lautem Auflachen brachte.39 Ein anderes Mal die ›Réponse à un Docteur Allemand‹, in der er schon vor Jahren in Zürich, nachdem ihn Herwegh darauf aufmerksam gemacht, die unbeachtete Quelle so manches Heineschen Witzes erkannt hatte. Unmöglich war es ihm dagegen, die ›Pucelle‹ über wenige Seiten hinaus zu lesen, so sehr widerte sie ihn an. Wohl aber führte ihn das gleiche Thema der ›Jungfrau von Orleans‹ zum Studium von Barantes ›Ducs de Bourgogne‹,40 mit dessen Darstellung der Jungfrau er sich durchaus zufrieden erklärte. ›Alles sei ihm gleichgültig in der Geschichte, Niederlagen und Siege, – bis ein großes Wesen erscheint: dann fesselt aber auch alles.‹ Nach Beendigung des Jeanne d'Arc betreffenden Abschnittes wollte er das weitschichtig angelegte (achtbändige) Werk beiseitelegen; doch ging dies immerhin nicht so leicht: er nahm es immer wieder auf, mit lebhaftem Anteil an der geistvollen Darstellung. Die Episode, wo Karl der Kühne die Königskrone erwartet und Friedrich III., um der Verleihung auszuweichen, in der Frühe zu Schiff heimlich nach Köln abreist, unterhielt ihn sehr, so daß er sie gern wiedererzählte, und schon vorher hatte ihm die Ansprache Ludwigs XI. an seine Generale vor der Schlacht viel Vergnügen gemacht: ›der Kerl war eine ganz Shakespearesche Figur‹. Die ganze Geschichte, fuhr er dann fort, sei doch aber immer nur eine Wiederholung des ›Reinecke Fuchs‹, bis – der große Mensch kommt! – Ähnlich wie mit dem Baranteschen Werk, war es ihm kurz zuvor mit A. Thierrys ›récits Mérovingiens41 gegangen. Er begann [128] sie wegen einzelner merkwürdiger Züge mit Interesse zu lesen, gab sie dann zeitweilig auf, kehrte aber doch, seiner Gewohnheit gemäß, Begonnenes nicht liegen zu lassen und auch durch die geistvolle Darstellung stets aufs neue gefesselt, bis in den Herbst hinein immer wieder dazu zurück. Die mit echt französischer Grazie erzählte, ergötzliche Szene der Diskussion zwischen Gregor von Tours, Priscus und Chilperich zitierte er – offenbar nach frischer Lektüre – noch gegen Ende September und kam immer wieder darauf zurück, wie sehr er diese seinen Erzeugnisse des französischen Geistes genieße und wie er, z.B. Renan es danke, die Frage des Evangeliums ihm wieder recht nahegebracht zu haben. Gegen Liszt äußerte er, bei dessen bald darauf erfolgendem Besuch: er lese jetzt nur noch französische Bücher; deutsche kämen ihm dagegen wie eine unaufgeräumte Schlafstube vor: hier stolpere man über einen Stiefelknecht, dort über ein Paar Strümpfe usw. Erwähnen wir noch Balzacs unübertrefflichen, von ihm ungemein hochgeschätzten ›Curé de village‹, so haben wir damit in ungefährem Überblick diejenigen geistigen Anregungen ziemlich vollständig erschöpft, die er sich in dieser Periode fortgesetzter Arbeit am zweiten Akt und ihrer mehrwöchigen Unterbrechung durch die Marienbader Wasserkur bereitete. Das ›Non!‹ der Veronika in Erwiderung des sie beruhigenden Bischofs fand er prachtvoll, und brach einmal über das andere in den bewundernden Ausruf aus: ›was das doch für ein begabter Mensch gewesen ist!‹ Uns selbst gegenüber wiederum rühmte er die Abwesenheit alles Exklamativen in seinem Stil und hob, unter besonderer Berufung auf ›Pierrette‹ und ihr erbarmungsloses Schicksal, die unvergleichliche Gabe des Dichters hervor, sich so in das Detail eines anscheinend unbedeutenden Wesens zu versetzen und aus ihm heraus die Natur alles Menschenschicksals zu deuten.

Von Besuchen in diesem Sommer könnten wir eine ganze Reihe aufzählen Glücklicherweise trafen sie mit Unterbrechungen ein, da sie ihm, der jetzt um seiner Gesundheit wie um seiner Arbeit willen mehr als je der Ruhe bedurfte, leicht zuviel wurden. Die Münchener Aufführung des ›Siegfried‹, und die bevorstehende der ›Götterdämmerung‹, führte wiederholt Kapellmeister Levi herüber, der ihn besonders auch dadurch rührte, daß das Gefühl seines Judentumes wie ein melancholisch stimmender Druck auf ihm lastete. Scherzend sagte ihm der Meister zum Trost: wenn schon die Katholiken sich für vornehmer hielten, als die so viel jüngeren Protestanten, wären ja doch die Juden die ältesten und allervornehmsten. Auch sprach er ihm seine Befriedigung damit aus, daß er seinen richtigen Namen ›Levi‹ beibehalten habe und nicht, wie seine unzähligen Namensgenossen, hinter dem ›Löwen‹ und seinen zahlreichen Zusammensetzungen (Löwenstein und Löwenfeld, Löwenberg und Löwenthal, Löwenstern und Löwenherz!) verstecke. ›Leben Sie wohl, Sie sonderbarer Mensch!‹ rief er ihm einmal bei seinem Abschiede in [129] jenem warmen Tone zu, der ihm so eigen war und mit dem er das Herz dessen, dem er galt, sich für immer gewinnen konnte. Ein anderes Mal sagte er ihm in bezug auf die ›Bayreuther Blätter‹: ›Was ich damit im Sinne habe, ist nur die absolute Wahrhaftigkeit. Ich suche mit niemandem Streit, aber über alles, was mir in den Mund kommt, spreche ich rücksichtslos meine Meinung aus.‹ Bei einem Besuche seines jungen Verehrers Martin Plüddemann aus Kolberg, war viel von E. T. A. Hoffmann die Rede: seinem alten Freunde, dem Chordirektor Fischer, der jenen noch gekannt, sei die große Ähnlichkeit zwischen ihm und Wagner aufgefallen, und der Meister meinte, mit dieser Beobachtung könnte es schon seine Richtigkeit gehabt haben. Weniger erfreulich war ihm der Eindruck modernisierter altdeutscher Lieder, mit deren Vortrag am Klavier der junge Plüddemann ihn zu erfreuen gedachte.42 Nicht genug konnte dieser aber von dem faszinierenden Wesen des Genies erzählen, dessen Gesicht sich fortwährend verändert, das wechselnde Spiel seiner Gedanken und Empfindungen ausgedrückt habe, so daß man wie gebannt an seinem feingeschnittenen, beredten Munde hing Kein Wunder, daß er die Unterhaltung allein bestritt, und oft kam es vor, daß er sich selbst plötzlich mit den Worten unterbrach: ›Ja, warum laßt Ihr mich denn immer allein reden?‹ Einmal gelang Plüddemann das Gespräch auf den Balladenmeister Karl Loewe zu lenken. ›Das ist ein echter deutscher Meister!‹ rief Wagner aus. ›Aber er hat sich's manchmal zu leicht gemacht, hat zu wenig gesucht!‹ Von einem bei dieser Gelegenheit erhaltenen Eindruck aber wurde Plüddemann nicht müde zu berichten. Es war einmal in Wahnfried beim Mittagstisch, daß die Rede auf Bismarck kam, den der junge Gast als begeisterter Verehrer mit etwas provozierender Wärme, der tragischen Erfahrungen, die der Meister an ihm gemacht, nicht gedenkend, bewunderungsvoll als den größten deutschen Staatsmann pries. ›Es wird mir unvergeßlich sein‹, erzählte Plüddemann, ›was da geschah.‹ Wagners Antlitz bekam etwas Olympisches, Übermenschliches, Jupiterhaftes, die mächtige Stirn hob sich und schwoll, die Augen schossen Blitze. Und nun sei in ungeheuerster Erregung und unaufhaltsamem Redestrom eine furchtbare Philippika losgegangen, die in lapidarer Weise alles zusammenfaßte, was sich an begründeten Einwänden gegen die Politik des eisernen Kanzlers vorbringen ließ. Insbesondere erhob er den Vorwurf: Bismarck habe über der materiellen die geistige Kultur des deutschen Reiches vernachlässigt, für die idealen Interessen des deutschen Volkes nicht genug Sinn gehabt. ›Er war fürchterlich in seinem Zorn und ich saß ganz niedergeschmettert da. Als er das merkte wurde er aber gleich wieder freundlich zu mir.‹ Plüddemann spürte in [130] diesem gewaltigen Titanenzorn etwas wie verschmähte Liebe, gekränktes Vertrauen: nie habe der Meister es Bismarck verzeihen können, daß er ihm in jener bekannten Unterredung eine Förderung seines Unternehmens durch den Reichstag erst zugesagt und dann im Drange der Staatsgeschäfte hatte einschlafen lassen. Diese Gleichgültigkeit gegen die geistigen Interessen der Nation bildete stets das Leitmotiv in Wagners Widerspruch gegen die Politik Bismarcks.43

Vom 2. August ab war, auf Liszts Empfehlung, der nachmalige Professor Kellermann, damals noch ein ganz junger Musiker, als Seidls Nachfolger in dessen Stelle als Kopist und Klavierlehrer der Kinder des Hauses, insbesondere der beiden ältesten Töchter (Daniela und Blandine) eingerückt.44 Auf das liebevollste nahm sich der Meister seiner Erziehung an, doch stieß er bei ihm in seiner vorwiegend im Sinne technischer Virtuosität gepflegten Ausbildung auf manche Schwierigkeit. ›Der neue Musiker Kellermann‹, schrieb uns damals Wolzogen unter anderen vertraulichen Nachrichten, ›ist Klaviervirtuos und hat eine unbeschreibliche Mühe, sich in diese ganz fremde Welt des Dramas einzuleben Seidl war eine Spezialität, die nach außen hin einen beschränkten Eindruck machen konnte, im Innern unseres Kreises aber doch sehr entbehrt wird.‹ Ungefähr in dieselbe Zeit fällt auch ein erneuter Besuch des jungen Freiherrn v. Seydlitz mit Frau und Mutter und ein kleines Diner mit Seydlitzens und Wolzogens. Als hochwillkommener Gast, aber nur auf die kurze Zeit von kaum einer Woche, erschien Karl Klindworth, um als zukünftiger Klavierbearbeiter des ›Parsifal‹ die neue Schöpfung unter Anleitung des Meisters in mehreren aufeinanderfolgenden Sitzungen am Klavier genau kennen zu lernen. Er erfreute durch seinen Chopin-Vortrag, sowie durch die E dur-Sonate von Beethoven (Op. 109). Erinnerungen an London und Paris, an Berlioz, an den Pariser ›Tannhäuser‹ wurden ausgetauscht. Von seinem Werke erklärte der Meister, er sehe bei der Ausführung immer das ganze Bühnenbild, jedes Kommen und Gehen; doch dächte er während des Schaffens nur mit Beängstigung, fast mit Widerwillen an die bevorstehende Aufführung: ›wenn ich höre, daß Vogl schon davon spricht, daß er den Parsifal singen werde, möchte ich die Wände hinanrennen.‹ Leider waren diese Tage durch mancherlei gesundheitliche Belästigungen getrübt, und der Arzt verlangte Schonung. So kamen um die [131] Mitte August der Leipziger Kapellmeister Sucher mit seiner hochbegabten Frau zwar zu des Meisters Freude, aber doch nicht zur rechten Zeit: es kam, wie so oft im Verkehr mit Theaterangehörigen, zu Unterhaltungen über unerfreuliche Dinge, zu veränderter Diät, kurz zu manchem Ungünstigen, das besser unterblieben wäre.

Nichts konnte ihm förderlicher sein, als die völlige Stille des Produzierens und die reine Befriedigung an seiner häuslichen und Familien-Umgebung Beide gingen miteinander Hand in Hand, und das Behagen an der Pflege und Ausschmückung dieser Häuslichkeit bot ihm eine wohltätige Ablenkung seiner Gedanken von den hohen geistigen Problemen der Kunst und des Wissens, des Schaffens und der Lektüre. Die Freude der Kinder an dem gemeinsamen Besuch einer Bayreuther Geflügelausstellung erweckte in ihm die Lust, wie einst in Triebschen, nun auch hier in Wahnfried, den schon vorhandenen Hühnerhof zu vervollkommnen und durch Erweiterung, Vergrößerung und Verschönerung des bisherigen ein geräumigeres Vogelhaus anzulegen. Ende August traf das bestellte Geflügel ein: stolze Hähne, die ›durch ihre Kampflust Bosnien bezwingen konnten‹,45 Tauben um Darwins Neid zu erregen, Pfauen, Gold- und Silberfasane. War auch bei diesem Anlaß seine großherzig liberale Art zu bestellen von den spekulativen Händlern wiederum arg mißbraucht worden, so ergab ihre Ankunft doch viele Heiterkeit. Die Tauben in ihren Kapuzen waren prächtig anzuschauen, und ein Hahn mit stolzem Federbusch erhielt sogleich den Namen ›Berlioz‹, den er von nun an beibehielt. So erging er sich zeitweilig gern auch in der Vorstellung, den Vorplatz seines Hauses, mit der Büste des Königs als Mittelpunkt, in ein Palmenhaus mit Glasdach zu verwandeln, und sah alles schon im Geiste vor sich, ohne doch die Verwirklichung des vorschwebenden Phantasiebildes irgendwie ernstlich ins Auge zu fassen. Ganz andere, drängendere Baupläne nahmen ihn in Anspruch, wie die unerfreuliche Notwendigkeit, zur Entwässerung des Baugrundes von Wahnfried einen unterirdischen Kanal anzulegen, und der notwendige Ausbau der beiden vorderen Nebenhäuser, in deren einem der Gärtner und die Bedienung, in dem anderen Seidl, später dessen Nachfolger Kellermann ihre Wohnung hatten. Schon damals schwebte ihm der Plan vor, das eine dieser Häuser als Wohnhaus für seinen Sohn einzurichten: ein Plan, der erst nach fernen Jahrzehnten durch Siegfried Wagner selbst zur Ausführung gebracht wurde Viel Freude hatte er an Fidi's ausgesprochenem Zeichentalent und seinem Zeichenbuche mit den zahlreichen und mannigfachen darin enthaltenen Skizzen jeder Art; auch sein Töchterchen [132] Isolde besaß dieses Talent in erfreulichem Maße und überraschte die Eltern zu deren Hochzeitstage durch ein von ihr, unter Anleitung von Wolzogens Tante Schinkel, ausgeführtes Aquarell. Allen seinen drei Kindern gemein aber war eine ganz hervorragende Gabe der Nachahmung, die ihn durch ihr unwillkürliches Hervortreten bei gegebener Gelegenheit oft in Erstaunen setzte.

Am 20. August traf Liszt zu seinem alljährlichen, leider immer zu kurzen Herbstaufenthalt in Wahnfried ein, um den Meister wieder durch sein ganz einziges ›aristokratisches‹ Wesen zu erfreuen: alles an ihm sei vornehm, fürstlich, grandios, und dabei immer künstlerisch genial. Er war auf dem Rückweg nach Rom begriffen, so wohl aussehend, wie seit Jahren nicht, heiter gesprächig und völlig fasziniert durch die ihm noch unbekannte Musik des zweiten Aktes. Der Meister spielte ihm zunächst das ›Komm‹, holder Knabe' vor; das fesselte ihn sofort, und nun wurde das Manuskript herbeigeholt und der ganze zweite Akt bis zum Kuß durchgenommen, wobei die Begeisterung Liszts wiederum beglückend auf den Schöpfer des Werkes zurückwirkte und dieser von Genie, Größe und Güte förmlich strahlte. Bald nach Liszt selbst war auch die ihm befreundete Baronin Meyendorff von Weimar her eingetroffen und brachte eine Reihe von Tagen gleichzeitig mit ihm in Bayreuth zu. Andererseits war die schöne Zeit des Zusammenseins der großen Freunde durch Krankheit auf beiden Seiten getrübt: Wagner war angegriffen (beim Singen schmerzte ihm die Brust) und auch Liszt vorübergehend wegen einer Erkältung bettlägerig. Trotzdem gab es am Sonntag zur Feier des Doppelfesttages des 25. August (des Königs Geburtstag und Wagners Vermählungstag) bei sonnigem Wetter eine Ausfahrt nach Eremitage, an welcher auch Liszt sich erfreute. Doch unterbrach der Meister seine Arbeit in den Vormittagstunden nicht: das erhabene ›ich sah ihn und – lachte‹ ward in dieser Zeit von Liszts Anwesenheit komponiert Nachdem am Montag Frau von Meyendorff Abschied genommen, wurde der zweite Akt – zu Liszts höchster, wachsender Bewunderung – zum zweitenmal durchgenommen. Eine große Freude war tags darauf die Ankunft der guten ›Idealistin‹ Malwida, die nicht bloß für einen kurzen Besuch, sondern für volle vier Wochen in Bayreuth sich niederließ, und in keiner Weise als eine Fremde, sondern als ein heimisch trautes Familienglied betrachtet wurde, und mit welcher der Meister gern über ihren theoretischen Sozialismus scherzte. Sogleich am Abend ihrer Ankunft brachte Liszt seine über alles große und herrliche Dante-Symphonie mit hinreißendem Ausdruck am Flügel zum Vortrag; an einem weiteren Abend Beethovens E dur-Sonate, die kürzlich erst von Klindworth (S. 131) gespielte, und seinen ›Orpheus‹. Mit warmer Begeisterung äußerte sich Wagner nach dem Vortrag der Dante-Symphonie über diese erhabene poetische Konzeption, wie schön sich Liszt darin aller rein [133] äußerlichen musikalischen Malerei enthalten habe, in welche Berlioz bei einem ähnlichen Gegenstande verfallen sein würde, wie edel und rein die Empfindung im Purgatorio wäre, von der man nicht sagen könne, ob es Zerknirschung, ob es Hoffnung sei, die darin gleichsam nicht aufzublicken wage; und wie schön das Fugato! Aber es sei kein Publikum dafür da. Bildung gehöre dazu, man müsse einen Eindruck von Dante erhalten haben, auch ein Verständnis für den Katholizismus besitzen. Im ›Orpheus‹ rühmte er wiederum die edle dichterische Konzeption. Die unsägliche Bescheidenheit Liszts in bezug auf seine Werke rührte auch diesmal den Meister außerordentlich, der in seiner heiter herrlichen Weise scherzend von sich behauptete, er habe so vieles aus den Symphonischen Dichtungen ›gestohlen‹, er und andere: diese Lisztschen Schöpfungen seien in ihrer abgelegenen Verborgenheit eine wahre Vorratskammer für Diebe, eine ›Diebsgrube‹ (repaire de voleurs).46 Zu diesen erhebenden Eindrücken wechselseitiger Anregungen beider Meister kam dann noch das traute Familienzusammensein mit all seinen herrlichen, heiteren und erfreulichen Momenten. So trafen die vorerwähnten Hühner, Pfauen, Fasane gerade in dieser Zeit der Anwesenheit Liszts und Malwidas ein Wagner hatte sie eigentlich zum 25. August (seinem Vermählungstag) als Überraschung für seine Frau bestimmt; da aber der Umbau des Vogelhauses noch nicht fertig war, konnten sie noch nicht sichtbar vorgeführt werden Dagegen saßen einstweilen die Kinder auf dem Hühnerhofdach und sangen: ›o wie wohl ist mir am Abend!‹, während die Erwachsenen an ihnen vorüber in den Garten schritten, um sich in dessen Frische zu ergehen. Und einige Tage später war denn auch die neue Fasanerie soweit hergerichtet, daß die bunte gefiederte Menge darin nach aller Bequemlichkeit installiert werden konnte, weshalb denn nach Anordnung des Hausherrn das allgemeine Morgenfrühstück mit Kindern und Gästen im Freien, unmittelbar vor dem Drahtzaun des Hühnerhofs eingenommen wurde. Unter diesen Umständen kam Liszt diesmal nicht so leicht los, sondern mußte seine Abreise von einem Termin [134] zum andern verschieben. ›Voraussichtlich‹, schrieb er an die Fürstin, ›werde ich erst am 31. August dort (in Rom) eintreffen. Cosima und Wagner halten mich zu meiner eigenen großen Befriedigung hier zurück; und im Grunde haben sie vollauf recht, mich nicht von ihnen und ihrem Wahnfried zu trennen: was gäbe es denn auf Erden noch anderes zu suchen und zu erstreben, als diese Pflicht der Liebe?‹ Und wiederum, am folgenden Mittwoch, am Morgen nach dem, durch die ›Dante‹-Symphonie der Erinnerung für immer geweihten Tage, kommt er wieder auf den Punkt seiner Abreise zurück und bestimmt dafür einen neuen Termin. ›Eigentlich wollte ich morgen, Donnerstag, mich auf den Weg machen: aber mehrere Gründe bestimmen mich, meine Abreise bis zum Sonnabend, 31. August, zu verschieben Einerseits redet man mir zu, noch diese zwei Tage hierzubleiben; andererseits ist Spiridion47 ziemlich unwohl, und mediziniert‹ Seines eigenen vorübergehenden Unwohlseins gedenkt er in diesen Mitteilungen, in sehr charakteristischer Weise, mit keinem Wort, sondern nur desjenigen seines Dieners. Dem Meister war es nicht leicht, seinen großen Freund überhaupt, und gar nach Rom, entlassen zu sollen: er äußerte seine Antipathie gegen die Siebenhügelstadt in sehr offener Weise. Alle Denkmäler daselbst sprächen nur von schändlichen und von geknechteten Menschen, von den römischen Kaiserzeiten an bis zu den Jesuitenkirchen und den Palästen der Kardinäle – wie anders sei es in Florenz, Genua, Venedig! In der Tat war es auch von Liszts Seite keine Vorliebe für Rom, die ihn immer wieder dahinzog, und Malwida zitiert in dieser Beziehung den von ihm einmal – bei seiner sonst sanften Art zu reden – mit fast bitterer Bestimmtheit getanen Ausspruch: ›es ist für eine Person, daß ich komme, sonst setzte ich den Fuß nicht mehr hierher‹.48 Es war von seiner Seite eine nie endende Bezeugung seiner Anhänglichkeit und ritterlich verehrenden Freundschaft für die Fürstin, und demnach eine feste Lebensgewohnheit, die er bis an das Ende aufrecht erhielt. Um so mehr wurden die kurzen Tage seines Bayreuther Besuches von allen Beteiligten genossen; von ›Parsifal‹ wurde der erste Akt wieder vorgenommen, ein andermal spielte Liszt mehrere Préludes von Chopin Selbst die in Liszts gleichmäßiger Lebensordnung ihre bestimmten, gleichsam diätetische Bedeutung behauptenden ›Whistpartien‹ (S. 82) wurden nach solchen erhebenden Eindrücken wieder aufgenommen, unter Beteiligung beider ›Genies‹, der Gattin des Meisters und schließlich auch Malwidas, nachdem diese sich anfangs bloß als Zuschauerin verhalten hatte. Wagner war dabei übersprudelnd von Witz und guter Laune, das Bild der Heiterkeit der Natur in ihrer unversieglichen Kraft und Schaffenslust; Liszt hingegen mild und freundlich, wie das Bild [135] ihrer herbstlichen Melancholie. Am letzten Tage seines Bayreuther Aufenthaltes wurde ein gemeinsamer Nachmittagsbesuch bei Wolzogens ausgeführt, die damals noch nicht in ihrem eigenen Hause neben Wahnfried wohnten, an welchem noch gebaut wurde, sondern in einem der letzten Häuser der Kottenbacher (jetzt Schiller-)Straße ihre bereits erwähnte provisorische Mietwohnung innehatten. In seiner Generosität spendete Liszt den jungen Freunden an einem Instrument, das weit davon entfernt war ersten Ranges zu sein, als Gastgeschenk die Wiederholung seiner ungeheueren ›Dante‹-Symphonie, bei deren erster Vorführung in Wahnfried sie, da Wolzogen wegen eines Halsleidens Stubenarrest hatte, nicht zugegen gewesen waren ›Jene »Dante«-Symphonie‹, so berichtet Wolzogen,49 ›spielte Liszt, in seiner unvergleichlichen Güte, hier bei uns auf dem kleinen Pianino, das in das Eßzimmer geschoben war, so weltentrückend gewaltig, daß eben nur Wagner dafür noch ein Wort finden konnte!‹ Dann kam der Tag des Abschiedes heran. Nur schwer wurde der teure Gast entlassen, und die fühlbare Leere nach einem solchen Scheiden bewirkte eine trübe Stimmung, die sich nur durch Wiederaufnahme der Arbeit überwinden ließ.

Bis tief in den Herbst hinein blieb die treue ›Idealistin‹ der heimisch traute Gast des Hauses. ›Ihre Bedeutendheit, auch mit ihren Verirrungen in das Phantastische, beruhte in der unendlichen Güte und Reinheit ihres liebevollen Herzens, das ihrem ganzen, stillen Wesen den warmen Zauber der liebenswertesten, echten, natürlichen Menschlichkeit verleiht und ihr bloßes Dasein zu einer wahren Annehmlichkeit des Lebens macht, die auch Wagner sehr zu schätzen weiß‹. So schrieb uns damals Wolzogen unter dem unmittelbaren Eindruck dieser ihrer Anwesenheit, und so wurde dieselbe von ganz Wahnfried empfunden. Der Meister trank um diese Zeit Emser Wasser, und klagte wiederholt über einen Druck auf der Brust; auch waren seine Nächte nicht selten unruhig. Er würde nie wieder, so sagte er, solche leidenschaftliche Szenen komponieren, wie die, welche er jetzt vorhabe; er habe es schon beim ›Tristan‹ verschworen.50 Der dritte Akt der ›Walküre‹ sei dagegen die reine ›Freude‹ gewesen, und im ›Tristan‹ wenigstens die Wonne des Leidens der Sehnsucht, hier aber nur das Leiden der Liebe Ganz beherrscht von dem Ungeheueren dieser Vorgänge, kam es vor, daß er nach dem Niederlegen zur Nachtruhe in heißer dunstiger Nacht bei Mondschein wieder aufstand und in den Saal hinabging, um in den ›Ducs de Bourgogne‹ zu lesen: wobei ihm denn ›Orpheus günstiger als Morpheus‹ gewesen, indem ihm dabei ein im Tageslauf vergeblich gesuchtes Thema eingefallen sei, das er sich notiert und für den folgenden Morgen in die Westentasche gesteckt habe. Von dem Morgen selbst berichtete er, daß er ihn eigentlich mit einer Siesta beginne, wonach er [136] eine ›furchtbare Schwere‹ empfinde – erst allmählich würde ihm leicht, und dann könne er arbeiten. Wenn er aber auch bei den Mittagsunterhaltungen wieder seinen Rheumatismus und die ›Stiche am Herzen‹ erwähnte, konnte er doch trotzdem, und selbst über dieses Kapitel scherzend, in die heiterste, übermütigste Laune geraten. Das nächtlich aufgezeichnete Thema war das zu ›ein Andres ist's‹ nach dem vorausgehenden mächtigen ›die Labung, die dein Leiden endet‹ Eben diese Stelle ›ein Andres ist's‹ bezeichnete er ihrem poetischen Inhalt nach als sehr merkwürdig: sie übersteige im Didaktischen fast die Grenze des Erlaubten; er sei nie so weit gegangen; aber – man werde schon sehen! Einmal erzählte er bei Tisch, er habe alles gestrichen, was er gestern gemacht, und fügte nachmittags die Äußerung hinzu: ›es muß 3/4 Takt sein‹. Ein anderes Mal klagte er mit unbeschreiblichem Humor darüber, daß jetzt, wo er Kundry zu komponieren habe, ihm nichts als heitere Symphoniethemen einfielen, und sprach wiederum seinen Wunsch aus, nach dem ›Parsifal‹ nur noch Symphonien zu schreiben ›Symphonische Dialoge‹ würde er diese Symphonien nennen, denn auf die vier Sätze im alten Stil könne er sich nicht mehr einlassen. Aber ein Thema und ein Gegenthema müsse man haben, und sie miteinander reden lassen, die ganze Symphonie von Brahms habe das nicht. Er sänge sich zuweilen Themen von Mendelssohn vor, von Schumann sei ihm das nicht möglich, und bei Brahms habe er wirklich an seiner musikalischen Rezeptivität zu zweifeln begonnen, bis er an seiner Freude über Sgambati51 erkannt habe, daß er noch rezeptionsfähig sei. Sehr erregend und in hohem Grade peinlich berührte ihn jede Vorstellung einer Berührung des soeben in seinem Geiste entstehenden Werkes mit den bestehenden Theaterverhältnissen, insbesondere jeder entfernte leiseste Gedanke an die bloße Möglichkeit einer auswärtigen Aufführung desselben. Ein Brief des Münchener Intendanten v. Perfall sprach dessen Bedauern darüber aus, daß er, der Meister, wohl kaum einer Einladung, der ›Götterdämmerung‹ in München beizuwohnen, folgen würde, und fügte den Vorschlag hinzu, mit einem seiner Maler ihn, wegen der Dekorationen zu ›Parsifal‹, in Bayreuth besuchen zu wollen! ›Gott‹, klagte er, ›schon mit solchen Leuten über die Dekorationen meines »Parsifal« verhandeln zu müssen! Aber‹, fügte er hinzu, ›ich denke darüber, wie die Protestanten von der Hölle: es wird wohl so schlimm nicht werden!‹ Denn der Entschluß, sein Werk vor solchen entweihenden Möglichkeiten zu bewahren, stand schon in ihm fest; sonst hätte er nicht an dessen Ausführung weiter arbeiten können; es wäre ihm künstlerisch, moralisch und physisch unmöglich gewesen Einstweilen begnügte er sich, so steif und zurückhaltend als möglich darauf zu antworten War ihm doch schon der Gedanke an die eigene Bayreuther Aufführung fast störend! ›Ach‹, rief er, ›es graut [137] mir vor allem Kostüm-und Schminkewesen: wenn ich daran denke, daß diese Gestalten, wie Kundry, nun gemummt werden sollen, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!‹ – ›Und das unhörbare Orchester‹, fügte er hinzu, das kummervolle Sinnen mit Humor beschließend.

In die Periode von Malwidas Bayreuther Aufenthalt fallen noch einige Besuche von außen her, unter denen wir – der Zeit nach – zunächst den ihres Neffen, des fürstl. Reußschen Hofmarschalls Karl v. Meysenbug52 erwähnen. Sie hatte diesen Neffen zuletzt als zehnjährigen Knaben gesehen und ihn deshalb, zum Zweck eines Wiedersehens zu sich eingeladen, um ihre langunterbrochenen Beziehungen in persönlichem Verkehr wieder anzuknüpfen, wobei ihn denn auch der Meister bei Tische im Familienkreise empfing und ihm u.a. in seiner beredten Weise die Aufgabe des Adels und den Beruf der Fürsten, durch Assoziation die idealen Güter der Nation zu wahren, darlegte. ›Ich wurde auf das liebenswürdigste im Hause Wahnfried aufgenommen‹, berichtete uns Freiherr v. Meysenbug selbst, ›war zum Dîner en famille und abends im engsten Kreise dort und hörte und sah Unvergeßliches! Nachmittags besuchte ich unter Führung meiner Tante das Festspielhaus mit seinen vielen Erinnerungen an die »Ring«-Aufführungen von 1876; diesen selbst beizuwohnen, war ich leider verhindert gewesen, da ich in demselben Sommer meine Heimat verlassen mußte, um in eine ganz neue Umgebung und Dienststellung überzusiedeln.‹53 Ein um so getreuerer Anhänger der Bayreuther Sache blieb er von jetzt ab in alle künftigen Zeiten. Unbedingt wohltätig wirkte (16. und 17. September) der Besuch eines liebsten und wertesten, leider nur selten außerhalb seines Wiener Wohnsitzes sich zeigenden Freundes: Dr. Joseph Standthartner; mit ihm wurden u.a. auch allerlei aktuelle österreichische Themata mit Betrübnis durchgesprochen, u.a. die schwierige Lage, in welche der Leichtsinn der Andrassyschen Politik den österreichischen Staat gegen Bosnien und die Herzegowina gebracht habe. Der übermütige Scherz des damaligen österreichisch-ungarischen Ministers des Äußeren, er werde beide Länder mit einer bloßen Militärkapelle erobern, hatte sich als ein verhängnisvoller Irrtum bewiesen: statt dessen mußte Österreich, um den Aufstand der Bosniaken und Herzegowzen niederzuschlagen, nicht weniger als vier Armeekorps und eine Honvedbrigade aufbieten, also den dritten Teil der [138] gesamten österreichisch-ungarischen Landmacht! Von Gastein kommend, berichtete Standthartner von den befremdenden Maßnahmen, die daselbst zur Sicherung der Person des Kaisers für gut befunden waren: der hohe Badegast sei stets von Polizeileuten umgeben und wenn jemand, bei der Annäherung des Kaisers oder Bismarcks zufällig die Hand in der Tasche habe, werde er höflichst ersucht sie herauszuziehen! Auch wurden allerlei Erinnerungen an den guten Peter Cornelius ausgetauscht, wobei es der Meister sich nicht aus dem Sinn schlagen konnte, daß jener ihm einmal gesagt – als etwas ganz Natürliches: er, Wagner, ›ließe seine alten Freunde fallen (!!)‹, während leider umgekehrt er das traurige Bewußtsein habe, daß sie ihn aufgegeben, sobald er sie über die engen Grenzen ihrer ›Unabhängigkeit‹ und ›Selbständigkeit‹ hinaus zu erheben versucht und ihnen mehr zugemutet, als sie zu leisten befähigt waren: so Herwegh, so Baumgartner, so Cornelius, Weißheimer, Karl Ritter usw. Seinen Höhepunkt erreichte dieses Zusammensein für Standthartner dadurch, daß ihm der Meister das ›Parsifal‹-Vorspiel und einiges von den Blumenmädchen zu hören gab – mit jenem über alle Anwesenden hinweg schauenden weltentrückten Blick des Genius, der ihm bei solchen tönenden Offenbarungen aus dem Innersten zu eigen war.

Eine Freude für das ganze Haus war am Nachmittag des 20. September die Rückkehr der ältesten Tochter Daniela von einem mehrmonatigen Aufenthalt in London, bei welchem sie vieles erlebt und eine frühe Weltkenntnis erworben hatte, die ihr die Rückkehr in den Kreis der Ihrigen um so beglückender machte. ›Das ist unser Reichtum‹, sagte er zu Malwida, indem er auf die – nun wieder vollzählige – blühende Kinderschar hinwies. Um so größere Sorge bereitetete ihm um diese Zeit ein Unwohlsein Siegfrieds, den er blaß aussehend fand und dessen im Parterre zur Gartenseite hin belegenes Wohnzimmer ungesund sein sollte. Auch dies Unwohlsein bildete ein mit Standthartner während seines allzukurzen Besuches durchgesprochenes Thema, das in seinem weiteren Erfolg wiederum zu den schon erwähnten ernstlichen Bauplänen für Wahnfried (S. 132) überleitete. Die gleiche Sorge dauerte noch fort, bis eine Übersiedelung des Knaben aus seiner schönen Stube, auf deren liebevolle Ausschmückung durch die Hand der Eltern er stolz war, in die oberen Räume des Hauses vor sich ging. Um diese Zeit wurde zum ersten Male in Wahnfried der Name Heinrich von Stein genannt. Diesen noch ganz jungen Mann hatte Malwida im letztverflossenen Winter während seines Aufenthaltes in Rom kennen gelernt. Er hatte sich ihr als einen Schüler des Berliner ›Wirklichkeits‹-Philosophen Eugen Dühring vorgestellt und sehr aufrichtig seine Hinneigung zum Sozialismus bekannt, war noch unfertig in seinen Anschauungen und Urteilen; aber sein edler reiner Charakter, schon völlig erkennbar, hatte sie für ihn mit wahrer Sympathie erfüllt. ›Als ich ihn‹, so erzählte sie über dieses erste Zusammentreffen, ›nach [139] seinen Zukunftsplänen fragte, sagte er, es sei sein höchster Wunsch, in einer Familie, wo er als Freund aufgenommen und behandelt würde, die Erziehung eines Knaben zu übernehmen und nach seinem Sinn zu leiten. Ich sprach ihm mein Bedenken aus, daß dies wohl schwer zu finden sein würde. Nun fragte mich während dieses meines Besuches einmal Wagner, ob ich nicht einen gebildeten, in jeder Beziehung empfehlenswerten jungen Mann kenne, der wie ein Freund zu der Familie gestellt sein sollte und die Erziehung Siegfrieds übernehmen würde, den er nicht gern in die öffentlichen Schulen schicken wolle. Ich mußte lachen über dies merkwürdige Zusammentreffen und erzählte nun von dem Wunsche Steins, worauf Wagner mir alsbald den Auftrag gab, diesem zu schreiben. Die Antwort war ein freudiges Eingehen auf den Vorschlag, nur stünde ihm gerade sein Jahr Militärdienst bevor. Er fügte aber hinzu, wenn Wagners ein Jahr warten wollten, so könne er sich kein schöneres, alte seine Wünsche krönendes Geschick denken. Nach einem Jahre‹, so beschließt sie ihre Erzählung dieser Episode, ›kam diese Vereinigung wirklich zustande, zu gegenseitiger höchster Zufriedenheit.‹54

Als gemeinsame Abendlektüre erfreute in dieser trauten Malwida-Periode u.a. ein geistvoller Aufsatz von Konstantin Frantz über das Sozialistengesetz,55 vom Meister selbst vorgetragen, woran sich ein anhaltendes Gespräch über die traurige Leitung der deutschen Angelegenheiten knüpfte. Als Manuskript für die ›Bayreuther Blätter‹ hatte auf Anregung Wolzogens (die wiederum im Auftrag des Meisters erfolgt war), der soeben genannte ›Wirklichkeits‹- PhilosophDr. Eugen Dühring eine Abhandlung über die deutschen Universitäten eingesandt, die an einem anderen Abende vorgenommen wurde. Sie enthielt sehr richtige Wahrnehmungen und Bemerkungen, war aber nicht sehr gut geschrieben56 und erschien aus verschiedenen inneren Gründen gerade für die Blätter nicht geeignet; da sie aber immerhin auf seine Anregung hin entstanden war, wünschte der Meister sie in Separatdruck als besondere Broschüre erscheinen zu lassen und sie selbst in den Blättern anzuzeigen Hiermit wiederum war der Verfasser nicht einverstanden und forderte sein Manuskript zurück, um sich später über den ganzen Vorgang mit überflüssiger Bitterkeit auszulassen.57 Dagegen erregte der Aufsatz des geistvollen spanischen Anatomieprofessors José de Letamendi: ›Gedanken über die Bedeutung der künstlerischen Bestrebungen Richard Wagners‹, im Septemberheft der ›Bayreuther Blätter‹,58 [140] durch Aufbau und Durchführung, Bilder, Gedanken, Gesinnung, Sprache die helle Freude des Meisters und aller Zuhörer desselben bei seiner abendlichen Vorlesung: so viel Geist, Geschmack, Form, Originalität, Witz gab sich darin kund, als wäre das Spanien des Cervantes noch einmal erwacht, um den großen deutschen Künstler zu erfassen und zu begrüßen. An Vorreden des Cervantes erinnerte ihn das kleine Kunstwerk, und nur mit einem Seufzer konnte er es den form- und inhaltlosen Produkten der deutschen Literaten vergleichend gegenüberstellen. Dies brachte ihn auf die kurz zuvor noch von Konstantin Frantz aus unmittelbarer eigener Anschauung geschilderte Verwandtschaft zwischen Spaniern und Deutschen,59 die viel sichtbarer hervortrete als die Verwandtschaft zwischen Deutschen und Italienern, bei welchen letzteren die Malerei alles absorbiert hätte: er glaube nicht, daß ein Italiener dies hätte leisten können. In diesem Sinne brachte er seine aus dem schönen, geistvollen Aufsatz gewonnene Befriedigung auch sogleich in einem eingehenden Brief an Marsillach zum Ausdruck.

In unserer Betrachtung der auswärtigen Aufführungen waren wir zuletzt bis zum ›Siegfried‹ in München (10. Juni) gelangt, welchem dann am 15. September die ›Götterdämmerung‹ und im November die erste Gesamtaufführung des ganzen vierteiligen Werkes – die erste außerhalb Bayreuths – folgen sollte Inzwischen hatte Leipzig die beiden letzteren Werke des Zyklus, ›Siegfried‹ und ›Götterdämmerung‹, vorbereitet, um diese an dem dafür kontraktlich vereinbarten Termin des 21. und 22. September zu bringen und dann mit Beginn des neuen Jahres ebenfalls an die Gesamtaufführung des ganzen Werkes zu schreiten Hamburg, welches nach dem verkehrten Wiener Vorbilde die ›Walküre‹ zuerst gebracht hatte, bereitete nun auch ›Rheingold‹ und ›Siegfried‹ vor; das kleine Braunschweig hatte es, nach dem besseren Vorbilde von Weimar, in richtiger Folge sogleich mit dem ›Rheingold‹ gewagt. Nur die glänzende Reichshauptstadt Berlin stand halb grollend, halb mißtrauisch abseits; das reichdotierte Hoftheater überließ es dem Zirkus Renz, die Berliner erstmalig mit dem ›Walkürenritt‹ auf seine Weise bekannt zu machen, wozu der Meister ebenso gutgelaunt als bereitwillig seine Erlaubnis gegeben hatte. Gerade wie Neumann (S. 92) in Leipzig war daher auch Direktor Ernst in Köln auf den Gedanken geraten, mit seiner Truppe nach [141] Berlin zu gehen, um dort den ›Ring‹ als Gesamtgastspiel zu geben; der Meister selbst hatte nichts dagegen, doch war – nach allem bereits Erfahrenen (S. 53) – seitens der dortigen Generalintendanz zu gewärtigen, daß sie all ihren Einfluß dagegen aufbieten würde. Nur die Unterbringung von Jäger und Seidl (S. 118, 120) hatte nach wie vor ihre Schwierigkeit: eine Empfehlung Seidls als Volontär nach Hamburg wurde von Direktor Pollini bloß in dem einzigen Sinne verstanden, daß der Meister kein Vertrauen in seine ›angestellten Dirigenten‹ habe, worüber er sich fast empfindlich beklagte! Ganz so war es ihm einst mit Hans Richter am Dresdener Hoftheater gegangen, wo man sich anläßlich der ›Meistersinger‹ weigerte, den ›angestellten Dirigenten‹ (Rietz!) ›durch einen jüngeren Musiker überwachen zu lassen‹60 anstatt sich zu sagen, daß dieser ›jüngere Musiker‹ als unmittelbarer Schüler des Autors in dessen verborgenste Intentionen am besten eingeweiht war, und seine Mitwirkung daher dem ›angestellten Dirigenten‹ in jedem Sinne zustatten kam. Die Vorbereitungen zu den Leipziger Aufführungen z.B. lagen ganz in seinen Händen. Kapellmeister Sucher, mit dem alles darauf Bezügliche bei seinem Besuche (S. 132) wohl verabredet war, war einstweilen im wesentlichen nur als passiver Zuhörer daran beteiligt und hatte sich mit sehr gutem Anstand in diese Lage zu finden gewußt, wofür er dann nachträglich den ganzen scheffelweis gemessenen Tagesruhm einerntete. So war und blieb es in Wien bedenklich, daß man an Stelle Jägers wieder zu dem unglückselig unfähigen Glatz (S. 96, 120) gegriffen hatte, und empfand es der Meister als eine Erleichterung seiner Sorge, als es sich gegen Ende September herausstellte, daß wenigstens dieser ad acta gelegt war und er nun, da es mit Glatz gar nicht, mit Labatt kaum noch ging, um so nachdrücklicher für Jäger eintreten konnte. Bei alledem mußte ihn das Eigentümliche und Schöne der Erfahrung einer wirklich eintretenden Popularität seines ungeheuren Werkes als etwas ganz Unerwartetes immer von neuem überraschen. In München sollte die ›Götterdämmerung‹ einen frenetischen Enthusiasmus ohne Ende hervorgerufen haben. Und von Leipzig aus telegraphierte ihm Seidl gleich nach dem ersten Akte des ›Siegfried‹ (21. September): Unger, von dessen unzureichender Stimme so viel zu befürchten gewesen war, sei buchstäblich ›vom heiligen Geiste gesegnet‹ gewesen, alles habe gestaunt und unter grenzenlosem Jubel sei er fünfmal gerufen worden. Als nach dem zweiten Akt keine weitere Kunde kam, fingierte er scherzend eine üble Nachricht erhalten zu haben und ging ›heulend‹ an Malwidas Tür, was dem Abend einen äußerst heiteren Abschluß gab. Allerdings war dieses Schweigen nicht völlig bedeutungslos: wenn auch das Leipziger Publikum nichts davon merkte, hatte das unzuverlässige, in seiner ursprünglichen Ausbildung verdorbene[142] Organ Ungers für den dritten Akt nicht mehr ausgereicht, und in einem mehrere engbeschriebene Quartseiten umfassenden eingehenden Briefe an den Meister gab dann Seidl einen genauen, sachlich exakten Bericht über alle Einzelheiten dieser Aufführungen.61 Schon vorher aber hatte Wagner in einem, aus der Fülle seiner Befriedigung an dem ganzen Vorgange ›obgleich zur Stunde ihm noch Nachrichten über den schließlichen Ausfall der Aufführungen fehlten‹ – Neumann brieflich (23. September) für den von ihm bewiesenen Mut und Eifer, und sein großes Geschick, die offenste und vollste Anerkennung gezollt.62

Von einer Abreise der trefflichen ›Idealistin‹ wollte er nichts wissen, so sehr war sie durch ihr liebenswürdiges Naturell zu einem unentbehrlichen Bestandteil der täglichen Geselligkeit des Hauses geworden. In einem vertraulichen Briefe vom 23. September teilt sie sich darüber mit, daß sie – bei der vorherrschenden Kälte – gern nach Rom zurück möchte: ›aber – Wotan zürnt sogleich, so daß es fast unmöglich ist, davon zu sprechen. Sonst ist der Meister in guter Stimmung und die unerhörten Erfolge des »Siegfried« und der »Götterdämmerung« in München und Leipzig freuen ihn sehr.‹63 Während dieser letzten Wochen ihres Besuches kam es noch zu reichen und erhebenden Abendstunden, bei denen Wagner entweder vorlas oder durch musikalische Vorträge die Anwesenden in Ekstase versetzte. ›Ein Abend ward dort von uns erlebt, der mir ewig unvergeßlich bleibt‹, meldete uns darüber Wolzogen. Es war der 24. September, außer Malwida und Wolzogens war die Feustelsche Familie und Frau Jäger dazu anwesend. ›Nach einer unversiegenden Flut heiterster Späße krönte Wagner das Entzücken aller durch den ganz unbeschreiblich einzigen Genuß des Vortrages zweier außerordentlicher Loewescher Balladen, der tragisch düsteren: »wie ist Dein Schwert von Blut so rot? Edward! – Oh!« und der dämonisch humoristischen »Walpurgisnacht«. An die Großartigkeit des Grausens der Tragik in der ersteren bei des Meisters Vortrage reicht nichts heran, was ich bisher erlebte. die tolle hexenhaft lustige Steigerung des grotesk Schauerlichen in der zweiten bot dazu ein wunderbares, alles in die höchste Aufregung des unbändigen Gelächters über ein ganz Unbegreifliches versetzendes Gegenstück.‹ Außerdem sang er mit Frau Jäger gemeinschaftlich ›wenn mir Dein Auge strahlet‹ – immer göttlich in Ernst und Scherz – und die aus London heimgekehrte [143] älteste Tochter Daniela bekundete vor diesem intimen Kreise ihre ausgesprochenen Fortschritte im Klavierspiel. ›Ein anderer Abend verschaffte uns das Glück, das erste Finale des »Figaro« von Wagner am Klavier vorgetragen zu hören.‹ Hieran schloß sich eine Gedankenreihe, wie sie bald darauf in dem Aufsatze ›das Publikum in Zeit und Raum‹ zu so bedeutendem Ausdruck kam. Was er darin über die tragische Verbindung des Zeitlichen und Ewigen in diesen Meisterwerken lehrte, dieses Ewige im Zeitlichen ward dem Zuhörer an einem solchen Abende erst wahrhaft bewußt. An zwei aufeinanderfolgenden Abenden war es Tiecks ›gestiefelter Kater‹, der durch seinen Vortrag zu einzigartigem Leben gelangte ›Aber‹, fügte er hinzu, ›selbst solch ein Publikum, wie es da persifliert würde, gäbe es heute nicht mehr.‹ Durch keine Schilderung festzuhalten war dabei der Blick, wenn er Shakespeare vortrug, das bleiche leuchtende Antlitz, über welches die erhaben strahlende Stirn sich wölbte, der Ton der Stimme, das aus ihm quellende Leben von Schwermut, Güte, Humor: So las er an einem Oktoberabend die Polonius-Szenen aus ›Hamlet‹, an einem andern die Jago-Szene aus dem ›Othello‹, von dem ›das gefällt mir nicht‹ an, – zur allgemeinen Erschütterung ›Ja‹, sagte er dann, ›und was hat ihm dies eingegeben? Er hat jene italienische Novelle (des Giraldi Cinthio) gelesen, und nun konnte er nicht anders als so sehen.64 Da zeigt es sich, wie töricht es ist anzunehmen, daß der Dichter aus dem eigenen Leben schöpfe: eine Leidenschaft, in welcher man steckt oder gesteckt hat, die kann man nicht schildern‹ Kurz zuvor hatte er, nachdem er den dritten Akt ›Tristan‹ gespielt, sich über den ihm hinterbrachten wunderlich kurzsichtigen, von dem Meister oft vertraulich zitierten Ausspruch des greifen Reichsoberhauptes aus den Tagen der Berliner ›Tristan‹-aufführungen: ›wie muß Wagner damals verliebt gewesen sein, als er den Tristan schrieb! » ganz ähnlich geäußert« Man weiß gar nicht, wie abseits aller Erfahrung, aller Wirklichkeit, diese Dinge vor sich gehen! Es war in mir ein grenzenloses Bedürfnis musikalisch zu schwelgen, mich musikalisch auszurasen, wie wenn ich eine Symphonie zu schreiben hätte. Ich werde einmal etwas darüber schreiben müssen, wie des Geistes Leben vor sich geht und daß das innerliche Schauen des Dichters nichts mit den äußeren Erlebnissen zu [144] tun hat, die es nur trüben können, – so daß eher Dasjenige, was man im Leben nicht findet, im künstlerischen Bilde sich darbietet‹!65 Auch ›Oper und Drama‹ wurde zur Lektüre herangezogen und an die Bemerkung über das Roß des Achilleus, welches den Helden vor dem Tode warnte,66 knüpfte er dann die Vorlesung der entsprechenden Stelle aus der Ilias. Als aber von gewissen grausamen Experimenten die Rede war, die Prof. Goltz in Straßburg kürzlich an lebenden Hunden gemacht, denen er zu irgendeinem pseudowissenschaftlichen Zwecke das große Gehirn zerstört habe und Malwida – im Widerspruch zu ihrem sonstigen menschlich natürlichen Gefühl67 – es versuchte, diesen ›wissenschaftlichen‹ Zweck zu erörtern, sah sie der Meister mit einem furchtbaren Blick an, das Gesicht bleich, den Kopf zurück, und erklärte seinen Abscheu gegen diesen nutzlosen Frevel, nimmermehr käme man auf diesem blutigen Wege dem Wesen der Dinge näher. Der hier geschilderte Moment war das interne Vorspiel seines, ein Jahr später bei gegebener Veranlassung öffentlich ausgesprochenen, flammenden Protestes gegen diesen Mißbrauch der physiologischen Forschung, der in Hunderten und Tausenden von Herzen einen widerhallenden Nachklang fand.

Am 10. Oktober nachmittags befand sich die treue Freundin des Hauses mit den Kindern im Garten. Wagner hatte die Mahlzeit an diesem Tage, da er sich nicht völlig wohl fühlte, mit seiner Gemahlin allein im oberen Raume, dem sog. ›Kindersaal‹, eingenommen. Als sie in das Haus zurückkehrte, kam ihr das erlauchte Paar entgegen, und der Meister rief ihr freudig zu: ›Wir feiern heute unser fünfundzwanzigjähriges Jubiläum, unsere silberne Hochzeit!‹ Welche Bewandtnis es mit diesem Jubiläum hatte, weiß der Leser [145] aus unserer eigenen früheren Darstellung: es knüpfte sich an die allererste persönliche Begegnung beider am 10. Oktober 1853 in Paris, – an einen Gedenktag, der beiden Teilen mit all seinen Einzelheiten, z.B. auch der zufälligen Anwesenheit Berlioz', seitdem immer noch deutlichst vorschwebte, sogar daß es abends sieben Uhr war, als damals der Meister an der Hand Liszts in die stillen engen Räume der Rue Casimir Perrier eintrat,68 um bald darauf die Vorlesung seiner ›Götterdämmerung‹ zu beginnen. Fünfundzwanzig Jahre des Kämpfens, des Ringens, der Entbehrung waren darüber verflossen, zehn Jahre des engsten, unvergleichlichsten Zusammenlebens, des ungetrübten Glückes einer erhabenen Liebe zweier Hochgeborenen, seit Anbeginn für einander Bestimmten, deren Bündnis auch das Bayreuther Werk seine Entstehung und seine Fortdauer über die Grenzen ihres Daseins hinaus verdankte. ›Das Schicksal‹, sagt Malwida, ›war diesmal, was es nicht immer ist, groß dem Großen gegenüber.‹

In die ersten Oktobertage fällt die Aufzeichnung des bereits erwähnten (am 11. Oktober vollendeten) Anhanges und Schlußaufsatzes zu der Artikel-Reihe ›Publikum und Popularität‹, unter der Aufschrift: ›Das Publikum in Zeit und Raum.‹ Den Anlaß zur Entstehung desselben hatte der Eindruck jener Vorführung der ›Dante‹-Symphonie durch Liszt am Klavier gegeben. ›Nach ihrer erneuten Anhörung fühlte ich mich‹, sagte er selbst, ›abermals von dem Problem befangen, welche Stellung dieser ebenso genialen als meisterlichen Schöpfung in unserer Kunstwelt anzuweisen sei.‹ Das Verhältnis des schöpferischen Geistes zu seiner Mitwelt wird darin durchweg als ein tragisches erkannt und bezeichnet; andererseits an den Beispielen Platons, Dantes, Calderons der Nachweis dessen erbracht, wie sehr gerade das ›Zeitgemäße‹ in den Werken eines großen Genius das Bedenkliche daran sei. An den Opern Mozarts könnten wir deutlich ersehen, wie das, was sie über ihre Zeit erhob, sie in den sonderbaren Nachteil versetzt, außer ihrer Zeit fortzuleben, wo ihnen nun aber die lebendigen Bedingungen abgehen, welche zu ihrer Zeit ihre Konzeption und Ausführung bestimmten. ›Unsterblichkeit! – ein verhängnisvolles Weihegeschenk!‹ – Zu dem, auf den Geschmack eines Wiener Vorstadttheaterpublikums berechneten Effektstück seines Theaterdirektors, der sich durch Mozarts Mitarbeit vor dem Bankerott retten will, schreibt dieser eine Musik von ewiger Schönheit, aber diese Schönheit ist nun unlösbar jenem Werke einverleibt und bleibt in Wahrheit jenem Wiener Vorstadtpublikum auf der Stufe des zu jener Zeit ihm eigenen Geschmackes in einem unaffektierten Sinne, wie gewidmet, so verständlich. ›Insofern Dantes großes Gedicht ein Produkt seiner Zeit war, erscheint es uns fast widerwärtig: gerade aber nur dadurch, daß es die Vorstellungen seiner Zeit von der Realität [146] des mittelalterlichen Glaubensspukes zur Darstellung brachte, erregte es schon das Aufsehen der Mitwelt. Liszts Tondichtung tritt uns daher wie der Schöpfungsakt eines erlösenden Genius entgegen, der Dantes unaussprechlich tiefsinniges Wollen aus der Hölle seiner Vorstellungen durch das reinigende Feuer der musikalischen Idealität in das Paradies seligst selbstgewisser Empfindung befreite. Dies ist die Seele des Danteschen Gedichtes in reinster Verklärung. Solchen erlösenden Dienst konnte noch Michel Angelo seinem großen dichterischen Meister nicht erweisen; erst als durch Bach und Beethoven unsere Musik auch des Pinsels und Griffels des ungeheuren Florentiners sich zu bemächtigen angeleitet war, konnte die wahre Erlösung Dantes vollbracht werden‹ Der Meister ließ den Abdruck dieses Aufsatzes, im Oktoberstück der ›Bayreuther Blätter‹, beeilen, damit er zu Liszts siebenundsechzigsten Geburtstag (22. Oktober) rechtzeitig in Tivoli (Villa d'Este) eintreffen könnte.

Auch die Vollendung der Komposition des zweiten ›Parsifal‹-Aktes ward bei diesem Aufenthalt von Malwida miterlebt. ›Eines Tages (13. Oktober) kam der Meister aus seinem Arbeitszimmer oben im Haus zu uns herunter und sagte: »So, nun habe ich meinen zweiten Akt fertig gemacht. Das ist mir schwer geworden, so etwas schreib' ich nicht wieder.«‹69 In Trauer und Trümmer war die trügende Zauberpracht der sinnlichen Lust zusammengestürzt, und die diesem Zusammensturz vorausgehende große Szene in ihrem gewaltigen Aufbau weit über den Rahmen eines bedingten dramatischen Vorganges zum allgemeinen Weltbild geworden, – einem Weltbilde, das den furchtbaren Kampf zwischen Gott und Dämon, zwischen der erhabenen Selbstentäußerung des ›durch Mitleid Wissenden‹ und dem in wütendem Rasen nur sich selbst wollenden blinden Willen zum siegreich überwältigenden Ausdruck bringt, dem sündigen Liebesverlangen Kundrys, welches doch zugleich, sich selbst unbewußt, die Sehnsucht jenes Willens nach Erlösung, nach Entsühnung von aller Sündhaftigkeit des Daseins in sich schließt.

Tags darauf – am Montag, den 14 – verließ die ebenso sympathische als edelgesinnte Freundin das gastliche Haus, unter dessen Dache sich für sie die, miteinander wechselnden und sich wechselseitig durchdringenden, größten Eindrücke von Kunst und Leben in den Zeitraum weniger Wochen zusammengedrängt hatten, um – von den Wünschen der Zurückbleibenden begleitet den Weg in den sonnigen Süden anzutreten, den sie sich seit einer Reihe von Jahren, da sie das Bayreuther Klima nicht vertrug,70 zum dauernden Aufenthalt erkoren hatte und bis an ihr Ende als Wohnort beibehielt ›Was ist für uns ein Palazzo Colonna?‹ hatte der Meister an jenem [147] 10. Oktober in voller Freude an seinem auserkorenen und selbstgeschaffenen Heim ausgerufen. ›Alles das ist kalt und sagt uns nichts!‹ In gleichem Sinne äußerte sich bald darauf Frau Wagner in einem der Freundin nachgesandten liebevollen Briefe: sie seien zu dankbar dafür, diesen Flecken Erde für sich und ihre Kinder gefunden zu haben, um eine Übersiedelung nach Italien für sich zu erwünschen; der bloße Gedanke daran müßte ihr wie ein Frevel erscheinen. Allerdings, während sie diese Worte schrieb, goß es wie mit Kannen vom grauen Bayreuther Herbsthimmel herab, und das schlechte Wetter deprimierte den in seiner Gesundheit so sehr von der Naturumgebung abhängigen Meister. Hier bereitete sich eine Krisis vor, die ihn schließlich für die rauhen Wintermonate mit Gewalt aus seiner trauten Häuslichkeit fortzudrängen drohte.

Fußnoten

1 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 356/57.


2 Noch im Herbst kam er in seinen Unterhaltungen mit Malwida v. Meysenbug darauf zurück und erklärte, das ›Maienfestspiel‹ wäre durchaus etwas Einziges, nie sich Wiederholendes gewesen und nur mit dem ›Triebschener Treppenidyll‹ (Band IV, S. 340) zu vergleichen!


3 Richard Wagners Briefe an Franz Overbeck, im ersten Vierteljahrstück der ›Bayreuther Blätter‹ 1909 (32. Jahrgang).


4 Vgl. S. 90 des vorliegenden Bandes.


5 Sehr ergriffen hatte ihn bereits nach dem ersten, Hödelschen, Attentat das furchtbare Wort einer Frau aus dem Volke, die das Mißlingen desselben bedauerte: ›einen Verschwender hätte es weniger gegeben!‹ Die Empörung der Not, welcher keine der öffentlichen Ausgaben zugute kommt! Oder die Mitteilung des befreundeten Baron Staff, daß man in Unterfranken bereits für die Wohlfahrt Frankreichs bete!


6 Vgl. Band II des vorl. Werkes, S. 271 A., 400 A.


7 Wir vergegenwärtigen denselben nach einer Zeitungsnotiz, die Richard Wagner direkt unter seinen Augen hatte: ›München, 13. Juli: Um 9 Uhr abends schloß der Majestätsbeleidigungs-Prozeß gegen den 73jährigen Dr. Trettenbacher, nachdem er unter enormem Zudrang von 12 Uhr an gedauert hatte. Das Urteil lautete auf 8 Monate Festung. Der Angeber Akademiedirektor Piloty verläßt den Saal, beschützt von Gensdarmerie, gefolgt von Hunderten mit Pfeifen, Zischen usw. Es herrscht eine großartige Erbitterung‹ (›Bayreuther Tagblatt‹ vom 14. Juli 1878).


8 Vgl. z.B. Band III des vorliegenden Werkes, S. 472 über die Fahrt nach Schaffhausen.


9 Ausflug an die oberitalienischen Seen (Lugano usw.), Band II des vorliegenden Werkes, S. 502, oder nach Paris: Band III, S. 30.


10 Über sein Vergnügen an dem echten englischen Yorkshire-Schinken, womit ihn Freund Dannreuther von London aus versorgte, vgl. die Briefsammlung ›An seine Künstler‹, S. 276.


11 Hans v. Wolzogen, ›Wagner und die Tierwelt‹. 3. Aufl., Berlin 1910.


12 Vgl. Band IV des vorl. Werkes, S. 145. 160.


13 Ebendaselbst, S. 163. 440.


14 Band V, S. 180/81.


15 Antistrophe zum 73. Venetianischen Epigramm, am Schluß der ›Parerga‹ II, S. 96 der Frauenstädtischen Ausgabe.


16 Vgl. Heinrich von Stein, ›Helden und Welt‹, dramatische Bilder (Chemnitz 1883), S. 181/92.


17 Vgl. Band I des vorl. Werkes, S. 80/81.


18 Auch diesem Gedanken Wagners hat später Heinrich von Stein in seinem Aufsatz ›Über Goethes Wanderjahre‹ Ausdruck verliehen: ›Von dem, in der Erzählung aus Wilhelms Kindheit erschütternd geschilderten, Ertrinken eines Knaben nimmt Wilhelms Beschäftigung mit anatomischen und chirurgischen Einzelheiten ihren Ausgang, um dann die glückliche Wendung des Schlusses zu vermitteln‹ (›Bayreuther Blätter‹ 1881, S. 227).


19 Familienbriefe, S. 280.


20 Vgl. den Entwurf: ›Wieland der Schmied‹ im V. Bande der ›Gesammelten Schriften‹.


21 Ungedruckte Briefe Richard Wagners an Ernst von Weber (Dresden, 1883), S. 7.


22 Vgl. Angelo Neumann, Erinnerungen an R. Wagner, S. 78/82.


23 Von dieser Skizze, die uns mit ihrer stolzen Kuppel über dem Mittelbau und sonstiger unpassender Dekorierung noch deutlich vorschwebt, gibt H. v. Wolzogen im Auguststück der ›Bayr. Blätter‹, 1878, S. 232, ein abschreckend deutliches, in allen Details durchgeführtes Bild, ohne ihren Ausgangs- und Bestimmungsort München mit Namen zu nennen.


24 Ad vocem ›Schumann‹ sei hier angeführt, wie er bei der Ausarbeitung des dritten Abschnittes von ›Publikum und Popularität‹ (durch seinen eigenen, dort vorkommenden Satz, der richtige Anhänger der modernen historischen Schule betrachte die ›Kunst‹ nur mehr noch wie ein Rudiment aus früherer Zeit, ›ungefähr wie den vom tierischen wirklichen Schweife uns verbliebenen »Schwanzknochen«‹, dazu veranlaßt) das Konversationslexikon aufschlug, um den Artikel ›Schwanzknochen‹ nachzulesen, und statt dessen auf den Artikel ›Schumann‹ traf. ›Was ich alles für Generationen überlebt habe!‹ rief er da aus, und entsann sich seiner ersten Begegnung mit Schumann der ihm seine Variationen über abegg vorgespielt habe: ›sehr figuriert, mir damals verhaßt! Und Mendelssohn – schon 30 Jahre tot, mir ist, als wäre das alles erst fünf Jahre her.‹


25 Vgl. Band IV des vorliegenden Werkes, S. 296: sein verschwiegenes Unwohlsein auf der Fahrt nach Brunnen.


26 Band I des vorl. Werkes, S. 202/04 der 4. Aufl.


27 Ebendaselbst, S. 293/95.


28 Wir denken hierbei wie so oft bei der Betrachtung der Persönlichkeit Wagners an die Ausführungen Schopenhauers über die Unveränderlichkeit des Individualcharakters: ›Bei der Vergleichung unserer Denkungsart in verschiedenen Lebensaltern zeigt sich uns ein sonderbares Gemisch von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit. Einerseits ist die höchste moralische Tendenz des Mannes und Greises noch dieselbe, welche die des Knaben war; andererseits ist ihm vieles so entfremdet, daß er sich nicht mehr kennt und sich wundert, wie er einst dieses oder jenes tun oder sagen gekonnt. Bei näherer Untersuchung aber wird man finden daß das Veränderliche der Intellekt war, mit seinen Funktionen der Einsicht und Erkenntnis. Bloß die Erkenntnis ändert sich im Laufe des Lebens, und damit die Handlungsweise, aber nicht der Charakter‹ (›Welt als Wille‹, II, S. 252/51. ›Grundprobleme der Ethik‹, S. 50/52).


29 Vgl. Schopenhauers brieflichen Ausspruch gegen Frauenstädt vom 22. Mai 1854: ›Der ästhetische Kossak bedient sich gegen den R. Wagner meiner Aussprüche sehr passend und mit großem Recht. Bravo!‹ (Lindner-Frauenstädt, A. Schopenhauer, S. 616).


30 Vgl. Wolzogen, Erinnerungen, S. 17 ff.


31 Vgl. Ges. Schr. VIII, S. 102 über ›Don Carlos‹.


32 Vgl. noch zwei Jahre später in ›Religion und Kunst‹, Gesammelte Schriften X, S. 299.


33 Band V des vorliegenden Werkes, S. 318.


34 Hier wird ausdrücklich, aber nur demjenigen verständlich, der das Nietzschesche Buch gelesen hatte, auf einen Satz desselben angespielt: ›Wenn wir eines Sonntag morgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es nur möglich? Dies gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn‹ (›Menschliches‹, S. 106).


35 Gesammelte Schriften X, S. 119/120.


36 Gesammelte Schriften X, S. 119/20.


37 Wolzogen, Erinnerungen an Richard Wagner, S. 61/62. ›Über jenen seelsorgerisch eifrigen Mann‹, fügt er hinzu, ›mögen wir lächeln – aber verlachen wir ihn nicht! Er meinte es wenigstens ehrlich und gut. Nur stand er mehr unter dem Banne des Geistes einer ihm fremden Zeitungswelt als im Segen seiner eigenen Religion – einem Wagner gegenüber! Es war eine nachklingende Mahnung an das böse Werk der großen Verleumdung und Verlästerung, welches 1876 gegen den Schöpfer der Bayreuther Bühne von allen Seiten her gerichtet und ausgeführt worden war. So weit hatte dieses Gift im Volksgemüte um sich gefressen.‹ (Ebendaselbst.)


38 Über diese Widmung erklärt der Herausgeber der 2. Auflage (P. Gast) in seinem Vorwort, sie sei dem Buche erst kurz vor Übersendung an den Verleger nachträglich beigefügt worden. ›Eingehend beschäftigt hat sich Nietzsche mit Voltaire nie, weder während der Niederschrift dieses Buches, noch auch vorher: er kannte die wenigen, heut noch lesbaren (!) Sachen von ihm, die alle Welt kennt, – mehr aber nicht. Daß sich Gelegenheit bot, das Buch als Festgabe zu Voltaires (hundertjähriger) Todesfeier herausgeben zu können, war ein Zufall hinterher‹ (Vorwort, S. VII).


39Il ramène son général Manchester près du champ de bataille, rallie pendant la nuit plus de douze mille hommes, leur parle au nom de Dieu, cite Moïse, Gédéon et Josué, recommence la bataille au point du jour contre l'armée royale victorieuse, et la défait entièrement‹ (Voltaire, Œuvres complètes, Tome XVIII, S. 197/98). Vgl. hierzu ›Bayreuther Blätter‹, 1879, S. 131; 1880, S. 285 (Gesammelte Schriften Band X, S. 175. 299).


40 Histoire des Ducs de Bourgogne de la maison de Valois (1364–1477) par A. G. Prosper de Barante. Die erste Ausgabe dieses, durch seine Kunst der Erzählung und historischen Darstellung vorbildlichen Werkes, welches seinem Verfasser die Aufnahme in die Akademie eintrug, war bereits 1824 erschienen, die siebente in 12 Bänden (mit Karten und Gravüren) i. J. 1853, die zwölfte (8 Bde.) i. J. 1858.


41 Augustin Thierry, Récits des temps Mérovingiens, précédés deconsidérations sur l'histoire de France, 8e édition, revue et corrigée (1864).


42 W. Tappert hatte mit Versuchen dieser Art den Anfang gemacht, und Plüddemann war ihm darin gefolgt.


43 ›Der Merker, Österr. Zeitschr. für Musik und Theater‹, I. Jahrg, S. 389/90. Vgl. auch ›Bohemia‹, 1902, Nr. 126 vom 8. Mai.


44 ›Für unsere beiden ältesten Töchter‹, schreibt der Meister (2. November) an Seidl, ›mußte ich mich nach einem spezifischen Klavierlehrer umsehen. Liszt empfahl mir einen in seiner Schule gebildeten Pianisten, Kellermann. Er ist ein ganz fertiger Klavierspieler‹ (R. Wagner, An seine Künstler, S. 294). Was den neunjährigen Siegfried betraf, so beantwortete er die an ihn gestellte Frage, ob er nicht auch Klavierspielen lernen wolle, mit der schlagfertigen Erwiderung: ›er könne es schon‹.


45 Als die Lage im Orient sich nach dem Einrücken der Österreicher in Bosnien kritisch zu gestalten begann, scherzte er: ›ich schicke meinen Berlioz (s. oben) hin, der bringt alles in Ordnung‹.


46 Bekanntlich hatte Wagner dieselbe scherzende Behauptung, einer Entlehnung seinerseits aus Liszts Werken, schon früher – während der Vorproben 1875 – in bezug auf eine bestimmte Stelle im zweiten Akt der ›Walküre‹ mit den Worten aufgestellt: ›Papa, jetzt kommt ein Thema, das ich von dir habe‹, worauf Liszt erwidert habe: ›Ganz gut, dann hört es wenigstens einmal jemand.‹ Diesen genialen Scherz und Liszts Eingehen darauf hat Aug. Göllerich in seiner Liszt-Biographie (Leipzig, Reclam, S. 10) im Übereifer für baren Ernst genommen, ohne in Erwägung zu ziehen, daß die ›Walküre‹ nachweislich früher (1855) komponiert wurde, als der Meister die erste Kenntnis von der, weit später veröffentlichten und von ihm erst im August 1861 gehörten ›Faust‹-Symphonie haben konnte. Über diese und eine Anzahl anderer, unmöglich aus wechselseitigen Anleihen zu erklärenden, Übereinstimmungen in den Tonwerken Wagners und Liszts handelt sehr eingehend W. Ashton Ellis in seinem ›Life of Wagner‹ IV, S. 406 ff; kürzer, aber nachdrücklich, auch Ed. Reuß in einer Fußnote der ›Bayreuther Blätter‹, 1906, S. 286.


47 Liszts montenegrinischer Kammerdiener, vgl. Band IV des vorliegenden Werkes, S. 220.


48 M. v. Meysenbug, Lebensabend einer Idealistin, S. 101.


49 Brieflich, 23. Oktober 1878


50 Briefe an Frau Wesendonck, S. 145. 148.


51 Band V des vorliegenden Werkes, S. 321. 324.


52 Karl v. Meysenbug (eigentlich, dem hugenottischen Ursprung der Familie entsprechend, ›Charles‹; doch hatte er selbst nach und nach die französische Namensform abgelegt), geb. 1840 in Detmold, wo sein Vater Hofmarschall und er selbst bis 1876 auch im Staats- und Hofdienste war; von 1876–1903 Hofmarschall, dann Oberhofmarschall (Exzellenz) des Fürsten Reuß j. L. in Gera, seit 1. Oktober 1903 als Privatmann in Jena seinen literarischen Neigungen lebend.


53 Siehe die vorige Anmerkung!


54 Malwida v. Meysenbug, Der Lebensabend einer Idealistin, S. 148/49.


55 In der Zeitschrift: ›Der Staatssozialist.‹


56 Dies zeigte sich schon in der verzweifelt stilisierten Überschrift, welche, beiläufig, das einzige ist, was wir davon kennen gelernt haben: ›Die Universitätenfrage der modernen Gesellschaft.‹


57 Dühring, Sache, Leben und Feinde, Universitätenfrage der ersten Auflage vom Jahre 1882.


58 Aus dem Spanischen übersetzt durch Dr. Gaspard Santiñon; im Original bildet er das briefliche Vorwort – prologo epistolar – zu dem höchst anregenden Buche Joaquin Marsillachs über Wagner und Bayreuth (Ricardo Wagner, ensayo biografico-critico, Barcelona, 1878), dem eigentlichen Stammvater und Ahnherrn der späteren reichausgebildeten spanischen Wagner-Literatur.


59 ›Mich hat es in Spanien oft frappiert, wieviel Germanisches noch im spanischen Wesen steckt‹ usw. Vgl. die ganze darauf folgende nähere Ausführung K. Frantz' in den ›Bayreuther Blättern‹, 1878, S. 162: ›Hat der Franzose Esprit, der Italiener Genie, so hat nur Spanien in seinem Cervantes einen Humoristen ersten Ranges aufzuweisen. Und Humor kann nicht ohne Gemüt sein. Welche Gemütstiefe spricht sich in Murillo aus‹ usw.


60 Band IV des vorliegenden Werkes, S. 252/53.


61 Es ist dies der ›vortreffliche Leipziger Brief‹, dessen Wagner am 2. Nov. gedenkt (›An seine Künstler‹. S. 293).


62 Siehe diesen Brief in Neumanns ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 85/86.


63 Autographenkatalog Nr. 38 von Leo Liepmannsohn (Berlin), S. 107/09. In demselben Brief gedenkt Malwida auch der mehrtägigen Anwesenheit eines jungen israelitischen Schriftstellers Lipiner aus Wien, welcher ihr und Frau Wagner Bruchstücke aus einer Dichtung ›Renatus‹ vortrug, dem Meister jedoch durch die Unklarheit seiner Gedanken über den Sozialismus und über Schopenhauer keine hervorragenden Sympathien abgewann.


64 In bezug auf dieses ›Sehen‹, das ihm selbst so vertraute geistige Schauen des Dichters, wäre hier noch ein frappanter Ausspruch aus dem Herbst 1879 anzuschließen. Es war gerade wieder von ›Othello‹ die Rede, und er selbst sprach davon, wie dieser im Verlauf der Handlung förmlich widerwärtig würde. Als jemand äußerte, Shakespeare habe es wohl so gewollt, rief er erregt: ›ach was gewollt! er hat gemußt! so hat er es gesehen!‹ ›Und die Desdemona‹, fuhr er in dem gleichen leidenschaftlichen Tone fort, ›diese Gans! nicht zu erraten, was ihn quält, immer wieder mit Cassio zu kommen! So hat er ihre Naivetät und Unschuld uns zeigen müssen!‹ Er bezeichnete Desdemona im Anschluß daran als die reinste, vollendetste unter den weiblichen Gestalten Shakespeares.


65 Man vergleiche hierzu die allererste Ankündigung des ›Tristan‹ an Liszt vom Dezember 1854: ›Da ich nun doch aber im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll.‹ (›Briefwechsel mit Liszt‹, S. 46). Und am 15. Januar 1859, mitten im ›Tristan‹, läßt er ›Papa Fischern‹ (den guten alten Chordirektor) fragen: ›ob er einen Dichter wüßte, der im Zustande der Verliebtheit ein Drama dichte? Als ob Schiller unter einer Räuberbande die »Räuber« oder Shakespeare als eifersüchtiger Ehemann den »Othello« gedichtet haben müßte! Ach, solches Zeug werde ich noch viel hören müssen, wenn ich erst wieder einmal unter die Menschen komme! Nichts kann man wahrhaft dichten, namentlich im Drama, was nicht außerhalb einem steht, so daß man es gleichsam sich gegenüber sieht; steckt man drin, so ist man unfähig zur klaren Dichtung‹ (›Minnabriefe‹, Band II, S. 32). Über das Verhältnis des Dichters zu seinem Stoffe, der ihm erst als berichteter Vorgang durch die Überlieferung zugeführt sein müsse, somit nicht der natürliche unmittelbare Akt oder Vorgang des Lebens sei, vgl. auch die überaus wichtige Bemerkung Ges. Schr. VIII, S. 87/88, sowie das entsprechende bedeutsame Wort über das Selbsterfahrene und des ›Nieerlebte‹ (X, S. 191).


66 Ebendaselbst IV, S. 109.


67 Man denkt hier unwillkürlich an die von Nietzsche boshafterweise ihr zugeschriebenen ›toten Stellen‹ im Kopfe einer alten Frau, die sich in ihren Gedankenreihen nacheinander Richtungen zugewandt habe, die ›zueinander logisch in Widerspruch stünden.‹


68 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 29, und Band IV, S. 165


69 M. v. Meysenbug, ›Lebensabend einer Idealistin‹, S. 206


70 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 116/17. 119


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 102-149.
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