IX.

Religion und Kunst.

[348] Zusammensein mit Malwida und ihr Abschied. – ›Religion und Kunst.‹ – Vorlesung der ›Oresteia‹ und Gespräch über die ›Seelenwanderung‹. – Abschied Heinrich von Steins. – Hitzpocken, Seebäder mit aufregender Wirkung. – Erneute Gesichtsrose. – Fluchtartiger Aufbruch von Neapel: über Perugia nach Siena. – Daselbst Besuch Liszts. – Venedig. – München. – Wiedereintreffen in Bayreuth.


Die Wohltat Italiens vollständig zu ermessen erfordert den Sommer mit dazu: solch ein volles Jahr in Italien ist erst das Lohnende für alle Jahreszeitenleiden unserer verrückten Heimat.

Richard Wagner.


An den elften Geburtstag Siegfried Wagners (6. Juni 1880) erinnert uns ein noch erhaltenes photographisches Bildnis des Meisters mit seinem Sohne, das wenige Tage vorher, am 1. Juni, aufgenommen, uns beide auf der Höhe dieser glücklichen Tage von Neapel zeigt.1 Denn bisher war sein Befinden, wenngleich zögernd und mit Unterbrechungen, in aufsteigender Linie zum Bessern vorgeschritten, und gerade der Besuch Malwidas fiel in die glücklichste, ungetrübteste Zeit. Die tägliche Gemeinschaft der Familie schildert sie eingehend in ihren späteren Aufzeichnungen, in denen sie auch Steins und Joukowskys gedenkt, – des ersteren in ausführlicher Charakteristik, die wir zum Teil schon im vorstehenden berücksichtigt haben. ›Neben ihm‹, so fährt sie dann fort, ›traf ich den Russen Joukowsky, einen Maler von großem Talent, der neben allen schönen Eigenschaften der Russen aber auch ihre Indolenz besaß, so daß er aus seinem Talent nicht das machte, was es hätte werden können, – wogegen aber seine liebenswürdige Persönlichkeit nicht wenig zur schönen Geselligkeit des Hauses beitrug.‹2

[348] Mit Ende Mai begann der Meister wieder, um 1/27 Uhr früh, entweder allein oder auch mit den Kindern, seine regelmäßigen diätetischen Morgenpromenaden. Er genoß dabei des schönen Anblicks von Meer und Himmel, die beide in tiefblauer Färbung ineinander verschmolzen, oder einer herrlichen blühenden Stechpalme, die mit ihrem Stamme sich den steilen Fels entlang abwärts streckte, wie um ihn zu begrüßen. Nachmittags gab es Spaziergänge die Terrasse aufwärts zur Palme und zu den Weinbergen, wo man sich in wohliger Stimmung lagerte Oder es galt nachmittags einer gemeinsamen Kahnfahrt nach Villa Postiglione, wo Freund Joukowsky, durch eine leichte Fiebererkältung festgehalten, eine Skizze zum zweiten ›Parsifal‹-Akt sich erdacht hatte. Die Heimfahrt mit Malwida ging abermals im Kahn vor sich, während die Kinder den Weg zu Fuß oben auf der Posilipstraße zurücklegten, unter beständigem Winken nach unten. Doch hatte sich dabei die etwas steile Treppe vom Meere aufwärts nach der Villa Postiglione für den Meister allzu angreifend erwiesen, so daß die Nachwirkung davon noch auf den folgenden Tag sich erstreckte, dessen Abendstunden der inzwischen genesene Joukowsky schon wieder in der Villa Angri verbrachte, wobei Rubinstein auf Wagners Wunsch den zweiten Teil der Sonate op. 111 zum Vortrag brachte und der Meister Joukowsky einen eigenhändig entworfenen Plan zum zweiten Akte des ›Parsifal‹ überreichte. Wenige Tage später war die nach diesem Plan ausgeführte Skizze Joukowskys bereits soweit ausgeführt, daß er sie mitbringen konnte; manches war daran zu verändern, und doch war schon die bloße Beschäftigung damit eine hehrste Freude, und nicht minder der begeisterte Eifer des jungen Freundes.

Für den Schöpfer des ›Parsifal‹ stand es innerlich längst fest, daß die szenische Erscheinung seines erhabenen Werkes nicht etwa von gewerbsmäßigen Dekorationskünstlern, wie z.B. den Malern der Münchener Hofbühne herrühren konnte, vor denen er vielmehr nach allen früheren Erfahrungen nur einen tief begründeten Schauder empfand, daß vielmehr auch diese nur ein Erzeugnis der Liebe, des hingebenden Enthusiasmus von seiten eines wahrhaft künstlerisch gesinnten Menschen sein konnte, der ihm als solcher persönlich nahestand und in unmittelbarer Nähe seine Weisungen von ihm empfangen konnte. Nun hatte er auf das allernatürlichste und ungezwungenste den rechten Gehilfen für den Entwurf der Skizzen zur Ausschmückung seiner Bühne gefunden. ›Der Umgang mit Wagner und seiner Familie‹, so erzählt Joukowsky, ›fällte nach und nach mein ganzes Sein so aus, daß ich keinen Augenblick zauderte, als er mir den Vorschlag machte, ihm bei der malerischen Ausstattung seines Werkes behilflich zu sein.‹ War es doch für ihn selbst, dem es bisher an einer großen Aufgabe gefehlt hatte, ein hohes Glück, eine Lebensbestimmung gefunden zu haben, die ihn zu dem verehrten Meister nun vollends in eine tägliche intime Beziehung setzte, nicht mehr bloß [349] als geschätzter liebenswürdiger Mensch und Freund, sondern auch durch seine künstlerischen Gaben: ›Ich war‹, so fährt er in seinen Erinnerungen fort, ›ein ganz freier, von niemand abhängiger Mensch, überglücklich, meine Existenz mit der seinigen zu verbinden. Von nun an wurde ich von allen als Mitglied der Familie betrachtet und fühlte mich auch so. Wagner nannte mich fortan »Vetter Paul«,3 und die Kinder gaben mir den Titel eines »Onkels«. Schließlich – etwa Mitte Juli – siedelte ich ganz in die Villa Angri über, in Begleitung meines kleinen Dieners Pepino, und ging sofort an die vorbereitenden Arbeiten zum »Parsifal«.‹

Malwidas Schilderung des täglichen Lebens in der Villa Angri gibt uns davon ein belebtes und anschauliches Bild. ›Am Morgen ging ein jeder seinen eigenen Beschäftigungen nach. Das Mittagessen vereinigte uns alle, und danach nahm man den Kaffee auf der Terrasse, wobei sich meist bedeutende Gespräche entspannen, die natürlich gewöhnlich von Wagner ausgingen. Dann kam für alle eine Stunde der Ruhe, und darauf begegnete man sich in den terrassenartigen Gärten, wo Wagner mit dem ihm zugehörigen jugendlichen Wesen allerlei Scherz und Neckerei trieb. So war es u.a. ein Lieblingsspiel, die Frucht eines Strauches, welche eine die Kerne enthaltende mit Luft gefüllte Kapsel ist, aufzudrücken, wobei ein kleiner Knall erfolgte, und er war so außerordentlich beweglich und behende, daß er meist den Kindern bei Erreichung dieser Kapseln zuvorkam. Eines Nachmittags aber traf ich ihn ganz bestürzt vor einem solchen Strauch stehend, weil bei dem Haschen nach den hochhängenden Kapseln es ihm begegnet war, einen der schönsten Zweige des Strauches zu knicken, der nun traurig, dem Sterben geweiht, herunterhing. Er, der gleich den Indern das göttliche Urprinzip so gut im Tier und in der Pflanze wie im Menschen erkannte, war tief betrübt, hier einen empfindenden Organismus zerstört zu haben, und schickte eine der Töchter, die bei ihm waren, ins Haus hinab, um Leinen zum Verband zu holen. Als sie damit zurückkehrte, verband er den geschädigten Zweig mit der Sorgfalt, wie er es bei einem Tier oder Menschen getan haben würde, in der Hoffnung, daß die Wunde sich schließen und der Ast wieder anwachsen würde. Nur wer solche kleine Züge mit stillem Verständnis betrachtete, konnte die Natur dieses außerordentlichen Menschen ganz begreifen, in welcher sich kindliche Heiterkeit, überströmendes Mitleid, gewaltige Leidenschaft, Forscherblick des allsehenden Intellektes, weltverachtende Ironie und tiefe Schmerzfähigkeit vereint fanden und welche daher auch einen allesumfassenden Kosmos aus sich erschaffen konnte. Ich erinnere mich noch eines andern jener kleinen, so bedeutungsvollen Züge aus jener Zeit. [350] Wir gingen eines Abends auf der großen Terrasse unter dem Portikus des Hauses auf und ab. Eine ungeheure Prozession von Millionen Ameisen zog quer über die Terrasse hin, wie ich sie in Italien öfter, z.B. in Sette fonti, dem Landsitz Minghettis, gesehen hatte, wo sie ihre Wanderstraße von einem Berggipfel zum andern und mitten durch eine Kirche geführt hatten. Wir sprachen über ernste Lebensfragen; ich bemerkte dabei aber im stillen mit Rührung, wie Wagner jedesmal, wenn wir an die wandernden Scharen kamen, einen großen Schritt machte, um nur nicht eines der kleinen klugen Wesen zu zertreten.‹4 Bereits bei früherer Gelegenheit (S. 336) gedachten wir der Freundschaft, die er mit den zierlich beweglichen Eidechsen im Gesträuch seines Gartens geschlossen; sie kannten ihn und hielten, durch sein Pfeifen veranlaßt, mitten im Dahingleiten ihres schlanken Körpers an, um mit ihren blitzenden Augen zu ihm aufzublicken. Als er aber mit den Kindern einst sah, wie eines dieser anmutigen Tierchen einen vergeblich zappelnden und sich wehrenden Käfer ergriff, rief er seufzend aus: ›Selbst dem, durch eine vollkommene Regeneration zur Milde umgebildeten Menschen müßte ein solcher Anblick genügen, um die Tragik dieses Daseins zu empfinden.‹5 Ein anderes Mal gelang es den Kindern, einen Leuchtkäfer vor dem gleichen Schicksal zu bewahren. ›Wenn man nur nicht immer annimmt, diese Welt sei von einem guten Gott gemacht, dann kann man alles verstehen. Aber davon werden sie alle nicht frei; auch mein guter Gleizes nicht; und dann verfallen sie in Sophismen.‹

›Auf jener großen Terrasse‹, erzählt Malwida weiter, ›mit der Aussicht auf den Golf und den Vesuv, aus dem an jedem Abend wie von einem Opferaltar eine Feuersäule gen Himmel stieg, wurden meistenteils die Abende verbracht, wozu sich auch öfter Besucher aus der Stadt einfanden. Unter den vielfachen mehr oder minder bedeutenden Gegenständen, die besprochen wurden, kam an mehreren Abenden das Gespräch auf Schiller, und Wagner las uns das Gedicht »die Götter Griechenlands« vor, so schön, wie nur er lesen konnte. Es war einem dabei, als höre man die Sachen zum ersten Male, und man fühlte es neu, wie herrlich Schiller jene Welt nachempfunden hat, wo alles zum personifizierten Ausdruck der Schönheit wurde, alles eine Bedeutung erhielt, als stamme es von geisterfüllten Wesen und nicht von blinden Naturgewalten ab und wo alles daher zum freudigen Genuß des blühenden göttlichen Lebens einlud, ohne Zweifel, ohne Reue, ohne Schmerz.6 An einem anderen Abend kam das Gespräch auf den »Don Carlos«, und einer der Anwesenden behauptete, die Beziehung des Marquis Posa zu König [351] Philipp sei ein großer Fehler und nicht zu rechtfertigen. Wagner sagte, sie sei vollständig zu rechtfertigen, da der Dichter im übrigen den historischen Charakter festgehalten und nur die Möglichkeit angenommen habe, daß solch ein Moment auch einmal an einen Menschen wie Philipp herantreten könne. Außerdem zeichne es ja auch den Charakter des Königs nur desto schärfer.7 Wieder ein anderes Mal sprach er darüber, wie wenig man eigentlich die Menschen lieben könne, wenn man die Geschichte studiere und die Anhäufung von Greueln sehe, von denen der sog. »Fortschritt« meist begleitet sei, wie z.B. die Einführung des Christentums. Er meinte, man könne dann höchstens noch zur Liebe kommen, wenn man sich als Angehöriger eines Volksstammes fühle, dessen Interessen, Leiden und Freuden man teile, was dann schließlich zur Familie zurückführe.‹8 ›Unvergeßlich‹, fügt Joukowsky seinerseits hinzu, ›sind mir auch die Abende, an denen Wagner vorlas. Er las unbeschreiblich eindrucksvoll und schön.‹

Malwidas bevorstehende Abreise bewog ihn zu schmerzlichen Äußerungen über ihren Mangel an festgeschlossener Zugehörigkeit zu ihm und den Seinen und die beklagenswerte Fremdheit, welche sich darin kundgäbe, daß die Menschen immer noch etwas anderes hätten, was sie in ihren Aufenthalten und Handlungen bestimmte. Und in der Tat mußte man sich ihm ganz geben. Ein anderes Mal warf er ihr in einer heftigen Apostrophe die Scheinverhältnisse vor, die sie von ihm weglockten; sie solle bei ihm bleiben und die anderen zu sich kommen lassen, nicht zu ihnen gehen. So machte er es bei demselben Anlaß auch Liszt zum Vorwurf, daß er seine ›drei Mastbäume‹: Pest, Rom und Weimar habe, an denen er mit wichtiger Miene festhielte; und es sei doch gar nichts dahinter und deute bloß eine vorhandene Leere an, die man mit solchen Scheinverpflichtungen auszufüllen bestrebt sei. All diese, meist mit einer scherzhaften Wendung schließenden Ansprachen waren aber doch gerade in ihrer erregten, tief ernsten Heftigkeit entzückend durch die Größe seiner leidenschaftlichen Wahrheitsliebe. So blieb er denn gegen Malwida, als sie trotz allem am 20 Juni Neapel verließ, wie er selbst gestand, immer ›in einem Zustand verhaltener Wut‹, daß sie nicht ganz und für immer da weile, wo sie hingehörte. Nicht lange zuvor hatte er mit ihr und dem ganzen Hause (zu neun Personen) eine ergötzliche Fahrt im Tramway durch die volksbelebtesten Teile der Stadt gemacht und seine Freude daran ausgesprochen: da fühle man sich in einem großen Elemente und empfinde es wohltuend, daß hier Ruf, Macht, Stellung nicht gelten und daß man Mensch unter Menschen sei. Dabei alles farbenprächtig und malerisch, und der botanische Garten wahrhaft entzückend. Wie um das Bild zu krönen, [352] fuhr die Königin von Italien an dem Tram vorbei und machte auf den Meister, dem sie mit anmutiger Neigung ihren Gruß entbot, den lieblichsten Eindruck. ›So liebe ich‹, sagte er, ›daß in unseren Tagen eine Königin aussehe: traurig freundlich; die heiteren oder die boshaft verdrießlichen sind einem zuwider.‹ – Einen betrübenden Eindruck empfing er durch die Kunde von dem, in Bayreuth erfolgten Tode seiner schönen Neufundländerin Brange (S. 113). Die traurige Nachricht war in Wahrheit bereits seit Monaten durch einen Brief Munckers (vom 6. April 1880) nach Villa Angri gelangt; er hatte seinen eigenen ausführlichen Nachrichten ein Attest des Kreistierarztes beigefügt, wonach das Ende des treuen Tieres apoplektisch und ohne eigentlichen Todeskampf infolge einer, in betracht ihrer vorgerückten Jahre späten Geburt eingetreten sei, und von sich aus über die erfolgte Bestattung Bericht erstattet: sie sei, in einer mit Moos ausgelegten Kiste, neben der Stelle im Garten zur letzten Ruhe gebettet worden, wo bereits Ruß seine Stätte gefunden.9 Doch hatte niemand den Mut gehabt, ihm von der traurigen Tatsache Mitteilung zu machen; im Gegenteil, man war bemüht gewesen, sie ihm zu verbergen: es blieb ein unaufgeklärtes Geheimnis, wann und auf welchem Wege er schließlich davon erfuhr. Aber es war nicht leicht möglich, ihm etwas zu verheimlichen: sein Blick und sein Gefühl für das Wirkliche waren zu scharf und zu durchdringend. Nachdem er bereits zuvor einmal ganz im allgemeinen von den vielen Hunden, den treuen Seelen, die er schon verloren, gesprochen hatte, sagte er eines Tages ganz unvermittelt zu den Kindern: ›ich weiß, daß Brange tot ist!‹ – Nicht minder erregte seine Teilnahme das plötzliche Ende des Bayreuther Maurerpoliers Gräfe, der noch am Bau von Wahnfried tätig beteiligt und nicht allein ihm, sondern der ganzen Familie wert gewesen war: er hatte seinen plötzlichen Tod in seinem Beruf, durch einen Sturz vom Gerüste gefunden, und der Verlust des wackeren Mannes ging allen Gliedern der Kolonie, die ihn gekannt hatten, gleichmäßig nahe.

Die Anfänge der Entstehung seiner großen Arbeit über ›Religion und Kunst‹, als einer, unter dem südlichen Himmel Italiens zur Reise gelangten edlen Frucht, haben wir bereits gestreift. Es ist von je und in jeder einzelnen Periode seines Daseins, Wirkens und Schaffens das eigentümlich Unvergleichliche seines Genius gewesen, daß die große Idee der ihn jeweilig einnehmenden künstlerischen Schöpfung, mit der er der lebenden Mitwelt um ein Weites voraus war, zugleich auch ihren literarisch-philosophischen Ausdruck erhielt. Die feurige Glut, aus welcher einst das jugendliche ›Liebesverbot‹ hervorging, fand ihren literarischen Niederschlag in dem gleichzeitigen Jugendaufsatz über die ›deutsche Oper‹; der Läuterungsprozeß des Künstlers beim [353] Übergang vom ›Rienzi‹ zum ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ in den zahlreichen Schriften der ersten Pariser Periode. Der Aufruf zur großen Menschheitsrevolution stand in einem ähnlichen Verhältnis zu dem furchtlosen Helden ›Siegfried‹, wenn dieser mit freudig kühnem Kraftgefühl auf den horthütenden Wurm des trägen ›Besitzes‹ eindringt, wie das lebendigste Zeugnis seines Glaubens an die Aufgaben des deutschen Geistes in der Schrift über ›deutsche Kunst und deutsche Politik‹ mit dem Werden seines spezifisch deutschen Werkes, der ›Meistersinger‹, Hand in Hand geht. Diese zwiefache Ausstrahlung seines produktiven Triebes, die sich, rein äußerlich betrachtet, als eine künstlerische und eine literarische, in zwei ganz verschiedenartige und voneinander abliegende Sphären zu trennen scheint, durchdringt sich vielmehr ihrem Wesen nach, als aus gemeinsamer Wurzel hervorgehend, von beiden Gebieten her zu gegenseitiger inniger Ergänzung. Was, neben und gleichzeitig mit der künstlerischen Arbeit an der Ausführung des ›Parsifal‹, bereits in den früheren Aufsätzen für die ›Bayreuther Blätter‹, in der Artikelfolge von ›Publikum und Popularität‹ nebst ›Wollen wir hoffen?‹, gleichsam präludierend sich angekündigt; was sodann wie ein vorzeitig ausbrechender Aufschrei mitleidsvoller Empörung in dem offenen Brief über die Vivisektion laut geworden war: in dem tiefen Gehalte der großen Schrift über ›Religion und Kunst‹ trat es jetzt in seinem vollen umfassenden Zusammenhange wenn auch nach seiner eigenen Auffassung ›zunächst nur für sehr Wenige‹ hehr und herrlich zutage. Die ihn zeitweilig beherrschende Idee der ›Revolution‹ war allmählich der ihr verwandten friedlicheren Umgestaltungsform einer ›Reformation‹ von innen heraus gewichen; ein Blick auf Publikum und Mitwelt aber belehrte ihn deutlich über die tiefen Gründe der tragischen Einsamkeit selbst der größten Reformatoren und der Erfolglosigkeit ihres Strebens inmitten einer Umgebung von Zeitgenossen, die selbst zuvor einer Regeneration bedurften, um ihren großen geistigen Führern wesensverwandt sich zu fühlen. Der Begriff der ›Regeneration‹ begegnet uns im literarischen Gedankenkreise Richard Wagners zuerst in der ebengenannten Schrift über ›deutsche Kunst und deutsche Politik‹ (1867). Eine Erlösung aus der Verkommnis unserer, im Lichte geschichtlicher Entwickelung als lateinischen Ursprunges aufgedeckten, undeutschen Zivilisation durch eine Erneuerung und Wiedergeburt des deutschen Wesens wird dort an Wichtigkeit der einstigen Zertrümmerung des römischen Weltreiches durch germanische Scharen gleich erachtet. ›Wie dazu eine völlige Regeneration des europäischen Völkerblutes nötig war, dürfte hier eine Wiedergeburt des Völkergeistes nötig sein; und wirklich scheint es derselben Nation vorbehalten zu sein, auch diese Wiedergeburt zu vollbringen‹ diese bedeutungsvollen Worte stehen dort bereits an der Spitze der Betrachtungen über die Ursachen dieses Verfalles des deutschen Wesens und die Möglichkeiten seiner Neubelebung. Nur die Annahme eines solchen Verfalles [354] konnte den prophetischen Geist des Künstlers in der Hoffnung auf eine Neugeburt und Wiederaufrichtung dieses ihm verwandten, ›sehnsüchtigster Gewalt ins Leben zu ziehenden‹ deutschen Wesens bestärken. In einem weit umfassenderen und großartigeren Sinne aber mußte ihm jetzt, beim Gewahrwerden einer überallhin sich erstreckenden, unheilbar tief sich darstellenden Verderbnis das Postulat dieses Verfalles in einem neugewonnenen Lichte entgegentreten: nämlich als einer über die ganze geschichtliche Menschheit sich erstreckenden Degeneration, deren Ursachen und Wirkungen zu erforschen und aufzuheben waren. So erscheint uns demnach in ›Religion und Kunst‹ die in der Person des Heilandes verkörperte Erlösung von dieser Welt des Willens in das ›Reich Gottes‹ zwar zunächst in ihrer rein transszendentalen Bedeutung: zu einem Wollen mächtigster Art gestaltet sie sich aber unter der Einwirkung eines dämmernden Lichtscheines aus der Urzeit alles Menschentumes, – der ahnenden Erkenntnis, daß diese Entartung erst auf dem Boden der geschichtlichen Menschheit beginne, der vorgeschichtliche Mensch aber von ihr noch nicht ergriffen gewesen sei. Als ein ungeheures Weltgemälde entrollt sich nun in den großartigsten Umrissen das Bild dieses immer blutigeren geschichtlichen Verfalles vor unseren Augen: nie hat die Stimme eines Weltenrichters gewaltiger und dröhnender zu uns gesprochen. Die Aufdeckung des Ursprunges dieser Entartung als einer Verderbnis des Blutes leitet zu dem Schlußteil der Betrachtung über, der, an die wenigen erkennbaren Ansätze anknüpfend, die inmitten einer Welt der rasenden Raubgier die Spuren eines Verlangens zur Wiedergewinnung des verlorenen Paradieses einer friedlichen Kultur bezeichnen (die bestehenden Vereinigungen der Vegetarier, der Tierschützer, der Mäßigkeitspfleger, der Friedensapostel usw.), die Ohnmacht derselben als in ihrer Vereinzelung begründet nachweist und mit fester Hand das Ziel einer ›Regeneration‹ der verfallenen geschichtlichen Menschheit aufrichtet. Die Konzeption der in dieser umfassenden Abhandlung niedergelegten Gedanken läßt sich deutlich bis in die erste Zeit der Arbeit am ›Parsifal‹ und noch weiter zurück verfolgen; die Sonne Neapels diente dazu, sie vollends zu zeitigen.

Der vorgeschichtliche Mensch! Diesen hatte uns die bisherige paläontologische und prähistorische Forschung immer nur in seiner dürftigen äußeren Erscheinung, als Höhlenbewohner, mit den unvollkommenen Waffen und Werkzeugen der Steinzeit gezeigt; die Ahnung des Künstlers hatte schon um die Zeit der Züricher Kunstschriften eine bestimmtere Vorstellung von jenen Geschlechtern gehegt, von denen wir zwar keine überlieferten Taten, wohl aber Werke kennen: vor allem die geistige Schöpfung der Sprache, welche ›vom Sanskrit bis auf die neuesten europäischen Sprach-Amalgame eine zunehmende Degeneration aufweist‹, und der im Mythos kundgegebenen volkstümlichen Natur- und Weltanschauung. Diese ›Werke‹ der vorgeschichtlichen Menschen [355] sind nun aber tatsächlich auch in allen übrigen Beziehungen bis zum heutigen von der patriarchalischen Familienordnung als Ausgangspunkt aller späteren Staatenbildungen bis zu jener bewunderungswürdigen Leistung der Heranziehung und assimilierenden Gewöhnung ursprünglich reißender oder doch wilder Tiere, ihrer Eingliederung in den menschlichen Haushalt, ihrer Umschaffung zu friedfertigen Lebens- und Arbeitsgenossen, als welche uns schon in den entlegensten Perioden der treue Hund, die nährende Kuh, das edle Roß sich darstellen. Dazu Erfindungen jeder Art vom Pflug bis zum Webestuhl, vom vierrädrigen Wagen bis zum Nachen und endlich zum Segelschiff; Erfindungen, welche ›der geschichtliche Mensch nur benützt und verquemlicht, keineswegs aber erneuert oder vermehrt hat‹. Bereits in seinen Züricher Schriften (1849/51) hatte er den ihm damals besonders geläufigen Begriff des ›Volkes‹ gern in dem vertieften Sinne der unvergleichlichen Produktivität einer ›vorgeschichtlichen Urgemeinschaftlichkeit‹ aufgefaßt: ›alle großen Erfindungen‹, hatte er damals ausgerufen, ›sind Taten des Volkes, wogegen die Erfindungen der Intelligenz nur die Ausbeutungen, Ableitungen, ja Zersplitterungen, Verstümmelungen der großen Volkserfindungen sind!‹10 Wir hörten ihn in den Tagen nach dem Verrauschen der Festspiele von 1876 im intimen Kreise mit warmer Begeisterung von dem ersten Erfinder des Bootes sprechen, den er höher stellte und sich verwandter fühlte als sämtliche Erbauer moderner gepanzerter Schraubendampfer. Eine entsprechende Bemerkung machte er bei einer weiter unten zu erwähnenden Dampfschiffahrt nach Sorrent, als eben das Segel gehißt und dadurch – laut seinem Hinweis – selbst der widrige Wind dem Kurs des Schiffes dienstbar gemacht wurde: ›das Segelboot – das war eine Erfindung! Das sagt mir etwas, während all diese Maschinen – nichts!‹11 Und gern und wiederholt verweilte er bei [356] dem schon angedeuteten, vor ihm bereits durch Schopenhauer ausgesprochenen Gedanken, welcher Erfolg sich für den vorgeschichtlichen Menschen allein in dem Umstande ausdrücke, daß er durch Zähmung und Humanisierung einer Wolfsart seinen treuesten Freund, den Hund, erworben habe, – nach Cuvier seine kostbarste Eroberung!12 Ja, im Anblick eines zur Villa Angri gehörigen, allgemein beliebten Haushundes (Palumbello) tat er von diesem Gedanken aus noch einen weiteren Schritt: ›da der Mensch aus dem Wolfe den Hund sich gewann, warum sollte nicht aus dem Menschen selbst das rechte Wesen erst noch hervorgehen können?‹ Auf die Gegenfrage: ›Wer wird aber den Menschen zum Menschen machen?‹ rief er: ›Ah, der neue Religionsstifter!‹ Und fügte dann nach einer kleinen Weile des Schweigens hinzu: er glaube, daß seine jetzige Arbeit in diesem Sinne einigen wenigen Wohlgesinnten nicht unwillkommen sein dürfte.

Dem Bedürfnis, sich diesen vorgeschichtlichen, sprach- und mythenschöpferischen Menschen nun auch mit dem Blicke des künstlerischen Sehers auf den Spuren uralter Überlieferungen, in entlegene Vergangenheiten zurückschreitend, als unschuldigen Menschen vorstellen zu dürfen, der erst durch gewaltsame Erdkonvulsionen und -revolutionen zum Raubtier geworden sei, kam nun die phantasievolle Auffassung Gleizes' entgegen. Wir erinnern uns seines Verlangens nach der Kenntnis dieses Schriftstellers und wie er, kaum daß er durch eine Schrift Robert Springers von ihm vernahm, dessen ihm bis dahin unbekannt gebliebene Hauptschrift ›Thalysia‹ kommen ließ, um unmittelbar dessen nähere Bekanntschaft zu machen (S. 295). ›Ohne genaue Kenntnisnahme der in diesem Buche niedergelegten Ergebnisse sorgfältigster Forschungen, welche das ganze Leben eines der liebenswertesten und tiefsinnigsten Franzosen eingenommen zu haben scheinen, dürfte es schwer werden, für die hieraus geschöpften und mit dem vorliegenden Versuche angedeuteten Folgerungen auf die Möglichkeit einer Regeneration des menschlichen Geschlechtes, bei dem Leser eine zustimmende Aufmerksamkeit zu gewinnen‹, sagt er selbst in einer Anmerkung zu Religion und Kunst. Inmitten seiner Arbeit am Liniieren der ›Parsifal‹-Partitur sann er bereits seit der ersten Woche des April über seinem großen Aufsatz über die ›Affinitäten zwischen Religion und Kunst‹, und da er immer Schmerzen auf der Brust hatte, beklagte er sich darüber, so schlaff zu sein und nichts zu tun. In seinen Unterredungen mit Fürst Liechtenstein (S. 332/33) teilte er diesem im voraus seine Gedanken über den Vegetarianismus mit, die er in seiner nächsten Arbeit entwickeln werde. Dies würde seine letzte Arbeit sein, die große Ausführung über ›Religion [357] und Kunst‹. Das wolle er noch sagen, wiewohl er sich förmlich scheue, das Gebiet zu betreten; sonst habe er einen großen Ekel vor der Schriftstellerei. Am 7. Mai schrieb er an Wolzogen: ›Mir geht es hoffnungsvoll in dieser unglaublich herrlichen Luft; aber faul bin ich über alle Maßen. Meine »Affinitäten« schwellen im Kopf zu einer Bibel an: aber das Papier, – das Papier!‹ Einen Hauptgedanken des späteren zweiten und dritten Abschnittes seiner Abhandlung hatte er schon Ende März mit der Äußerung kundgegeben, daß die Natur in ihrer Blindheit13 jene zerstörenden Erschütterungen nicht ermessen oder ahnen konnte, durch deren Eintritt die von ihr auf eine unblutig sanfte Ernährung angewiesenen Tiere und Menschen zu fleischfressenden wilden Wesen werden wurden. Von hier aus rühre die Decadence des geschichtlichen Menschen. Nun sei es die Aufgabe des Menschen, durch seine Vernunft die verdunkelten Instinkte der Natur in seiner Erkenntnis wiederherzustellen und danach zu leben; auf allen Gebieten das zu tun, was – nach Schopenhauer – die entwickelte Vernunft betreffs der Sprache zu tun hatte.14 ›Wir sind zu dumm‹, sagte er in einer späteren Unterredung mit Joukowsky, ›ganz wie der Vogel Dudu, der wegen seiner Dummheit untergehen mußte!15 Wenn man einen Ameisenhaufen durch einen Fußtritt beschädigt, so sammelt sich das fleißige Volk doch wieder und ersetzt den Unfall.‹ Und auf die Einwendung Joukowskys: ›wir haben aber keinen Instinkt‹ erwiderte er lebhaft: ›Die Erkenntnis sollte dafür eintreten und der Menschheit helfen, das wieder gut zu machen, was blinde Gewalten, Erdkonvulsionen in Unordnung brachten. Die Motte fliegt in das Licht, weil die Natur unvorhersichtig ist;16 nun käme es für die Menschheit darauf an, dieses künstliche Licht auszulöschen, – [358] nicht das Licht der Erkenntnis, aber das der falschen Wissenschaft, der Wissenschaft, welche unsere Fürsten protegieren, um andererseits ihr Armeenwesen immer ärger treiben zu können.‹ Je näher er der Periode der ersten Aufzeichnung seiner Schrift kam, desto mehr beschäftigten ihn auch in seinen Unterredungen die Gedanken ihres ersten Abschnittes, über Religion und Kunst, Dogma und Allegorie, die Geburt Christi in Verbindung mit der Idee der ›unbefleckten Empfängnis‹. Die Kunst gebe die Metaphern und Allegorien der religiösen Vorstellung rein als solche, rücke eben dadurch aber doch die Wahrheit der Dogmen der Empfindung nahe: die ›Oresteia‹ des Aeschylos sei sicherlich tiefer als die eleusinischen Mysterien gewesen. Das in Christus offenbarte Göttliche war wiederholt das Thema der Erörterung; und wie begreiflich es gewesen sei, daß man sich eine solche Geburt nicht als natürlich, sondern als wunderbar vorgestellt habe. Als Dogma sei die unbefleckte Empfängnis höchst widerwärtig, als Sage und in der Kunst sei sie wundervoll. Am 29. Mai kündigt er in einem Briefe an Wolzogen die ›Ausarbeitung seiner neuesten literarischen Explosion‹ als nahe bevorstehend an. Es würden drei Teile sein: ›den ersten können Sie gewiß für das Juliheft bekommen‹.

Nachdem sich sein Befinden soweit gebessert, konnte er am 4. Juli an seine große Arbeit gehen; deren Plan in seinen drei wohlgegliederten Abschnitten ihm im Geiste deutlich vorschwebte. ›Man müsse mit einem solchen Stoff doch vorsichtig sein; es ginge nicht wie bei der Besprechung einer Oper‹, sagte er. Auf der anderen Seite war jeder einzelne Satz darin seit lange in seinem Geiste vorgebildet und durchgedacht, so daß er selbst bei kühlem und grauem Wetter und während er ein lebhaftes Verlangen nach wieder eintretender Wärme hatte, doch von Tag zu Tage stetig vorrückte. So wurden, mit eigener Freude an der Folge und Entwickelung seiner Gedanken, die ersten Seiten derselben über das Verhältnis von Kunst und Religion zueinander, über die Entstehung der christlichen Religion insbesondere, über Wunderglauben und ›Offenbarung‹, über den Götterglauben der Griechen, über den zornigen und strafenden ›Schöpfer des Himmels und der Erde‹, den Jehova im feurigen Busch, und wiederum den leidenden Gott am Kreuze, das ›Haupt voll Blut und Wunden‹ niedergeschrieben; woran sich dann die herrlichen Ausführungen über Raphaels Sixtinische Madonna und Michelangelos jüngstes Gericht anschlossen, alles noch in der Zeit von Malwidas Anwesenheit. Am 11. Juli erklärte er bei Tisch, er sei mit dem ersten Teil der Arbeit fertig und freue sich, nun zur Religion zu kommen; bei der Kunst, fügte er scherzend hinzu, müsse man immer an ›Lübke‹ denken.17

[359] Unter den von Malwida erwähnten öfteren Besuchen ›aus der Stadt‹ wüßten wir nach unserer Kenntnis außer den mehr oder weniger regelmäßigen des Hausarztes Dr. Schrön während dieser Periode doch eigentlich nur Sgambati zu nennen, der sich, noch ganz erfüllt vom ›Lohengrin‹ in Rom, mit Frau und Kind in Neapel einfand und bei seinen Besuchen in Villa Angri abermals an den ihm früher empfohlenen Stoff aus der Sieneser Geschichte18 erinnert wurde und außerdem ein neues schönes Konzert seiner eigenen Komposition zum Vortrag brachte. Hingegen setzte der Meister selbst seine eigenen Ausflüge in die Stadt, recht mitten in das Volksleben hinein, gleichmäßig fort. So ging es einmal, noch mit Malwida, im Tram, dem ›Schiff der Wüste‹, wie er es scherzend nannte, über die Chiaja nach der durchaus volkstümlichen Strada Sta Lucia am Meeresufer, in früheren Zeiten einer engen schmutzigen Straße, damals aber schon längst zu einem breiten angenehmen Quai erweitert, an dessen Häuserreihe sich gleichwohl das Familienleben des neapolitanischen Volkes mit allem Lärm und Jubel dieser heiteren genügsamen Menschen auf das ungenierteste entfaltet, der weibliche Teil nicht allein seine Handarbeiten im Freien verrichtete, sondern auch seine Toilette auf offener Straße machte und die Buben mit gebräunten Wangen und blitzenden Augen halb oder auch ganz nackt umherliefen, und das Hauptleben sich unten auf dem Vorsprung konzentriert, zu welchem bequeme Treppenstufen hinabführten. An der Meeresseite war der Stand der Austernhändler, die aber auch Seespinnen, Krebse und Seeigel feilboten, kurz alle jene Leckerbissen, die der Neapolitaner als frutti del mare bezeichnet. Von da ging es in zwei Booten zu den kürzlich eingetroffenen englischen Schiffen, als eigentlichem Ziel des Ausfluges. Man genoß des schönen Anblickes der Stadt, und selbst die Schiffe an sich waren in ihrer Art interessant, doch aber traurige Gedanken erweckend (S. 356). Die Mannschaft machte einen wenig erfreulichen Eindruck: ›dürftige Menschen‹, sagte der Meister; ›doch diese haben von je die Welt beherrscht!‹ Wie anders die wilde tolle Menge in Sta Lucia! Ein anderes Mal ging es zu Fuß in Rubinsteins Wohnung, um von dort aus die Prozession zu Ehren des heiligen Antonius zu besichtigen.[360] Wiederum ein einzig charakteristisches Bild des dortigen Lebens der Heilige von Obst und Blumen umgeben, angesungen von Jungen mit dem bekannten neapolitanischen Ruf, den der Chor aufnimmt, worauf dann ein Schiff mit lauter Waren herausgebracht wurde, so daß man sich angesichts des heiteren Volkes wohl fragen konnte, was man zu dessen Glücke wohl hinzuzutun, zu geben oder zu nehmen hätte! Ganz regelmäßige diätetische Besuche machte er, oft in Begleitung Siegfrieds, im Tram beim neapolitanischen ›Angermann‹ Dreher,19 um dort sein Glas Bier zu trinken. Einmal begab er sich allein dahin, fühlte sich aber unterwegs an der Piazza dei Martiri am Arm gefaßt: Siegfried hatte ihn von einem Hause aus, in dem er sich eben befand, erblickt und war ihm nachgelaufen. ›Was das für mich für ein Gefühl ist‹, sagte er nachher zu Joukowsky, ›ich, der ich zwei Menschenalter hindurch ein ganz fertiger Mann war, wie ich meinen »Tannhäuser« schrieb, da waren Sie noch gar nicht geboren. Ich komme mir manchmal wie der fliegende Holländer vor und nun den Jungen da zu sehen!‹ Er erzählte dann weiter, wie er, im Tram mit Siegfried sitzend, Stein habe herankommen und vor ihnen Platz nehmen sehen, ohne sie zu bemerken; bis er durch das Gespräch von Vater und Kind aufmerksam gemacht, sich umkehrte und sie erblickte! Ein anderes Mal gab es mit der gesamten, Familie nebst Joukowsky und Stein ein Zusammensein im Café des Palazzo Reale, wobei Wagner inmitten der Kinder in heiterster Stimmung bei jedem Löffel Eis, den er zum Munde führte, einmal über das andere ausrief: ›O Gott, ist das hübsch hier!‹ Doch konnte es vorkommen, daß nach einer derartig wohlgelungenen Unternehmung irgendeine Explikation mit dem Kutscher, die Unmöglichkeit zu verstehen und sich verständlich zu machen, das Zugassen der Leute usw. ihn so aufregten, daß er wieder über den ominösen Krampf in der Brust klagte und nur mit Mühe beruhigt werden konnte.

Die regelmäßigen musikalischen Vorträge Rubinsteins veranlaßten ihn zu unerschöpflich reichen Bemerkungen und Betrachtungen. So über das Requiem Mozarts: es sei schön und ergreifend, von einem naiven Katholiken, von einem frommen Gemüt, das in die Kirche geht und gerührt ist; aber durchaus unkirchlich. Vom ›Fidelio‹ sagte er, die absolute Bewunderung desselben sei eine große Lüge, nur um anderes nicht anzuerkennen.20 Auch machte er gern den falschen Kultus für Gluck und Händel lächerlich: ›worin das Außerordentliche dieser Erscheinungen besteht, das wissen die Herren nicht, die alles in Bausch und Bogen bewundern, was Vielschreiberei war‹. Selbst seinem geliebten Vorbilde Weber meinte er damit keine Ehre erwiesen, daß man seine Vorzüge da suche, wo sie nicht vorhanden wären. Schon aus seiner [361] frühen Kinderzeit war er sich bewußt, vom ›Oberon‹ nicht den gleichen starken Eindruck, wie vom ›Freischütz‹ empfangen zu haben, und von der ›Euryanthe‹-Ouvertüre rühmte er als besonders herrlich den Anfang bis zum Thema ›o Seligkeit‹ inklusive; dann kämen die Schwächen; ›dann hat er zeigen wollen, daß er es ebenso könnte, wie die andern, Spontini usw., nur noch besser‹. In den Tagen der ergreifenden Lektüre der ›Oresteia‹ intonierte er auch einmal bei Tisch humoristisch den Chor Mendelssohns aus der ›Antigone‹: ›Vieles Gewaltige lebt‹ und machte im Anschluß daran auch die Pantomime des von Mitterwurzer angeführten Chores bei der Dresdener Aufführung anschaulich: ›zwei Schritte vorwärts, einen zurück!‹21 Gern beteiligte er sich an der gemeinsamen Durchsicht von Joukowskys kostbarer Sammlung von Kupferstichen und anderen Reproduktionen großer Meisterwerke: Teniers ›Versuchung des heiligen Antonius‹ erregte allgemeine Heiterkeit, die Werke Rembrandts die größte Bewunderung; gegen Rubens aber erging er sich in Protesten: die Frauen mit ihrer gemeinen trägen Sinnlichkeit waren ihm widerwärtig, und er fand in ihm ganz den ›Zögling der Jesuiten‹.22 In einer der allgemeinen Benutzung im Hause Wahnfried dienenden, kostbaren Schreibmappe tauchten uns einmal, wie ein Abglanz jener Tage von Neapel, die von Joukowskys Hand geschriebenen, auf dem Löschblatt verkehrt abgedrückten, aber noch deutlich lesbaren Zeilen an Pepino auf: ti prego di venire qui alle otto e' un' quarto, per posare ancora una volta il quadro; il Maestro lo desidera molto. Sie erinnern uns daran, daß der Meister an Joukowskys, gegenwärtig in der Eremitage zu Petersburg befindlicher ›Pietà‹ Gefallen fand. Es sei aber ein Gegenstand, den man nicht immer so vor Augen haben dürfte; ein Bild dieser Art mußte an einer geheimnisvollen Stelle, in einer Krypta aufbewahrt sein. Auch nahm er daraus Anlaß, über die heutige ›klecksende‹ jeder Vollendung abholde Art der Malerei zu sprechen, während z.B. bei Tizian die Farbe so durchgeistigt sei. ›Zu merkwürdig‹, fügte er, den Blick auf das Bild geheftet, hinzu, ›daß die Mutter, welche im Leben Jesu so ganz verschwindet, zu einer solchen Rolle berufen war‹ Als im Anschluß daran jemand äußerte, es sei ein Gewinn unserer Zeit, die Persönlichkeit Christi sich näher vergegenwärtigt zu haben, fügte er beistimmend hinzu: ›und das Göttliche in ihm hat dabei nichts verloren; alle die Zutaten, das endlose Reden im vierten Evangelium, fallen ab. Es wäre das Werk eines großen begeisterten Dichters, das reine Evangelium aus den vorhandenen Zügen zu bilden‹ Man könne sich Christus nicht anders vorstellen, als daß er von einer großen milden Schönheit gewesen sei. Den Christuskopf Leonardos auf einer Skizze zur Cena fand er zu weichlich, führte aber des näheren den großen Eindruck aus, den ihm die Erscheinung [362] des Heilands auf der Cena selbst gemacht habe, wobei er auch die schöne Haltung der Hände erwähnte und die Ausführlichkeit und zu große Bewegung der anderen Personen auf dem Bilde bedauerte. Er spielte darauf, gleichsam für sich, das erste Thema von ›Parsifal‹, und wies dann darauf hin, weshalb er die Worte des Erlösers durch einen Chor habe ausführen lassen, damit die göttliche Stimme weder männlich noch weiblich sei: ganz ungenerell müßte Christus sein, weder Mann noch Weib. So habe auch Leonardo in der Cena es versucht, einen beinahe weiblichen Kopf mit Bart zu geben. Weder alt noch jung dürfe er erscheinen – der Gott im Menschen.

Die abendliche gemeinsame Lektüre war, wie immer, von reichster wechselnder Mannigfaltigkeit. Von einem Gespräch über die Sünder ausgehend, welche mit Pascal die ›Hölle‹ fürchten, während ein Wesen wie Goethe in seinem Anschauungskreise nichts von derlei wisse, las er Schopenhauers Dialog ›zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod‹.23 Ein anderes Mal schlug er in Shakespeares ›Heinrich VIII.‹ die kleine Szene zwischen Katharina und Griffith auf, in welcher die Königin die Nachricht vom Tode ihres Widersachers, des Kardinals Wolsey, zuerst in Milde als Christin mit sanften Worten begleitet, dann aber durch Nachdenken und Vertiefung in die volle Wahrhaftigkeit des Urteils gerät. ›Und wie ein großer Historiker nimmt sich Shakespeare da aus! Ein unbegreifliches Wesen!‹ Von ganz hervorragendem Eindruck war die bereits erwähnte, mehrere Abende ausfüllende Lektüre der Aeschyleischen ›Oresteia‹. Während der Vorlesung des ›Agamemnon‹ war es allen Anwesenden, als ob sie ihn nie so verklärt und beseelt gesehen, ganz Eines mit dem, was er las. Erhabener konnte die athenische Aufführung selbst nicht gewirkt haben, und die ersten Ausrufe der Kassandra waren herzzermalmend. ›Noch klingt mir‹, erzählt Joukowsky ein Vierteljahrhundert später, ›ihr Ruf in den Ohren: »Apollon! Apollon!« –‹ Über die gesamte Trilogie äußerte er sich ungefähr mit den Worten: ›Ich erkläre sie für das Vollendetste in jeder Beziehung, in religiöser, philosophischer, dichterischer, künstlerischer Hinsicht. Die Historien Shakespeares kann man danebenstellen; aber er hatte keinen athenischen Staat, keine Stiftung des Areopags am Schluß.‹ Beim Durchgehen der Einzelheiten erwähnte er der Müdigkeit Klytämnestras, ihre Verachtung des Chores, der ja auch den Mord Iphigeniens zugelassen und gebilligt habe. Auch wies er auf die Äußerung Klytämnestras hin, daß – nach erfolgtem Sühnetod des Vaters Iphigenie ihn, den Entsühnten, im Jenseits nach Kindespflicht liebreich empfangen, umarmen und küssen werde. ›Das sind diese individuellen unbegreiflichen Züge; und alles blutig, blutbespritzt! Wenn Thyestes ein Vegetarianer gewesen wäre‹, fügte er wie scherzend hinzu, ›dann wäre das alles nicht [363] geschehen! Im Ernst: es stimmt zu meiner Arbeit.‹24 Von den Chorgesängen der ›Grabesspenderinnen‹ und ihrem Schwall, ihrem immer neu einsetzenden Strom der Klage sagte er: ›ein Ähnliches weiß ich, das ist der zweite Akt von »Tristan und Isolde«.‹ Der glorreiche Abschluß der ›Eumeniden‹ erweckte die weitestgehenden Gedanken und Vergleichungen. Unter anderm sprach er davon, daß er in einem seiner Werke eine Verbindung der idealen und der realen Welt gegeben habe, die ihn an diese ›Einsetzung des Areopags‹ als Schlußstein eines erhabenen Kunstwerkes gemahne: es sei dies die Ansprache des Hans Sachs am Schlusse der Meistersinger. Rühmend gedachte er dann Droysens als Übersetzer und des Eindruckes, den er auf ihn gemacht, als er seinerzeit in Dresden als Autodidakt sich eine Bibliothek anschaffte und nun in Übersetzungen diese Dinge sich aneignen mußte.25 Auch erwähnte er bei diesem Rückblick dankbar Otfried Müllers und seines Buches über ›die Dorier‹, der ihm durch die Tiefe seiner, Forschungen das dorische Wesen in einem andern Lichte gezeigt, als man es etwa durch den Apoll von Belvedere zu kennen vermeint hätte.

Inzwischen waren die grauen Tage einem anhaltenden warmen Sonnenschein gewichen. Auf seinen Frühpromenaden fehlte ihm der Schatten: ›in Bayreuth‹, sagte er, ›hatte ich Schatten genug, aber keine Sonne‹. Als jemand die Bemerkung machte, es sei schrecklich, sich zu denken, daß es nun drei Monate lang so unausgesetzt schön sein werde, erwiderte er: ›Diese schöne Natur muß einem sein, wie ein Gewand; man muß es haben, aber nicht immer hinsehen, man muß dabei leben und seine Aufgabe haben.‹ In diesem Sinne war er bald nach Vollendung des ersten Abschnittes von ›Religion und Kunst‹ zum zweiten Teil dieser Abhandlung übergegangen. Hatte jener erste Abschnitt von den Affinitäten noischen Religion und Kunst im allgemeinen gehandelt, um in betreff der bildenden Kunst zu dem Resultat zu gelangen, daß ihre ideal schaffende Kraft in dem Maße abnahm, als sie von ihrer Berührung mit der Religion sich entfernte, um ihr Erbe der Musik zu hinterlassen, als der einzigen dem christlichen Glauben ganz entsprechenden Kunst: so war es die Aufgabe dieses zweiten Teiles, die Gründe des Verfalles selbst der erhabensten Religionen und damit auch des Versinkens der von ihnen hervorgerufenen Kulturen erklärlich zu machen. Von der ältesten dieser Religionen schritt er hier zu der jüngsten vor, indem er zunächst die brahmanische Lehre [364] von der Sündhaftigkeit der Tötung des Lebendigen und der Verspeisung der Leichen gemordeter Tiere an die Spitze stellte. Sie war ›das Ergebnis einer tiefsten metaphysischen Erkenntnis: wenn der Brahmane uns die mannigfaltigsten Erscheinungen der lebenden Welt mit dem Bedeuten »Das bist Du!« vorführte, so war uns hiermit das Bewußtsein erweckt, daß wir durch die Aufopferung eines unserer Nebengeschöpfe uns selbst zerfleischten und verschlängen.‹ Immerhin gehörte die tiefsinnige Brahmanenlehre mit ihrer staunenswerten Geistesfülle und Geistesbildung ausschließlich den ›Erkennenden an, wogegen die in der Natürlichkeit haftende, von der Möglichkeit der Erkenntnis ausgeschlossene Menge nur durch zahllose Wiedergeburten zur Einsicht in die Nichtigkeit der Welt gelangen konnte. Einen kürzeren Weg zur Heilsgewinnung zeigte dem armen Volke der erleuchtetste Wiedergeborne, Buddha; aber das erhabene Beispiel der Entsagung und unstörbarsten Sanftmut genügte seinen brünstigen Nachfolgern nicht. Die letzte große Lehre von der Einheit alles Lebenden durfte seinen Jüngern wiederum nur durch eine mythische Erklärung der Welt zugänglich werden, deren überaus sinniger Reichtum und allegorische Unfaßlichkeit doch immer nur der Grundlage der brahmanischen Lehre entnommen ward; für die erklärende Deutung ihrer Mythen und Allegorien ging nie die eigentliche Kunst, sondern einzig die Philosophie den religiösen Dogmen zur Seite. Anders verhielt es sich mit der christlichen Religion Ihr Gründer war nicht weise, sondern göttlich (S. 202); seine Lehre war die Tat des freiwilligen Leidens; an ihn glauben, hieß: ihm nacheifern und Erlösung hoffen, hieß: mit ihm Vereinigung suchen.‹ Er erschien unter den Ärmsten und von aller Welt Abgelegensten, um den Weg der Erlösung nicht mehr durch Lehren, sondern durch das Beispiel zu weisen: ›sein eigenes Fleisch und Blut gab er, als letztes höchstes Sühnopfer, für alles sündhaft vergossene Blut und geschlachtete Fleisch dahin, und reichte dafür seinen Jüngern Wein und Brot zum täglichen Mahle: »solches allein genießet zu meinem Angedenken«. Wie mit angstvoller Gewissensqual verfolgt diese Lehre die christliche Kirche, ohne daß diese sie je in ihrer Reinheit zur Befolgung bringen könnte, trotzdem sie, sehr ernstlich erwogen, den allgemein faßlichsten Kern des Christentums bilden sollte. Sie wurde zu einer symbolischen Aktion, vom Priester ausgeübt, umgewandelt, während ihr eigentlicher Sinn sich nur in den zeitweilig verordneten Fasten ausspricht.‹ Daß in dieser Deutung des christlichen Heilsamtes ein Gedanke Gleïzès' in seinem ›neuentdeckten Christentum‹ adoptiert ist, ward bereits (S. 308, Anm.) von uns beachtet. Es drängte ihn, sie an dieser Stelle zu ihrem Rechte zu bringen, um daran zu zeigen, daß, wäre der Glaube an Jesus den ›Armen am Geiste‹ allein zu eigen verblieben, das christliche Dogma als die einfachste Religion auf uns gekommen sein würde. Die Unmöglichkeit der Durchführung einer unausgesetzten Befolgung dieser Verordnung des Erlösers bei allen Bekennern [365] der christlichen Religion wird nun als der wesentliche Grund ihres so frühen Verfalles, als ›christlicher Kirche‹, nachgewiesen. ›Wie es möglich war, aus ihr eine Staatsreligion für römische Kaiser und Ketzer-Henker zu machen‹, darüber wurden wir durch die unvergleichlichen Verwirrungen des Sektengeistes in den ersten drei Jahrhunderten des Christentumes belehrt: den ›Reichen am Geiste‹ war sie zu einfach. Um verfallende Geschlechter sich zu unterwerfen, die Herrschaft über Reiche und Staaten zu erlangen, bedurfte die Kirche der Hilfe des Schreckens, und der eigentümliche Umstand, daß das Christentum als aus dem Judentum hervorgegangen angesehen werden konnte, führte zur Aneignung der hierfür nötig dünkenden Schreckmittel. Aus den Ergebnissen der Sektenstreitigkeiten nahm sie für ihre Glaubenslehre diejenigen Elemente auf, die ihrer Herkunft eine übermenschliche Würde verleihen sollten, um hieraus allmählich den komplizierten Mythenvorrat anzusammeln, für welchen sie fortan den unbedingten Glauben mit unerbittlicher Strenge forderte. Ihre Befähigung zu Macht und Herrschaft aber gewann sie vor allem durch die Herbeiziehung des Judentums zur Ausbildung ihrer Dogmen. ›Wo wir christliche Heere, selbst unter dem Zeichen des Kreuzes, zu Raub und Blutvergießen ausziehen sahen, war nicht der Alldulder anzurufen, sondern Moses, Josua, Gideon, und wie die Vorkämpfer Jehovas für die israelitischen Stämme hießen, waren dann die Namen, deren Anrufung es zur Befeuerung des Schlachtenmutes bedurfte.26 Wie ohne diese Hereinziehung des altjüdischen Geistes und seine Gleichstellung mit dem des rein christlichen Evangeliums, wäre es auch bis auf den heutigen Tag noch möglich, kirchliche Ansprüche an die »zivilisierte Welt« zu erheben, deren Völker, wie zur gegenseitigen Ausrottung bis an die Zähne bewaffnet, ihren Friedenswohlstand vergeuden, um beim ersten Zeichen des Kriegsherrn methodisch zerfleischend über sich herzufallen? Offenbar ist es nicht Jesus Christus, der Erlöser, den unsere Feldprediger vor dem Beginne der Schlacht den um sie versammelten Bataillonen zum Vorbild empfehlen; sondern, nennen sie ihn, so werden sie wohl meinen. Jehova, Jahve oder einen der Elohim, der alle Götter außer sich haßte und sie deshalb von seinem treuen Volke unterjocht wissen wollte. Ersehen wir hieran, daß unserer so komplizierten Zivilisation selbst nur die Verhüllung ihrer durchaus unchristlichen Herkunft nicht gelingen will, und kann unmöglich das Evangelium, auf das wir trotzdem in zartester Jugend bereits vereidigt werden, zu ihrer Erklärung, geschweige denn zu ihrer Rechtfertigung herbeigezogen werden, so hätten wir in unserem Zustande sehr wohl einen Triumph der Feinde des christlichen Glaubens zu erkennen.‹27

Mit dem Vorstehenden ist der schwache Versuch gemacht, die konzentrierte Gedankenfülle dieser Abhandlung auf einige leitende Hauptpunkte zurückzuführen. [366] Das gänzlich Neue, in diesem Zusammenhang noch von keinem Vorgänger Durchgeführte, ist das, was die Schrift über ›Religion und Kunst‹ vor allem auszeichnet. In der Periode von ›Oper und Drama‹ würden diese drei Teile durch den ungeheueren Reichtum des sich andrängenden Stofflichen zu drei besonderen Bänden angeschwollen sein. Aber er wollte kein ›Buch‹ schreiben, sondern die Ausführung seiner Gedanken anderen überlassen; er schied nach allen Richtungen aus, was ihn dazu veranlassen konnte und verstärkte dadurch erst recht die Energie der leitenden Gedanken. In Joukowskys bereits erwähnter Mappe erblickte er das Bildnis des Savonarola von Fra Bartolomeo und ließ sich eingehend über dieses Gesicht und diese Erscheinung aus. Man könne es sich nicht anders vorstellen, als daß eine große Wucht des Herzens, eine Luzidität, die mit der eigentlichen Intelligenz nichts zu tun habe, so hinreißend in ihm gewirkt habe: ›aber ich werde ihn nicht anführen, das würde mich zu weit ablenken‹. Und zu Stein, dessen jugendlicher Idealismus und durch allen Ernst seiner Lebensanschauung immer festgehaltener Glaube an die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur noch durch keine bittere Lebenserfahrung gebrochen war, sagte er: ›Ich nähere mich Ihrer Ansicht; die Menschen brauchen nicht so schlecht zu sein; ich weiß schon, wie sie zu regenerieren sind, und dann, wenn uns dies gelungen ist, führen wir die »Pastoral«-Symphonie auf!!‹ Man vergleiche hiermit die damals soeben geschriebenen Schlußworte dieses zweiten Abschnittes. Nachdem gezeigt worden ist, wie das Gesetz Muhameds zum eigentlichen Grundgesetze aller Zivilisation geworden ist und in eine mögliche gesunde Entwickelung einer christlichen Volkskultur die lateinische Wiedergeburt der griechischen Künste erst recht noch den Ruin hineingetragen hat,28 heißt es weiter: ›Und für diese Welt wird immerfort gemalt und musiziert. In den Galerien wird Raphael fort und fort bewundert und erklärt, und seine »Sixtina« bleibt den Kunstkennern ein größtes Meisterstück. In Konzertsälen wird aber auch Beethoven gehört; und fragen wir uns nun, was unserem Publikum wohl eine Pastoral-Symphonie sagen möge, so bringt uns diese Frage, tief und ernstlich erwogen, auf Gedanken, wie sie dem Verfasser dieses Aufsatzes sich immer unabweisbarer aufdrängten und welche er nun seinen geneigten Lesern faßlich mitzuteilen versuchen will, vorausgesetzt, daß die Annahme eines tiefen Verfalles, in welchen [367] der geschichtliche Mensch geraten, nicht bereits vom Weiterbeschreiten des eingeschlagenen Weges sie abgeschreckt hat.‹

Gerade die Pastoralsymphonie war noch vor kurzem, gewiß gerade infolge des inneren Zusammenhanges seiner Gedanken, der Gegenstand häuslicher musikalischer Beschäftigung gewesen. Er hatte sie selbst, mit der ältesten Tochter des Hauses, Daniela v. Bülow, vierhändig am Klavier zu spielen begonnen; da war Rubinstein eingetreten und hatte sie dabei überrascht. Er übernahm nun, für Sturm und Finale, die weitere Ausführung allein und der Meister war aufs neue entzückt von dem wundervollen Werk. Nach dem Beschluß des zweiten Abschnittes seiner Arbeit war für den 2. Juli acht Uhr morgens zur Erholung und Zerstreuung eine gemeinsame Dampfschiffahrt quer über den Golf von Neapel nach Sorrent anberaumt, in Begleitung der Kinder und Freunde. Man merkte es ihm an, wie wohl ihm da im umgebenden Kreise der Seinigen war: seine Heiterkeit steigerte sich bis zum Übermut. Wiederum ergötzten ihn die schlanken sonnegebräunten schwarzäugigen Burschen, die mit erstaunlicher Geschicklichkeit tauchend die Sous aus dem Wasser holten, die ›Tiermenschen‹, wie er sagte; und obwohl er selbst das Spiel für ›häßlich‹ erklärte, warf er doch einen Sou nach dem andern, um ihre Sprünge zu bewundern.29 Er erfreute sich des Anblickes des immer näher rückenden kleinen, auf jähem Felsen am Meer sich erhebenden Ortes und bezog nach der Landung den gleichen Gasthof wie bei seinem ersten Aufenthalte daselbst. Während sich die Jugend auf der schönen, durch reiche Olivenhaine führenden Straße nach Massa erging, genoß er, mit seiner Gattin, auf der Loggia des Hotels der behaglichen Ruhe, ließ sich durch Rubinstein Straußische Walzer vorspielen, beschäftigte sich mit dem Haushund Ercole, ebenfalls einem alten Bekannten, und erlabte sich im Garten an dem Schatten der schönen alten Zitronenbäume mit dem Reichtum ihrer üppig herabhängenden, Früchte. Auf der Heimfahrt erfreute er sich vom obersten Verdeck aus wiederum der mächtigen Formen des Vesuv, die in der Nähe viel schöner erschienen als von Neapel aus, und des ganz einzig wuchtig bedeutenden Eindruckes der Stadt: ›dort, in Sorrent, ist das Idyll, »Hermann und Dorothea«; hier ist alles heroisch, hier könnte die »Ilias« spielen‹. Der Abend fand ihn bereits wieder auf der Terrasse der heimischen Villa Angri. Das ›wirke, solange es Tag ist‹ hatte ja für ihn von je seine ganz besondere Gültigkeit; schon die allernächste Zeit fand ihn wieder bei seiner, nun bald abzuschließenden Arbeit, deren letzter Abschnitt ihn recht eigentlich aus dem von Gleïzès erschlossenen Ideenkreis in seinen eigenen positiven Regenerationsgedanken überleitete. Es war in diesen Tagen, daß ihm die durch den in Berlin unermüdlich wirkenden Dr. Bernhard Förster an den Reichskanzler gerichtete [368] Massenpetition gegen das Überhandnehmen des Judentums in Deutschland zur Unterzeichnung vorlag. Ganz gewiß hatte Dr. Förster damit recht als sein Anhänger zu handeln vermeint, als er sich freiwillig die damit verbundene ungeheure Arbeitslast aufbürdete. So sehr jedoch die darin kundgegebene nationale Sorge mit der seinigen zusammentraf, so verdienstlich das Unternehmen des feurigen Agitators an sich war: so unmöglich fiel es ihm andererseits, diese in den üblichen devoten Formen gehaltene – Adresse mit seinem Namen zu decken. Er teilte sich daher an Dr. Förster in dem Sinne mit, daß er seit dem Schicksal der Petition in der Vivisektionsfrage es sich vorgenommen habe, nie wieder eine Petition zu unterzeichnen. Dazu war er nach allen vorausgegangenen Erfahrungen in bezug auf den Empfänger des Schriftstückes im voraus nur allzusehr von ihrer Erfolglosigkeit überzeugt. Durch Frau von Schleinitz hatte er erfahren, der Reichskanzler habe ihr seine Antipathie gegen Vivisektion und Vivisektoren unumwunden zu erkennen gegeben,30 und daran die Bemerkung geknüpft, wie schlimm es dann sei, daß er nicht für seine Überzeugung einzutreten den Mut hätte und eine so tiefgreifende, Frage dem Zufall überlasse. ›Wir haben eine nette Kultur auf dem Halse‹, sagte er daher, als er nach der Vorlesung des ›Agamemnon‹ das Buch aus der Hand gab. ›Für mich ist die Geschichte der Vivisektions-Petition bezeichnend und allessagend. Es ist einem nicht zu verdenken, daß man nur Ekel vor einer solchen Nation hat, daß man ungern dieselbe Sprache mit diesen Leuten spricht. Wie lächerlich man sich vorkommt, wenn man irgendwie mit Pathos der Dinge im deutschen Reich gedenkt!‹ So vergegenwärtigte sich seiner Erinnerung auch wohl zuweilen die Gestalt des Kaisers Wilhelm, mit aller Liebenswürdigkeit, mit welcher ihm der hohe Herr bei ihrer letzten Begegnung zu den Festspielen gegenübergetreten war, aber doch geschah dies immer nur mit wehmütigen Worten: ich vergesse ihm seine, Freundlichkeit in Bayreuth nicht, und doch kann ich es mir gar nicht vorstellen, mit ihm zusammenzukommen und ihm etwa meine Gedanken auszusprechen! Immer wieder beschäftigte ihn unter diesen Einwirkungen die lockende, Fata morgana einer Auswanderung in weite Ferne. Auch ›Religion und Kunst‹ war von ihm nicht als für seine Zeit, sondern für eine ferne Zukunft geschrieben gedacht; es konnte ihn nichts tiefer verstimmen, als eine [369] allzubuchstäbliche Auffassung seiner weittragenden weltumspannenden Gedanken durch das Mißverständnis gutwilliger Anhänger, wenn er wahrnehmen mußte, daß diese mit einer bloßen Diätveränderung seinen Ausblick in fern entlegene ideale Möglichkeiten zu verwirklichen meinten. Bei Betrachtung einer Nummer der ›Leipziger Illustrierten Zeitung‹ fiel ihm beinahe mit Entsetzen die Abbildung einer Fisch-Ausstellung auf: ›wir würden‹, sagte er, ›dieses Grausen nicht empfinden, wenn der Mensch nicht zu etwas Höherem bestimmt gewesen wäre, als zu diesem gegenseitigen Sich-Auffressen‹. Als aber Rubinstein eines Tages bei der Mahlzeit den Fisch mit dem Bemerken ablehnte, er wolle nicht ›als Fisch wiedergeboren werden‹, verwies er ihm sehr ernsthaft diese persönliche und buchstäbliche Auffassung der Symbole. Alles, Geburt und Wiedergeburt, Leben und Tod, sei in jedem Augenblick da; für das Volk habe man diese Symbole in die Zeit setzen müssen.31 Er wiederholte dabei den bereits in Sorrent getanen Ausspruch, als von jemand die Rede war, der am Sonntag nicht mit der Eisenbahn fuhr, um das Bahnpersonal nicht zu beschäftigen: ›Nur nicht glauben, daß der Einzelne durch solche Enthaltung von der Sündhaftigkeit des allgemeinen Zustandes sich freimachen kann!‹ Dagegen gedachte er wiederum mit Wärme jenes Industriellen in Turgenjews ›Terres Vierges‹, und meinte, so einer könnte einmal, wie Nichts, die Blase von ›Staat‹ zerplatzen machen, – aber es müsse Religion dabei sein! – Auf eine solche tiefgreifende Umwälzung hatte er es mit ›Religion und Kunst‹ abgesehen und empfand es in der Folge jedesmal schmerzlich, wenn er an einem neuen Beispiele sah, daß seine eigenen Lehren bei ihnen als ›Fratze‹ wiederkehrten, indem sie das als Ideal in weite Fernen Weisende mit engem Sinn in eine unzulängliche Gegenwart zu ziehen, eine große Erkenntnis in eine kleinliche Praxis umzusetzen sich beeiferten. ›Erkenner und Bekenner‹, rief er [370] dann aus, ›sind vielleicht die am tiefsten voneinander geschiedenen Wesen! Bei dem Einen alles groß, frei, ruhig, bei den andern alles eng, aufgeregt, beschränkt, der Eine für die Welt, der andere für eine Sekte wirkend!‹

In seiner Lektüre beschäftigte ihn seit Monaten immer und immer wieder der schon in früheren Lebensperioden so oft von ihm gelesene Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller.32 ›Was die immer an sich gebildet haben!‹ rief er aus. ›Ganze Bücher könnte man ausfüllen mit dem, was in diesem Briefwechsel gesagt und angeregt ist, und was haben wir daraus gemacht? »Was hilft der Kuh Muskate?« sagte mein Schwager.‹33 Er verfolgte mit hohem, immer erneutem Genuß die Individualität beider hohen Geistesverwandten, z.B. anläßlich der ›Kraniche des Ibykus‹, wobei der Schiller erteilte Ratschlag recht aus Goethes Natur gekommen sei: ›er liebte keinen Krawall, nichts Exzessives, so wollte er auch, daß das Gewahrwerden der Kraniche allmählich vor sich gehe‹. Er freute sich der geistvollen Selbständigkeit, mit welcher wiederum Schiller gegen Goethe seine Meinung aufrechterhalte, und bei dem Urteil beider über das deutsche Publikum als eines recht eigentlich ›unästhetischen‹ sagte er: ›vielleicht läge etwas darin‹. Vorübergehend legte er den Briefwechsel beiseite, um sich in die Arbeit seines jungen Freundes Stein über Giordano Bruno zu vertiefen, die er durchaus hoffnungsvoll und vortrefflich fand und an deren Titel ›der Wahn eines Helden‹ (als Versuch einer deutschen Wiedergabe des Ausdrucks ›eroici furori‹) er sich erfreute.34 Aus dem Briefwechsel erwähnte er bei dieser Gelegenheit mit Befriedigung der Goetheschen ›Bemerkung‹ über die – unter allem zersplitterten Sektenwesen – uns noch abgehende ›Sekte für das Gute‹, und bezog auf die durch ihn begründete Bayreuther Gemeinschaft: ›wir wollen die Sekte für das Gute sein‹. Auch erfreute ihn der Ausspruch Schillers: ›das einzige Verhältnis zum Publikum, das man nicht bereue, sei das des Krieges‹. Es war von je und in allen Lebenslagen das seinige gewesen. Sehr ergriff ihn der, in späteren Ausgaben weggelassene, Widmungsbrief an König Ludwig I. von Bayern. Er zeigte ihn mit Rührung35 seiner Frau und sprach den[371] Wunsch aus, ihn seinem königlichen Schutzgeist mitzuteilen, der ja ›noch zur rechten Zeit in sein Leben eingetreten‹. Er ward somit zum bevorstehenden 25. August für die ›Bayreuther Blätter‹ bestimmt, und Frau Wagner selbst verfaßte dazu in einem, durchaus des Goetheschen würdigen Stile die einführenden Worte, Worte von so innig ergreifender Wärme und Schönheit, daß sie der Meister selbst als eine ›Melodie‹ bezeichnete, seine eigene große Arbeit dagegen als ›Fuge‹; so daß ›Fuge‹ und ›Melodie‹ gleichzeitig unter demselben beglückten Dache der Villa Angri entstanden. Einmal wählte er auch für die Abendlektüre wieder die Szenen aus ›Was ihr wollt‹, in denen der schwermütige Jaques vorkommt, und wies darauf hin, wie wirksam es sei, daß noch vor seinem Auftreten von seiner Rührung bei der Betrachtung des sterbenden Hirsches erzählt wurde: auf der Bühne könne er nicht weinen, da sei alles Handlung, aber man wisse es durch den Bericht darüber, und das gebe seinen Worten Bedeutung.

Leider war die Zeit gekommen, zu der – nach Malwidas Abschied – noch ein weiteres Glied der wahnfriedlichen Gemeinschaft im Süden sich aus dieser Umgebung ablösen mußte. Es war dies Heinrich von Stein, den sein eigener Vater in die Heimat zurückberief, da ihm kein Verständnis dafür beigebracht werden konnte, daß er in des Meisters Hause nicht ›Hauslehrer‹, sondern ›Gast‹ sei. Mit Betrübnis, sagte ihm Wagner, habe er von der Notwendigkeit vernommen, daß er sie verlassen mußte; und als jemand von der Hoffnung sprach, die Zeit der Trennung werde schnell vergehen, fuhr er fort: ›ach, keine Hoffnung, nur Akzeptieren gibt es; alles Erfreuliche im Leben ist wie ein guter Traum in einem bösen Schlaf‹. Trotz aller Selbstüberwindung, die ihm in so hohem Maße eigen war, konnte es nicht entgehen, daß der junge Mann nur mit blutendem Herzen von der Stätte schied, an der ihm eine ungeahnte Bestimmung seines Lebens zuteil geworden war. Der Meister redete dennoch der Heiterkeit das Wort; denn hier sei kein Verlust, sondern ein Gewinn einzuschreiben: ›Sie sind jung, ich bin alt, und wir sind uns doch nahegekommen.‹ An Steins letztem Tage las er beim Kaffee den Seinen, was er soeben in seinem dritten Abschnitt über Moltke geschrieben hatte;36 abends aber aus ›Götz von Berlichingen‹ die Szene in der [372] Burg und den Trinkspruch auf die Freiheit. Wen unter den Anwesenden mußten nicht alle die edlen Eigenschaften der Gelassenheit und Gerechtigkeit, die inmitten alles Ungestüms der Natur bei Götz ihr Recht behalten, ganz unmittelbar an den Meister selbst und das deutsche Wesen gemahnen, welches nur in ihm noch zu leben schien? So wurde denn mit den Freunden auf die ›Freiheit‹ getrunken. Noch beim letzten Mittag sprach er dem außerordentlichen jungen Freunde Hoffnung zu. ›In Ihrem Alter, mit 23 Jahren‹, sagte er dabei unter anderem, ›da heiratete ich und hatte schon zwei Opern und viele Ouvertüren geschrieben. Sie sehen, wie weit man es bringen kann, wenn man mit 68 Jahren daran denken muß, nach Amerika zu reisen, um sich unabhängig zu machen.‹ Da Stein mit seinen eigenen Arbeiten aus Bescheidenheit eher zurückhielt, als daß er sich irgend damit vorgedrängt hätte, erfuhr der Meister erst nach seinem Scheiden von einem kühn entworfenen, in einer armseligen Londoner Schiffer-Taverne spielenden Dialog zwischen Shakespeare und Bruno, den er, wie er ihm im Anschluß an seinen Bruno-Artikel als dichterische Vision entstanden war, frisch aus dem Manuskript Daniela von Bülow vorgelesen.37 ›Wahrlich, der Mensch ist nicht von Grund aus böse‹, lautet da das, dem ›Meister William‹ selbst in den Mund gelegte Bekenntnis des jungen Dichters. Und gerade mit diesem, ihm aus dem Innern quellenden Glauben an die Gute der Menschennatur war der Scheidende im Laufe dieser sieben Monate ihres Verkehrs auch dem Meister selbst teuer und wert geworden. ›Er ist‹, sagte er, ›wie das zart vergeistigte Wölkchen, welches von einer gut begabten, vielleicht selbst mit brutalen Trieben ausgestatteten Rasse übrigblieb; Robustheit und Brutalität sind gewichen und nur dieses geistige Lichtchen zurückgeblieben.‹

Mit seiner Gesundheit war es zuletzt zunehmend besser gegangen, obgleich er sich in einem Briefe an Wolzogen darüber beklagt, daß ihm zwar eigentlich nichts fehle und er doch dabei immer durch allerlei Übelbefinden geplagt sei. ›Ich denke nun, dieser stete Aufenthalt in warmer und dabei ungemein energischer Luft soll meinem albernen Luftröhrenkatarrh Mores lehren, sowie die täglichen Seebäder meine ewig zu Transspiration aufgelegte Haut erkräftigen mögen.‹38 Er begann die projektierten Seebäder am 7. Juli, da er aber gleich das erstemal zu heftige Bewegungen darin machte, so bekam ihm das Bad nicht gut, und er hatte wieder Blutauswurf. Auch klagte er gegen Dr. Schrön, daß es immer etwas Aufreizendes für ihn gebe: für jetzt seien es die Hitzblattern, die sich mit der anhaltenden Wärme einstellten. Er schlief infolgedessen nicht gut, war zuweilen schon von vier Uhr[373] früh auf der Terrasse und legte sich danach wieder ins Bett. Nach einer Unterbrechung von einigen Tagen nahm er das zweite Bad, wußte aber doch nicht zu sagen, ob es ihm eigentlich gut bekomme; denn die darauf folgende Nacht war gar nicht gut. Trotzdem hatte er, da es Steins Abschiedstag war, schon um 1/29 zum Morgenkaffee die ganze Familie um sich versammelt und die Heiterkeit siegte ob. Eine Broschüre über die Vivisektion und das deutsche Reich drückte ihn gänzlich darnieder: ›Nein, diese Nation!‹ rief er aus. ›Keine andere ist so elend! Die Engländer haben doch diese Frage ganz ordentlich angefaßt!‹ Auch klagte er fortgesetzt über sein Brustleiden und die Hitzblasen und fühlte sich durch beides gequält und beklommen. Trotzdem fuhr er fort die Seebäder zu rühmen und verhoffte von ihnen Besserung. Dabei blieb er mit seiner großen Arbeit beschäftigt, die auch in seinen Unterhaltungen wiederkehrte. ›Eigentlich sei der Wille zum Leben nur verneinend vorzustellen, nämlich nach außen hin. Alles, was er nicht wolle, das wehre er ab, eine furchtbare Geschichte!‹ So pries er es als genialen Einfall Goethes, die Verkörperung des Bösen als ›den Geist, der stets verneint‹ hinzustellen. Wer dächte dabei nicht an die gleichzeitigen Ausführungen in ›Religion und Kunst‹ über den Willen, welcher ›als blind und nur begehrend, sich deutlich wahrnehmbar nur in dem Unwillen gegen. Das kundgibt, was ihm als Hindernis oder Unbefriedigung widerwärtig ist.‹ ›Da er aber doch selbst wiederum allein nur dieses sich Entgegenstrebende ist, so drückt sein Wüten nichts anderes als eine Selbst-Verneinung aus, und hierüber zur Besinnung zu gelangen, darf endlich nur das dem Leiden entkeimende Mitleiden ermöglichen, welches dann als Aufhebung des Willens die Negation einer Negation ausdrückt, die wir nach den Regeln der Logik als Affirmation verstehen.‹39 An die Venusbergmusik, die er auf seine Weise ›mit vielen falschen Noten‹ (wie er selbst sagte) ›aber mit der gehörigen Energie der Akzente, wie sie außer Liszt niemand hervorbringen könne‹ am Klavier spielte, knüpfte sich die Äußerung eines der Anwesenden, man sollte nicht glauben, daß diese Klänge und diejenigen ›Parsifals‹ von demselben Wesen herrühren, und es beweise dies, wie ideal in der Kunst alles sei. Hierauf erwiderte er mit den Worten: ›Alles schreit! Es ist dasselbe im »Venusberg«, wie im »Tristan«; dort verliert es sich in die Anmut, hier in den Tod überall der Schrei, die Klage! Und diese Akzente kommen dann freilich ein bißchen von wo anders her als die Sabbatswirtschaft von Ber lioz!‹ Die Erwähnung des Schreies, der Klage als des Urelementes der Musik erinnert uns an eine bezeichnende Stelle der Beethovenschrift;40 sie entspricht aber auch auf das genaueste den wiederum gleichzeitigen Ausführungen des dritten Abschnittes von ›Religion und Kunst‹, in welchen von der geweihten Stunde die [374] Rede ist, wenn alle Erscheinungsformen der Welt uns wie im ahnungsvollen Traume zerfließen und wir der Erlösung vorempfindend bereits teilhaftig zu werden glauben. Uns beängstigt dann nicht mehr die Vorstellung jenes gähnenden Abgrundes, der grausenhaft gestalteten Ungeheuer der Tiefe, aller der süchtigen Ausgeburten des sich selbst zerfleischenden Willens, wie sie uns der Tag – ach! die Geschichte der Menschheit vorführte: rein und friedenssehnsüchtig ertönt uns dann nur die Klage der Natur, furchtlos, hoffnungsvoll, allbeschwichtigend, welterlösend. Die in der Klage geeinigte Seele der Menschheit wird durch diese Klage sich ihres hohen Amtes der Erlösung der ganzen mitleidenden Natur bewußt; und losgelöst von jener grauenhaften Ursächlichkeit alles Entstehens und Vergehens, fühlt sich der rastlose Wille in sich selbst gebunden, von sich selbst befreit. Ihr edelstes Erbe hinterließ uns die christliche Kirche als alles klagende, alles sagende, tönende Seele der Religion. Den Tempelmauern entschwebt, durfte die heilige Musik jeden Raum der Natur durch dringen, der erlösungsbedürftigen Menschheit eine neue Sprache lehrend, in der das Schrankenloseste sich nun mit unmißverständlichster Bestimmtheit aussprechen konnte.41

Als die Seebäder ihm die erwünschte Erleichterung nicht brachten, empfahl ihm Dr. Schrön zunächst gegen den quälenden Hitzausschlag ein Kleienbad, sodann zeitweilige Teerbäder, abends vor dem Schlafengehen. Aber auch hiervon trat der verhoffte Erfolg nicht ein, und er begab sich dann vielmehr ins Freie, um sich dort des strahlenden Jupitergestirnes und der milden Nachtluft zu erfreuen und zugleich des von unten hinaufdringenden Lärmes, wenn das Volk wieder einmal – etwa zu Ehren der heiligen Anna – ›feuerwerkte‹. Oder er saß schweigend mit seiner Gattin auf der Terrasse, im Mondlicht gebadet, dazwischen seltsame Klänge des Volkslebens von fern vernehmend oder wandelte mit ihr im Garten, abwechselnd in Gesprächen und in Schauen verloren und bezeichnete eine solche Nacht als die vielleicht schönste, von ihm erlebte. Er lachte dann darüber, daß man schlafen wolle, wenn man es nicht könne. Aber nicht immer war es so, und wenn er nach einem dieser Teerbäder wiederum die ›Argermaschine‹, das Bett, verlassen hatte, kam es wohl vor, daß er schließlich übermüdet und ohne Freude, mit seelenstumpfer Gleichgültigkeit, dem herrlichsten Sonnenaufgange zusah. Und doch war es gerade nach einer solchen mit gleichgültig müdem Sinn verbrachten Nacht, daß er in der zweiten Hälfte des Juli seinen großen Aufsatz vollendete, und infolgedessen bei Tisch recht heiter und ausgelassen war.

Wiederum kam es nun, immer nach Dr. Schröns Anweisungen, zu neuen Versuchen mit Seebädern; doch brachte er es nach den vorangegangenen vier[375] Bädern jetzt nur noch auf zwei, denn ihre Wirkung stellte sich entschieden als ungünstig heraus. Von auswärtigen Besuchen aus dieser Zeit haben wir hier denjenigen eines Schweizer Malers Edmond de Pury zu nennen, dem er auf die Bitte seines französischen Verehrers Alfred Bovet (Valentigney) einige halbstündige Sitzungen für ein großes Portrait einräumte, die ihn doch aber wieder angriffen, oder vielmehr überflüssig irritierten. Auf dem Höhepunkt der Übermüdung, die er durch Hitzpocken und schlaflose Nächte auszustehen hatte, fand sich dann am 24. Juli auch noch Arnold Böcklin zu einem Besuch bei ihm ein, der recht gut hätte unterbleiben können. Dem Gedächtnis der Nachwelt ist er durch eine zwar ausführliche, aber doch recht mißverständnisvolle Schilderung dieser einzigen Begegnung zwischen Böcklin und Wagner überliefert.42 Böcklin habe es, kürzlich in Neapel eingetroffen, für eine ›Pflicht der Höflichkeit‹ gehalten, in Villa Angri seine Karte abzugeben, weil er früher einmal von Frau Wagner aufgefordert war, die Dekorationen für ›Parsifal‹ zu entwerfen.43 Leider hatte er von der ihm damit zugedachten Aufgabe nur einen sehr unvollkommenen Begriff und hielt es in seinem besonderen Künstlerstolz vielmehr für eine Art Degradierung, daß man ihm zumutete, sich an bloßer ›Theatermalerei‹ zu beteiligen.44 Wir erfahren nun des näheren aus jener Schilderung, wie Böcklin ›in seiner kurzen Reisejacke‹ mit seinem Schüler, dem Landschaftsmaler Albert Schmidt als Begleiter, bei glühender Sommerhitze nach dem Posilipo hinausgepilgert, wegmüde durch den wundervollen Park geschlichen sei, die Glocke an der Pforte gezogen und seine Karte in der ›eleganten Villa‹ abgegeben habe, um dann in beschleunigtem Schritt dem Ausgang des Gartens wieder zuzueilen, aus lauter Scheu vor einem wirklichen Empfang. Wozu kam er dann überhaupt? Aber noch vor Erreichung der mittagstillen Posilipstraße sei eine Mädchenstimme hinter ihm her erklungen und er habe schließlich nicht so viel Taubheit heucheln [376] können, um die laute und dringliche Stimme der ältesten Tochter des Hauses Daniela – zu überhören, die seinen Namen hinter ihm herrief und ihm, der nun stehen blieb, die Einladung zum Thee für den heutigen Abend ausrichtete. ›Entschlossen, unter keinen Umständen als Theatermaler für Bayreuth (!), die Villa zu verlassen, ging am einbrechenden Abend Böcklin mit Schmidt nach dem Posilipo. Sie wurden auf der Terrasse empfangen, wo auch der Thee serviert wurde. Die schönste Sommernacht fiel herein; ein warmer Wind wühlte in den Zypressen und trug den Rosenduft ans Haus; vom Golf herüber klang das sanfte Rauschen der Brandung. In tieferem Blau als über andern Ländern wölbte sich der Himmel über diesem Park und trug erhaben den prunkvollen Schmuck seiner Gestirne. Schattenhaft sah man die dunklen Fischerbarken in die offene See hinausgleiten,45 und ganz fern die finstere Silhouette des Vesuvs mit ihrem glühenden Scheitel. Und als die letzte Dunkelheit das Land bedeckte, war im endlosen Raum nichts weiter sichtbar als die feurigen Adern der Vesuvlava, die wie schmale glühende Bäche aus der Finsternis hervorbrachen. Von Zeit zu Zeit glühten sie heller auf, als wollten sie sich in verderbliche Bewegung setzen, um schnell wieder zu verlöschen und von neuem aufzuglühen. So schien ein langsamer Atem die rätselhafte Erscheinung zu durchziehen. Endlich stieg groß und glänzend die Riesenscheibe des Mondes zwischen den Zypressen hindurch und hob sich über die runden Wipfel der Pinien.‹ Nach dieser in Böcklinschen Farben gegebenen Lokalschilderung hat allerdings die weitere breitausgesponnene Ausmalung der wenigen Abendstunden, die Böcklin im Hause Wagners verbrachte, dem sehr geringen Verständnis des Erzählers entsprechend, bedeutend weniger Interesse. Böcklin habe neben, Frau Wagner gesessen und etwas entfernter dessen Begleiter Schmidt neben dem Meister. Angeblich habe nun Frau Wagner ihre an Böcklin gerichteten Vorschläge wieder erneut und den berühmten Maler mit ihrer ganzen bezaubernden Liebenswürdigkeit für ihre Zwecke zu gewinnen gesucht (?); aber nicht umsonst sei der arme Böcklin bei allseinem Genie ein ›kühler und mit schalkhafter Ironie über den Dingen (?!) stehender Schweizer‹ gewesen: in eisige Höflichkeit gepanzert, habe er ›verbindlich und liebenswürdig jeden Angriff abgeschlagen‹. Der ganze Bericht scheint uns ziemlich zweifelhaft. Inzwischen habe Schmidt auf der anderen Seite in Gedanken Wagners Streichhölzer eingesteckt. ›Der Meister suchte in halber Verzweiflung in allen Taschen seines samtnen Hausrockes danach, bis er schließlich die Wahrheit ahnte. »Sie wollten sich gewiß ein Andenken von mir mitnehmen?« sagte er lachend, und Schmidt fand beschämt in seiner Tasche die Cerinibüchse des Meisters.‹ Man kann doch nichts Unbedeutenderes über [377] einen Besuch bei Wagner vorbringen, als es hiermit geschieht. Eine weitere Etappe dieses Berichtes führt uns dann noch in das hell erleuchtete Innere des Hauses; unter den anwesenden, jedenfalls auch schon auf der Terasse zum Thee befindlichen Personen werden die Töchter, der kleine Siegfried, Joseph Rubinstein und Herr von Joukowsky namhaft gemacht Rubinstein habe am Flügel aus der ›Götterdämmerung‹ gespielt, das ist sehr wohl möglich; man muß aber nicht vergessen, daß es nicht Böcklin selbst ist, der hier spricht, vielmehr ein Gewährsmann von höchst zweifelhafter Natur, der in seiner Oberflächlichkeit kaum den Eindruck macht, als wäre er imstande gewesen, ein Werk Wagners vom andern zu unterscheiden. Je weniger wir an dieser Stelle aus diesen unreifen Aufzeichnungen reproduzieren, desto dankbarer kann uns der Leser sein.46 Die bloße Erwähnung, daß Böcklin hinterher begeistert über die Genialität des Meisters gesprochen habe,47 hat demgegenüber wenig zu sagen; in der ganzen Darstellung seines seltsamen Verehrers erscheint der reichbegabte, selbst in so hohem Grade genial schöpferisch veranlagte Künstler leider in einem möglichst ungünstigen Lichte Seiner eigenen Auffassung der Dinge gemäß hätte er durch die Gunst des Schicksals dicht vor einer großen, ganz einer Anspannung all seiner Kräfte würdigen Aufgabe gestanden, welcher sich nachmals sein Zeitgenosse Thoma in bezug auf die Kostümentwürfe für den ›Ring‹ mit vollster Begeisterung unterzog, die günstige Gelegenheit dazu, seinen Namen und seine Kunst mit dem Namen Richard Wagners für alle Zeit innig verbunden zu sehen, aber aus allerlei trivialen Vorurteilen über handwerksmäßige ›Theatermalerei‹ sich entgehen lassen! Traurig, aber echt deutsch! Die Zurückbleibenden hatten von seiner Persönlichkeit, die ihnen bei diesem Anlaß zum ersten und zugleich zum letzten Male gegenüberstand, den Eindruck einer eigentümlich markigen, durch üble Erfahrungen verbitterten Natur; das ist das einzige Authentische, was wir über diese Begegnung wissen. Und gewiß war es, wenn an der vorstehenden Schilderung nur ein, Funken von Wahrheit ist, für den Meister nicht besonders einladend, mit einem so schwierigen, von sich eingenommenen Mitarbeiter zu tun zu haben!48

[378] Wir erwähnten bereits, daß dieser (wie so manche andere) ohne irgendstehenden Ausmalung verhältnismäßig viel zu breit macht, in eine Periode fiel, in der sich der Meister mochten auch bei der stählernen Elastizität seines Geistes seine Gäste nichts davon merken – infolge seines Hitzausschlages stark angegriffen fühlte; doch stand das Schlimmste noch bevor. Kaum eine Woche später brach anläßlich einer zufälligen Erkältung die Gesichtsrose abermals bei ihm aus. Während der sechs Tage seiner Krankheit stand sein Bett den Tag über, um ihm mehr Licht und Luft zuzuführen, in eben demselben Saal, der den Hintergrund der soeben geschilderten Vorgänge bildet. Kurz vor diesem letzten Anfall seines Leidens hatte er, in Erinnerung an die vorzügliche, durchaus regenerierende Behandlung, die er einst in der Wasserheilanstalt des Dr. Vaillant in Mornex gefunden,49 den Vorsatz ausgesprochen, im nächsten Sommer nach Gräfenberg in Schlesien zu gleichem Zweck sich zu begeben. Der Widerwille gegen die gehäuften und doch wirkungslosen Arzeneien und die fast durchweg vivisektionsfreundlichen Ärzte im allgemeinen ließ ihn diesen Gedanken nun bestimmter erfassen; vor allem aber empfand er plötzlich ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Luftveränderung. Am Sonntag, den 7. Juli, mittags erfolgte die Abreise in Begleitung seiner Frau, indem er es – dem Berichte Joukowskys zufolge – ›den Kindern, der Gouvernante und mir überließ, die Existenz in der herrlichen Villa Angri aufzulösen‹. Abends 10 Uhr traf er in Rom ein, um gleich anderen Tages in der Richtung nach Florenz, Pistoja und San Marcello weiterzureisen. Eine Fahrt nach der Richtung von Lucca machte ihm Vergnügen; doch war er dem Übel noch nicht entronnen; immer noch blieb seine Haut, besonders abends, geneigt sich zu röten und leichte Fieberschauer stellten sich beängstigend ein. Nun lag dort im Norden das trauliche Wahnfried, im Süden die zauberische Villa Angri, und zwischen beiden trieb ihn die Unrast seines Zustandes an kleinen Orten umher, als ob, wie er scherzend ausmalte, er steckbrieflich verfolgt sei oder als ob er nicht hätte zahlen können und an einem dieser unglaublichen Hotelaufenthalte ohne Garten, ohne Aussicht, das ihm nötige Geld erwarte Toskana, das blühende, schön bebaute, hatte ihn auf der Durchfahrt erfreut; auf der Fahrt nach Abetone ärgerten ihn die grünen und kahlen Berge so, daß er humoristisch darüber klagend, die Rückfahrt über Pistoja und Florenz anordnete, um nach sechs Tagen unstäten Suchens am 13. August in Perugia Ruhe und Luft zu genießen. ›Ich bin und bleibe‹, schreibt er am 17. an Wolzogen, [379] ›von einem, zwar sehr ungefährlichen, aber höchst lästigen Hautausschlag in gegangen zu sein, welches an diesem Übel, an dem ich schon so oft gelitten, ganz unschuldig ist. Doch bildete ich mir ein, Luftwechsel sei gut: nun, den habe ich nun acht Tage lang täglich ausgeübt, so daß ich froh bin, hier in Perugia acht Tage lang still sitzen zu können. Der Hauptgrund meiner schnellen Aufgabe Neapels war aber der, daß ich einsah, einer wirklichen Kur zu bedürfen, wofür ich den Rest der guten Monate für dieses Jahr nicht versäumen wollte. Die niederträchtigen chronischen Leiden, die uns unser schönes germanisches Klima einpflanzt, mildert wohl die italienische Luft, so daß man sie weniger empfindet, ganz davon heilen könnte aber nur eine vollständige Übersiedelung in das Element der klimatischen Anständigkeit!‹ – Den Plan einer solchen ›wirklichen Kur‹ hielt er seit seiner Abreise von Neapel einstweilen gleichmäßig fest, und auch am Schlusse dieser an Wolzogen gerichteten Zeilen heißt es noch: ›Also Gräfenberg! Heut über acht Tage zwei Tage in Venedig – dann wieder: Germania, hurra!‹ Nichtsdestoweniger empfand er seine künstlerische Bestimmung für dieses Deutschland, das ihm in allen Stücken so gleichmäßig fremd sich verhalten hatte, fast nur noch als eine bedrückende Last; es sei, wie er oft wiederholte, alles in seinem Leben um fünfzehn Jahre zu spät gekommen; jetzt reichten seine physischen Kräfte dafür nicht mehr aus Gedanken über eine dauernde Niederlassung in Italien beschäftigten ihn immer wieder. ›Ich käme mir dann in meinem wahren Wesen wie aufgehoben vor; man könnte sich's aber denken, um seine Existenz ganz zu verträumen.‹ ›Den »Parsifal« will ich noch vollenden und aufführen; dann schreibe ich nur noch Symphonien, und führe einzelne Punkte meiner Arbeit (»Religion und Kunst«) aus.‹ Er versank in Betrachtungen darüber, wie doch Keiner eine Ahnung von ihm hätte, Keiner nach seinem Tode ihn würde vertreten können.

Während dieses kurzen Aufenthaltes verkehrte er mit dem Archäologen Professor Helbig, Sekretär am deutschen archäologischen Institute zu Rom, und dessen sehr musikalischer Gattin Nadine, einer geborenen russischen, Fürstin Schahawskoy und Schülerin Liszts.50 Von ihr erfuhr er, wodurch er in Perugia berühmt sei: nämlich als Nachfolger Morlachis in Dresden!51 Sie trug ihm auch einmal gelegentlich eines Mittagsbesuches eine Sonate von Beethoven vor, die er sehr gut wiedergegeben fand; nur eine Stelle ersuchte er sie bedeutender zu spielen. ›Es ist gut‹, sagte er dabei, ›wenn nicht alles nur »soniert«, sondern ab und zu auch etwas spricht.‹ Da man damals in [380] allen Kreisen viel über den unglücklichen Brand von Mommsens Bibliothek klagte, sagte er scherzend: ›allerdings würde es besser gewesen sein, Mommsen wäre verbrannt und seine Bücher und Manuskripte gerettet, da doch alles von solch einem Menschen in seinen Büchern steckt‹. Inzwischen war der Prospekt der Gräfenbergschen Heilanstalt ihm auf sein Verlangen übersandt worden; er erschrak förmlich über die ihm daselbst in Aussicht gestellten Annehmlichkeiten: Nadelholz, Kurgäste, Kurmusik, und brach einmal über das andere in den Ausruf aus: ›so ein Esel zu sein, in den schönsten Monaten Italien zu verlassen für Nadelholz, Regen und dicken Winterpaletot! Nadelholz, ja!‹ Und er wollte sich den Prospektus als Kuriosität an die Wand kleben Andererseits ärgerten ihn in seinem Albergo di Perugia die Fliegen und mancherlei kleine Mängel in der Bedienung. So ward für einen weiteren Aufenthalt Siena in Aussicht genommen. Zunächst galt es laut Übereinkunft in Florenz mit den Kindern zusammenzutreffen. Sehr erheiternd wirkte bei der Abfahrt von Perugia eine Depesche Levis, welcher von Gräfenberg abriet, welches eine schlechte Anstalt sein sollte, und dagegen Nassau empfahl. ›Endlich‹, so berichtet Joukowsky, ›trafen wir alle in Siena wieder zusammen, wo Iran Wagner vor den Toren dieser entzückenden Stadt (mit vieler Mühe und Sorge, nach Besichtigung einer ganzen Reihe von Villen) die wundervolle Villa Torre Fiorentina ausfindig gemacht und für zwei Monate gemietet hatte. Diese Villa, in herrlichster Lage, von wo aus man zehn verschiedene Gebirgszüge im Abendlicht verfolgen konnte, enthielt unter ihren Gemächern u.a. das prachtvolle Schlafzimmer eines früheren Papstes (Pius' VI.) mit seinem riesenhaften Prunkbett, in welchem Wagner schlief. Er meinte, in diesem Bett hätte nicht nur ein Papst, sondern das ganze Schisma bequem schlafen können. Die hier verbrachte Zeit reiht sich in meinen Erinnerungen würdig der schönen Zeit in Neapel an. Auch Liszt kam auf einige Wochen zum Besuch dorthin.‹

So war denn nach allen Unruhen des Überganges eine neue zeitweilige Installation erfolgt. ›Bei unsereinem‹, sagte der Meister, ›heißen alle Exzesse doch nur so viel als: zur angenehmen Ruhe kommen, damit der Geist frei werde‹ Noch war seine Gesundheit keineswegs im erwünschten, von jeder Störung freien Zustande; doch zeigte sich hinsichtlich der klimatischen Bedingungen ein merklicher Gegensatz zu dem bisherigen Aufenthalt ›Dort war Afrika: hier ist Italien, der Süden von Europa‹, wiederholte er mehrfach, wenn er von der Terrasse seines neuen Wohnsitzes auf Wald und Berg hinausblickte. Seine nächste Beschäftigung war die Revision der Kopie seines Aufsatzes. Mit einem Begleitbrief vom 27. August schickte er ihn dann definitiv an Wolzogen ab. ›Zwar hat sich die Absendung (aus 74 Ursachen) sehr verspätet, doch weiß ich, daß, unserer Abmachung gemäß, alles noch fertig werden kann. Sie werden aus der Arbeit erkennen, daß ich gerade diese, [381] weil sie einen einzigen Gedanken festhält und durchführt, dem Leser, auf den es mir einzig ankommen kann, nicht zerstückelt vorlegen wollte. Demnach im Septemberheft I und II; III in dem gleichzeitig ausgegebenen Oktoberheft. Was ich später noch liefern werde, sollen einzig Ausführungen zu ›Religion und Kunst‹ sein. Diese Arbeit ist eben der Schlußpunkt, auf dem ich angekommen bin: alles, was ich sonst noch etwa – aufrichtig gesagt: sehr wenigen Freunden zuliebe! – an das Tageslicht bringen werde, wird verloren und unnütz sein.‹ Über die letztvorausgegangenen Evolutionen seines äußeren Daseins lautet der Bericht, wie folgt: ›den scheußlichen Gedanken, in diesen Monaten schon den »ewig blauen« Himmel Italiens mit dem Nadelholz-Gedünst von Gräfenberg zu vertauschen, habe ich glücklich von mir gestoßen. Wir sind nun bis Mitte Oktober hier, dann vielleicht zwei Wochen in Venedig, wollen dann sehen, was wir auf dem Heimwege in München ausrichten, und stürzen Bayreuth in die Arme. Behalten Sie mich bis dahin lieb, dann werde ich mir schon wieder Mühe geben, Ihnen zu gefallen!‹52

Noch einen anderen Passus entnehmen wir den an Wolzogen gerichteten brieflichen Nachrichten: ›Uns geht's ganz gut und Siena verhilft auch mir zu der »gründlichen Kenntnis« Italiens, für welche Sie einzig und einmal dies Land zu besuchen entschlossen sind; es gehört viel Zeit dazu, denn es ist schrecklich viel zu kennen. Mir genügt für die Hauptsache das gute Wetter und der schöne Himmel!‹53 Ist auch der Grundton launiger Ironie in diesen Zeilen nicht zu verkennen und ist es im wesentlichen, worauf die Hervorhebung des ›guten Wetters und schönen Himmels‹ hindeutet, in erster Reihe für ihn jederzeit die landschaftliche Schönheit des Südens gewesen, die lebendig zu ihm sprach: so schloß sich diesen Eindrücken doch auch – gerade hier in Siena, wo sich das bauliche Gepräge fern entlegener Jahrhunderte ungeschmälert erhalten hat – noch mancher andere, zumeist aus den architektonischen Gebilden vergangener Zeiten an. Wir nennen hier das Stadthaus (Palazzo Pubblico) mit seinen Spitzbögen, Zinnen und hohem schlanken Turm, kurz seiner imponierend malerischen Gesamtwirkung, unter dessen reichem Gemäldeschmuck vor allem die ›Auferstehung Christi‹ von Soddoma durch die Schönheit der Christusgestalt eine bedeutende Wirkung auf ihn ausübte. Im Anschluß daran kam er auf die abweichende Auffassung der Auferstehung durch, Renan und Gfrörer zu sprechen und gab letzterem den Vorzug, den er für zartfühlender in der Behandlung religiöser Dinge erklärte. Man könne, so meinte er, in Zeiten, wo eine Religion entsteht, die Glut der Ekstase gar nicht hoch genug anschlagen. – Mehr als alles aber sprach zu [382] ihm, gleich am Tage seiner Ankunft, der gewaltige Dom, dieses gotische Wunderwerk auf dem obersten Plateau der östlichen Höhe der Stadt. Das Innere des erhabenen Baues mit seiner ernsten ungeheuren Kuppel versetzte ihn gleich beim allerersten Betreten in eine förmliche Entzückung: bis zu Tränen hingerissen, erklärte er, es sei der größte Eindruck, den er je von einem Gebäude gehabt; und er ließ es sich nicht nehmen, die einige Tage später – von Florenz her eintreffenden Kinder zu allererst in den Dom zu geleiten. Selbst die ›Papstköpfe‹ machten ihm Vergnügen; er fand diese Art der Ornamentik an ihrer Stelle besser am Platze, als einen ›griechischen Knoten‹, der freilich den Griechen einst viel gesagt habe, für uns aber doch gar nichtssagend sei. Als späterhin zur Belehrung in Jakob Burckhardt darüber nachgelesen wurde, fand er in dessen hochmütigem, kalt absprechendem Tone die Spuren des Einflusses wieder, den dieser seinerzeit auf Nietzsche ausgeübt. ›Woher nimmt er denn die Regeln, um die Erbauer eines so einzigartigen Werkes zu kritisieren?‹ rief er aus. ›Ich mußte‹, erzählt Joukowsky, ›eine Zeichnung vom Innern des Domes machen, welche mir später für den Entwurf des Gralstempels sehr nützlich wurde.‹ Bei Gelegenheit dieser Skizze, als Studie zu ›Parsifal‹, sich über die Baukunst verbreitend, stellte er die Konjektur auf, daß die Bezeichnung des sog. ›gotischen‹ Stiles ursprünglich aus Spanien stamme, daß dieser Stil in den nordischen gotischen Reichen durch Berührung mit den Arabern entstanden sei, von da nach Frankreich, schließlich nach Deutschland sich verbreitet habe und die traditionelle Benennung die Herkunft dieses Baustiles demnach ganz richtig bezeichne. Es erfreute ihn, den starken Eindruck des Domes auf die Kinder wahrzunehmen, indem sowohl Siegfried als dessen Schwester Isolde ihm eigene Zeichnungen davon überreichten, und ersterer wurde daraufhin scherzhaft zum Architekten, letztere zur Malerin bestimmt. Wiederholt ruhte sein Blick mit Befriedigung während des ferneren Sieneser Aufenthaltes auf den klaren und sicheren Zügen der Zeichnungen des Knaben aus dem Dome und seiner darin bekundeten ausgesprochenen Begabung für die Baukunst; doch befürchtete er andererseits von einer zu starken Ablenkung seiner Neigung auf dieses besondere Gebiet eine Schädigung seiner künstlerischen Natur im allgemeinen. ›Man dürfe‹, so sagte er, ›dieser Neigung nicht zu viel Nahrung geben, wie es in Liszts frühen Jahren mit seinem Klavierspiel geschehen sei, damit nicht durch einseitige Pflege einer bestimmten Virtuosität das übrige zu sehr vernachlässigt würde.‹

Ausfahrten und Spaziergänge, nach Monte Caro oder dem herrlich gelegenen Kloster Osservanza, ließen die liebliche Gegend von Siena in immer ergiebigerem Lichte erscheinen; strahlende Sonnenuntergänge auf der Rückfahrt und das stets wechselnde Panorama von Fels, Wald und Berg, die Schönheiten des Himmels und der Erde wirkten oft überwältigend. Dagegen verknüpften [383] sich mit den Erinnerungen an Siena, namentlich in den letzten Augusttagen und bis in den September hinein, zugleich auch die an traurig zerstörte Nächte durch eine wahrhaft schreckliche Mückenplage. Mit Hilfe von Lüftung, Bettschleiern und gewissen landesüblichen Gegenmitteln (unter dem Namen ›sogni tranquille‹) gelang es, diese nächtlichen Störenfriede von sich fernzuhalten; blieb aber irgendeine dieser Vorsichtsmaßregeln verabsäumt, so war auch die Ruhe unrettbar dahin. ›Hat die Jungfer Mucken, so ist die Nacht voll Mücken!‹ scherzte er dann, ging aber doch einem solchen Tage mißmutig entgegen, da er erfahrungsmäßig nach einer schlaflosen Nacht auch nachmittags keine Ruhe fand. Nichtsdestoweniger nahm er hier in der Torre Fiorentina die in Neapel zuletzt unterbrochene Arbeit am Liniieren seiner ›Parsifal‹-Partitur mit allem, Fleiße wieder auf, zuweilen nicht allein vormittags, sondern auch in den Nachmittagstunden, so daß er es an solchen Tagen bis auf 12 Partiturseiten brachte. Am letzten August traf Rubinstein auf der Durchreise zu einem kurzen Besuch von kaum vierundzwanzig Stunden in Siena ein, das er schon am 1. September wieder verließ. Durchaus rührend wirkte sein Eintreffen; schon kurz zuvor hatte Wagner bei einer Besprechung gar vieler unbequemen Seiten seines Wesens von ihm gesagt: ›man kann ihn nicht laufen lassen, einfach – weil er nicht läuft‹. Auch er wurde nach Tische sogleich in den Dom und die Libreria geführt; abends spielte er aus dem dritten Akt des ›Parsifal‹; vorher mit dem Meister zusammen die Menuett und die Allemande aus dem ›Don Juan‹. Hierzu fiel von Wagners Seite die Bemerkung, Mozart habe sich gewiß verschiedene Säle gedacht, in denen man die verschiedenen Tänze gespielt habe: ›wer aber wird dem armen Kerl die Dekorationen gestellt haben?‹ Ein Nohlscher Aufsatz ›Mozartiana‹54 hatte ihm kurz zuvor die ganz schreckliche und empörende Notlage Mozarts in seinen letzten Lebensjahren vergegenwärtigt. ›Es könne nicht anders sein in dieser Welt‹, meinte er traurig. ›Mir bleiben die Freunde viel unbegreiflicher, als die fremde kalte Welt!‹ Aber der erschütternde Gedanke daran verließ ihn doch nicht, und als er einige Wochen nachher in irgendeiner Kirche ein Bild der Anbetung des Christuskindes erblickte, sagte er ernst. ›In der Kindheit alle diese Zeichen von Verehrung, die Hirten und die Könige und die Engel wo sind sie später alle geblieben? So ging es mit Mozart!‹ Der Abschied von Rubinstein brachte ihn auf die Besprechung seiner derzeitigen Lage den Theatern gegenüber, die sich alle um seinen ›Ring des Nibelungen‹ bewürben. ›Die »Nibelungen«‹, sagte er, ›hingen ihm, seit er sie den Theatern übergeben, förmlich zum Halse heraus; nun verlange sie wieder ein Königsberger Direktor, und anstatt daß er sie ihm[384] einfach verweigere, müsse er mit ihm handeln, weil er Geld brauche. Deshalb wolle er nach Amerika, um wenigstens »Parsifal« frei zu erhalten.‹ Man vergegenwärtige sich bei allen beständigen Anforderungen seines Haushaltes seine immer noch andauernde völlige Vermögenslosigkeit: seine regelmäßigen Einkünfte bestanden lediglich aus der königlichen Pension, alles übrige war dem Zufall anheimgestellt. Man vergegenwärtige sich ferner, daß von den ihm zufließenden Einnahmen seit der erzwungenen Freigebung des ›Ringes‹ an die Theater ein Hauptbestandteil, die größten und regelmäßigsten, vom Münchener Hoftheater, auf unberechenbar lange Zeit zugunsten des Defizits der Festspiele verpfändet war. Dieselbe Mitwelt, die mit allen Mitteln der Dummheit und der Korruption, der Zurückhaltung und Übermacht ihn daran gehindert hatte, sein großes Nibelungenwerk, wie er es wollte, in einem Zuge zu Ende zu führen und rechtzeitig – fünfzehn Jahre früher, als er noch bei vollen Kräften war – das von ihm verlangte unabhängige Theater zu errichten: die ihn nach der endlich ermöglichten ersten Aufführung mit jener unerträglichen Defizitlast entließ und ihm zu aller vergeudeten Lebenskraft und der Bürde des Alters noch diese weitere Last auferlegte; dieselbe Mitwelt, die, heute noch fröhlich fortlebend, es ihm nicht einmal für seine Nachkommen und künstlerischen Testamentsvollstrecker gegönnt hat, durch eine verlängerte Schutzfrist die Frucht seiner Kämpfe einzuernten, sondern mit zähnefletschender Gier, zugunsten einiger jüdischer Theaterdirektoren und Verlagsunternehmer auf den Moment des ›Freiwerdens‹ seiner Werke wartet – wie sie an Schillers hundertjährigem Todestage dessen Bedeutung für die deutsche Volkswohlfahrt nach den statistisch ausgerechneten Millionen abschätzte, die er alljährlich den Theatern, den Verlegern, selbst den Druckereien und Buchbindereien einbringe (!!), – eben diese Mitwelt, die ihn durch jedes Mittel der Schlaffheit, der Verleumdung und der Zähigkeit dazu gezwungen hatte, sich seines großen Lebenswerkes zu entäußern und jenen Kontrakt mit dem Münchener Hoftheater abzuschließen, der sein neues erhabenes Werk schon vor der Geburt damit bedrohte, von dem Geifer der Entstellung durch unser Theaterwesen zur Unkenntlichkeit entstellt und besudelt zu werden: – sie war nur durch eben diejenigen Mittel zu bezwingen, die sie ihm vorenthielt; nur ein starker materieller Rückhalt, die volle Selbständigkeit eines beträchtlichen Vermögens konnte ihn und sein Werk sicherstellen. Nach seiner Korrespondenz mit Dr. Jenkins55 war schon der Monat September eben dieses Jahres 1880 für eine solche amerikanische Tournee bestimmt gewesen, die ihn bis nach Kalifornien führen sollte: da kam Anfang Juli seine Krankheit dazwischen.56[385] Aber der Plan war dennoch nicht aufgegeben. Er schöpfe die Kraft an ›Parsifal‹ zu arbeiten, einzig aus der verhofften Ausführung dieses Planes und der daraus zu erzielenden Möglichkeit: sein Werk um jeden Preis freizumachen, es nur in Bayreuth aufzuführen und nach allen Seiten hin unabhängig zu sein. Und da man gegen das Ausland schlecht geschützt sei, würde bei seinen Lebzeiten nur der Klavierauszug zu erscheinen haben. Auch würde vielleicht der König es verstehen, daß ›Parsifal‹ nur in Bayreuth zu geben sei, nicht auf einer Bühne, wo man am andern Tage das Ballett ›Flick‹ und ›Flock‹ aufführe. Er hoffe es von ihm zu erlangen, daß sein Werk, wenn es doch in München aufgeführt würde, nur für ihn selbst in einer seiner Separatvorstellungen gegeben würde. Und damit wäre auch die Stellung für Bayreuth erzwungen. Aber ›zu allem gehöre – Amerika‹.

Von Büchern hatte er bei dem fluchtartigen Aufbruch aus Neapel nur das Wichtigste mitgenommen: die gemeinsame Lektüre beschränkte sich daher anfangs ausschließlich auf Schopenhauer und Goethes ›Faust‹ Noch in Perugia hatte er zum so und sovielten Male die ›scheinbare Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen‹ in ihrer ganzen Tiefe genossen, dann waren in Siena die Betrachtungen über Medizin und Ärzte57 gefolgt. Aus Cervantes' ›Numancia‹ las er den Seinen die Szene, in welcher der Knabe sich vom Turm herabstürzt; dann wieder einmal den zweiten Teil des ›Faust‹. Als nach dem vierten Akt jemand aus den Zuhörern (Daniela von Bülow) bemerkte, nicht ganz haben folgen zu können, erklärte Wagner: sie habe ganz recht; alle Details, wie die Beschreibung von Hügeln und Tälern, dann das Zeremoniell mit den Hofleuten und das zweimalige Auftreten der drei Gesellen, seien in fast peinlich genauer Weise ausgeführt; die Hauptsachen aber so nebenbei und so flüchtig behandelt, daß man sich nur auszuschnaufen brauche, um den Faden zu verlieren. Der Monolog aber und die darauf folgende Szene zwischen Mephisto und Faust übten, wie der ganze fünfte Akt, ihre alte volle Wirkung aus. Eines Abends, so berichtet Joukowsky, war von Schuberts Liedern die Rede, und wiederum nahm der Meister daraus Gelegenheit, die überwältigend ekstatische Schönheit des ›Sei mir gegrüßt‹ hervorzuheben. ›Es sei von einer Unmittelbarkeit der Empfindung und zugleich von einer gewissen Altertümlichkeit, so daß es ihm immer vorkomme, als wäre es von einem der letzten Hohenstaufen komponiert. Er setzte sich ans Klavier und sang es – trotz seiner gebrochenen Stimme – mit einem Ausdruck, daß ich bloß daran zu denken brauche, um wieder denselben Schauer des Entzückens zu [386] empfinden, bei dem es einem kalt über den Rücken läuft.‹ Inzwischen hatten die Kinder die Bekanntschaft eines freundlichen Benediktiners gemacht, der in der Kapelle der Villa Torre Fiorentina die Messe zu lesen pflegte: früher Hauslehrer bei den Strozzi, und seit der Aufhebung der Klöster ohne Beschäftigung, stand er soeben im Begriff sich in der Nähe der Villa ein Haus und eine Kapelle zu errichten, für welche ihm Joukowsky die Ausführung eines Gemäldes für den Hauptaltar versprach.58 Mit einem schwachsinnigen Abt zusammenwohnend, hatte er die Welt auf mancherlei Reisen – nach Spanien, England, Ägypten – durchstreift, kannte München und auch sämtliche Werke des Meisters und wäre gern nach Bayreuth gekommen, wenn er die Mittel dazu gehabt hätte. Er war zugleich der Besitzer einer bunt reichhaltigen, wie es schien, recht absonderlichen Bücherei, die an weltlicher Literatur u.a. ein komplettes Exemplar sämtlicher erschienener Jahrgänge der Münchener ›Fliegenden Blätter‹ enthielt, das dem Meister in seinen Erholungsstunden viel Vergnügen bereitete. ›Das ist‹, sagte er, ›mein liebster Umgang mit meiner Zeit; es gibt mir das beste Bild davon, und die Zeichnungen sind vortrefflich.‹59 Dagegen erregte ein zur zehnjährigen Sedanfeier in der ›Leipziger Illustrierten‹ erschienenes Gedicht von Geibel ihm einen wahren Degout, nicht minder eine daselbst abgebildete ›Germania‹; und die Darstellung der Schlacht selbst brachte ihn zu einem Ausdruck von Entrüstung. ›Schon die toten Pferde!‹ rief er aus. ›Und alles sagt einem, in welchem barbarischen Zustande wir sind!‹ In seinen Gesprächen kam er auch auf den von ihm bei Bismarck verbrachten Abend zurück, der in lauter Parlamentsklatsch sich erging und ausklang.60 ›Von solchen Menschen, die ernste Fragen ernstlich behandeln, gibt es nur zwei: Konstantin Frantz und ich‹, fügte er halb scherzend, halb ernsthaft hinzu.

Anhaltende Beschäftigung gab es immer wieder mit Goethe, zunächst mit den ›Leiden des jungen Wer ther‹, der im Lauf von drei Abenden, mit wenigen Abkürzungen (wie der Ossian-Episode) zu Ende gelesen wurde. ›Es ist das Werk par excellence von Goethe‹, sagte er, ›das übrige ist wie ein Verkleistern der Sache. So hat sich der Dichter der Welt gegenüberzustellen. Und er hätte eigentlich nichts anderes schreiben sollen; denn selbst »Götz« ist eine Art von Ablenkung Shakespeare und ich, wir konnten viel machen, weil wir immer in der Sache blieben.‹ Bis zum Schluß erhielt sich ihm die [387] gleiche Empfindung von der Schönheit des Buches; nur Lotte ärgerte ihn. ›Sie muß wohl so sein, aber es ist unbegreiflich. Sie würde es ertragen haben, 50 Jahre lang Werther sich verzehren zu sehen, wäre jedes Jahr Mama geworden und hätte ihn so als Schmachtlappen neben sich gern gehabt.‹ Von ›Tasso‹ begann er die erste Szene zu lesen, legte aber bald das Buch aus der Hand: ›alles Falset! nicht ein wahrer Ton!‹ rief er aus, und ging alsbald zu ›Egmont‹ über, mit hellster Freude an seinem tiefen schön-menschlichen Gehalt und der Abwesenheit alles Phrasenhaften. Namentlich wirkte die Szene mit Oranien in seinem Vortrage ganz erschütternd. Er beendigte das Werk an zwei Abenden, in Gegenwart aller tief ergriffenen Hörer. Allerdings würde keiner sein Antlitz, den Ton seiner Stimme beschreiben können, oder die Handbewegung, mit welcher er die letzten Worte begleitete. Es sei, so sagte er, fast das vollendetste Werk des Dichters. Einzig habe die Szene zwischen Klärchen und dem Volke auf der Bühne nie recht wirken wollen; sie sei sehr tragisch, aber beinahe zu grell. Sonderbar fand er die plötzlich abgebrochene Szene zwischen der Regentin und Macchiavell; sie hätten noch lange weiter so miteinander reden können. Auch daß Oranien zu Egmont, Egmont zu Alba eintritt und ohne einleitende Begrüßung gleich das Gespräch beginnt. Schiller sei viel sicherer in der dramatischen Form gewesen. Er lachte über die Aufnahme, die das Werk in Weimar gefunden: ›sie werden sich gefragt haben, ob das Verhältnis zu Klärchen ein platonisches gewesen sei? Im Ernst‹, fügte er dann hinzu, ›es ist nicht gesagt, daß es nicht bloß ein inniges Herzensbedürfnis für Egmont war. Es ist nicht das Gegenteil ausgesprochen, wie beim Verhältnisse Faustens zu Gretchen, wo die ganze Macht der Sinnlichkeit geschildert wird.‹ Nur Ferdinand schiene ein wenig ausgesponnen; offenbar damit Egmont noch im Gefängnis mit jemand sprechen könne. Die Klänge von Klärchens Tod spielte er selbst am Klavier in wunderbarer Weise ›Sie stirbt wirklich!‹ rief er dann aus, ›und er empfiehlt sie dem Ferdinand! Aber so ist es, und diese Wahrhaftigkeit macht das Werk so liebenswürdig. Schon ist es, daß sie ihm im Traume erscheint!‹ Von der Ouvertüre sagte er: ›Ja, das ist Klärchen, Egmont durch Klärchen gesehen!‹ Die Szene der Anrufung der Bürger durch sie habe Beethoven begeistert, und so sei es recht. ›Wer von einem Drama vieles nebeneinander musikalisch geben will, der geht fehl, – von einem Punkt aus muß die Sache erfaßt werden!‹

So verflossen die Tage in Siena, während des fortgesetzten Liniierens der ›Parsifal‹-Partitur, auch wenn der Himmel sich gelegentlich in ein trübes Grau hüllte, unter täglichen geistigen Anregungen und bei erträglichem Wohlsein. Nur in der allerersten Zeit hatte er einmal einen Anfall von, Fieber, unter Befürchtung einer Dysenterie; dann trat eine von ihm selbst deutlich als solche erkannte Krisis ein, die ihn anfangs angriff, dann aber – allerdings [388] ziemlich gegen das Ende des Aufenthaltes überstanden war. Eines Abends spielte er, wie er dies schon in Neapel einmal getan, die verschiedenen charakteristischen Volkshymnen, darunter auch seine eigene, in Riga entstandene ›Nikolai‹-Hymne.61 Ein anderes Mal nahm er aus dem Gedächtnis die von ihm so hochgehaltene ›weiße Dame‹ von Boieldieu vor, insbesondere das Spinnlied der alten Margarete und die Ballade. Was sich in dem ersteren ausdrücke, sei etwas den Franzosen durchaus Eigentümliches; etwas, worin ihnen keine andere Nation gleichkäme; auch solche Erscheinungen wie Gleizes gehörten dahin. Dann kam er auf Shakespeare: man müsse ein Stück von ihm vorführen und darauf, nachdem einem die Schrecknisse des Lebens recht nahegeführt worden wären, das Abendmahl reichen und nehmen.62 Gerade auch die historischen Stücke, die müßte man alljährlich vornehmen. Ein Stück, wie der ›Egmont‹, sei, möchte man sagen, aus einer Stimmung entstanden, einer philosophischen Stimmung, der man aus ganzem Herzen beistimmen könnte; bei Shakespeare aber gäbe es keinerlei Stimmung noch Absicht: ›der Schleier wird zerrissen, und wir sehen die Dinge, wie sie sind‹. So sei es namentlich auch in den Historien. ›Im »Hamlet« finden wir einen Zustand, ähnlich dem unsrigen, die wir das Unselige der Bedingungen unseres animalischen Lebens erkannten und – ohne es ändern zu können – darin verblieben und höchstens zur Ironie greifen.‹

Am 16. September, vier Uhr nachmittags, traf Liszt von Rom aus zu seinem alljährlichen Besuche ein, der sich leider, zum lebhaften Schmerz des Meisters, nie zu einem dauernden Aufenthalte ausdehnen wollte, da er vielmehr bis zu seinem Lebensende bei seinen ›drei Mastbäumen‹ (S. 352) blieb. [389] Er wurde bei herrlichstem Wetter durch die ganze Familie vom Bahnhof eingeholt.63 Mit strahlender Heiterkeit begrüßte der Meister den großen Freund. ›Sie werden die Jubelgreise nicht los‹, sagte er mit scherzendem Hinblick auf die Zeitgenossen, die weder mit dem einen noch mit dem andern von ihnen ›etwas anzufangen wußten‹ Liszts Aussehen war wieder einmal nicht das beste: ›auf der Station bei seiner Abreise nach Siena‹, berichtet einer seiner durch Talent und Gesinnung vornehmlich ausgezeichneten Schüler,64 ›war er ziemlich übel aufgelegt; es war wohl Ermüdung oder sonst etwas, was die Veranlassung dazu gab. Er hatte den Abend zuvor bei der Fürstin Wittgenstein zugebracht und rief mir noch durchs Coupéfenster zu, ich möge jedenfalls zur Fürstin heute noch gehen, da sie mich bestimmt erwarte. – Wie aber kehrte er von Siena zurück! Voller Leben und Jeuer, um zwanzig Jahre verjüngt, voll übersprudelnder Heiterkeit, wie nach einer Befreiung!‹ Dies war der Segen eines lebenspendenden Jungbrunnens, der ihm aus jedem Verkehr mit Wagner entgegensprudelte.

Seine eigenen brieflichen Nachrichten aus dieser neuntägigen Periode – denn länger dauerte sein Besuch auch diesmal nicht – erstrecken sich im ganzen doch mehr nur auf die äußerlichsten Verhältnisse, woran offenbar einzig die andauernde Kälte und Fremdheit der Adressatin gegen Wagner die Schuld trägt. Immerhin enthalten sie einige anschauliche Einzelheiten. ›Ungefähr 20 Minuten Wagenfahrt von Siena entfernt‹, schreibt er gleich am Morgen seiner Ankunft, ›liegt Wagners fürstliche Wohnung. Ein alter Turm beherrscht sie‹ (im Turmzimmer mit seinem prachtvollen Ausblick wurde oft gefrühstückt) ›und ein Theater ohne architektonische Kunst, aber fast durch die Natur selbst terrassenförmig aufgebaut, dient ihr zum Schmuck, mit einem Parterre natürlicher, nicht künstlicher Blumen. Pius VI hat zeitweilig in der Torre, Fiorentina gewohnt – ich werde mich erkundigen, in welchem Jahr;65 gegenwärtig hat Wagner sie für 800 Lire monatlich gemietet, was nicht übertrieben viel ist.‹66 Er erwähnt ferner, daß sie bei Tische gegenwärtig, ihn inbegriffen, 11 Personen seien, und erwähnt darunter die 5 Kinder, 2 Gouvernanten (eine Engländerin und eine Italienerin) und Joukowsky. ›Letzterer ist Wagner sehr zugetan und ein vollendeter Kavalier (parfait gentilhomme).‹ Es war seine erste Bekanntschaft mit dem jungen Künstler, die sich in der Folge immer [390] intimer gestaltete. ›Seine Entwürfe zu »Parsifal« sind bedeutend, und sein Portrait Cosimas, wie man mir sagt, bewunderungswürdig;67 er setzt auch hier und gegenwärtig seine Arbeiten zu »Parsifal« fort. Heute Vormittag werde ich mich mit Cosima nach Siena begeben‹ (der Meister selbst war inzwischen, wie immer in den Vormittagstunden, mit dem ›Liniieren‹ seiner Partitur beschäftigt) ›zunächst in die Franziskanerkirche zur heutigen Feier der Stigmatisation des glorioso poverello di Dio, sodann in den Dom.‹68

Wiederum beglückte Liszt den Meister und die Seinen durch sein wunderbares Spiel. Er hatte seiner Tochter die soeben von ihm neubearbeiteten ›Drei Sonette von Petrarca‹69 mitgebracht und entzückte Wagner durch ihren Vortrag. ›Ich bin froh, Dich einmal wieder etwas weltlich zu sehen‹, sagte er. Und als Liszt ein anderes Mal mit unvergleichlicher Vergeistigung die Beethovenschen Sonaten quasi una fantasia (op. 27, Nr. 1, Es dur) und in D dur (op. 28) wiedergab, kam der Meister wiederum auf den Wahnbegriff einer ›Schule‹ zu reden: ›wer soll dies so spielen lernen?‹ Wiederum kam es auch zu Chopin-Vorträgen, zur ›Dante‹-Symphonie, und endlich, am 24. September, am letzten Tage von Liszts Aufenthalt, da Wagner mit dem Liniieren seiner Partitur, also der eigentlich bedeutendsten Vorarbeit (S. 245 f.) fertig geworden war, wurde abends beinahe der ganze dritte Akt von Liszt gespielt und vom Schöpfer des Werkes göttlich gesungen. Nach Liszts eigener Erzählung habe der Meister ihm damals scherzend geäußert: ›ich habe dich bestohlen‹, und, als Liszt sich vergeblich besann, worauf dieser Scherz sich beziehen könnte, gleich selbst hinzugefügt, indem er das betreffende Motiv vorsang: ›»Die Glocken von Straßburg«70 fangen ähnlich an, – nun es wird schon auch dafür einmal die Zeit kommen.‹ Doch erklang aus der Art, wie in Liszts Wiedererzählung der Episode diese Worte nebenbei hingeworfen wurden, heraus, daß er auf diesen Scherz des Meisters stolz war. In Siena war auch Liszts ›Gebet an die Schutzengel‹ (›Angelus‹) für Streichquartett entstanden.71

Nichts reichte an den beglückenden Verkehr der beiden Großen miteinander heran, wenn sie so vereinigt waren und einer den andern durch sein Dasein erfreute. Ehedem hatte sich Wagner, in jenen traurigen Zeiten von Liszts Entfremdung durch den Einfluß der Fürstin und seine Nachgiebigkeit gegen diesen Einfluß, darüber beklagt, daß Liszt ›seinen Humor nicht begriffe, überhaupt keinen Humor besäße‹. Endlich war das erreicht, wonach er stets sich [391] gesehnt: ein freimütiger, ja ausgelassener Verkehr, wo in der sicheren gegenkonnte. Jetzt nahm Liszt in dem einzigen Umgang, der sein künstlerisches Wesen noch frohmütig stimmen konnte, verständnisvoll nicht allein an dem Ernst, sondern auch an dem Humor seines Freundes Anteil. Selbst die Gegensätze ihrer religiösen Anschauungen glichen sich aus, und der ›gläubige Katholik, mit unbegrenzter Toleranz für Andersgläubige‹,72 ließ sich zur Nachtlektüre Luthers ›kleinen Katechismus‹ an das Bett reichen. Das trug sich so zu. In einer brieflichen Nachricht hatte Malwida die dürftige, bloß verstandesmäßige Nüchternheit des deutschen Volkscharakters, wie er sich gerade im Verhältnis zu seinen von ihm unbegriffenen großen Genien kundgibt, der Reformation schuld gegeben und dadurch dem Meister die entrüstungsvollste Entgegnung entlockt: ›So wie die Reformation jetzt, in ihren heutigen Ergebnissen als abgeschlossene protestantische Kirche vor uns stünde, sei es freilich kläglich; aber das habe doch Luther nicht gewollt, in seinem Gedanken habe das nicht gelegen: Luther habe den Papst selbst für die Reformation gewinnen wollen.‹ Seine eigene ganze Größe und die tiefen Wurzeln seines Wesens im deutschen Volksgemüte traten bei dieser schwungvoll feurigen Durchführung in ergreifender Mächtigkeit hervor. An einem der folgenden Tage fand er auf dem Tische seiner Tochter Eva den ›kleinen Katechismus‹ Luthers und war von der Vorrede so ergriffen, daß er sie nach Tische seiner Frau und Liszt vorlas, mit dem daran geknüpften Ausruf: ›Luther ist der größte Patriot gewesen!‹73 ›Verstehen wir den wahrhaften Jammerschrei des Mitleides mit seinem Volke recht, das dem seelenvollen Reformator die erhabene Hast des Retters eines Ertrinkenden eingab, mit dem er jetzt dem in äußerster Notdurft verkommenden Volke schnell die zur Hand befindliche nötige geistige Nahrung und Bekleidung zubrachte: so hätten wir an ihm auch gerade hierfür ein Beispiel zu nehmen, um zu allernächst jene, nun als nicht mehr zureichend erkannte, Nahrung und Bekleidung für eine kräftige Dauer zu ersetzen.‹74 In diesem Sinne beschäftigte ihn noch fernerhin der Wunsch, den Inbegriff der Lehre Schopenhauers, insbesondere auch des Kapitels von der ›scheinbaren Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen‹, in Form eines ›Katechismus‹ verarbeitet zu sehen, da eine richtige wohldisziplinierte Kenntnis Schopenhauers uns heute dringend nottäte. Er sähe dies an dem Briefe eines jungen Gelehrten, Professor V., der ihm soeben einen sehr schönen Brief geschrieben, zugleich aber eine so unklare Arbeit (über Hölderlin) [392] eingesandt habe, daß man es daraus so recht empfände, wie wichtig eine derartige allgemein verbreitete Kenntnis sei. Eine Arbeit dieser Art, wie sie z.B. Deussen75 annähernd für die akademische Jugend versucht hat, schien ihm als Erziehungsmittel ganz des Geistes Luthers würdig. ›Ich mache Dich noch zum Lutheraner‹, sagte er zu Liszt, als dieser mit hoher Teilnahme seinem Gedanken willig folgte und, wie erwähnt, abends beim Zubettegehen nach dem kleinen Katechismus von Luther verlangte.

Wie sich Liszt an dem Wesen seines Freundes bis zum Verjüngtwerden ›um zwanzig Jahr‹ erlabte, so war dem an völlige Einsamkeit Gewohnten der Verkehr mit den Kindern des Hauses, mit dieser, unter dem Schutze des Genius glücklich sich ausstrahlenden Jugend nichts anderes als Das, was dem Dürstenden ein frischer Quell. Mit einem jeden von ihnen verkehrte er in rührend eingehender Weise. Gab es draußen einen grauen Tag, so kam es vor, daß Wagner und Liszt ihnen am Klavier nationale Weisen zum Tanze aufspielten, wobei sich der Meister der Präzision und Elastizität erfreute, mit welcher Siegfried besonders den Mazurkaschritt tanzte. In seiner Freude an aller und jeder Entfaltung des häuslichen Lebens pries dann Wagner solche Regentage: sie hätten ihr Gutes, denn da gebe es mehr ›Sozietäts-Vergnüglichkeiten‹. Auf Ausgängen nahm Liszt gern seinen Enkel mit sich und ließ sich von ihm verschiedentlich zu Gebäuden, die des Knaben Phantasie erregten, leiten. ›Er selbst führte ihn einmal zu einem katholischen Gottesdienst mit Musik. Diese Musik fiel auf italienische Weise so schlimm aus, daß Liszt seinen Enkel wütend fortzerrte und ein über das andere Mal ausrief: ›ce sont des saletés!‹ – förmlich als ob er Sorge trüge, der Knabe könnte annehmen, er billige solche Kunst.‹76 ›Siegfried‹, so schreibt er in seinem nächsten Briefe, ›legt eine hervorragende Befähigung für die Baukunst an den Tag: er zeichnet Gewölbe, Fassaden und Türme. Er ist eine der anziehendsten und lebhaftesten Kindernaturen, denen ich noch begegnet bin. Seine Schwestern sind im höchsten Grade wohlerzogen und begabt; die ganze junge Familie erweist mir die sichtlichste Zärtlichkeit und ist nur betrübt über meine bevorstehende Abreise.‹ Der Tag dieser Abreise (Sonnabend, den 25. September) nahte heran und da Joukowsky mit dem jungen Siegfried sich schon seit länger einen gemeinsamen Studienausflug vorgesetzt hatten, gaben beide dem Scheidenden fast bis zur Hälfte des Weges nach Rom, nämlich bis Orvieto, das Geleit Reichbeladen, nicht allein mit empfangenen Eindrücken, sondern auch mit photographischen Abbildungen des Gesehenen kehrten beide von ihrem Ausfluge zurück, – Fresken des Luca Signorelli und Fassadenbildern des Domes von Orvieto. Dieser letztere [393] freilich bestand vor dem prüfenden Auge Wagners nicht gut: er erklärte diese Fassade für eine Theaterdekoration, die zu dem übrigen Gebäude in keinem Verhältnis stehe. Am Kosmastage, dem 27. September, begingen die Kinder den Namenstag ihrer Mutter durch festliche Gaben, indem Isolde mit einem von ihr gezeichneten sein durchgearbeiteten ›C‹, Siegfried aber mit einer Riesenkuppel herausrückte, so daß der Meister erstaunt ausrief: die Kinder seien Kobolde!

Nach erfolgtem Abschluß seiner großen Vorarbeit an der Partitur konnte ihm nichts so sehr am Herzen liegen, als die Sicherung der Schicksale seines Wertes für die nächste und fernere Zukunft. Daß der sog. ›Patronatverein‹ ihm die Mittel für eine erste Bayreuther Aufführung auch nicht in bescheidenem Maße bieten könne, lag auf der Hand; auch diesmal war das eigentliche Vorhaben als gescheitert zu betrachten. Er hatte daher den König um die Bewilligung seines Münchener Orchesters und Chores als Grundlage der für die Aufführung nötigen künstlerischen Hilfsmittel anzugehen. Nur mit Grauen konnte er hierbei an das Befassen mit Sängern, Dekorationsmalern usw. denken Zugleich aber legte er seinem königlichen Schirmherrn die künstlerische Sachlage dar: die vollkommene innere Unmöglichkeit, sein Weihefestspiel nach seiner Bayreuther Aufführung irgendwelchen profanen Bühnen preiszugeben. ›Ich habe nun alle meine, noch so ideal konzipierten Werke an unsere, von mir als tief unsittlich erkannte, Theater- und Publikum-Praxis ausliefern müssen, daß ich mich nun wohl ernstlich fragen mußte, ob ich nicht wenigstens dieses letzte und heiligste meiner Werke vor dem gleichen Schicksale einer gemeinen Opern-Carrière bewahren sollte. Eine entscheidende Nötigung hierfür habe ich endlich in dem reinen Gegenstande, dem Sujet meines »Parsifal« nicht mehr verkennen dürfen. In der Tat, wie kann und darf eine Handlung, in welcher die erhabensten Mysterien des christlichen Glaubens offen in Szene gesetzt sind, auf Theatern, wie den unsrigen, neben einem Opernrepertoire und vor einem Publikum, wie dem unsrigen, vorgeführt werden? Ich würde es wirklich unseren Kirchenvorständen nicht verdenken, wenn sie gegen Schaustellungen der geweihtesten Mysterien auf denselben Brettern, auf welchen gestern und morgen die Frivolität sich behaglich ausbreitet, und vor einem Publikum, welches einzig von der Frivolität angezogen wird, einen sehr berechtigten Einspruch erheben. Im ganz richtigen Gefühle hiervon betitelte ich den »Parsifal« ein »Bühnenweihfestspiel«. So muß ich ihm denn nun eine Bühne zu weihen suchen, und dies kann nur mein einsam dastehendes Bühnenfestspielhaus in Bayreuth sein. Dort darf der »Parsifal« in aller Zukunft einzig und allein aufgeführt werden: nie soll der »Parsifal« auf irgendeinem anderen Theater dem Publikum zum Amüsement dargeboten werden und, daß dies so geschehe, ist das einzige, was mich beschäftigt und zur Überlegung dessen bestimmt, wie und durch welche Mittel [394] ich diese Bestimmung meines Werkes sichern kann.‹ Um sich und seine Familie andererseits für einen derartigen unabsehbaren Verlust zu entschädigen, sei es daher seine Absicht, im nächsten Winter die vereinigten Staaten von Amerika zu bereisen, um sich dort eine größere Summe Geldes zu verdienen. Dies war der Inhalt seines sorgenvollen Briefes vom 28. September; und damit war auch die quälende Frage irgendeines Anspruches der Münchener Intendanz auf sein Werk entschieden. Sein ausdrücklicher Wunsch schloß demnach auch die endliche gänzliche Aufhebung jenes Kontraktes vom 31. März, resp. 27. April 1878, der ihn so lange gequält und bedroht hatte (S. 43, Anm. 1), mit in sich.77

Des ferneren mußte ihm daran liegen, auch die ›Bayreuther Blätter‹ allmählich in ein anderes Geleise zu bringen, sie aus ihrer bisherigen abgeschlossenen Existenz als bloße Zeitschrift des ›Bayreuther Patronatvereins‹ abzulösen und in ein öffentlich erscheinendes Organ umzuwandeln, dessen Mitarbeiter, an seinem Aufsatz über ›Religion und Kunst‹ geschult, der modernen Kultur mit unerbittlicher Wahrhaftigkeit den Kampf ankündigten. Deshalb lud er zum Zweck aller darauf bezüglichen näheren Besprechungen, die sich brieflich nicht erledigen ließen, Wolzogen zu sich nach Venedig ein, wo er zum 3. Oktober einzutreffen gedachte, um daselbst mindestens bis zu Ende des Monates ›hellen Himmel und Sonne zu genießen‹. Denn an beiden fing es in Siena bereits an zu mangeln. ›Wir haben über vieles, wohl nicht Unwichtiges, miteinander uns auszusprechen: mir ist, als ob dies besser vonstatten gehen würde, wenn es unter dem italienischen Himmel, als unter den oberfränkischen Kartoffelsäcken vor sich gebracht würde.‹ ›Meine künftigen Beiträge zu den »Bayreuther Blättern« werden allein nur noch in Ausführungen zu »Religion und Kunst« bestehen; einzig von diesem Thema bin ich voll.‹78

Durch eine unliebsame Verzögerung seitens der Eisenbahnverwaltung in Florenz, die ihm den dringend von ihm gewünschten Salonwagen schließlich auch zu einem verspäteten Termin nicht zu liefern vermochte, kam er erst am 4. Oktober in der Lagunenstadt an, wo er zunächst im Hotel Danieli abstieg und zwei Tage später im Palazzo Contarini dalle figure (an der rechten Seite des Kanals) Wohnung nahm. Über diese kaum vierwöchige Periode können wir uns kurz fassen: ihren Hauptreiz bildete der Verkehr mit seiner edlen Gönnerin Frau von Schleinitz und der, Fürstin Hatzfeld. Der Besuch Wolzogens dauerte leider nur kurze Zeit; auch bedauerte es der [395] Meister lebhaft, daß die wenigen von ihm dort verbrachten Tage eitel graues Wetter, ja strömenden Regen brachten. Von Stein traf die betrübende Nachricht ein, daß sein Vater mit unbeugsamer Härte gegen seine Rückkehr in die selbstgewählte Laufbahn einstehe und die Anbahnung einer bürgerlichen Lebensstellung, also eine Habilitation an einer deutschen Universität von ihm verlange, zunächst aber ihn ganz bei sich zu behalten wünsche Was konnte der Meister anders tun, als dem jungen Freunde den schwergefaßten Entschluß nach Möglichkeit zu erleichtern? ›Wie uns Ihre letzten Mitteilungen betroffen‹, schrieb er ihm (10. Oktober), ›das werden Sie leicht von sich selbst ermessen Sie begreifen gewiß, daß Ihre Entscheidung auch die unsrige ist; jedenfalls ist eine solche aber gar nicht mehr zu treffen, da es sich um ein sittliches Gebot handelt. Nur Eines möchte ich Ihnen geben können: die Heiterkeit der Unbedenklichkeit bei der Befolgung des an Sie gestellten Gebotes. Denken Sie doch nur, daß sich auch mein Junge darein finden muß, und das wird ihm gewiß nicht leicht fallen: wir getrauen uns noch gar nicht es ihm mitzuteilen. Ein eigentliches Lamento haben eigentlich nur wir übrigen ein Recht anzustellen, weil wir älter sind, viel durchgemacht haben, und uns nun immer wieder daran gewöhnen sollen, daß das Schicksal mit uns spielt. Auch haben wir in keiner Weise einen Ersatz für den Verlust vor uns, wie doch Sie, den eine kräftige Pflichterfüllung stolz machen muß: bloß die Sympathie für Ihren Stolz bleibt uns; sie soll denn auch uns helfen!‹79

Dagegen kam es eben hier in Venedig zu einer erneuten Begegnung mit dem Grafen Gobineau,80 der sich auch bei dem diesmaligen vorübergehenden Verkehr als unbedingt interessant und bedeutend erwies. ›Inmitten der mannigfaltigen Gespräche, welche nun bei Wagner den Wunsch erregten, die Werte des Grafen kennen zu lernen, entfiel dem letzteren eine Äußerung, deren Absonderlichkeit sehr auffiel und manches Sinnen veranlaßte. Über »Don Quixote« hatte Gobineau hastig scharf geurteilt: »das ist eine schlechte Tat, die Cervantes da begangen«; Ausrufungen des Erstaunens erwiderten ihm; auch wurde er gefragt, ob er denn das Tragische dieses Werkes nicht empfände, nicht durchfühlte, wie jämmerlich elend in ihrer Roheit die Spaßmacher gegenüber dem Ritter sich ausnähmen, und wären es »herzoglichste Herzöge«. Der Graf schwieg und beschied sich später nachdenklich, als weiter geforscht wurde, ob der Aufwand von Kraft und Ausdauer, welche der Großes wollende Rechtschaffene bedarf, um durch die ihm blöd entgegengestellten [396] abgeschmackten Hindernisse sich durchzuarbeiten, nicht ebenso nichtigen Kämpfen gelte wie gegen Windmühlen und Schafe; ob überhaupt der Großes Wollende, oder nur Suchende, sich nicht selbst als Gespenst und traurige Gestalt in dieser Welt vorkäme? Wohl mochte er von vornherein gar zu tief letzteres empfunden, und daher dem Genie des Cervantes die übermächtige, übergöttliche Kraft verargt haben, mit solchen Leiden sich zu ergötzen, doch gab er gern Dem, der auch für ihn ganz und gar der Meister war, nach, und der Verkehr, der also entsproß, war für beide ohne Vorgang gewesen.‹81 Von äußeren Begebenheiten, welche damals alle Welt erfüllten, wären die, Festlichkeiten zur Vollendung des Kölner Domes zu nennen, und es durfte wohl als ein ›Zeichen der Zeit‹ gelten, daß den Journalnachrichten zufolge der jüdische Bankier Oppenheimer dabei eine Hauptrolle gespielt habe. – Das Hauptergebnis dieses venezianischen Aufenthaltes aber war die Niederschrift des, in seinem Kopfe bereits genau präformierten Anhanges zu ›Religion und Kunst‹ unter dem Titel: ›Was nützt diese Erkenntnis?‹

Um diese gleiche Zeit erfolgte denn auch die königliche Entscheidung auf die noch von Siena aus an ihn gerichteten Mitteilungen. Der kunstsinnige Monarch war von des Meisters Entschluß, in so hohen Jahren noch eine anstrengende Reise nach Amerika zu machen, sehr unangenehm berührt, und um die gesundheitschädigende Reise zu verhindern, setzte er ihn durch völlige Wiederfreigabe des ›Parsifal‹ in den Stand, wenigstens nach dieser Richtung sorgenlos in die Zukunft zu blicken. Am 15. Oktober ging vom Hinderhof aus folgendes Signat an die Münchener Hoftheater-Intendanz ab:


›Zur Förderung der großen Ziele des Meisters Richard Wagner finde. Ich Mich bewogen, das Orchester und den Gesangchor Meiner Hofbühne dem Bayreuther Unternehmen von 1882 ab alljährlich auf zwei Monate zur Verfügung zu stellen.

Bezüglich der Auswahl der passenden Monate mit Rücksicht auf die Münchener Bühne hat Mein General-Intendant Freiherr von Perfall als Hofmusik- und Hoftheater-Intendant und Mein Hofsekretär und Ministerrat von Bürkel als Vorstand der Hof- und Kabinetskasse mit dem Patronatverein in Bayreuth ins Vernehmen zu treten und mir sachgemäßen Bericht zu erstatten.

Ferner verfüge Ich, daß alle früheren Vereinbarungen über die Aufführungen des Bühnenweihfestspiels »Parsifal« aufgehoben sind.

Ludwig.‹


Aufgehoben war hiermit also in erster Linie jede Bestimmung, die dem Institut der Münchener Hofoper auch nur den geringsten Anspruch auf eine Aufführung des ›Parsifal‹ übrigließ. Aus dem gleichzeitig an Wagner selbst gerichteten kgl. Schreiben heben wir hier nur den direkt ausgesprochenen, mit dem eigenen Wunsche des Meisters genau übereinstimmenden [397] Wunsch auch des Königs heraus: ›daß das heilige Bühnenweihfestspiel nur in Bayreuth gegeben und auf keiner anderen profanen Bühne entweiht werden dürfe‹. Durch diese wahrhaft königliche, des Beschützers deutscher Kunst in jedem Sinne würdige Entscheidung war die Münchener Theaterintendanz, welcher die Aufhebung aller früheren Vereinbarungen damals direkt mitgeteilt wurde, ein für allemal angewiesen, jeden Anspruch auf ein Aufführungsrecht des ›Parsifal‹ aufzugeben und sich damit in keiner, von beliebigen anderen Theatern verschiedenen Lage zu befinden. Also auch ohne den Verzweiflungs-Entschluß einer amerikanischen Tournee war die, Frage gelöst, die dem Schöpfer des Werkes mehr als zweieinhalb Jahre hindurch die trübsten, sorgenvollsten Momente bereitet hatte.

Auf der andern Seite hatte sich der sog. ›Patronat‹- Verein, trotz einiger vielversprechender Anfänge, durch die hoffnungslose Gleichgültigkeit der Zeit und Landesgenossen, nicht dazu befähigt erwiesen, dem Weihefestspiel ins szenische Leben zu verhelfen. ›Im Oktober 1880‹, so erzählt Hans von Wolzogen, ›hatte mich Wagner dringend aus dem Bayreuther Winkel nach Venedig herausgerufen, um mir persönlich mitzuteilen, zu welch schwerem Entschlusse er sich durch die Verhältnisse gezwungen sah, wollte er überhaupt noch selbst seinen »Parsifal« erleben. In einen kleinen deutschen Biergarten der Lagunenstadt führte er mich (»damit wir's gemütlich hätten!«) und liebevoll traurig klang seine Ansprache, wie er mich dort in seinen Plan einweihte, das Bühnenfestspiel i. J. 1882 aufzuführen – gegen Entree. Wer sein Ideal kannte, das Ideal der Unentgeltlichkeit, der Freiheit von Soll und Haben: der wußte, was dieser Entschluß für ihn bedeutete. Sein Publikum gab er dran; es blieb ihm für sein Werk jetzt nur noch sein Haus. Die Bühnen Weihe wenigstens sollte auch vor dem zahlenden Publikum noch rein und frei sich vollziehen können.82 Damals hatte sich der Schöpfer des »Parsifal« diese Welt sehr ernst und tief angesehen und sie bevölkert gefunden vom »rechnenden Raubtier«. Dem wollte er sein Werk nicht vorwerfen. Aber was in dem großen Tiere »Menschheit« wirklich menschlich wäre, das sollte es ihm an seine geweihte Stelle heran- und emporziehen‹.83 – – –

Venedig war und blieb ihm angenehm, und die Markuskirche seit alten Zeiten sein besonderer Liebling Immer komme sie ihm, so sagte er, wie ein Zauberwerk vor; jedesmal, daß er sie erblicke, meine er stets, sie könnte ebenso gut über Nacht verschwinden. Nur mit Meßbehagen trennte er sich, [398] da die Pflicht ihn weiterrief, am 30. Oktober von der herrlichen Stadt, um nach glücklicher Fahrt bereits am Sonntag, d. 31, in München am Bahnhof durch den Kabinettsekretär des Königs, Herrn von Bürkel, und Lenbach empfangen zu werden. Die Berichte des ersteren über den König erweckten einige Melancholie. Ein Abend bei Levi mit Busch, Lenbach und Gedon verbracht, nahm einen heiteren Verlauf. Eine Aufführung des ›fliegenden Holländers‹ im kgl. Hoftheater (4. November) war mangelhaft genug; trotzdem traten dem Schöpfer desselben bei dieser Anhörung seines frühen Jugendwerkes wiederholt die Tränen in die Augen. Ein Fest besonderer Art veranstaltete Lenbach dem heimkehrenden Meister in den prachtvoll dekorierten Räumen seines Ateliers (6. Nov.); tags darauf gab es im Hoftheater eine Vorstellung des ›Tristan‹, der er von Anfang bis zu Ende mit großer Teilnahme beiwohnte und wonach er Vogl in dessen Garderobe aufsuchte, um ihm seine Anerkennung auszusprechen. Dazwischen gab es Sitzungen bei Gedon und Lenbach, bei dem ersteren für eine Büste, bei letzterem für ein Portrait; weder dem einen noch dem andern konnte er die Bitte versagen. Doch wurden seine ruhebedürftigen Nerven durch alle diese Ansprüche überreizt, auch dadurch, daß er nicht auf die Straße gehen konnte, ohne ›aller Welt zu begegnen‹, und die Leute ihm zu unrechter Stunde ins Haus kamen. So ist mehr als eine›Gewitterstimmung‹ aus diesen Münchener Novembertagen durch die Erinnerungen der Freunde aufbewahrt. So hatte er mit Pohl, Heckel und Levi eine Zusammenkunft vereinbart, in die plötzlich ein für den Tag nicht vorgesehenes fremdartiges, wenngleich wohlgesinntes, Element in der Person eines Münchener Professors sich gesellte. Es entstand dadurch eine halb scherzhafte, halb ärgerliche Stimmung, und er half sich mit der Kriegslist, daß er unter dem Vorwand, heute überhaupt nicht zu empfangen, alle entließ, den engeren Freundeskreis aber wiederbestellte. Es gab Gespräche über die materiellen Grundlagen der bevorstehenden Aufführung, und Wagner sprach den Wunsch aus, daß der durch den Patronatverein damals angesammelte Grundstock, der sog ›eiserne Fonds‹ von ca. vierzigtausend Mark nebst dem übrigen vorhandenen Vereinsvermögen mit zur Verwendung kommen sollte. ›Ich sagte‹, so erzählt nun Heckel, ›daß wir bei dieser Verwendung wohl auf Schwierigkeiten stoßen wurden. Der Meister sprang erregt auf, und nun mußte auch ich einmal einen »Sturm« über mich ergehen lassen, wie ich ihn besonders vor den ersten Festspielen als Zeuge manchmal miterlebt hatte. »Was, Heckel, Sie sprechen mir von Schwierigkeiten! Gerade von Ihnen hätte ich das zuletzt erwartet! Während ich aus bitterer Notwendigkeit meinen ganzen Gedanken aufgebe und die Aufführungen für Geld stattfinden lasse wozu seid Ihr denn da, Ihr Patronat-Verein?« Er erinnerte sich jetzt aller Hindernisse, die seinem Unternehmen schon in den Weg gelegt waren. Er sah mich fest an und sagte: »wie konnten gerade Sie [399] bei mir diese Erinnerungen wachrufen mit dem unglückseligen Wort!« Ich suchte ihn zu beruhigen, – vergeblich! Alles Unangenehme, das ihm je auf ähnliche Weise bereitet worden war, fiel ihm ein und er sprach es gleichsam als Vorwurf in heftiger Erregung aus Vieles davon hatte ich ja selbst miterlebt; anderes war mir neu und fesselte meine volle Aufmerksamkeit. Plötzlich sagte er: »Jetzt ärgere ich mich die ganze Zeit, und er« (auf mich deutend) »sitzt ganz ruhig da und läßt sich erzählen.« Zu Herrn v. Joukowsky gewandt, sägte er bereits halb humoristisch hinzu: »sehen Sie, so macht er mir's!« Es entsprach durchaus seiner rückhaltlos offenen Natur und seiner bewunderungswürdigen Wahrhaftigkeit, daß er seiner Erregung und seinem Zorn im entscheidenden Augenblick unbehindert das Wort ließ. Dann kam aller verhaltene Schmerz und Groll explosiv mit elementarer Gewalt zum Durchbruch.‹ Er beruhigte sich allmählich, entschuldigte vor allem Heckel, der alles getan und förmliche Wunder bewirkt hätte.84

Bei Lenbach und Gedon dauerten inzwischen die gelegentlichen Sitzungen fort, und es unterhielt den Meister sichtlich und stimmte ihn zu großer Heiterkeit, als bei einer derselben der mit anwesende Herr von Joukowsky Lenbach auf einiges ihm Entgangene aufmerksam machte, daß letzterer mit rein auf die Sache gerichtetem Interesse Joukowsky ohne weiteres auf seinen Platz sich setzen und an der begonnenen Skizze frei nach seinem Ermessen schalten und walten ließ. Auch tat es ihm wohl, daß, Feustel nicht erst seine Ankunft in Bayreuth abwartete, sondern sich gleich hier in München zu seiner herzlichsten Begrüßung einstellte. Für den 10. November war eine Privatvorstellung des ›Lohengrin‹ für den König angesetzt, Wagner wohnte ihr vor im ährigen leeren dunklen Hause an der Seite des Königs in dessen Loge bei, während seine Angehörigen in der unteren Loge unsichtbar ihren Platz hatten. Die Aufführung ließ an hundert Punkten zu wünschen übrig, sowohl hinsichtlich der Tempi des Dirigenten, wie in betracht der Tätigkeit des Regisseurs auf der Bühne und der Meister unterließ es nicht, Levi darüber aufzuklären. Es war, bei größerer oder geringerer Sorgfalt im einzelnen, eine wirklich korrekte Aufführung des Werkes überhaupt bis dahin noch nicht von ihm erlebt worden (selbst 1867 nicht völlig); so mehr richtete sich sein Wunsch darauf, auch diese seine Schöpfung dereinst in Bayreuth von allen Schlacken des Ungenägenden zu befreien. Er hatte aber Freude an der Begegnung mit seinem königlichen Schirmherrn, den er gänzlich unverändert fand. Als er bald darauf bei Lenbach ein Portrait des Königs erblickte, vermißte er darauf den ihm so vertrauten [400] Zug einer zarten, liebevoll schwärmerischen Teilnahme, den allerdings außer ihm gewiß nur sehr wenige jemals wahrzunehmen Veranlassung hatten: das sei nicht der Ausdruck, den er an ihm kenne! Bei Gelegenheit dieses Zusammenseins war auch eine demnächstige Vorführung des ›Parsifal‹-Vorspiels durch das Orchester des Hoftheaters verabredet worden, in Gestalt einer mit den Musikern zu veranstaltenden ›Probe‹ vor leerem Hause. Von dieser Vorführung, die für Freitag, den 12. November, nachmittags drei Uhr angesetzt war (die ›Lohengrin‹-Vorstellung hatte am Mittwoch, den 10, stattgefunden), haben wir einen ausführlichen Bericht auf Grund mündlicher Mitteilungen Lenbachs, dem wir für alle Einzelheiten der Schilderung die Verantwortung ganz und gar überlassen müssen.85

›Die Aufführung war für eine Nachmittagstunde bestimmt, und nur Frau Wagner und einige Getreue, darunter Lenbach, durften, vom Könige nicht gesehen, dem Ereignis86 beiwohnen. Zur Glockenstunde, da Ludwig II. sein Erscheinen zugesagt hatte, war der Meister am Dirigentenpult; Minute auf Minute ging dahin, die Königsloge blieb noch immer leer. Man konnte Wagner ungeduldig nach der Uhr greifen sehen; nun unterhielt er sich mit dem ersten Geiger, nach kurzen Zwischenräumen immer wieder den Kopf nach der großen Mittelloge kehrend. Der König schien heute ganz vergessen zu haben, daß Pünktlichkeit (nach dem Sprichwort) die Höflichkeit von seinesgleichen sei. Der Meister durfte annehmen, daß sein großer Mäzen kaum den Augenblick erwarten könne, wo er ihm sein letztes Wort offenbarte, und nun ließ er über eine Viertelstunde auf sich warten, so daß sich vom Dirigenten aus des ganzen Orchesters eine Unruhe bemächtigte.87 Endlich kam Leben in die Hofloge, Hofbedienstete machten sich geschäftig zu tun, und als Ludwig II. erschienen war und Platz genommen hatte, klopfte Wagner an das [401] Pult, und das Vorspiel begann. Der König war von dem Tonwerk88 überwältigt, und wie einen, der nach langem Harren einen ersten Trunk getan, ergriff auch ihn die Sehnsucht nach nochmaligem Genusse. Ein weniger feinfühliger Komponist als Wagner würde sich über den Wunsch des Königs nach einer Dacapo-Aufführung gefreut haben; ihm aber kam die Wiederholung wie eine Art Profanation vor, und nur mit innerem Widerstreben nahm er zum zweitenmal den Taktstock in die Hand, um der hohen Weisung zu entsprechen. Die Begeisterung des Königs hatte sich nach der zweiten Aufführung womöglich noch erhöht: sie fand aber einen, Wagner noch mehr befremdenden Ausdruck in dessen Begehren, zum Vergleich mit »Parsifal« nun noch das »Lohengrin«-Vorspiel89 vorgespielt zu bekommen. Das war für Wagner, an dessen seines Nervensystem der Tag schon zu große Ansprüche gestellt hatte, denn doch zu viel. Den Taktstock an den Kapellmeister abgeben und das Orchester verlassen, war eins!‹ Er begab sich inzwischen in die Garderobe, wohin er seine Frau rufen ließ und trotz allem sehr heiter war. ›Es war vereinbart, daß nach der Separat-Vorstellung (?) ein paar Getreue, darunter Lenbach, bei Wagner speisen sollten. Als es Zeit war, zu Tisch zu gehen, bemerkte Frau Wagner den Gästen, ihr Gemahl sei überaus gereizt nach Hause gekommen und vor Aufregung jetzt krank; man werde mit dem Speisen beginnen müssen, ohne auf ihn zu warten.‹ Um was für höchst ernsthafte Zustände es sich dabei handelte, nämlich um einen jener durch Erregung so leicht hervorgerufenen Brustkrämpfe, die uns schon wiederholt begegnet sind, die vorausgeworfenen düsteren Schatten des 13. Februar 1883; Erscheinungen, deren Anlässen die sorgende Liebe seiner Umgebung um jeden Preis vorzubeugen oder, wenn unvermeidlich, deren Wirkungen begütigend abzuleiten versuchte, wiewohl gerade der Münchener Verkehr sie immer wieder hervorrief: davon ist in unserer, ausschließlich auf Lenbachs Erinnerungen beruhenden Erzählung mit keinem Worte die Rede; sie führt vielmehr in gerader Linie nur auf einen bestimmten Punkt, dem alles Vorhergehende als unterbauende Einleitung dient. ›Im Laufe des Mahles stellte sich zu allgemeiner Freude der Meister ein, jedoch immer noch in fieberhaft erregter Stimmung: er hatte sichtbar das Bedürfnis sich Luft zu machen, und wo jetzt das Gewitter einschlug, da ging es nicht ohne Flammen ab. Zuerst kam natürlich der König an die Reihe. Die Großen und Mächtigen der Erde dächten nur an sich, und mit einem nichts Gutes verkündenden Blick Lenbach aufs Korn nehmend, fuhr er fort: »Ob König oder Kaiser oder[402] Bismarck, sie sind alle egal.« Der Umstand, daß Lenbach Bismarck in Schutz nahm‹ (es bleibt für jedermann unbegreiflich, weshalb er das nur gerade in diesem übelgewählten Augenblick tat!) ›goß nur noch Öl ins Feuer. »Lassen Sie mich doch mit Ihrem Bismarck in Ruh'! Zeigt er auch nur das geringste Verständnis für das, was außerhalb seines Berufes90 liegt? Aber auch auf politischem Gebiete kann ich ihn nicht von Fehlern freisprechen: nach Sedan mußte er, wenn er weitsichtig war, mit den Franzosen unbedingt Frieden schließen; durch die Fortsetzung des Krieges bis vor Paris hat er die beiden Nationen auf ein Jahrhundert getrennt.«91 Als Wagner mit geröteten Wangen die Tischgesellschaft wieder verlassen hatte, erhob sich auch Lenbach und wollte nach Hut und Stock greifen, doch blieb er, von Frau Wagner zurückgehalten; kurze Zeit später trat Wagner ganz beruhigt in den Kreis zurück, Lenbach in der liebenswürdigsten Weise die Hand reichend und durch den Zauber seiner Konversation alsbald die ganze Gesellschaft in seinem Banne haltend.‹

Das schwere Unrecht des trefflichen Münchener Freundes, wenn es auch nur im gedankenlosen Widerspruchsgeist eines allzu exklusiven Bismarck-Verehrers bestand, der den Augenblick für die Verteidigung seines Helden nicht zu wählen und die Bitterkeit des vereinsamten, mit seinen höchsten Kulturzielen im Stiche gelassenen Genius nicht in ihrer Berechtigung zu beurteilen wußte, dieses Unrecht liegt auf der Hand und erklärt eine spätere Äußerung des Meisters, wonach ihm Lenbach, den er ja sonst recht gern hatte, ›eigentlich antipathisch sei, da er ihn immer reize‹. Von einem Zerwürfnis beider zu reden, von einer Verstimmung, die ›auf ein Haar die Freundschaft zwischen Wagner und Lenbach (!!) gesprengt hätte‹, ist aber selbst auf Grundlage der vorstehenden Schilderung nicht möglich; die Selbstbeherrschung Wagners, die ihm durch Herzensgüte angeborene, im Laufe eines langen entsagungsvollen, an Bitterkeit und Unverstandensein reichen Künstlerlebens innerlichst zu eigen gewordene Geduld und Nachsicht ließ ihn immer wieder Mittel und Wege der Versöhnung finden. Besonders im gegenwärtigen Falle, wo Lenbach nachträglich gestand, daß er durch die Nachwirkung jenes Zwischenfalles [403] förmlich krank gewesen sei. Höchstens finden wir in einem Erlebnis, wie dieses, den Schlüssel zur Erklärung des verwunderlichen Umstandes, weshalb ein Portraitgenie, dessen Bismarckbildnisse so Unübertreffliches bieten, in seinen zahlreichen Wagnerbildnissen doch nur äußerst selten das Rechte getroffen, im Gegenteil in einigen derselben so auffallend Verfehltes geboten hat, daß man sich billig darüber wundern kann. Bereits zwei Tage später wandte er sich nochmals mit der Bitte an ihn, ob er, der ›große Mann‹, sich nicht noch einmal ihm und Gedon für ihre monumentalen Aufgaben ›ein bißchen opfern‹ wolle und könne, und der Meister willfahrte ihm gern; ja er scheint schließlich bloß auf Lenbachs Bitte hin seinen Münchener Aufenthalt noch um weitere zwei Tage verlängert zu haben. In interessanter Weise ließ sich dabei Lenbach über den augenblicklichen Zustand der Technik in der Malerei aus: diese sei in einen so argen Zustand geraten und durch so schlechte Vorgänger überliefert, daß alles darin erst noch zu suchen sei. Und so gab es am Ende einen sehr freundlichen Abschied von dem eigentümlichen, gewiß bedeutend angelegten, leider nur krampfhaft aufgeregten Manne.

Die Abendstunden dieser Münchener Tage verbrachte der Meister wiederholt in Münchener Theatern. Am 11. November wohnte er in Herrn v. Bürkels Loge einer Aufführung der ›Zauberflöte‹ bei; am 13. gar im Volkstheater am Gärtnerplatz einer Vorstellung von ›Staberls Reiseabenteuern‹, bei der er über das ›animalisch-bürgerliche‹ viel und herzlich lachte und schließlich in das Ankleidezimmer des Schauspielers Lang sich begab, um ihm für seine Leistung zu danken. Eine Aufführung von Shakespeares ›Wie es euch gefällt‹ im Residenztheater (14. November) war ihm dagegen wegen der Wiedergabe des Probstein durch Possart in dessen ihm durchaus widerwärtiger jüdischen Darstellungsweise unerträglich; und einer Aufführung der ›Meistersinger‹ (16. November), auf die er sich im voraus lange gefreut hatte, mußte er schließlich wegen einer Erkältung für seine Person entsagen. Mit wachsendem Interesse vertiefte er sich in diesen Tagen in Gobineaus soeben erschienenes klassisches Werk: ›die Renaissance‹, und empfing (am Nachmittag vor jener mißglückten Shakespeare-Vorstellung) im ›Orlando di Lasso‹ einen Kreis von Orchestermitgliedern, Sängern und ›Gralsrittern‹, wobei es gar heiter und gemütlich herging. Im Anschluß an jene ›Lohengrin‹-Aufführung mit ihren mannigfachen Mängeln nahm er mit Kapellmeister Levi das Werk in seinen einzelnen Tempi vor und sprach mit ihm über den traurig zerstörenden Einfluß des Judentums auf unsere öffentlichen Zustände, ihn eindringlich vor diesem Zusammenhang warnend. Die Besuche der kgl. Sekretäre, der Herren von Bürkel und von Ziegler, empfing er mit Befriedigung. Ersterer hatte sich ihm bereits brieflich und durch die Tat als einen seiner wärmsten Verehrer kundgegeben; aber auch der letztere, ein einflußreicher Mann, der alles Politische dem König zu übermitteln hatte, gab sich ihm als dankbaren Anhänger [404] zu erkennen und küßte ihm zum Abschied die Hand, nachdem er ihm alle seine Wünsche (u.a. auch die Frage der Eisenbahnverbindung mit Bayreuth) zu befürworten versprochen hatte. An der Stelle, von wo aus in früheren Zeiten nur Feindseligkeiten gegen ihn ausgegangen waren, wußte er nun zwei ergebene Männer wirkend, leider auch dies wiederum ›fünfzehn Jahre zu spät‹, wodurch sich für ihn den gesamten Münchener Zuständen ein für allemal ein untilgbarer Stempel einprägen mußte.

So traf er denn, am Mittwoch, den 17. November, nach zehnmonatiger Abwesenheit, in Bayreuth wieder ein, wo als erster Gruß der Heimat das festlich beflaggte Theater von seiner Höhe ihm entgegenwinkte und die ganze Kolonie warm ergebener Freunde (mit Ausnahme des eben krank darniederliegenden Bürgermeisters) ihn am Bahnhof herzlichst empfing.

Fußnoten

1 Eine Nachbildung davon findet sich in Chamberlains großem illustrierten Wagnerwerk, verkleinert auch in des Verfassers Schrift: ›Siegfried Wagner‹ (Band XVI der bei Schuster & Löffler in Berlin erscheinenden Monographiensammlung ›Das Theater‹), S. 8.


2 Malwida v. Meysenbug, ›Lebensabend einer Idealistin‹, S. 149.


3 ›Seien wir nicht faul, lassen wir leben Paul‹, so begann der Meister einmal bei Tische einen improvisierten Trinkspruch.


4 M. v. Meysenbug, a.a.O., S. 149/51.


5 Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 317.


6 Man vergleiche hierzu Gesammelte Schriften Band III, S. 170/71 mit den hierhergehörigen Betrachtungen über die ›Vermenschlichung der Natur‹ bei den Griechen.


7 Zu Schillers ›Don Carlos‹ vgl. auch die klassische Stelle in Gesammelte Schriften VIII, S. 102.


8 Vgl. denselben Gedanken in voller Ausführung, Gesammelte Schriften X, S. 348.


9 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 181.


10 ›Nicht Ihr Intelligenten habt die Sprache erfunden, sondern das Volk; Ihr habt ihre sinnliche Schönheit nur verdorben, ihre Kraft nur brechen, ihr inniges Verständnis nur verlieren, das Verlorene nur mühselig wieder erforschen können! Nicht Ihr seid die Erfinder der Religion, sondern das Volk; Ihr habt nur ihren innigen Ausdruck entstellen, den in ihr liegenden Himmel zur Hölle, die in ihr sich kundgebende Wahrheit zur Lüge machen können! Nicht Ihr seid die Erfinder des Staates, sondern das Volk; Ihr habt ihn nur aus der natürlichen Verbindung Gleichbedürftiger zum unnatürlichen Zusammenzwang Ungleichbedürftiger, aus einem wohltätigen Schutzvertrage aller zu einem übeltätigen Schutzmittel der Bevorrechteten gemacht‹ usw. (›Das Kunstwerk der Zukunft‹, Ges. Schr. III, S. 65/66).


11 Vgl. das Schlußwort von ›Religion und Kunst‹: ›Bereits bieten uns die gepanzerten Monitors, gegen welche sich das stolze herrliche Segelschiff nicht mehr behaupten kann, einen gespenstisch grausenhaften Anblick: stumm ergebene Menschen, die aber gar nicht mehr wie Menschen aussehen, bedienen diese Ungeheuer, und selbst aus der entsetzlichen Heizkammer werden sie nicht mehr desertieren: aber wie in der Natur alles seinen zerstörenden Feind hat, so bildet auch die Kunst im Meere Torpedos, und überall sonst Dynamitpatronen u. dgl. Man sollte meinen, dieses alles, mit Kunst, Wissenschaft, Tapferkeit und Ehrenpunkt, Leben und Habe, könnte einmal durch ein unberechenbares Versehen in die Luft fliegen‹ (Ges. Schr. X, S. 323/24).


12 Schopenhauers handschriftl. Nachlaß, S. 349.


13 Vgl. hierzu ›Wollen wir hoffen?‹ Ges. Schr. X, S. 175/76.


14 Von dieser lehrt nämlich Schopenhauer, daß ihre allmählich Depravation, vom hoben Sanskrit an bis zum englischen Jargon ein bedenkliches Argument gegen die beliebten Theorien unserer Optimisten vom ›stetigen Fortschritt der Menschheit zum Besseren‹ bilde; auf der anderen Seite bleibe es ein schwer zu lösendes Problem, wie gerade das erste, aus dem Schoße der Natur hervorgegangene Menschengeschlecht in seiner kindischen Unkunde und rohen Unbeholfenheit diese höchst kunstvollen Sprachgebäude erdacht haben sollte? Das Plausibelste erscheine die Annahme, daß der Mensch die Sprache instinktiv erfunden und dieser Instinkt, nachdem sie einmal da war, sich verloren habe, denn die Erfahrung lehre nicht, daß in der Sukzession der Geschlechter die Sprachen sich grammatikalisch vervollkommnen, sondern gerade das Gegenteil. ›Wie nun alle aus bloßem Instinkt hervorgebrachten Werke, z.B. der Bau der Bienen, der Wespen, der Biber, die Vogelnester in so mannigfaltigen und stets zweckmäßigen Formen usw. eine ihnen eigentümliche Vollkommenheit haben, so daß wir die tiefe Weisheit, die darin liegt, bewundern, – ebenso ist es mit der ersten und ursprünglichen Sprache: sie hatte die hohe Vollkommenheit des Instinkts. Dieser nachzuspüren, um sie in die Beleuchtung der Reflexion und des deutlichen Bewußtseins zu bringen, ist das Werk der erst Jahrtausende später auftretenden Grammatik‹ (›Parerga‹ II, S. 599/600). Diese Stelle hatte offenbar Wagner bei der obigen Äußerung im Sinne.


15 Dudu, Didu, Didus ineptus (Zool.).


16 Man vergleiche hierzu die eben zitierte Stelle aus ›Wollen wir hoffen?‹


17 Wilhelm Lübke, der damals mit seinen, in Mode befindlichen, in vielen Auflagen erscheinenden Kompendien über Architektur und plastische Kunst allbekannte Popularisator der allgemeinen Kunstgeschichte für akademische und bürgerliche Kreise; weniger erfreulich bekannt durch seine fanatische Herunterreißung der ›Meistersinger‹.A1 Hätte ihm dieser unnütz gehässige Ausfall, mit dem er für alle Zukunft nur sich selbst als unmusikalischen, autodidaktisch anmaßenden Besserwisser an den Pranger stellte, auch noch verziehen werden können: so steht er aber leider außerdem noch in der Geschichte des Bayreuther Werkes durch seinen autoritativen Einfluß auf die Haltung des Württemberger Königshauses eingezeichnet, die durch ihn in eine mindestens gleichgültig ablehnende zeitweilig umgewandelt wurde! Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 101.


18 Ebendaselbst, S. 324.


19 S. 324 dieses vorliegenden Bandes.


20 Vgl. übrigens Gesammelte Schriften IX, S. 127, und den Artikel ›Beethovens Fidelio‹ in der ›Wagner-Enzyklopädie‹ I, S. 102/104. 391.


21 Vgl. Band II des vorl. Werkes, S. 92 (5. Aufl.).


22 Vgl. auch Band V, S. 82.


23 ›Parerga‹ II, S. 295 ff. (›kleine dialogische Schlußbelustigung‹).


24 ›Das Mahl des Thyestes wäre bei den Indern unmöglich gewesen; mit solchen entsetzlichen Bildern konnte jedoch die menschliche Einbildungskraft spielen, seitdem ihr Tier- und Menschenmord geläufig geworden war. ... Gewiß dürften wir es bisher nur darin weiter als mit jenen Thyesteischen Speise-Mählern gebracht haben, daß uns eine herzlose Täuschung darüber möglich geworden ist, was unsern ältesten Ahnen noch in seiner Schrecklichkeit offenlag‹ (Ges. Schr. X, S. 294).


25 Über den Grad dieser Aneignung vgl. u.a. die Äußerungen J. Nordmanns in Band II des vorliegenden Werkes, S. 203.


26 S. 128 dieses Bandes, Anm. 1.


27 Ges. Schriften X, S. 297/98. 299/300. 301/02.


28 Vgl. hierzu: Henry Thode, ›Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien‹. Berlin, Grote, 1885; 2. neubearbeitete und verbesserte Aufl., 1906. ›Ihre große Bedeutung‹, sagt eine Besprechung dieses Buches, ›erlangt die Kunstgeschichte erst im Zusammenhang der allgemeinen Menschengeschichte. Thodes Buch ist von diesem Standpunkte aus zu bewerten; als kulturgeschichtliches Werk hat es einen unvergänglichen Dauerwert.‹ Nachdem es bereits durch andere längst als ein wahrer Denkstein deutschen Gelehrtenfleißes gewürdigt ist, können wir es in diesem Zusammenhange als eine erste reife Frucht der in ›Religion und Kunst‹ niedergelegten Gedanken und Anschauungen bezeichnen.


29 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 314.


30 Dies bestätigte sich nachmals durch Bismarcks briefliche Äußerung an Ernst von Weber vom 21. Februar 1883: ›Ich habe Ihre Entrüstung über die Ausschreitungen der Vivisektion, seit mir dieselben bekannt geworden, stets geteilt, und obschon mir jede gesetzliche Handhabe fehlt, um einen bestimmten Einfluß auf diesem Gebiete zu üben, würde ich doch schon versucht haben, auf die Einschränkung der tierquälerischen Experimente hinzuwirken, wenn nicht das Maß der mir gebliebenen Arbeitskraft so unzulänglich geworden wäre, daß ich schon die mir direkt obliegenden Amtsgeschäfte nicht zu erledigen vermag.‹ (Abgedruckt in der Broschüre: ›Bisher ungedruckte Briefe von Richard Wagner an Ernst von Weber‹, Dresden, 1883).


31 Vgl. die darauf bezügliche Lehre Schopenhauers: ›Die Erkenntnis der ewigen Gerechtigkeit, welche gänzliche Erhebung über die Individualität und das Prinzip ihrer Möglichkeit erfordert, wird der Mehrzahl der Menschen stets nur in der Form des Mythos zugänglich bleiben. Das Volk empfing daher ein Surrogat jener großen Wahrheit, welches als Regulativ für das Handeln hinreichend war, in dem Mythos von der Seelenwanderung. Derselbe lehrt, daß alle Leiden, welche man im Leben über andere Wesen verhängt, in einem folgenden Leben auf eben dieser Welt, genau durch dieselben Leiden wieder abgebüßt werden müssen. ... Nie hat ein Mythos sich der so wenigen zugänglichen philosophischen Wahrheit enger angeschlossen, als diese uralte Lehre des ältesten und edelsten Volkes. Jenes non plus ultra mythischer Darstellung haben daher schon Pythagoras und Platon mit Bewunderung aufgefaßt, von Indien oder Ägypten herübergenommen, verehrt, angewandt und – wir wissen nicht, wie weit – selbst geglaubt‹ (›Welt als Wille und Vorstellung‹ I, S. 419/21). ›Die Lehre von der Metempsychose entfernt sich von der Wahrheit bloß dadurch, daß sie in die Zukunft verlegt, was schon jetzt ist. Sie läßt nämlich mein inneres Wesen an sich erst nach meinem Tode in andern dasein, während der Wahrheit nach es schon jetzt auch in ihnen lebt und der Tod bloß die Täuschung, vermöge deren ich dessen nicht inne werde, aufhebt.‹ (Ebendaselbst II, S. 688 ff.)


32 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 132/33, und den ›Briefwechsel mit Liszt‹ II, S. 148. 178.


33 Professor Hermann Brockhaus, † 5. Januar 1877, vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 330.


34 Die Steinsche Abhandlung erschien nicht in den ›Bayreuther Blättern‹, wohin sie eigentlich gehört hätte, sondern zwei Jahre später in der von E. Schmeitzner herausgegebenen ›Internationalen Monatschrift‹ (Januar- und Februarheft 1882), sodann 1900 in Buchform unter dem Titel: ›Giordano Bruno, Gedanken über seine Lehre und sein Leben von Heinrich von Stein. Zum 300 jährigen Gedenktage der Verbrennung Giordano Brunos neu herausgegeben von Friedrich Poske‹ (Berlin und Leipzig, G. H. Meyer, Heimat-Verlag).


35 Über diesen Widmungsbrief bemerkte schon Franz Horn: ›Goethe hat gewiß in seinem ganzen Leben es nie auf Rührung angelegt; aber er hat die höchste erreicht, ohne es zu wollen, durch seine letzte Schrift von zwei Blättern, ich meine durch die Dedikation seines Briefwechsels mit Schiller an den König von Bayern. Es ist schwer, das Gefühl auszudrücken, das uns bei dieser Weihung ergreift. Er durfte mit der vollen Gewalt seiner Sprache den Schmerz über den Verlust andeuten, den er und die Welt durch Schillers Tod erfahren; aber jene Zartheit der Gesinnung, die den zu laut ausgesprochenen Jammer haßt, läßt ihn auch hier nur die sanftesten und mildesten Worte wählen‹ (mit Verkürzung zitiert nach Boas, ›Nachträge zu Goethes Werken‹ II, S. 233).


36 ›Ein Beispiel davon, wenn unseren großen Kriegsherren die Apostel der Friedensverbindungen mit untertänigen Gesuchen gegen den Krieg sich vorstellen, erlebten wir noch in neuester Zeit und haben uns der Antwort unseres berühmten »Schlachtendenkers« zu entsinnen, worin als ein, wohl noch ein paar Jahrhunderte andauerndes, Hindernis des Friedens der Mangel an Religiosität bei den Völkern bezeichnet wurde‹ usw. (Gesammelte Schriften X, S. 308).


37 Siehe: Helden und Welt. Dramatische Bilder von H. v. Stein, S. 151 f. (›Denker und Dichter‹).


38 Briefe an H. v. Wolzogen (in der Klossschen Sammlung ›Richard Wagner an seine Künstler‹), S. 391/92.


39 Gesammelte Schriften X, S. 314.


40 Ebendaselbst IX, S. 133/34.


41 Gesammelte Schriften X, S. 319/20, stark verkürzt.


42 ›Neben meiner Kunst. Briefe und Persönliches von Arnold Böcklin‹, herausgegeben von Böcklins Sohne und C. F. Runkel, Berlin, 1909.


43 Der Brief, welcher diese Aufforderung enthielt, ist nachmals im ›Musikalischen Wochenblatt‹ vom 13. Oktober 1910 zum Abdruck gelangt, leider aber ohne Datierung, so daß wir ihn nur vermutungsweise in das Frühjahr 1878 verlegen können.


44 ›Er war nämlich‹, fügt der Herausgeber jener Erinnerungen erläuternd hinzu, ›ein entschiedener Gegner (!) der Auffassung Richard Wagners, daß in der Verbindung dreier (?!) Künste, der Musik, Malerei und Dichtkunst, erst die einzige höchste Kunst erreicht werden könnte. Mit Recht fürchtete er, daß jede Kunst dabei um ihr Bestes und Eigentümlichstes verkürzt werden könnte‹ (!). Es war das alte künstlich propagierte Mißverständnis, als sei mit dem ›Untergang der Sonderkünste‹ im Drama ein Aufhören derselben gemeint. Auch ist bei der Erwähnung gerade ›dreier‹ Künste die völlige Übergehung eines hauptsächlichen Faktors jener ›höchsten Kunst‹, der Mimik, und des alles zum Ganzen vereinigenden dramatischen Stiles für eine Auffassung charakteristisch, die ihre maßgebenden Anschauungsmomente doch immer nur erst aus der ›großen Oper‹ bezog und darüber nicht hinauskam!


45 Wie oft beobachtete der Meister diese des Abends von seiner Höhe aus und wies auf sie hin, wie sie ›auf Raub auszogen‹!


46 Selbst der Umstand, daß der leidende Meister nach seiner Gewohnheit (S. 57, 309 f.) zuweilen die Gesellschaft auf wenige Augenblicke verließ, wird in diesen Pseudo-Erinnerungen auf die abenteuerlichste Weise gedeutet, indem der Erzähler mit schnell fertiger Auslegung daraus für seine Leser eine ›Eigenheit des Meisters‹ konstruiert, ›seiner eigenen Musik nur im Dunkeln zu lauschen (!)‹, und natürlich muß es ein ›Goldbrokatvorhang‹ sein, hinter welchem Wagner bei ihm verschwindet.


47 Der Erzähler schreibt übrigens wörtlich ›fast begeistert‹.


48 Auch Wagner selbst soll – immer nach demselben Gewährsmann – mit Böcklin über ebendieselben ›Dekorationen‹ zu ›Parsifal‹ verhandelt und dabei u.a. von ihm verlangt haben: er solle dabei Pflanzen auf Gipfeln malen, wo sie – in solcher Höhenlage – niemals vorzukommen pflegen. ›Und man weiß, wie fern einem Arnold Böchlin solche Natursünden lagen!‹ Welche Pflanzen, welche Gipfel, welche Höhenlagen mögen damit gemeint gewesen sein? Das bleibt inzwischen für jeden Kenner, ja für jeden überhaupt Nachdenkenden – ein ungelöstes Rätsel. – Klingsors Garten liegt doch in keiner Eis- und Schneeregion, so wenig als der Gralstempel!


49 Vgl. Band III des vorl. Werkes, S. 116.


50 Vgl. über sie den Abschnitt: ›Nadine Helbig‹ (mit Portrait) in La Mara, ›Liszt und die Frauen‹ (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1911), S. 300. 311.


51 Francesco Morlachi, Kapellmeister der italienischen Oper zu Dresden zu Webers Zeiten, vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 67/69. 466. 474. 479. Band II, 75. 93.


52 Briefe an ›Hans von Wolzogen‹, S. 395/96 (in dem von Erich Kloss herausgegebenen Sammelband: ›Richard Wagner an seine Künstler‹).


53 Ebendaselbst, S. 397.


54 Enthalten in den beiden Nummern der von W. Tappert herausgegebenen ›Allg. Deutschen Musikzeitung‹ vom 13. und vom 20. August 1880.


55 Ein direkter Einblick in diese war uns bisher noch nicht vergönnt.


56 In Familiengesprächen auf Villa Angri war dieses Thema im Beisein Steins und Joukowskys oft berührt und der Moment der Ankunft ihrer aller in San Franzisko, im Palastwagen, heiter ausgemalt. ›Da werden sich meine Knabenwünsche erfüllen!‹ hatte der Meister gesagt, ›denn es war mir ein beständiger Gedanke: was? ich soll sterben, ohne diese kleine Erde gesehen zu haben, mit allem was darauf ist? Wenigstens das, da man die Sterne doch nicht kennen lernen kann!‹


57 ›Parerga und Paralipomena‹ II, S. 183/85 (›Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur‹, S. 101).


58 Vgl. die Nachricht, die Liszt bald darauf in seinen Briefen aus Siena (23. Sept. 1880) über ihn gibt: ›J'ai fait la connaissance d'un Père Capucin, qui a le titre de Presidente – il est attaché depuis une quinzaine d'années au grand hôpital de Sienne et s'occupe activement de la construction d'une petite église et d'un couvent, à 20 minutes de distance d'ici. Joukowsky a promis de peindre un tableau pour l'autel principal – St. François recevant les stigmates‹ (›Briefe an die Fürstin Wittgenstein‹ IV, S. 299).


59 Vgl. Ges. Schr. X, S. 109.


60 Vgl. Band IV des vorl. Werkes, S. 355/56.


61 Vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 293. 301. 326.


62 Vgl. die entsprechenden Betrachtungen in ›Religion und Kunst‹, wo der künstlerische Dichter der ›Welt-Tragik‹ zugleich als der ›dichterische Priester‹ bezeichnet wird, ›der einzige, der nie log‹. ›Er war in den wichtigsten Perioden der Menschheit als vermittelnder Freund stets zugesellt: er wird uns auch in jenes wiedergeborene Leben hinüberbegleiten, um uns in idealer Wahrheit jenes »Gleichnis« alles Vergänglichen vorzuführen, wenn die reale Lüge des Historikers längst unter dem Aktenstaube unserer Zivilisation begraben liegt.‹ ›Was einst den entartenden Athenern ihre großen Tragiker in erhaben gestalteten Beispielen vorführten, ohne über den rasenden Verfall ihres Volkes Macht zu gewinnen; was Shakespeare einer in eitler Täuschung sich für die Wiedergeburt der Künste und des freien Geistes haltenden, in herzloser Verblendung einem unempfundenen Schönen nachstrebenden Welt, zur bitteren Enttäuschung über ihren wahren, durchaus nichtigen Wert, als einer Welt der Gewalt und des Schreckens, im Spiegel seiner wunderbaren dramatischen Improvisationen vorhielt, ohne von seiner Zeit auch nur beachtet zu werden, – diese Werke der Leidenden sollen uns nun geleiten und angehören, während die Taten der Handelnden der Geschichte nur durch jene uns noch vorhanden sein werden. So dürfte die Zeit der Erlösung der großen Kassandra der Weltgeschichte erschienen sein, der Erlösung von dem Fluche, für ihre Weissagungen keinen Glauben zu finden. Zu uns werden alle diese dichterischen Weisen geredet haben, und zu uns werden sie von neuem sprechen‹ (›Religion und Kunst‹ III, Gesammelte Schriften X, S. 318).


63Hier, à 4 h., j'ai retrouvé à la gare Cosima, Wagner et les enfants – qui fêtaient le retour de leur grand-papa‹, schreibt Liszt am 17. September an die Fürstin (›Briefe an die Fürstin Wittgenstein‹ IV, S. 297).


64 ›Bayreuther Blätter‹, 1900, S. 97/98.


65 Liszt schreibt an dieser Stelle allerdings: Pius VII., aber er verbessert den Irrtum in seinem nächstfolgenden Brief, auf Grund eines in seinem Zimmer hängenden eingerahmten Dokumentes über diesen päpstlichen Aufenthalt.


66 ›In der prachtvollen Villa d'Angri am Posilip‹, heißt es weiter im gleichen Zusammenhang, ›zahlte er ein Drittel mehr – und muß diese Miete noch zwei Monate lang weiterzahlen, ohne davon einen Nutzen zu ziehen.‹


67 Sowohl dieses Portrait, wie auch Joukowskys ›Pietà‹ waren bereits unterwegs nach Bayreuth.


68 ›Briefe an die Fürstin Wittgenstein‹ IV, S. 297/98.


69Benedetto sia il giorno‹ (Des dur); ›Pace non trovo‹ (E dur); ›Io vidi in terra angelici costumi‹ (F dur); alle drei zuerst skizziert i. J. 1838, mit italienischem Text veröffentlicht 1846/47; neu bearbeitet für das Klavier 1857; mit deutschem Text 1880.


70 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 140. 156. 164. 172.


71 ›Bayreuther Blätter‹, 1900, S. 97/98.


72 ›Bayreuther Blätter‹, 1900, S. 81


73 ›In welcher Verzweiflung Luther dazu griff (dem gänzlich verwahrlosten armen Volke durch Abfassung dieses Katechismus ein Bewußtsein von dem Gegenstande seines christlichen Glaubens beizubringen), ersehen wir aus der herzerschütternden Vorrede zu jenem Büchlein‹ (Gesammelte Schriften X, S. 331).


74 Ebendaselbst (›Was nützt diese Erkenntnis?‹), S. 331.


75 Paul Deussen, ›die Elemente der Metaphysik‹ (4. Aufl. Leipzig 1907).


76 ›Bayreuther Blätter‹, 1900, S. 98/99 (›Zu Liszts Briefen an die Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein.‹).


77 Vgl. über diese Verhältnisse den in jedem Sinne authentischen Aufsatz ›Parsifal und die Münchener Hofoper‹, den im Januar 1887 der ›Berliner Börsen-Courier‹ brachte, und welcher daraus durch Abdruck auch in die ›Allg. Musikzeitung‹ 1887, S. 48/49 übergegangen ist.


78 Briefe an Hans von Wolzogen (in dem Sammelbande von Erich Kloss: ›Richard Wagner an seine Künstler‹), S. 399.


79 ›Richard Wagner an Freunde und Zeitgenossen‹, S. 587/88. Noch von Bayreuth aus, unterm 28. November heißt es: ›Große Wehmut herrscht bei uns noch immer über Ihr Ausbleiben: Siegfried wird dar über wie im Traume gehalten, er weiß noch nicht recht, wie das eigentlich ist‹ (Ebendaselbst, S. 589).


80 Vgl. Band V des vorl. Werkes, S. 290. 325.


81 ›Graf Arthur Gobineau, ein Erinnerungsbild aus Wahnfried‹ (Stuttgart, Fr. Frommans Verlag, 1907), S. 24. (urspr. ›Bayreuther Blätter‹ 1881, S. 350/51).


82 ›Dem »Parsifal« dies sein geweihtes Haus zu rauben – nicht umgekehrt! – das ist das Unrecht, welches man heute begehen möchte, indem man das Mysterium für das Theater reklamiert, damit es möglichst viele sich anhören und ihr »Urteil« darüber bilden könnten, – als ob es für die Vielen geschaffen wäre!‹


83 H. v. Wolzogen, ›Bayreuther Gedanken und Erinnerungen‹ III, S. 668 (›Der Merker‹, Österr. Zeitschrift für Musik und Theater, I. Jahrgang, 16. Heft).


84 Vgl. E. Heckel, ›Erinnerungen‹, S. 145/46. Die kleinen Abweichungen in unserem obigen Zitat beruhen auf Heckels eigenen mündlichen Mitteilungen. Übrigens hat er an jener Stelle der ›Erinnerungen‹ zwei ganz verschiedene Vorfälle (München, 8. November 1880, und Bayreuth, 9. Januar 1881) so unheilbar miteinander vermischt, daß man seinen Bericht durchaus als untrennbares Ganzes nehmen muß.


85 Man findet ihn in Heinrich v. Poschingers interessantem Buche: ›Bausteine zur Bismarck-Pyramide‹ (Berlin, 1903).


86 Im Original heißt es ›musikalischen Ereignis‹; da man aber unter dieser wohlfeilen Bezeichnung in der Regel sehr andersartige Dinge versteht, konnten wir uns nicht entschließen, dieses geistreiche Attribut beizubehalten. Ist es doch bis auf den heutigen Tag der böse Genius deutscher Kultur, der alles von Wagner Ausgehende mit Hartnäckigkeit immer wieder in das Gebiet des ›Musikalischen‹ abschiebt, und was sich der Deutsche dabei vorstellt, kann man in jeder Stadt aus ihren Konzert- und Theatervorstellungen entnehmen, oder aus den Verlagskatalogen unserer großen Musikfirmen!


87 Was damals der Münchener Freundesklatsch aus dieser harmlosen Verspätung gemacht, entnimmt man mit Verwunderung aus Friedrich Pechts Memoiren (›Aus meiner Zeit‹ II, S. 136/37), der die obige ›Viertelstunde‹ zu einer ›tödlich langen‹ Wartezeit von zweieinhalb Stunden (!) ausdehnt, sie höchst unpassender Weise in den zweiten Zwischenakt von ›Tristan und Isolde‹, und den ganzen Vorfall in das Jahr 1865 verlegt. Mehr kann man doch – seitens eines wohlmeinenden Freundes (!) – an Entstellung der Wahrheit auch von dem geschwächtesten Gedächtnis nicht verlangen! Aber es klingt so bei weitem interessanter und läßt die Weisheit des Memoiristen in seinen daran geknüpften Reflexionen leuchten!


88 Im Original heißt es in der Sprache unserer Musikreporter: ›von dem in seiner Art einzig dastehenden Tonwerk‹.


89 Im Original heißt es: ›Lohengrin-Ouvertüre‹ – bekanntlich gibt es eine solche gar nicht; sie gehört aber ganz in die Sphäre solcher ›musikalischen‹ Ereignisse!


90 An dieser Stelle möchten wir doch die richtige Wiedergabe der Worte Wagners aus innersten Gründen direkt in Zweifel ziehen, da sie in dieser Form viel mehr dem Gesichtskreise eines Lenbach, als dem des Meisters entsprechen! Ist es an sich rein objektiv und tatsächlich schon äußerst schwierig, den ›Beruf‹ eines großen Staatsmannes so genau anzugrenzen, so wäre von Wagners Seite, der unter dieser allzuscharfen Begrenzung so schwer und nachhaltig gelitten, die Anerkennung dieser Grenzen doch nur höchstens in einem Augenblick tiefer Resignation (vgl. S. 307 dieses Bandes), nicht aber im Sinne eines ernstlichen Zugeständnisses zu erwarten gewesen. Er hat sie demnach bestimmt nicht in obiger Fassung gesprochen!


91 Die Echtheit gerade dieses Ausspruches möchten wir ebenfalls nicht verbürgen. Der Erzähler spricht an dieser Stelle noch weiter von einem daran sich schließenden ›Rededuell zwischen Wagner und Lenbach‹ und zitiert ein gänzlich unverständliches und pointeloses Scherzwort des letzteren, welches wir hier wohl still schweigend übergehen dürfen.


A1 Man vergleiche hierzu die übel berüchtigte Schmähbroschüre: ›Wilhelm Lübke und Eduard Hanslick über Richard Wagner‹ (Berlin, Louis Gerschel Verlagsbuchhandlung, 1869), enthaltend den vereinigten Separatabdruck zweier Artikel der beiden damaligen ›Autoritäten‹ aus der Wiener ›Neuen freien Presse‹.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 348-406.
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