Vorwort

zur dritten Ausgabe.

Wider alles Wünschen und Verhoffen des Verfassers hat sich der Abschluß des vorliegenden zweiten Teiles seiner Arbeit recht weit über den ursprünglich dafür veranschlagten Termin hinausgezogen. über die fortwirkenden Ursachen dieser, von ihm selbst am meisten beklagten Verzögerung hat er sich im Vorworte des ersten Bandes zur Genüge ausgesprochen, um sich darüber nicht erst noch an dieser Stelle zu wiederholen. Immerhin erachtet er es für angemessen, zu einem Zeitpunkt, für welchen er damals die Vollendung seines ganzen Werkes in das Auge gefaßt, dem teilnehmenden Leser mindestens eine Fortsetzung des begonnenen nicht vorzuenthalten. So läßt er denn das gegenwärtige dritte Buch für sich allein an die Öffentlichkeit treten: steht es doch ohnehin nach Inhalt und Umfang hinreichend auf eigenen Füßen, um bis auf weiteres das Interesse zu erwecken und zu befriedigen überraschen dürfte den geneigten Leser die unvorhergesehene Ausführlichkeit in der Behandlung des darin verarbeiteten geschichtlichen Stoffes Sie lag nicht so sehr in einem absichtlich veränderten Plane des Autors begründet, als sie vielmehr durch den Gegenstand selbst hervorgerufen wurde: von ihm, als dem einzig maßgebenden, mußte er am Ende auch für den äußeren Umfang seiner Arbeit das Gesetz sich vorschreiben lassen. Handelt es sich doch in dem vorliegenden Werke um den ersten Versuch einer relativ vollständigen und zugleich, dem vorhandenen Material gemäß, kritischen Biographie Richard Wagners. Wir zweifeln nicht, daß nach dieser ersten Durchpflügung des weiten Gebietes es künftig leichter sein wird, den Gegenstand in gedrängterer Fassung zu behandeln. Einstweilen galt es vielfach, um den Leser zu selbständigem Urteil anzuleiten, bei gewissen Angaben nicht [3] bloß die Quelle namhaft zu machen, sondern sich zu seiner Orientierung sogleich auch mit ihrer bestimmten Färbung und Auffassung auseinanderzusetzen; vor allem aber die lebendige Gestalt des schaffenden und reformatorischen Künstlers ihres geschichtlichen Hintergrundes nicht zu berauben. Einige vorkommende Unausgeglichenheiten und wirkliche Breiten, überflüssige Fußnoten u. dgl. sind den mannigfachen unliebsamen Störungen und Unterbrechungen zuzuschreiben, unter denen die Arbeit entstand. Sie können Niemandem unerwünschter und lästiger sein, als dem Verfasser selbst, der sein Werk auf lange hinaus damit ausgestattet sieht; durch sie ist jedoch der Umfang des Werkes in keiner Weise veranlaßt, da durch ihre Streichung, so sehr sie dem Buche zum Vorteil gereichen müßte, es doch höchstens um einen halben Druckbogen erleichtert werden würde. Aber man kritisiert ja gern; sie sind daher meinen geschätzten Rezensenten gewidmet. Ich würde vorschlagen, das Glasenappsche Buch in seiner neuen Bearbeitung schon wegen dieses seines enormen Umfanges kurzweg als unmöglich zu bezeichnen.

Hingegen lag es nicht minder in der Natur des Gegenstandes bedingt, in einem biographischen Werke, dem allein schon das rein Tatsächliche in seinen mannigfachen Verflechtungen eine Überfülle von Stoff bietet, die eingehende Analyse der künstlerischen Schöpfungen, sowie andererseits der theoretischen Schriften des Meisters beiseite zu lassen. Von der Absicht eines solchen, wie der heutige literarische Modeausdruck lautet, ›vollständigen Wagner-Werkes‹ sich fernzuhalten, hat dem Verfasser keine Überwindung gekostet. Die Versuchung dazu trat selbst aus gewissen verlockenden kritischen Stimmen in keiner Weise an ihn heran, da er sich in dem bloßen Leben des Künstlers, beziehungsweise in dessen schmucklos wahrhaftiger, durch kein subjektives Vorurteil gefärbter und keine persönlichen Rücksichten bestochener Darstellung, eine ganz andere, ihn für alle Zeiten hinreichend beschäftigende Aufgabe zuerteilt sah.

Die Überschrift des gegenwärtigen dritten Buches ward mit Bedacht gewählt, um die zehnjährige Epoche im Leben Richard Wagners, mit der wir es hier zu tun haben, nach einer wesentlichen Seite zu charakterisieren: der geistigen Grundanschauung, aus welcher ihm schließlich auch der Mut zu einer so überschwänglichen künstlerischen Unternehmung, wie der Nibelungentrilogie, erwachsen konnte. Solange er aus den vorhandenen, allerdings unwillkürlich nach seiner eigenen überragenden, tatkräftigen Natur gedeuteten, geschichtlichen Anzeichen auf eine große Umwälzung und innere Erneuerung der deutschen und europäischen Verhältnisse hoffen konnte, hat er [4] den Geist der Bewegung von seinem künstlerisch-menschlichen Standpunkte aus anfeuernd, belebend, zielbewußt zu beeinflussen gesucht: auf den Aufbau und Ausbau einer menschlich-nationalen Kultur war dabei sein Augenmerk gerichtet, und der umfassendste, dem deutschen Geiste entsprechendste Aufbau wäre ihm dann doch nur die Grundlage für sein künstlerisches Werk – als Blüte- und Höhepunkt einer lebensvollen deutschen Kultur – gewesen. Weit über die episodische Dresdener Katastrophe hinaus hat er den Glauben an einen solchen Umschwung festgehalten: an eine Aufführung seines ›Ringes‹ wollte er erst nach der ›Revolution‹ denken, erst diese sollte ihm die Künstler und die Zuhörer zuführen; mit seinem Werke wollte er ›den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen geben‹. Die eine Erfahrung davon, daß diese Hoffnung sich nicht erfüllte, das ebenso Lärmende als Erfolglose der angekündigten Erhebung belehrte ihn hinreichend über den Wert seiner Zeitgenossenschaft, und zeigte ihm vor allem, wie wenig in dieser ›französisch-jüdisch-deutschen‹ Bewegung das eigentlich produktive deutsche Element zur Geltung gelangt war. Der Begriff der ›Revolution‹ ist nichtsdestoweniger die erste, für immer entscheidende, Form der bewußten Lossagung Richard Wagners von der umgebenden Kunstwelt; er mußte deshalb in der Bezeichnung dieses Lebensabschnittes mit enthalten sein Sie hätte, um zugleich dem Ausgangspunkte gerecht zu werden, auch vollständiger lauten können: ›Von der Reform zur Revolution‹. Denn nicht einen Schritt hat der Künstler unversucht gelassen, um an das Bestehende anzuknüpfen, sein Ziel auf friedlichem, organisatorischem Wege zu erreichen. Auch davon, wie von den ihm entgegentretenden Hindernissen, legt unsere Darstellung seiner Lebensschicksale Zeugnis ab.

Eine politische Volkserhebung ward schließlich der Anlaß, ihn mitten in diesem Ringen gewaltsam dem zerstörenden Zwange der Halbheit zu entziehen. Die Überschätzung dieses rein episodischen Vorganges, der in seinem Leben gar keine weitere Rolle spielt, als daß er ihn unverhofft von einem gänzlich versumpften Boden losriß, die Aufbauschung dieser Episode zu einem besonderen Ereignis in Wagners Leben, der Starrsinn der politischen Gewalthaber, der – nicht ohne Beimischung kleinlicher Rachsucht – daraus den Anlaß nahm, dem deutschesten Künstler die Entsagungen einer dreizehnjährigen Verbannung aus seinem deutschen Vaterlande aufzuerlegen, haben von jeher dazu beigetragen, in seinen persönlichen Beziehungen dazu nach allerlei sorgsam ausgehüteten, diskret verschwiegenen Geheimnissen zu forschen. Die bornierte Befangenheit in der politischen Formel hat den [5] Künstler, der unmittelbar darauf seinen weitatmigen Aufruf: ›Die Kunst und die Revolution‹ erließ, mit aller Gewalt zum politischen Revolutionär, zum hervorragend aktiven Teilnehmer, ja verantwortlichen Führer jener Erhebung abstempeln wollen, und bis zum heutigen Tage kehrt dieses blöde Mißverständnis in allen erdenklichen Variationen und Auffassungen wieder Bald soll Wagner selbst seinen tätigen Anteil an der Dresdener Aktion in späteren Jahren verleugnet, bald sollen seine überlebenden Angehörigen – aus unerforschlichen Gründen ein Interesse an einer ähnlichen Geschichtsfälschung haben Bald wieder soll die Behauptung, Wagner sei ein bloß ›theoretischer‹ Anhänger der Revolution gewesen, durch eine Gruppe von eigensinnigen Schriftstellern aus reinem Wohlgefallen daran willkürlich zum Dogma erhoben sein. Man kann dies noch alle Tage in jedem Zeitungsblatte lesen. Sich über diesen Punkt in Streit und Auseinandersetzungen einzulassen, haben auch die Einsichtsvollsten unter den Kennern und Freunden des Meisters nie ganz vermeiden können, aus dem verzeihlich menschlichen Irrtum, der dem Gegner, da er sich selbst in Begriffen und Worten kundgibt, nun auch eine, wenn nicht auf innerer Anschauung, so doch auf Begriffen beruhende, mithin Begriffen akzessible und durch Begriffe zu berichtigende Vorstellung zumutet. Das hat sich nun bisher noch immer als vergeblich erwiesen!

Ein Beispiel für viele. In seinen kürzlich bekannt gegebenen Briefen erregt sich der junge Bülow in den Maitagen 1849, fern von dem Schauplatz der Dresdener Kämpfe in Leipzig weilend, mit vollem Recht bei dem Gedanken an eine Lebensgefahr des Meisters. ›Wenn nur nicht Wagner erschossen ist!‹ ruft er in einem Brief an seine Mutter. ›Ich kann nicht ohne die heftigsten Tränen daran denken; er steht, glaube ich, im 4. Bataillon der Kommunalgarde und er versäumt seine Pflicht nicht, auch wenn diese zum Tode ruft!‹ Hierzu bemerkt ein, sonst in allem Ernste geist- und kenntnisvoller, Musikschriftsteller wörtlich: ›Wie man einem Gewährsmann (!!) wie H. v. Bülow gegenüber, noch weiter das (oben näher bezeichnete) Dogma verteidigen wird, bleibe jener Partei (!) überlassen, die geflissentlich Wagner in ihrem, nicht in seinem Lichte leuchten lassen will. Ich liebe Wagner, so wie er war ... und jeden Versuch, an der historischen Richtigkeit des Bildes, das uns (durch wen?!) von Wagner überkommen ist, durch Vertuschen und übermalen zu ändern, halte ich für eine grobe geschichtliche Fälschung.‹ Gemach, mein werter Herr! Ehe Sie, unter Berufung auf das Einmaleins (Übermalung – Fälschung), vorgeben, Wagner zu lieben so wie er war, wäre es da nicht lohnend, sich zuvor hiervon [6] klar zu überzeugen, oder aber, ganz von aller Wirklichkeit absehend, geradeheraus zu erklären, daß Sie für Ihre Person Ihre Liebe zu Wagner davon abhängig machen, daß er als Kommunalgardist im 4. Bataillon, die Muskete schulternd, auf den Dresdener Barrikaden gestanden habe? Mit demselben Recht könnten Sie Bülow als ›Gewährsmann‹ dafür anführen, daß der Meister während des Dresdener Aufstandes offizieller ›Schriftführer der provisorischen Regierung‹ gewesen sei oder vom Balkon des Dresdener Rathauses eine hinreißende Ansprache an das Volk gehalten habe; denn auch diese damals die Luft durchschwirrenden Gerüchte, ersteres durch J. Rietz am Konservatorium kolportiert, klingen in ebendenselben Briefen des jungen Künstlers wieder. Zu der hiermit aufs neue beschworenen geschichtfälschenden Gruppe oder Partei (!) gehören jedenfalls die nachweislich besten Kenner von Wagners Wesen und Werken; auf alle Fälle auch der HerrDr. Dinger, der in seinem Buche über ›Richard Wagners geistige Entwickelung‹ mit ›aktenmäßiger‹ Exaktheit konstatiert, es fehle den nachweisbaren Handlungen Wagners während jener erregten Maitage an dem entscheidenden verbindenden Grundzug, es handle sich dabei nur um zerstreute Momente, die, mosaikartig aneinandergereiht, dennoch nicht das Gesamtbild einer aktiven Beteiligung an jenen Vorgängen ergäben.1 Bleibt demnach für den Musketen-Wagner und Barrikadenstreiter, nächst dem Phantasiebilde des jungen Bülow, nur ein ›Gewährsmann‹ übrig, mit dem es nachgerade nicht mehr als sehr ehrenvoll gelten kann, Hand in Hand zu gehen. Der neunzehnjährige Bülow ist in seinen praktisch-politischen Ansichten wenigstens konsequent; was er – nach seiner Auffassung der Dinge – dem Meister zumutet, würde er an Ort und Stelle selbst getan haben. ›Der Einzelne, selbst der bedeutendste, größte Mann‹, sagt er in denselben Maibriefen, ›darf sich nicht so hoch schätzen, daß er zu gut für Kanonenfutter sei; wenn nun Jeder also denken wollte! Wo wäre dann ein Schimmer von Aufopferung!‹ Man vergegenwärtige sich doch nur für einen Augenblick den Schöpfer des ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹, mit seinem ›Siegfried‹ im Kopfe und im Herzen, eine ganze noch unerschaffene Welt in seinem Innern, sich aus ›Aufopferung‹ für die Frankfurter Verfassung (oder ein beliebiges anderes, endliches und unzulängliches politisches Ideal!) als ›Kanonenfutter‹ darbietend!

Auf welche Weise der Künstler, schöpferisches Leben in allen Nerven und Fasern seines Wesens, und durch erstarrte und verknöcherte Institutionen in [7] jeder Bewegung, in seinem besten und größten Wollen gehemmt, einzig seine Kunst im Auge, Schritt für Schritt bis zu dem Punkte gedrängt wurde, wo er die Notwendigkeit einer hereinbrechenden, durchgreifenden Revolution ›vollkommen zu erkennen imstande war‹, – das ist nun aber für die uns beschäftigende Periode im Leben Wagners das besondere Thema des Biographen und Historikers. Hat er sich in dieser Erkenntnis geirrt? War die von ihm vorausgesehene Revolution darum minder notwendig, weil sie in wesentlich anderer Gestalt als allmählicher Umbildungsprozeß sich vollzogen hat und noch ferner vollzieht?2 Die eingehende Darlegung jener Verhältnisse, nebst allen damit verbundenen nachweisbaren Tatsachen, bildet einen wesentlichen Bestandteil unseres dritten Buches; und auch hier ist an ausführlicher Schilderung des geschichtlichen Hintergrundes nicht gespart worden. Ist es doch charakteristisch, daß gerade die faktische Dresdener Katastrophe mit seinen Zielen, ja mit seiner Vorstellung von einer allgemein menschlichen Sozialrevolution so äußerst wenig gemein hatte, daß nur ein menschlich-persönliches Interesse ihn in teilnehmender Beobachtung bis zum letzten Moment an den Schauplatz dieser Kämpfe fesseln konnte. Die Dresdener Maierhebung hatte den ausgesprochenen Zweck, die Regierung zur Annahme der Frankfurter Märzverfassung zu zwingen, beziehungsweise die Auflösung des Landtages rückgängig zu machen, der die zur Annahme jener Verfassung erforderliche Majorität vereinigte. Die Auflösungsmaßregel war ein Geschoß des Herrn von Beust (der einige Monate zuvor seine unheilvolle staatsmännische Tätigkeit in Sachsen begonnen hatte) gegen die Majorität des Märzministeriums; auch das Blutbad in den Straßen der Residenz war eingeständlich das absichtlich herbeigeführte Werk seiner Staatskunst, womit er die Reformpartei zu schwächen hoffte.3 Nun konnte wohl in späteren Jahren ein größerer Staatsmann, der Wiederhersteller deutscher Einheit, eben jene, damals bestrittene Verfassung als vollkommen geeignet für ein geeinigtes Vaterland erklären, – was in aller Welt ging aber den Dichter des ›Siegfried‹, den Denker des ›Kunstwerkes der Zukunft‹ der noch so gesinnungstüchtige sächsische Landtag, was die Paragraphen einer solchen ›Verfassung‹ [8] an? ›Wie nutzlos würde eine Verfassung dem jetzigen Zustande Deutschlands gegenüber sein!‹ hatte er noch kurz zuvor aus voller Überzeugung ausgerufen. Wäre für ihn, wie für die politischen Revolutionäre jener Tage, die Verfassungsfrage oder die ›Republik‹ das Höchste gewesen, hätte die heilige Sache der Kunst für ihn mit der mißglückten speziellen politischen Erhebung im Königreich Sachsen in tieferem Zusammenhang gestanden, so hätte er wahrlich keine Ursache gehabt, seine Stimme nach erfolgter Niederwerfung jener Bestrebungen noch nachträglich und nun erst recht zu erheben, wie er es in seinen Züricher Schriften tat. Das Fehlerhafte der Auffassung liegt eben darin, daß man zum Verständnis seines Wollens nicht seine eigenen offenen Erklärungen heranzieht, sondern auf den dunklen Umwegen des Dresdener Aktenklatsches (oder anderweitig aufgewärmter Gerüchte) zu erspüren sucht, was dort nirgends geschrieben steht und was hingegen der Künstler selbst laut und vernehmlich in jenen Schriften verkündet.

Was etwa Greifbares über Wagners persönliches Verhalten während der Dresdener Katastrophe aus den Kgl. Sächsischen Gerichtsakten gewonnen werden kann, hat Dr. Dinger in seinem Buche vorläufig mit erschöpfender, nicht selten sogar über das Ziel hinausschießender Vollständigkeit reproduziert und sich damit unzweifelhaft ein Verdienst erworben, für das ihm gerade der Biograph dankbar zu sein hat. Beklagenswert bleibt an dem sonst reichhaltigen Buche die gänzliche Abwesenheit einer freimütigen Erfassung seines Gegenstandes; bei aller Leichtfertigkeit des Urteils liegt ein dumpfer akademischer Druck auf dem seltsamen Buche dieses jungen Gelehrten; vor lauter Seitenblicken, Um- und Abwegen bringt er es nicht zu einem einzigen offenen Blick in das Herz seines Gegenstandes, in die wahrhafte Natur des von ihm geschilderten Künstlers, und scheint im eifrigen Nachbeten der landläufigsten politischen und akademischen Zeitansichten in jeder Zeile nur an die Zufriedenheit seiner Professoren zu denken, denen er die äußeren Allüren einer, leider nicht mit Glück von ihm in Anwendung gebrachten, wissenschaftlichen ›Kritik‹ verdankt. Mit solcher äußerlich angelernter Pseudokritik, die sich seltsamerweise gerade dahin niemals richtet, wo sie wirklich am Platze wäre, erweist sich ein solcher Autor bei allem anerkennungswürdigen Ehrgeiz, der Vorbote einer künftigen ›Wagner-Forschung‹ zu sein, mit all seinem, Fleiß doch als ein sehr verspäteter Nachzügler überwundener Anschauungen. Wirklich ist es, als hätten alle aufgesammelten Residuen des Dresdener Personalklatsches nur auf eine solche Gelegenheit gewartet, um durch diesen Kanal als schätzbares ›biographisches Material‹ widerstandslos an eine verwunderte [9] Öffentlichkeit zu gelangen Nirgends tritt in seinen künstlichen Periodisierungen der einheitlich kraftvolle Gedanke Wagners deutlich zutage; überall wird er – auch bei wörtlichen Zitaten – durch die Zwischenreden banaler Allerweltsweisheit in tausend Splitter zerbrochen. Nichts konnte die Sterilität dieser Art von ›Forschung‹ heller ans Licht setzen, als der Kontrast des kürzlich erschienenen, recht aus dem Ganzen und Vollen geschöpften großen Wagnerwerkes von Houston S. Chamberlain Durch und durch klar und scharf konzipiert und ausgeführt, das Produkt eines selbständigen und unabhängigen Geistes, erweist es wiederum über jeden Zweifel, daß eine adäquate Erfassung des Großen im tiefsten Grunde doch immer nur in der unbezwingbaren Freiheit der Persönlichkeit wurzelt. Wer diese nach irgendeiner Richtung hin preisgegeben oder sie niemals besessen hat, sollte sich an alles andere eher, als – durch einen gewissen jugendlichen Enthusiasmus dazu verführt – an den unglücklichen Versuch einer Darstellung des Genius in seiner ›geistigen Entwickelung‹ machen – Dagegen ist nun das zuletzterwähnte freie und große, in jeder Hinsicht vornehme Werk ein ermutigendes Beispiel dafür, daß es inmitten jener beschämenden Sterilität der spezifisch deutschen ›Wagner-Literatur‹ doch noch möglich ist, eine weit umfassende wissenschaftliche Bildung mit echt künstlerischem Gestaltungsvermögen gepaart zu finden. Es war für den Verfasser ein erhebendes Gefühl, zwischen dem Erscheinen seines ersten und zweiten Bandes, also in den ersten verzögerten Anfängen seiner Arbeit, einen so verheißungsvollen Schritt geschehen, jenem seichten Akademismus gegenüber eine männliche Künstlernatur an der immer noch offenen Aufgabe ihre Kraft messen zu sehen. Chamberlain ist bekanntlich, nach mehrfachen sehr beachtenswerten und allgemein beachteten rein ästhetischen Arbeiten über das Kunstwerk Wagners, in französischer wie in deutscher Sprache, in dem ersten Teil seines Buches erst spät auf das rein biographische Gebiet übergetreten; bewunderungswürdig bleibt dabei neben aller Schärfe und Klarheit seiner Auffassung seine ungemein sichere Beherrschung des Tatsächlichen, die makellose Präzision und Exaktheit der von ihm angeführten Daten. Man empfindet es als unbedingt rühmlich und ehrenvoll, einen solchen Mitstrebenden nach dem gleichen Ziele zu haben Chamberlains Buch erschien in der Weise gleichzeitig mit dem vorliegenden Bande, daß dessen erste Hälfte bereits gedruckt war, als dem Verfasser durch private Mitteilung die ersten Druckbogen des Chamberlainschen Buches zugingen, auf die zweite Hälfte ist es, wie man sich an mehreren Orten überzeugen wird, nicht ohne direkte Einwirkung geblieben. Der Unterschied beider Arbeiten – wir haben hier lediglich den ersten, biographischen Teil [10] im Sinne – läßt sich dahin zusammenfassen, daß Chamberlain das Bild des Künstlers nach seinem eigenen Ausspruch von innen aus zur Darstellung gebracht hat, während wir uns bescheiden, es von außen zu erfassen; es überwiegen demnach in seiner Darstellung die Selbstzeugnisse Wagners in seinen Schriften und Briefen, während wir bei ergiebigster Benutzung dieses unentbehrlichsten Mittels für die Erkenntnis, nach bestem Vermögen versucht haben, die Zeugnisse Anderer über ihn, nach sorgfältig kritischer Prüfung im Einzelnen und im Ganzen, mit einiger Vollständigkeit zusammenhängend zur Kenntnis zu bringen. Wie weit wir hierin gegangen sind, beweist das ausführliche Zitat aus Hanslick auf S. 166/67, das wir, aufrichtig gesagt, schon wieder aus dem Kontexte herauswünschten, dem es durch seine Inhaltslosigkeit nicht eben zur Zierde gereicht, – offenbar dürfte es manchem Leser ebenso gehen.4 Bedauerlich war es uns, die Bülowschen Briefe nicht schon während der Entstehung dieses zweiten Teiles unserer Arbeit, sondern erst gegen den Schluß desselben und im Anhange benutzen zu können.

Eine fernere erfreuliche Tatsache zwischen dem Erscheinen des vorliegenden Teiles und seines Vorläufers ist die im Vorworte dieses letzteren auch von unserer Seite her befürwortete definitive Zurückziehung des Prägerschen Buches aus dem Buchhandel, so daß es hinfort nicht mehr (wie noch bis zum ersten Drittel dieses gegenwärtigen Bandes) als existierend zu betrachten ist.5 Gar seltsam hat es uns berührt, die Benützung einiger nicht erfundener, eben nur an dieser Stelle überlieferter Züge (in unserem ersten Bande) uns zum Vorwurf gemacht oder – von anderer Seite her – als moralische Deckung jenes Buches und Beleg dafür angeführt zu sehen, daß doch Etwas daran sein müsse. Der jedenfalls nicht sehr helle Kopf, aus welchem die letztere Kombination hervorging, hat offenbar die angeführte Stelle jenes unseres Vorwortes nicht in Betracht gezogen. Die dort erwähnten Züge werden fortleben, auch wenn die letzte Erinnerung an ihre [11] Herkunft ausgelöscht sein wird, und glauben wir uns demnach, da nur wir (nebst wenigen anderen Wohlunterrichteten) uns dazu ermächtigt fühlen konnten, durch ihre Überführung in einen ihrer würdigeren Zusammenhang ein besonderes Verdienst erworben zu haben, – was sich z.B. mit dem eben erwähnten Zitate aus Hanslick ganz anders verhält, selbst wenn dieser Schriftsteller noch in letzter Stunde zur nachträglichen Zurückziehung jeder von ihm geschriebenen Zeile freiwillig sich entschließen sollte.

Nun, nur der künstlerische Genius schafft Vollendetes; dem Werke der Wissenschaft, der ›suchenden, forschenden, daher willkürlichen und irrenden‹ (›Kunstwerk der Zukunft‹, I, 2) wird stets der ›Erdenrest‹ anhaften, der ihm das erreichte Ziel alsbald wieder nur als Anfang erscheinen läßt, und so zu immer erneuter Umgestaltung und Läuterung treibt. Vor zwanzig Jahren, gleichzeitig mit der ersten grundlegenden Festspielaufführung des ›Ringes des Nibelungen‹, trat dieses Buch in seiner frühesten, mannigfach unvollkommenen Gestalt zuerst an das Tageslicht. Ein ungemeines Geschick hat es dem Werke des Meisters gegönnt, auch über die Grenze seines eigenen persönlichen Daseins hinaus in dem seither verflossenen Jahrzehnt, allen äußeren Anfechtungen zum Trotz, als dauernde Institution zu vollem wirkenden Leben zu gelangen. Nach zwanzigjährigem Schlummer wird nun auch der ›Ring‹, der einst die Bayreuther Festspiele eröffnete, zu neuer, tönender und sichtbarer szenischer Gestaltung erwachen. Wer fühlte nicht, angesichts eines solchen Momentes, sein Herz höher schlagen! Die Feier einer solchen Wiederauferstehung ist wohl geeignet, über alle literarischen Unzulänglichkeiten zu erheben. Heil den wirkenden Kräften, die auf den Karfreitagmorgen des Weihefestspieles nun auch diesen Ostertag deutscher Kunst ermöglicht und herbeigeführt haben!


Riga, im Juni 1896.


Fußnoten

1 Wir können nicht wörtlich zitieren, da uns das Dingersche Buch augenblicklich nicht zur Hand ist; aber der Sinn der Worte ist treu wiedergegeben.


2 Man vergleiche dazu den Aufsatz des erfahrenen und kenntnisreichen Dr. Gustav Schönaich: ›Richard Wagner und der Maiaufstand in Dresden 1849‹ in der vortrefflich redigierten Wiener ›Neuen Musikalischen Presse‹ IV. Jahrgang 1895, Nr. 50, S. 2/4. Er schließt seine sehr lesenswerten Ausführungen mit den vielsagenden Worten: ›Der Sinn, in dem sich Wagner der Bewegung des Jahres 1849 anschloß, weist auf eine Zukunft hin, die kommen wird, wenn auch der heutige Zustand ihres Werdeprozesses ihre Gestalt noch nicht erkennen läßt.‹


3 S. 351 dieses vorliegenden Bandes.


4 Es ist schließlich doch auch in der vorliegenden fünften Ausgabe (S. 193/94) vorläufig noch ungetilgt geblieben!


5 Es geschah nach bereits erfolgter stillschweigender Zurückziehung, daß die Verlagsbuchhandlung von Breitkopf und Härtel, in Anlaß eines ohnmächtigen Rehabilitierungsversuches, am 29. März 1895 die folgenden Zeilen an Herrn H. S. Chamberlain richtete: ›Wir ermächtigen Sie zu der Erklärung, daß wir Prägers Werk im Sommer 1894 aus dem Buchhandel zurückgezogen haben, sobald uns die Unwahrhaftigkeit dieser Veröffentlichung erwiesen worden war. Wir sind Ihnen dankbar gewesen, daß Sie uns seinerzeit den Sachverhalt nachgewiesen haben, denn selbstverständlich wollen wir in unserem Verlage kein Werk dulden, das die Wahrheit entstellt.‹

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 3-12.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Brachvogel, Albert Emil

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.

68 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon