VI.

[200] Am Weihnachtsabend 1854 hatte Joachim dem Freunde versprochen, bei seiner Majestät in Hannover zu befürworten, daß Brahms die durch Ehrlichs Abgang erledigte Stelle eines königlichen Hofpianisten übertragen werde. Aber so wenig Bülow vorher dasselbe Ziel erreichte, so wenig gelang es, Brahms dazu zu verhelfen. Sein »horribles« es-moll-Scherzo hatte einen zu beängstigenden Eindruck bei dem Könige hinterlassen, um diesen der Fürbitte Joachims geneigt zu machen, und Brahms blieb vorläufig in seinen beschränkten Düsseldorfer Verhältnissen.

Um sein stolzes Unabhängigkeitsgefühl, das er noch gegen Hedwig Salomon herausgekehrt halte, war ihm bange geworden. Mit Sorgen dachte er an die Zukunft. Was andern so leicht gelang, schien ihm versagt zu sein. J.O. Grimm hatte sich in Hannover als Klavier- und Gesanglehrer niedergelassen, mit der Anwartschaft auf ein musikalisches Amt in Göttingen; er übernahm dort einen Gesangverein1. Dietrich trat um dieselbe Zeit in Bonn als Musikdirektor an Wasielewskis Stelle, der nach Dresden ging. Brahms kam bei alledem gar nicht in Betracht. Er würde diese und andere Zurücksetzungen noch schmerzlicher empfunden haben, wenn er nicht seine Mission im Schumannschen Hause zu erfüllen gehabt hätte.

Sein erstes Geschäft im neuen Jahre war ein Besuch bei Robert Schumann in Endenich. Er wollte es auch so gut haben, wie sein Freund Joachim und dem teuern Meister von Angesicht zu Angesicht begegnen, um womöglich Frau Klara, die sich wieder [200] zu einer Konzertfahrt rüstete, neuen Trost als kräftigsten Segen auf die Reise mitgeben zu können. Der Eindruck, den er von dem Kranken empfing, war ein sehr zweifelhafter. Günstige Anzeichen wurden von bedenklichen Symptomen verdrängt. Zwar durfte Brahms volle vier Stunden bei Schumann bleiben, ihm vormusizieren, vierhändig mit ihm spielen, und Schumann, der sich gar nicht von ihm trennen mochte, begleitete ihn bis Bonn, wo er ihn zum Münster und an das Beethoven-Denkmal führte. Aber Brahms konnte doch nicht vergessen, daß Schumann in der ersten Viertelstunde ihrer Zusammenkunft mit schauerlicher Eile und Angst von dem sprach, was ihm die Stimmen zuflüsterten oder die Ärzte gesagt hatten, und daß er beides verwirrte. Dabei sprach er mit vorgehaltener Hand und so schnell, daß Brahms nicht viel verstand. Den schlechteren Teil seiner Beobachtungen behielt der nach Düsseldorf Zurückgekehrte für sich und berichtete Frau Schumann nur, wie lieb und freundlich ihr Gatte sich nach allem erkundigt, und mit welcher Wärme er immer wieder von ihr gesprochen habe. Im Februar machte er Schumann einen zweiten Besuch und hatte die Freude, daß ihm der Kranke folgende Desiderata eigenhändig mit Bleistift in sein Taschenbuch schrieb: »Signale–Halstuch–Gesänge von Maria Stuart–Gesänge der Frühe op. 133 – Konzertstück op. 134 – Johannes Brahms gezeichnet.« (Das Laurenssche Bild.)

Nach Klaras Abreise wurde dem Verlassenen so weh ums Herz, daß er nicht anders konnte, als ihr tags darauf nach Rotterdam nachzufahren, um sie noch einmal zu sehen. Diese Reise kostete ihn seinen letzten Taler, und er wollte jetzt, wie er an Joachim schreibt, »eine große Talersammlung« anlegen, um seine Schulden zu bezahlen. Auf welche Weise? Durch Lektionen. Er unterrichtete eine kleine Miß und noch ein anderes Fräulein – Cramersche Etuden und Tonleitern wurden in klingende Münze umgesetzt. Wenn er nur mehr Schülerinnen bekäme! Vier Stunden in der Wochen trugen wenig ein. Mit seinen Kompositionen hielt Brahms zurück; sie dünkten ihm nach den Variationen nicht reif, nicht bedeutend genug, und er wollte Besseres schaffen, ehe er ein neues Opus drucken ließ. Außer den unveröffentlicht gebliebenen »Blättern aus dem Tagebuche eines Musikers« und den Bach-Imitationen [201] (»Sarabande und Gavotte«) scheinen damals noch Stücke für Violoncello oder Violine und Pianoforte entstanden zu sein. Wenigstens erkundigt sich Schumann am 11. März 1855 nach ihnen. Er weiß nicht genau, ob sie »Phantasiestücke« heißen. »Über eines, das letzte, bin ich im Zaudern, obgleich es mir das bedeutendste scheint; es geht aus D-dur, das erste Trio in A-dur mit wunderbaren Bässen (das Violoncell klang sehr gut, die Violine aber nicht).« Selbst in seiner Endenicher Klausur suchte der Unglückliche noch für seinen Liebling zu sorgen, dessen Bild er jetzt wieder über dem Schreibtische hängen halte; er wollte Ur. Härtel auf die »Balladen« aufmerksam machen und widmete dem Freunde das Konzert-Allegro op. 134. Brahms dankte ihm dafür im folgendem Schreiben:


»Lieber verehrter Freund!


Ich muß Ihnen selbst meinen Dank sagen für die große Freude, die Sie mir machen durch die Widmung Ihres herrlichen Konzertstückes. Wie freue ich mich, so meinen Namen gedruckt zu sehen! Noch besonders dann, daß mir wie Joachim2 ein Konzert gehört. Oft sprachen wir über beide, und welches uns wohl das liebste – wir haben es nicht herausgekriegt.

Mit Wonne gedenke ich noch der kurzen Stunden, die ich bei Ihnen sein durfte, sie waren so schön – aber entschwanden gar so schnell. Ich kann Ihrer Frau nicht genug davon erzählen; doppelt glücklich macht es mich, daß Sie mich so freudig und gütig empfingen und jetzt noch mit so viel Liebe der Stunden gedenken.

So werden wir Sie immer öfter und schöner wiedersehen, bis wir Sie wieder besitzen.

Den Katalog (die Zeitfolge der Entstehung), wie Sie wünschten, habe ich Ihrem Abschreiber (Fuchs) gebracht.

Der Brief von Jenny Lind, meine ich, wird Ihnen wohl im Original lieb sein. Die Handschrift ist es wohl, welche Sie wünschen, denn was drin steht, brauche ich Ihnen doch nicht erst aufzuschreiben.

[202] Das neue Werk von Bargiel legen wir bei, es wird Ihnen wohl wie uns große Freude machen; ein bedeutender Fortschritt ist es doch von op. 8 bisop. 9. Beide sind Ihrer Frau gewidmet; das täte ich auch gern immer, ich möchte nur mit den Namen Joachim und Klara Schumann abwechseln, bis ich den Mut hätte, Ihren Namen einmal hinzusetzen; der wird mir wohl so bald nicht kommen.

Nun leben Sie recht wohl, teurer Mann, und denken Sie zuweilen in Liebe Ihres Johannes. Düsseldorf im Januar 1855.

Erinnern Sie sich, daß Sie mich schon im vorigen Winter zu einer Ouverture zu ›Romeo‹ ermunterten. Übrigens habe ich mich vergangenen Sommer an einer Symphonie versucht, den ersten Satz sogar instrumentiert und den zweiten und dritten komponiert. (In d-moll 6/4 langsam).«


Mit der »Symphonie« kann nur das Klavierkonzert gemeint sein, das also, wie aus dieser Briefstelle deutlich hervorgeht, noch immer symphonischer Embryo war.

Hieher gehören noch die beiden folgenden Briefe, die Johannes nach Klaras Abreise nach Endenich abschickte:


»Lieber verehrter Freund!


Ich schicke Ihnen hier die gewünschten Sachen: eine Halsbinde und die Signale. Für erstere muß ich verantwortlich sein; da Ihre Frau in Berlin, so galt meine Entscheidung. Wenn sie Ihnen nur recht ist und nicht zu hoch?

Die Signale schicke ich Ihnen vom vorigen Jahre mit, es fehlen einige Nummern, wir haben wohl nicht genug darauf geachtet. Von jetzt an sollen Sie sie regelmäßig haben.

Ich kann schon jetzt die bestimmteste Versicherung geben, daß Herr Arnold Ihre Korrektur der ›Gesänge der Frühe‹ bekommen hat. Daß er mit der Herausgabe so lange zögert, hat wohl einen andern Grund.

Ob Ihnen denn der weite Spaziergang mit mir gut bekommen ist? – Ich denke doch. Mit welcher Wonne denke ich an den schönen Tag, selten war ich so überglücklich! Ihre liebe Frau habe ich recht beruhigt und erfreut durch meinen seligen Brief.

[203] Viele Grüße an Sie sind mir aufgetragen von allen Ihren Freunden hier. Den Ihrer Kinder und Fräulein Berthas will ich besonders nennen.

Möge es Ihnen gut gehen und Sie sich einmal in Liebe erinnern


Ihres

Johannes.«

Düsseldorf, im Februar 1855.


Die Korrekturen der letzten Schumannschen Werke gingen alle durch Brahms' Hand, und die Verzögerung hatte ihren Grund in der großen Gewissenhaftigkeit des Korrektors. Auch die seiner Klara gewidmete (Brahmssche) fis-moll-Sonate wünschte Schumann zu haben. Brahms schreibt ihm im März:


»Verehrter Meister!


Sie werden sich recht verwundert haben, daß ich von einer fis-moll-Sonate schrieb, die mitkommen sollte, und keine da war. Ich hatte heute früh ganz vergessen, sie beizulegen.

Hier sende ich sie mit den Liedern und Chören der ›Maria Stuart‹.3 Ich denke, das ist Ihnen lieb. Sie schrieben öfter davon.

Ihre Frau schreibt mir soeben ganz beglückt von Ihrem Brief; sie will Ihnen wunderschönes Notenpapier schicken. Ich bin wohl rasch gewesen, aber nicht so zärtlich, nur Frauen machen doch alles schnell und schön, zart zugleich.

Mit dem herzlichsten Gruße


Ihr

Johannes Brahms.«


Seine Besuche in Endenich konnte Brahms nicht fortsetzen; der Arzt riet davon ab, da der Kranke nach den Begegnungen mit den Freunden und besonders nach dem zweiten Abschied, den er von Brahms genommen halte, sehr aufgeregt und verstimmt zugleich war. Gerüchte davon drangen in die Öffentlichkeit. In Düsseldorf verzweifelte man bereits an der Wiederherstellung Schumanns, und der »Verwaltungsausschuß« glaubte auch den Schein, als wäre ihm an der Rückkehr des ehemaligen Musikdirektors viel gelegen, nicht mehr wahren zu müssen, sondern [204] beschäftigte sich ganz offen mit der Frage, wer engagiert werden sollte. Im März publizierte der Magistrat zufolge eines Gemeinderatsbeschlusses ein Konkurrenzausschreiben. Für ein Einkommen von fünfhundert Talern halte der städtische Musikdirektor jährlich drei musikalische Messen in den Hauptkirchen Düsseldorfs zu dirigieren. Für die Leitung der Winterkonzerte bezog er ein besonderes Gehalt aus der Kassa des Allgemeinen Musikvereines. Der Posten war also nicht schwer und für die damalige Zeit sehr gut dotiert. Es fanden sich denn auch Bewerber in Menge ein. Schumann selbst hätte, als er ungeduldig daran dachte, sein Amt niederzulegen, Brahms gern als Nachfolger gesehen, wenn er den Zeitpunkt seiner definitiven Abdankung auch nicht so nahe glaubte, wie er tatsächlich gewesen war. Von Endenich schreibt er dem jungen Freunde im März 1855: »In den Signalen hab' ich gelesen, daß die städtische Verwaltung in Düsseldorf ein Konkurrenz-Ausschreiben nach einem neuen Musikdirektor gestellt. Wer könnte der sein? Sie nicht?« – Brahms befand sich in prekärer Lage. Wäre ihm die Stelle angeboten worden, so hätte er mit beiden Händen zugegriffen, um sich mit einem Schlage aus allen drückenden Verlegenheiten zu befreien und ein Amt zu erhalten, das ganz seinen damaligen Wünschen und Bedürfnissen entsprach. Als Bewerber auftreten aber konnte er, durfte er nicht, aus Rücksicht auf den unglücklichen Freund und dessen schwergekränkte Gattin. Nur aus Klaras Hand wollte er das Dekret empfangen, und Frau Schumann schmeichelte sich, in diesem Fall als gütige Fee auftreten zu dürfen. Aber sie überschätzte den Einfluß, den sie in Düsseldorf besaß, und verrechnete sich, als sie auf die Dankbarkeit derer zählte, denen ihr Mann die letzten Kräfte seines erlöschenden Lebens und den Ruhm seines Künstlernamens geliehen hatte. Ihr Schützling würde das Direktoriat auch dann nicht bekommen haben, wenn er öffentlich darum petitioniert hätte. Denn unter den ausschlaggebenden Persönlichkeiten stand es längst fest, daß Julius Tausch, der als Dirigent der Künstler-Liedertafel und des Männergesangvereines einen großen Anhang hatte, vom Stellvertreter zum Nachfolger Schumanns aufrücken sollte, und mit dem Ausschreiben der Konkurrenz wurde lediglich dem Statut genügt Für das Düsseldorfer Publikum war der von Schumann feierlich der [205] Welt verkündete Messias der Musik nichts als ein einfacher Klavierlehrer, der froh sein mußte, wenn ihm ein paar mittelmäßig bezahlte Lektionen zugewiesen wurden. Nur wenige, die den schmächtigen Jüngling näher kannten, schätzten ihn seines lauteren Charakters und seines Genies wegen, die Mehrzahl lieh den gehässigen Angriffen der am Rhein vielgelesenen »Süddeutschen Musikzeitung« ihr Ohr, welche für andere rheinische Tages-und Wochenblätter in dergleichen Dingen den Ton angab.

Die »Süddeutsche Musikzeitung« war 1852 von Schotts Söhnen in Mainz ins Leben gerufen worden und diente als weithin tönendes Organ ihres Musikalienverlags. Ihre Opposition zu dem norddeutschen Musikwesen, das in den Leipziger Verlagsstätten und deren Filialen wurzelte, hatte sie in eine animose Stimmung gegen Mendelssohn und Schumann hineingetrieben, und Schumanns Alarmartikel »Neue Bahnen« bot ihr willkommene Gelegenheit, gegen den Meister und seinen vermeintlichen Schüler loszuziehen. Schon in ihrer »Neujahrsbetrachtung« von 1854 war sie bemüht gewesen, beide nach Kräften herabzusetzen. Der Verfasser der »Betrachtung« bemerkt zu einem Zitat aus Mendelssohns Gesprächen mit dem »Wohlbekannten«4: die Ansicht, man könne unbedeutend scheinenden Gedanken durch Hin- und Herwenden und Aufputzen zu Ansehen verhelfen, sei eine verkehrte. Mendelssohn werfe hier Schaffen und Machen durcheinander. Freilich gegen das kuriose Bekenntnis von Berlioz (»Fliegende Blätter« V.) und gegen die Anpreisung einer neuen Größe von Schumann sei Mendelssohn »ein wahrer Weiser voll Sachkenntnis und Manneswürde – zwei Tugenden, die, wie es scheint, diesen Beiden und vielen Anderen fast ganz abhanden gekommen sind.« Und nach dem Erscheinen der Brahmsschen C-dur-Sonate schreibt dieselbe Feder, es könne einem bei der Formlosigkeit und »genialen« Zerrissenheit der Komposition um die Zukunft des jungen Mannes bange werden. Leider sei die Manier, in welcher er von seinen Beschützern gepriesen werde, nicht geeignet, ihn, wenn nicht auf »neue Bahnen«, so doch auf bessere zu bringen. Diese Plänkeleien waren indessen nur das Vorpostengefecht zu dem Hauptangriff, zu welchem die [206] »Süddeutsche Musikzeitung« im Mai 1854 überging. Der anonyme Verfasser einer durch drei Nummern des Blattes fortlaufenden Kritik von opus 1–4 von Johannes Brahms gibt sich den Anschein rücksichtsvoller Gerechtigkeit, wenn er sagt, Schumann stehe bei dem »beklagenswerten« Schicksal, das ihn betroffen, »augenblicklich außer dem Bereiche des Tadels;« daher wolle er von der unpassenden Art und Weise absehen, »wie Herr Brahms sich einen Namen zu verschaffen gesucht hat, bevor er öffentlich auf irgend etwas Anspruch hatte.« Im Leser soll durch diese nichtswürdige Finte die Vorstellung erweckt werden, Brahms habe den unglücklichen Schumann dazu mißbraucht, für seine Person die schamloseste Reklame zu machen. Der früher gerügte Mangel an Manneswürde fällt nunmehr auf den zwanzigjährigen Jüngling zurück; dank Schumanns Unzurechnungsfähigkeit habe er die Verantwortung für das Geschehene fortan allein zu tragen. Das ist des Teufels Logik.

Nach dieser Probe des Wohlwollens kann man sich ungefähr denken, wie die Beurteilung der Brahmsschen Sonaten op. 1 und 2, der ersten sechs Gesänge und des es-moll-Scherzos, ausgefallen ist. Sie kommt einer radikalen Abschlachtung völlig gleich, und das wehrlose Schlachtopfer muß sich verhöhnen und mißhandeln lassen, ehe ihm der Gnadenstoß versetzt wird. Aber was die »Süddeutsche Musikzeitung« tat, war noch ehrlich gegen die Art, wie die »Neue Zeitschrift für Musik« mit Brahms vorfuhr. Brendel gab sich den Anschein, als wollte er für den so ungerecht Angegriffenen eintreten und schickte am 7. Juli 1855 Hoplit, seinen Schwerbewaffneten, ins Treffen. Richard Pohl hat seinem Pseudonym nie mehr gerecht zu werden gesucht als in diesem Falle: er kam gepanzert, behelmt und geschient und holte weit aus mit der fernhin treffenden Lanze. Aber merkwürdiger Weise tat er nur so, als ob er das Geschoß abschleudern wollte, er ahmte die Geberden eines Streiters nach, ohne zu kämpfen, klirrte erschrecklich mit der rasselnden Rüstung und ging tapfer mit einer kühnen Schwenkung des Helmbusches unverrichteter Sache wieder nach Hause.

Den ersten Artikel, der von allgemeinen, meist verkehrten Sentenzen, unrichtigen Zitaten, falschen Maximen, daneben aber von [207] versteckten Bosheiten gegen den »verehrten Meister« und den »jungen olympischen Sieger« wimmelt, folgte am 8. Dezember, also genau fünf Monate später, ein zweiter, und dieser sieht dem ersten so ähnlich wie ein möglichst harmlos dreinschauender Schüleraufsatz dem andern. Wieder eine weitausholende Einleitung, wieder ein breites Hin und Her über dies und jenes, aber wieder unter der Maske gerechter Wahrheitsliebe und unbestechlicher Objektivität5 allerlei beleidigende Insulte und Verdächtigungen. Zu guter Letzt behauptet der ehrliche Schreiber, daß aus den ersten neun Werken von Brahms sich nicht erkennen lasse, ob er ein Genie oder nur ein Talent sei. »Diese Werke aber nunmehr etwas näher zu betrachten und an ihnen im einzelnen unsere Ansicht zu prüfen, sei die Aufgabe eines dritten Artikels.«– Der dritte Artikel aber erschien nicht.

Dem Anonymus der »Süddeutschen Musikzeitung« blieben die hohen Vorzüge der Brahmsschen Erstlingswerke ebenso verborgen wie dem durch eine anders gefärbte Brille des Parteihasses blickenden Kämpfen der »Zeitschrift«. Ihre Fehler verzeihen wir ihnen schon darum, weil ohne sie jene wertvollen Eigenschaften kaum vorhanden sein könnten. Betrachten wir die zehn ersten Werke des genialen Jünglings noch einmal im Zusammenhange! So verschieden sie untereinander sind, und so wenig sie sich, wie es bereits, trotz begründeter Einsprache von Hermann Kretzschmar und Deiters, traditionell geworden ist, zur charakteristischen Gruppe des Schaffens innerhalb einer bestimmten Zeitperiode vereinigen lassen, eines haben sie alle miteinander gemein, ohne deshalb in direkten Gegensatz zu den späteren Werken des Künstlers zu treten: die Unmittelbarkeit ihrer Empfindung, welche die Dauer ihrer Existenz verbürgt. Sie sind Gelegenheitsmusik, in demselben Sinne, in welchem Goethe seine Lyrik Gelegenheitsdichtung genannt hat. Schon die Art ihrer Entstehung, sofern sie sich an der Hand überlieferter Tatsachen feststellen oder auch mit einiger Sicherheit vermuten [208] läßt, weist, wie wir gesehen haben, auf persönliche Erfahrungen und bestimmte Ereignisse hin, die, sei es im Leben, sei es in der Phantasie des Tondichters, tiefere Eindrücke zurückgelassen haben. Manchmal gelingt es dem in glücklicher, harmlos kindlicher Naivetät seinen Eingebungen folgenden Komponisten nicht, das Zufällige und Nebensächliche von dem Notwendigen und Gesetzmäßigen gehörig abzusondern und auszuscheiden. Ja, es ist noch die Frage, ob er sich bei seinen ersten Instrumentalwerken, welche ihrem Stil nach eng miteinander verbunden sind, besondere Mühe gegeben hat, dies zu tun. Bunte Schlacken dünkten dem Spielseligen, dem Knabenalter kaum Entwachsenen mindestens ebensoviel wert wie das reichlich mit ihnen vermengte gediegene Gold. Wo seine schöpferische Phantasie von der engeren und kleineren, schwer zu durchbrechenden Form in Schranken gehalten wird, zeigt Johannes gleich den Meister, den selbst er in der Folge schlechterdings nicht überbieten kann. Die mittleren Sätze der Sonaten und die Lieder aus op. 3, 6 und 7 stehen fast alle auf der Höhe seiner reisen Kunst. In den größeren Sätzen, die dem Vermögen der Kombination, der Gabe der Gestaltung, der Macht, ungewöhnliche Effekte und Überraschungen hervorzurufen, den weitesten Spielraum eröffnen, verliert der junge Komponist manchmal die Klarheit und Einfachheit des Ausdrucks. Er kümmert sich nicht um Ebenmaß und Wohlklang und opfert Symmetrie und Harmonie ohne Bedenken seinen Ideen auf. Diese sind zwar, soweit sie sich in Tönen aussprechen, streng musikalischer Natur, aber sie scheinen zuweilen daneben noch einen Rest unausgesprochener (poetischer) Gedanken als Konterbande mit sich zu führen. Der junge Brahms traut seiner Melodie nicht immer die Kraft zu, alles, was sein Gemüt bewegt, herauszusingen. Noch einen Schritt weiter, und es wäre ihm wie schwächeren Talenten ergangen, die in ihrer Hilf- und Ratlosigkeit bei der Nachbarkunst ein Anlehen machen, um das augenblickliche Defizit im eigenen Hause zu decken. Immer fühlen sich jugendliche Stürmer und Neuerer durch Formen beengt, die sie nicht meistern können, und sie wähnen, selbstgefällig und unbescheiden, wie sie in der Regel sind, das vorgeschriebene Maß überschreiten oder zerstören zu müssen, weil sie es nicht auszufüllen vermögen. Das war nun bei Brahms allerdings nicht der Fall. [209] Wo er fehlte, geschah es eher aus Mangel an Selbstvertrauen, aus Furcht, die hohen, ihm vorschwebenden Ideale nicht erreichen zu können. Seine Sonaten wichen von der Schablone ab, um mißliebigen Vergleichen mit besseren auszuweichen.

Die Entwickelung, welche die Sonate von Johann Kuhnau und Philipp Emanuel Bach bis zu Beethoven genommen hat, läßt sich nur bedingungsweise als ein beständiges Fortschreiten betrachten. In der Mitte des Weges trat ein großer musikalischer Legislator auf und gebot dem äußeren Evolutionsprozesse Halt, um ihm eine neue Richtung nach innen zu geben. Bei Josef Haydn besinnt sich die Sonate, beziehungsweise die Symphonie, auf die Gliederung ihrer Form, auf die Architektonik ihres Baues, auf die logische Verarbeitung und ästhetische Bestimmung ihres Toninhalts, und bekräftigt solchermaßen ihre Eignung für die Grundlage der gesamten Instrumentalmusik. Haydns Sonate darf in den mit ihr zusammenhängenden höheren Gattungen der Kammer- und Konzertmusik als das abschließende Endergebnis hundertjähriger Versuche und Vorarbeiten betrachtet werden. Über ihr Prinzip hinaus ist noch kein Musiker gekommen und wird kaum einer kommen, so lange menschliches Denken und Empfinden sich auf einen musikalischen Gegenstand konzentrieren mag, ohne sich der Gefahr auszusetzen, im Halt- und Grenzenlosen unterzugehen. Unter den Begriff dieser Sonatenform, innerhalb deren wieder der erste Satz, das Allegro, als Fundament von unerschütterlicher Bedeutung für das ganze Gebäude ist, läßt sich alles subsumieren, was unsere klassischen Meister in zyklischer Form geschaffen haben, auch Beethovens neunte Symphonie und seine letzten Quartette, die ebenso häufig als chaotische Produkte der Willkür verschrien wie als revolutionäre Neuerungen gepriesen worden sind. Gerade sie liefern den Beweis, welche Freiheiten die Form dem Komponisten erlaubt, der sie vollkommen beherrscht. »Höchst belehrend,« schreibt Hans von Bülow, »war mir einmal der von Meister Brahms in einem Gespräche schlagend geführte Nachweis, daß Beethoven nirgends so spartanisch strenge sich an die musikalischen Formengesetze gebunden habe, als gerade in seinen phantasievollsten, originellsten letzten Sonaten und Quartetten.«

[210] Über diesen außerordentlich wichtigen Punkt wollen wir noch einem Gewährsmann das Wort geben, der vermöge seiner in die Tiefe dringenden historischen und kritischen Studien wie kaum ein Zweiter in unserer Zeit das Wesen der musikalischen Formen ergründete. Philipp Spitta, dem ausgezeichneten Biographen Sebastian Bachs, der zugleich ein seiner Kenner und geschmackvoller Beurteiler neuerer Meister war, verdanken wir einen, besonders durch seine strenge Objektivität hervorragenden, aber auch in mancher anderer Hinsicht mustergültigen Essay über Brahms.6 Da heißt es u.a.: »Viele sagen, Brahms beweise durch die Tat, daß sich in diesen (den alten) Formen ›noch‹ etwas Neues sagen lasse. Richt ›noch‹ sondern immer wird es der Fall sein, so lange unsere Musik besteht. Denn sie sind aus dem innersten Wesen derselben abgeleitet und in ihren Grundzügen gar nicht vollkommener denkbar. Selbst diejenigen, welche meinen, sie zerbrochen und damit eine befreiende Tat vollbracht zu haben, bedienen sich ihrer, wofern sie überhaupt noch irgendeinen befriedigenden Eindruck erzielen wollen. Sie können nicht anders, so lange es noch Satz und Gegensatz in der Musik gibt. Nur machen sie es viel schlechter als der, welcher die Hinterlassenschaft der Vergangenheit mit Bewußtsein und in der Absicht antritt, sie im Dienste des Schönen nach Kräften zu verwenden. Kraft freilich gehört dazu; im übrigen führen viele Wege ins Heiligtum. Weber und Schubert, Schumann und Gade haben das feste Gefüge Beethovens vielfach gelockert, und sind in der musikalischen Architektonik unzweifelhaft geringere Meister. Sie suchen diesen Ausfall durch andere herrliche Eigenschaften zu vergüten, und niemand, dem Musik mehr ist als Rechenkunst, wird Pedant genug sein, sie ihrer Schwächen halber scheel anzusehen. Nur die Annahme, als seien ihre Willkürlichkeiten die Wegweiser zu neuen höheren Zielen, ist irrig. Die Grundlagen müssen fest bleiben, auf ihnen baue ein jeder seinen Bedürfnissen gemäß. Nach Brahms werden andere kommen, die es anders machen als er. Sein Streben geht auf Konzentrierung und untrennbar festes Zusammenfügen mit all den Mitteln, welche der Tonkunst als solcher eigen sind.«

[211] Es mag einem Feuerkopfe wie dem jungen Brahms anfangs keine geringe Überwindung gekostet haben, seine gärenden Gedanken in eine Form zu zwingen, die schon zur Zeit seines Auftretens, und damals fast häufiger als heute, vielen für veraltet und abgetan galt. Aber er verschmähte es, mit jenen seit Mendelssohn, Chopin und Schumann beliebt gewordenen Bluetten der Klavierliteratur zu debutieren, die ihren Autoren so schnell die Türen der Salons öffnen. Von den Arbeiten, in denen der Kampf zwischen den strengen Forderungen seiner Kunst und den überschwenglichen Einfällen seiner Phantasie jedermann sichtbar würde, ist uns nichts erhalten geblieben, so wenig wie von den Exerzitien, die ihn als Nachahmer seiner Vorgänger kenntlich machten. Schon in seiner fis-moll-Sonate ist er ganz er selbst, wenn auch Beethovens Geist in Waffen wie Hamlets Vater im Hintergrunde vorübergeht. Die thematische Einheit der Sonate aber ist eher ein Element Bachs als Beethovens. Wir wissen von den Sonaten in C-dur und f-moll, daß ihre langsamen Sätze früher entstanden als die schnellen. Das Adagio war die Seele dieser Sonaten, die sich ihren Körper suchte, wenn sie ihn nicht bildete, wie dies bei der fis-moll-Sonate geschah, wo das Hauptmotiv nach einem Liede des Minnesängers Kraft von Toggenburg geformt worden ist. Brahms unterließ, was er bei dem nachfolgenden Werke für gut befand: er gab die Quelle seiner Erfindung nicht an. Nur seinem Freunde Dietrich vertraute er, daß, was ihn zum zweiten Satze der Sonate inspiriert hatte, das Winterlied des Toggenburgers war:


»Mir ist leide,

Daz der winter beide

Walt und ouch die heide

Hat gemachet val;


Sîn betwingen

Lât niht bluomen entspringen

Noch die vogel singen

Ir vil suezzen schal.«


Diesen Text dem Thema des Variationensatzes unterzulegen, hält noch schwerer als das Sternausche Gedicht der Melodie des Intermezzos in der f-moll-Sonate anzupassen. Wenn wir den Versuch wagen, so ergibt sich, daß auch hier, wie bei dem Andante der C-dur-Sonate (»Verstohlen geht der Mond auf«) die Verse auf einen Vorsänger mit antwortendem Chor verteilt werden müßten, etwa so:


6. Kapitel

[212] Man sieht, wie das Thema aus dem mehrstimmigen Chorgesange herausgewachsen ist, und erkennt, daß die ersten Brahmsschen Instrumentalkompositionen den Gesang, den vom Volksliede erweckten und gekräftigten Gesang, als besonderes Merkmal mit einander gemein haben. Diese Tatsache verbreitet ein neues Licht über die Schaffensweise des Komponisten. Nicht von dem seelenlosesten aller Instrumente, nicht vom Klavier ging er aus, sondern von der beseelten menschlichen Stimme, vom Ursprunge der Musik. Wie die vielgestaltige Kunst Sebastian Bachs auf der Orgel basiert, deren Pfeifen sich unter seiner Hand in lebendige Individuen verwandelten, so ruhen die treibenden Wurzeln der Brahmsschen Kunst im älteren Volksgesange. Vollgriffigkeit des gebundenen Spieles sind beiden eigentümlich, und die Polyphonie, in welcher sie einander begegnen, steht höher und erwärmt inniger als der frostige Schulmeisterwitz gelehrter Kontrapunktik, deren Kniffe sie beide im kleinen Finger sitzen haben. Fiat musica, pereat mundus! [213] wäre der passende Wahlspruch wie für den großen Thomaskantor, so auch für den Hamburger Musikantensohn. Die unnachgiebige und rücksichtslose Folgerichtigkeit seines musikalischen Denkens und Schaffens kommt in den Frühwerken von Brahms manchmal in fast erschreckender Weise zum Vorschein. Sie hält der üppigen Phantastik seines von den romantischen Dichtern befruchteten Ingeniums das Gleichgewicht und bewahrt es davor, in Unklarheit und Verworrenheit unterzugehen. Andererseits wieder hebt die poetische Leidenschaftlichkeit des »jungen Kreisler« ihn über die bei seinen Lehrern erworbenen theoretischen Erfahrungen weit hinaus und entreißt seine Musik dem Schicksal, mit den Schulbegriffen und Formeln der Grammatik zu erstarren. Der Entschluß, keine Note zu schreiben, die nicht als integrierender Bestandteil des Ganzen ihre Berechtigung nachweisen kann, so löblich er ist, hat in seiner Ausführung doch zuweilen noch etwas Steifes und Gezwungenes. Daß der junge Brahms eine solche Resolution gefaßt hatte, lehrt seine fis-moll-Sonate; aber gerade dieses eigensinnig und zäh am Thema festhaltende Werk verleitet ihn, vermöge seiner poetischen Konzeption einen Wechsel von eherner Strenge und abenteuerlicher Schwärmerei zu statuieren, der an Ausgelassenheit grenzt. Die Kadenzen und Rezitative, welche das Finale einleiten und abschließen, bemühen sich, dem Zuhörer etwas zu sagen, das kaum der Leser versteht. Man begreift schwer, warum das Thema vorbereitet, und warum es so vorbereitet werden mußte. Der Einfall, dem Minneliede, das in den letzten Veränderungen aus seiner herben Schwermut in Stimmungen übergeht, die Frost und Hitze, Erblassen und Erröten, Bitten und Drohen in jähem Wechsel bringen, einen tollen Satz auf dem Fuße (attacca) nachzuschicken, der wie im Schneegestöber mit Pferdegetrappel, Schellenklingeln und Peitschenknall dahinfährt, ist von echt Kreislerischer Genialität.

In der zweiten (C-dur) Sonate bewegt sich der Komponist um vieles freier und sicherer; er trägt seine thematische Arbeit nicht mehr so stark, so äußerlich auf; lieber versteckt er sie und tut über haupt so, als wünsche er nicht, daß groß Aufhebens mit ihr gemacht werde. Das mit dem Thema der B-dur-Sonateop. 106 von Beethoven rhythmisch verwandte Hauptmotiv des ersten Satzes ist eine Samenkapsel, die weithin ihre Fruchtkörner [214] verstreut. Allenthalben schießt die Saat in grüne Halme und geht in Blüten auf; auch das feurige Thema des Finalallegros:


6. Kapitel

ist nur eine Metamorphose des ersten Keimblattes. Nicht umsonst ist das Werk im Säemonat März geschrieben worden; es steht im fühlbaren Kontraste zu dem Novemberkinde des alten Jahres. Brahms zog es anderen seiner Jugendkompositionen vor. Von Louise Japha befragt, warum er die C-dur-Sonate als op. 1 habe drucken lassen, da doch das es-moll-Scherzo so viel älter wäre, erwiderte er: »Wenn man sich zuerst zeigt, sollen die Leute die Stirn und nicht den – Fuß sehen.«

Ins Herz aber ließ er sich erst in der f-moll-Sonate blicken. Lockerer im Gewebe als die durch thematische Arbeit fest versponnenen opera 1 und 2, gleicht sie einem lichten durchscheinenden Vorhang, dessen Zeichnung einer dunkleren Folie bedarf, um deutlich hervorzutreten. Sie verlangt, dringender als ihre Schwestern, nach einem phantasievollen, poetischen Kommentar, trägt dafür aber dem kundigen Interpreten den reicheren Lohn ein. Ihrer leichten Spielbarkeit wegen, die, bis auf einige krause Stellen in den Außensätzen, mit einem Techniker mittleren Grades vorlieb zu nehmen scheint, wird sie von unseren klavierspielenden Dilettanten bevorzugt. Aber nur einem virtuosen Pianisten, der zugleich ein Poet ist, ergibt sie sich völlig. Die Mannigfaltigkeit ihrer fünf Sätze und der Wechsel ihrer Stimmungen, welche die Nuancierung eines gefühligen Anschlages in verschwenderischer Weise begünstigt, haben ihr verhältnismäßig früh ihre sichere Stellung im Konzertsaal erobert, obwohl sie bei der Intimität ihrer feurigen und zarten Geständnisse noch weniger vor das große Publikum gehört als die anderen Sonaten. Von dem Herzensroman, den Brahms in das Werk hineingewoben hat, war schon die Rede. In ihm mag jeder ein Stück der eigenen, unvergeßbaren Jugend wiederfinden. Kecker Wagemut, welteroberndes Persönlichkeitsgefühl, daneben finstrer Trotz und scheue Empfindlichkeit, heiße Sehnsucht, selige [215] Gewißheit gewährender Liebe und dann wieder unerfüllbares Verlangen, schmerzliche Entsagung, enttäuschtes Hoffen, tiefe Grabestrauer um das verlorene Glück und endlich geklärter und gefestigter freudiger Lebenswille, der über vergängliches Wohl und Wehe hinaussteuert, höheren Zielen zu – das alles ist in den stummen Noten gebannt. DasDes-dur-Trio des Scherzos enthält eine jener beseligenden Melodien, die, wie das Gesangsthema in Beethovens f-moll-Sonate op. 57, sich zur tröstenden und schützenden Begleiterin für alle Nöte und Fährnisse des Lebens empfehlen; der prächtige, in Gegenbewegungen auf- und abschreitende Baß darf dabei nicht vergessen werden. Der Kuriosität halber sei erwähnt, daß Brahms an zwei Stellen der f-moll-Sonate sich mit Wagner berührt. Im Seitensatz des Allegros heißt es:


6. Kapitel

Da taucht einen Augenblick Elsas Blondkopf vor uns auf:


6. Kapitel

»Des Ritters will ich wahren.« Und im Des-dur-Teil des Andantes, der die innige Vereinigung der Liebenden feiert:


6. Kapitel

[216] denken wir an Hans Sachs:


6. Kapitel

»Dem Vogel, der heut sang.«7

Von dem Trio op. 8, den Variationen op. 9 und den Balladen op. 10 ist bei Gelegenheit ihres Entstehens ausführlicher die Rede gewesen. Bei den Balladen dachte sich Brahms in die Rolle eines Erzählers hinein, der seiner Freundin Klara Schumann die langen einsamen Abende verkürzt. Das Klavier dient dabei mehr als Vermittler denn als selbständiges künstlerisches Organ. Aus Luft an der Technik oder aus Verlangen, die Ausdrucksfähigkeit des Instruments zu steigern, hat Brahms erst in späteren Jahren, und auch dann nur ausnahmsweise und nebenher, sich mit der Klavierkomposition beschäftigt. In seinen Frühwerken war ihm das Pianoforte ein Notbehelf, der ihm Chor und [217] Orchester surrogierte, und seine diesbezüglichen Kompositionen, so hohe Ansprüche sie an den ausübenden Künstler stellen, sind gewissermaßen nur Präludien zu seinen großen Chor- und Orchesterwerken. Schumann hat dieses Verhältnis mehr geahnt als durchschaut, als er prophetischen Geistes dem Jüngling das Programm seiner Zukunft entrollte. Damit stimmt überein, daß Brahms trotz seiner eminenten Befähigung für manuelle Geschicklichkeit und trotz der darin erreichten Meisterschaft, die es mit jedem Virtuosen aufnahm, niemals ein eigentlicher »Klavierspieler« war. Das Instrument wurde wohl zuzeiten sein Erwerbsmittel, interessierte ihn aber, nachdem er es souverän beherrschen gelernt hatte, viel zu wenig, um ihn dauernd zu fesseln, und er bekundete für den Ehrgeiz des Virtuosen nur dort Verständnis, wo er sich, wie bei Tausig, Rubinstein und Bülow von einer hervorragenden geistigen Potenz zum Wettstreit herausgefordert fühlte. Wer ihn zu guter Stunde, am liebsten unter vier Augen, an seinem eigenen Flügel gehört hat, weiß, daß er jenen Koryphäen als Techniker gleichkam, daß er ihnen aber, was die klare Durchgeistigung und innige Beseelung des Vortrags anbetrifft, den Rang ablief. Als Brahms einmal bei Schumann Klavier spielte, trat Klara mit den Worten ins Zimmer: »Wer spielt denn hier vierhändig?« Und die Tochter einer berühmten Sängerin, bei welcher Brahms in seiner ersten Wiener Zeit viel verkehrte, ein außerordentlich sein organisiertes, reizbares Kind, sagte, als ihre Mutter einen kostbaren Konzertflügel angeschafft hatte: »Da soll Herr Brahms darauf spielen; der tut dem schönen Flügel nichts zuleide, er streichelt ihn nur.« Beide Anekdoten sind charakteristisch für die Tonfülle und Zartheit des Brahmsschen Spieles. Von einem Brahmsschen Klavierstil kann man erst bei seinem Konzert und den Händel-Variationen reden. Die Balladen, Variationen op. 9 und op. 21 (über ein eigenes Thema), welche von dem Studium des Schumannschen Klaviersatzes an vielen Stellen Zeugnis geben, bezeichnen den Übergang zu der Darstellungsweise jener und anderer aus der Natur des Instruments heraus geborener Kompositionen, bis zu dem Kompendium der modernen Klaviertechnik, das Brahms in seinen Variationen über ein Thema von Paganini geschaffen hat.

Spricht Brahms also in den Instrumentalwerken der Frühzeit [218] nicht überall und immer seine eigene Sprache, und erhält diese, wo er sie spricht, öfters gleichsam einen fremden Akzent, so redet er in den Liedersammlungen von op. 3, 6 und 7 desto natürlicher, ungezwungener und überzeugender. Hier vernehmen wir den geborenen Lyriker, den tiefsinnigsten, vielseitigsten, gemütreichsten und ausdrucksvollsten, den die Deutschen neben Franz Schubert und Robert Schumann haben. Bei Schubert wurde alles zum Gesange, was er anrührte; er komponierte, was ihm just in den Weg kam: Goethe und Mayrhofer, Schiller und Kosegarten, Klopstock und Rellstab, Müller und Schulze. Kein Text war ihm zu spröde, keine Phrase zu prosaisch, keine Gedanke zu abstrakt, er fand überall eine nur ihm offenbare versteckte Beziehung zur Musik heraus, die sein Inneres bis zum Überströmen anfüllte. Aus jedem Felsen schlug er einen Quell lebendigen Wassers, und lyrische Bettler machte er zu musikalischen Königen. Als ein naives, der Welt unbedenklich und arglos sich überlassendes Genie wußte er nichts von Sympathien und Antipathien; er umfing alles mit derselben Liebe und sah alles von dem Schimmer verklärt, mit welchem sein Auge auch die unscheinbarsten Gegenstände vergoldete. Hand in Hand mit dieser schrankenlosen Hingebung ging die wahrhaft göttliche Leichtigkeit seiner Produktion, die sorgenfreie Seligkeit seines Schaffens, welche keinerlei Skrupel noch Widerrede aufkommen ließ, sondern ganz nach Gefallen ohne Rückhalt sich aussprach. Seine Melodie klebt nicht am Worte, sie schwebt frei darüber, zieht es mit sich empor oder streift es auch nur mit den Flügeln. Jetzt ein Adler, der mit seiner Beute in die Lüfte aufsteigt, jetzt eine Schwalbe, welche am Wasser hinschießt und die Spitzen ihrer Schwungfedern darin eintaucht. Nur in verhältnismäßig seltenen Fällen vereinigen sich Wort und Ton bei ihm zu einem so unauflöslichen Bunde, daß die Melodie vom Texte nicht zu trennen wäre, ohne an ihrem Sinn und Wesen Erhebliches einzubüßen. Kein Liederkomponist hat so viele und so gelungene Instrumentalbearbeitungen seiner Gesänge erfahren wie Schubert; und gerade seine vollkommensten und am meisten gesungenen Lieder sind es, welche die Übersetzung in die absolute Musik am besten vertragen. Das Merkwürdige dabei ist, daß trotz dieser großen Selbständigkeit des Musikers zwischen ihm und dem Dichter das herzlichste Einvernehmen herrscht. Selbst das [219] einfachste Strophenlied Schuberts zeigt nichts von Widersprüchen zwischen Text und Musik, und bei seinen durchkomponierten Liedern schmiegen sich beide so innig aneinander, als wären sie mit- und füreinander geboren. Gibt es beispielsweise etwas Formvollendeteres, Ausdrucksvolleres, Singenderes und Sprechenderes zugleich als die Lieder »Am Meere« und »Frühlingstraum«? Und doch hat Schubert beide nicht einmal durchkomponiert, sondern den Text in zwei, beziehungsweise drei Abteilungen gegliedert, die sich unverändert wiederholen; auch treten in beiden Musik und Poesie so selbständig auf, daß jede für sich unabhängig von der anderen bestehen kann.

Über Schubert im allgemeinen und als Liederkomponisten im besondern hat sich Brahms einmal (1887) zu Geheimrat Wendt in Thun, wie folgt, ausgesprochen: »Der wahre Nachfolger Beethovens ist nicht Mendelssohn, der ja eine unvergleichliche Kunstbildung hatte, auch nicht Schumann, sondern Schubert. Es ist unglaublich, was für Musik in dessen Liedern steckt. Kein Komponist versteht wie er richtig zu deklamieren. Bei ihm kommt aber immer das Beste so selbstverständlich heraus, als könnte es nicht anders sein. Soz. B. der Anfang der Winterreise: ›Fremd bin ich eingezogen.‹ Unsereinem macht die zweite betonte Silbe zu schaffen – bei Schubert fließt das aufs schönste dahin. Wie hat er sich nicht aller, auch der damals neuesten Poesie, der von Platen, Rückert, Heine bemächtigt! Dann hat er mit Recht in manchem Gedicht von Schlegel einen für Komposition besonders wertvollen Gehalt gefunden. Entzückend ist, wie er eine Platensche Ghasele behandelt hat. Wir haben das ja auch versucht, aber gegen Schubert ist das alles Stümperei. Wie wundervoll ist in dem Gedicht aus dem ›Divan‹: ›Ach um deine feuchten Schwingen‹ die letzte Strophe! Unter seinen Freunden war Mayrhofer der ernsthafteste, und Schubert ist gewiß nicht zu tadeln, wenn er allerlei mythologische Gedichte von ihm in Musik gesetzt hat.«

Was ein Schumannsches Lied von einem Schubertschen am auffälligsten unterscheidet, ist das die Mystik streifende tiefere Eingehen und Sichversenken in den Geist des Dichters. Wenn Schumann einen poetischen Gedanken erfaßt hat, läßt er ihn nicht mehr los und verschmilzt ihn so völlig mit seinem musikalischer [220] Wesen, daß dieses letzte mit dem Gegenstande seiner Wahl überhaupt den Boden der Existenz verlöre. Von der unbekümmerten Sorglosigkeit und Gemütlichkeit Schuberts hält sich der Sänger der »Dichterliebe« ziemlich fern. Betrachtete jener den Dichter mehr wie einen Freund, mit dem es sich am besten lebt, wenn beide Teile ohne Einschränkung und Schädigung ihrer persönlichen Rechte zu einem und demselben sachlichen Streben sich verbrüdern, so erkannte und verehrte dieser in der Poesie die Geliebte, deren ungeteilter Besitz ihm um so wünschenswerter erscheinen mußte, je lebhafter ihre Vorzüge von ihm empfunden und verstanden wurden. Bei der Freundeswahl wird man zehnmal, bei der Brautwahl hundertmal sich bedenken. Schumann hat kein Gedicht komponiert, das nicht seiner Individualität und jeweiligen Stimmung genau angemessen gewesen wäre, und es ist kein Zufall, daß sein Brautjahr und sein Liederjahr zusammenfielen. Er hat aber auch oft noch mehr zu sagen, als der wortkarge Dichter, der seine Empfindungen in den letzten knappsten Ausdruck drängt. Gern übertrumpfte er die Poesie, als wünschte er sie von der Notwendigkeit der Kopulation zu überzeugen, als bemühte er sich, ihr nachzuweisen, daß ihre Verbindung mit dem Musiker eine der Ehen sei, die im Himmel geschlossen werden. So wächst der Begleiter und Gefährte sich bald zum Beschützer und Führer aus, der den Dichter auf Wege bringt, welche er nie gegangen wäre, ihm Aussichten eröffnet, von denen jener sich nichts hatte träumen lassen. Das Akkompagnement spielt bei Schumann nicht nur eine größere, sondern eine ganz andere Rolle als bei Schubert; es ist, um in dem gebrauchten Bilde zu bleiben, das Kind des liebenden Paares und strebt als neues Individuum nach gleichberechtigter Selbständigkeit. Gerade in der Begleitung zeigt Schumann das zarteste Gefühl, den beweglichsten Geist. Ader eben diese ausdrucksvolle, sein pointierte Begleitung bereichert sich manchmal auf Kosten des Gesanges; sie fängt dem Sänger das Wort vom Munde ab und entfremdet das Lied seiner eigentlichen Bestimmung. Es steht bereits auf dem Punkt, in ein Klavierstück mit aufgesetzter Singstimme umzuschlagen. Von Schumanns bunt untermalter, stark akzentuierter Lyrik, wie sie auch in verwandten Stellen seiner Kantaten zum Vorschein kommt, ist es nicht allzu weit [221] mehr zum Sprechgesange des Wagnerschen Musikdramas, und die melodramatische Behandlung des Textes, die er in seinem »Manfred« und in den Hebbelschen Balladen gebraucht, zeigt die Konsequenz seines Verfahrens. Seine immer reicher entwickelte Fähigkeit, in Tönen zu poetisieren, verführte ihn auch zur Komposition von Gedichten, die nur noch ihrer äußeren Form nach zur Poesie gerechnet werden können. Die Freiheiten und. Neuerungen, die sowohl in seiner poetisch-musikalischen Doppelnatur, wie in seiner künstlerischen Erziehung begründet waren, dürfen nicht für allgemein gültige Gesetze angesehen werden. Schumanns vornehme Gesinnung und ungewöhnlich ausgebildeter künstlerischer Geschmack bewahrten ihn vor groben Fehlgriffen, und er ist auch da noch liebenswürdig, wo er irrt. Die köstlichsten Früchte und duftigsten Blüten seiner Lyrik aber sind von demselben Stamme gepflückt, in dessen Schatten Beethoven und Schubert ruhten: es ist nicht der Baum der Erkenntnis, um den sich die Schlange des Versuchers ringelt, sondern der Baum des Lebens, dessen Wurzeln in die paradiesische Liebesfülle menschlichgöttlicher Reinheit und Unschuld hinabreichen.

War es für Schumann, dank seiner gereiften Künstlerschaft, kein besonderes Unglück, daß er erst vom Klavier zum Liede kam, so war es für Brahms geradezu ein Glück, den umgekehrten Weg zu gehen. Die Seele des Liedes ist die gesungene Melodie und wird sie ewig bleiben, was auch die Anhänger einer beliebt gewordenen modernen Manier, welche den Gesang in der Begleitung verschwinden läßt, um eine möglichst »ausdrucksvolle«, tönende Deklamation an seine Stelle zu setzen, dawider einwenden mögen. Jedem sang-und komponierbaren Gedichte liegt eine Melodie zugrunde, und diese konkrete Melodie, welche dem lyrischen Dichter nicht zum Bewußtsein zu kommen braucht, hat an dem Bau des Textes ebensoviel Anteil wie der abstrakte Gedanke des Dichters. Je mehr nun der Lyriker in seiner Kunst fortschreitet, je weiter er sich von deren musikalischem Ursprung entfernt, desto tönender werden seine Verse; es ist, als wollte er durch die Schönheit und Fülle des Wortklanges für den verloren gegangenen Gesang Ersatz leisten. Hat er aber erst einmal den, wenn auch unbewußten und lockeren Zusammenhang mit der Musik gänzlich aufgehoben, [222] ist sein Gefühl in der Kälte des Gedankens erstarrt und leerer Formalismus an die Stelle seelenvollen Empfindens getreten, so sinkt seine Poesie zur gemeinen Prosa herab, und weder der Pomp der Sprache, noch Rhythmus und Reim können sie retten. Auf dieser verhängnisvollen letzten Stufe ihrer Entwicklung sieht sich die Lyrik zur Umkehr gezwungen; sie besinnt sich auf ihre bescheidenen kindlichen Anfänge und wendet sich zur Einfalt der Natur zurück, die sie nirgend herzlicher anspricht und inniger anfingt als im Volksliede. In diesem Jungbrunnen müssen die gealterten Schwesterkünste beide immer wieder untertauchen, wenn sie zu neuer Gesundheit, Kraft und Frische erstehen wollen. Was Herder und Goethe für die deutsche Literatur, besonders für die lyrische Dichtung getan haben, das tat Brahms für die Musik, für das Lied, das er, wenn auch nicht gleich beim ersten Anlauf, meistern lernte, als er, frei von schädlichen Einflüssen, unbehindert von Lehrmeinungen und »Richtungen«, sang, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

Brahms hat dafür gesorgt, daß seine lyrischen Jugendsünden nicht auf die Nachwelt gekommen sind. Glorreich tritt er mit einem Liede in die Öffentlichkeit, das in seiner Art ebenso bedeutend und charakteristisch für ihn ist, wie Schuberts weltberühmtes op. 1, der »Erlkönig«, für dessen Sänger. Die Schubertsche Ballade konnte so lange für einen Erstling gehalten werden, als die einhundertsiebenundsiebzig Lieder, die ihr vorangingen, und deren Chronologie unbekannt waren. Auch »Liebestreu« ist nicht das erste der Brahmsschen Lieder, nicht einmal das älteste der von ihm herausgegebenen. Es wurde den anderen vorangestellt aus demselben Grunde, der den Verfasser bestimmte, seine C-dur-Sonate als op. 1 erscheinen zu lassen: es zeigt der Welt Kopf und Herz zugleich. Das anapästische Baßmotiv springt rhythmisch aus der ersten Zeile des volkstümlichen Reinickschen Gedichtes hervor, und die Wiederholung der Anapästen deutet darauf hin, daß dem Dichter eine Melodie durch den Sinn ging, als er seine Verse schrieb. Hier ist der Komponist, was er bei jedem echten Liede sein soll, der Finder der verlorenen oder der Entdecker der latenten Melodie. Sie wirst in der Begleitung ihren Schatten voraus, und der obstinate Baß [223] mit seiner dissonierenden ersten Note steigert den warnenden Rat der Mutter zur finsteren Schicksalsdrohung. Aber die Warnung klingt so rührend, daß man zu hören glaubt, wie nahe es der guten Frau geht, ihr armes Kind vor der verderblichen Leidenschaft, die doch seine Seligkeit ist, warnen zu müssen, als spräche sie zugleich aus eigener Erfahrung und wäre von der Nutzlosigkeit ihres Rates durchdrungen. Das alles wird in vier Takten mit den einfachsten Mitteln, ohne besonderen harmonischen Aufwand erreicht. Bei der Antwort des Mädchens schweigt der Baß; der Sopran der Begleitung schmiegt sich pp im Einklang an die Singstimme an, trennt sich aber im dritten Takt von ihr, um nach einer schwankenden Wellenbewegung zur Tiefe hinabzusinken, während der Gesang bei den Worten »komm stets in die Höh'« in halben Tönen aufwärts steigt. Wenige Striche der Meisterhand genügten, um ein vollkommenes musikalisches Bild zu geben, ohne daß die Melodie genötigt worden wäre, von dem ihr vorgezeichneten Pfade auch nur um eine Linie abzuweichen. Sie wird aber um einen Takt verlängert, und zwar tritt die Verlängerung in dem Moment ein, wo die Begleitung die Singstimme verläßt; das hohe Ges, dem der rhythmischen Symmetrie des Satzes nach nur ein Viertel zukäme, wird dreimal so lange ausgehalten, und das »Leid«, von welchem der Ton singt, bekommt ein dementsprechendes schweres Gewicht. Die Repetition des ganzen Tonsatzes legitimiert das Lied als Strophenlied. Keine Note wird geändert, nur das »sehr langsame« Tempo der ersten Strophe geht von der zweiten in ein poco più mosso über, doch wohlgemerkt, nur während die Mutter spricht. Die Tochter beharrt auf ihrem Zeitmaß und hemmt es noch bei ihrer dritten und letzten Entgegnung. Nun tritt der Baß der Singstimme direkt entgegen, als sollte es zum entscheidenden Kampfe zwischen ihnen kommen; die Tochter hat sich die Melodie der Mutter angeeignet und treibt sie forte bis zum höchsten Tone des Liedes empor, das sich triumphierend nach Dur wendet: »O Mutter, und splittert der Fels auch im Wind, meine Treue, die hält ihn aus.« Der Trotz des Baßmotivs scheint besiegt; von Synkopen gebunden, schwankt es ohnmächtig hin und her, gleitet diminuendo abwärts und verhallt pp in der Tiefe. Aber auch die heroische Widerstandskraft des liebenden [224] Mädchens ist gebrochen. Auf dem Höhepunkt ihres leidenschaftlichen Bekenntnisses fühlt sie sich von der Wucht ihres Leides zu Boden geschmettert, und gleichsam mechanisch wiederholt sie die letzten Worte: »Die hält ... die hält ... ihn aus«, immer ermüdet auf jedem zweiten Worte ausruhend und neuen Atem schöpfend. Der Komponist hat durch seine wunderbare Kunst das lyrische Gedicht zur dramatischen Szene erhoben und sich dabei keines einzigen wohlfeilen musikalischen Kulissenwitzes bedient, sondern seine Liebestragödie psychologisch aus dem Inhalt des Gedichtes entwickelt.

Ein solches Lied, oder sagen wir lieber, so ist ein Lied vor Brahms noch nicht komponiert worden, auch von Schubert nicht, der mit »Gretchen am Spinnrade« als Achtzehnjähriger einen analogen Fall für seine Zeit geschaffen hat. Auch der nur um ein Jahr ältere Brahms hatte für seine »Liebestreu« kein Vorbild; er mußte ganz aus eigenem künstlerischen Vermögen schöpfen, um ein solches Muster der Vollendung hervorzubringen. Und wie bei Schubert bleibt der gewaltige Wurf auf Jahre hin vereinzelt. Die andern Lieder aus op. 3, 6 und 7 lassen sich, so schön sie sind, und soviel des Anmutigen, Frischen, Herzerfreuenden und Ursprünglichen sie bringen, nicht an jener großen Erscheinung messen, die Brahms als monumentales Eingangstor vor seinem weitausgedehnten, an den verschiedenartigsten und entzückendsten Partien reichen lyrischen Park aufgerichtet hat. Was Vielfältigkeit in Stimmung und Ausdruck betrifft, so bereitet Brahms in seinen ersten Liederheften auf die Überraschungen der folgenden vor. Schon hier wiederholt er sich nicht, wie er auch in der Folge mit den Gegenständen seiner Texte sich immer erneut und verändert, und jedes Lied trägt den Stempel seines Geistes deutlich an der Stirn. In der Wahl der Texte ist er noch nicht so streng und gewissenhaft wie späterhin, und es widerfährt ihm, daß er zwei so schwache, unfertige Gedichte komponiert, wie J.B. Rousseaus »Der Frühling« und Bodenstedts »Lied aus Joan«. Auch bedenkt er sich nicht, mit Schumann zu konkurrieren, der, als berufener Interpret der traumverlorenen Romantik Eichendorffs, in »Mondnacht« und »In der Fremde« Töne angeschlagen hat, die weder zu überbieten noch zu verdrängen sind, da sie sich für das allgemeine [225] Bewußtsein unauflöslich mit ihren Texten verbunden haben. Das in silbernen Tropfen herniederrieselnde Mondlicht und die ihre Flügel zum Heimzuge weit ausspannende Seele sind von Schumann gewissermaßen stereotypiert worden. Auch die klagende Stimme, den »zarten Waldhornslaut« eines durch das Wettergeleucht und die rauschenden Wälder der Nacht an den Tod Gemahnten hielt der Romantiker in einem musikalischen Bild von authentischer Treue fest. Die Entschuldigung, er habe das Lied nicht gekannt, kann Brahms bei »In der Fremde« nicht für sich geltend machen. Denn aus der Variante seines Textes geht hervor, daß er das Gedicht von Schumann und nicht von der Quelle bezogen hat. Weder in der schalkhaft lieblichen Literaturnovelle »Viel Lärm um nichts«, welche das Lied zuerst enthielt, noch in der Sammlung der Eichendorffschen Gedichte kommt die Lesart vor: »Und keiner kennt mich mehr hier«. Bei dem Dichter heißt die Schlußzeile: »Und keiner mehr kennt mich auch hier«. Schumann stieß sich an der übel klingenden Inversion und opferte die lyrische Pointe des Gedichts dem Wohlklange auf. Eichendorff will sagen: Meine Lieben in der Heimat sind lange gestorben, »es kennt mich dort keiner mehr«. Bald werde auch ich sterben, die Wälder werden über mir fortrauschen, und dann wird mich auch hier keiner mehr kennen, weil ich vergessen sein werde. Hier und dort werden gegensätzlich gebraucht. Brahms hätte sich die Antithese gewiß nicht entgehen lassen, wenn er das Original zurate gezogen hätte. Auch das eingeschobene »ach« (»Wie bald, ach, wie bald kommt die stille Zeit«) wäre ihm aufgefallen. Offenbar führte ihn Schumanns Lied erst zu der Novelle zurück, der er noch ein zweites Gedicht entnahm. (»Lindes Rauschen in den Wipfeln« op. 3 Nr. 6.) »In der Fremde« aber hatte sich seinem Gedächtnisse bereits so fest eingeprägt, daß er darüber hinlas, ohne die Schumannsche Abänderung zu bemerken. Dagegen setzte er den Dichter wieder in sein metrisches Recht ein, aus dem er von Schumann vertrieben worden war, und restituierte den zerstörten Bau der zweiten Strophe in integrum. Es heißt nicht:


»Wie bald, (ach) wie bald kommt die stille Zeit,

Da ruhe ich auch, da ruhe ich auch,

Und über mir rauscht die schöne Waldeinsamkeit,«


[226] sondern, wie Brahms die Verse richtig abteilt:


»Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit,

Da ruhe ich auch, und über mir

Rauschet die schöne Waldeinsamkeit,

Und keiner mehr kennt mich auch hier.«


Eine derartige Willkür, die man bei Schumann im Hinblick auf seinen motivierten musikalischen Zweck um so leichter entschuldigt, als die Eichendorffsche Strophe in der Tat keine der glücklichsten ist, wäre Brahms nicht allein wie eine Sünde wider den Dichter, sondern auch wie ein Frevel gegen die Ordnung des metrischen Gesetzes erschienen. – Seine »Mondnacht«, die 1854 in einem Göttinger Liederalbum, zusammen mit sieben Beiträgen anderer zeitgenössischer Komponisten erschien (bei G.H. Wigand), ist ein liebliches, zartes Gesangstück, das Beethovensches Licht reflektiert. Ihm fehlt der weite, ins Ewige reichende Horizont der Schumannschen Komposition, die daran erinnert, daß Eichendorff das Lied seinen »geistlichen Gedichten« eingereiht hat.

In der schon oben einmal flüchtig erwähnten Nr. 2 des ersten Liederheftes: »Wie sich Rebenranken schwingen« (im Juli 1853 in Göttingen komponiert) begegnet uns der Dichter der Sonaten wieder, der es sich nicht versagen kann, Mozarts Zerline mit der Melodie seines Liedes im Kontrapunkt zu verkuppeln. Der findige Komponist ergänzt dann im poco più lento des Schlusses dieses Kunststück noch dahin, daß er sein Thema in rhythmischer Vergrößerung als Rahmen um das »traute, liebe Bild« legt. Deutlicher und zarter zugleich konnte der aufmerksame Liebhaber einer Zerlinen-Sängerin nicht sein. Solche von den Altvorderen ererbten Künste sind bei Brahms kein totes Gut, sondern gewinnen überall lebendige Bedeutung. Man ersieht daraus, wie früh er sich, zweifellos durch eingehende Studien, Kenntnisse angeeignet hat, von denen damals nur wenige etwas wußten und niemand Gebrauch machte. Wenn er in der »Trauernden«, dem bekannten schwäbischen Volksliede: »Mei Muater mag mi net« (op. 7 Nr. 5) der Septimenharmonie aus dem Wege geht und Dur und Moll derselben Tonstufe als nahe verwandte Tonarten wechseln läßt, so tut er dies nicht etwa aus Lust am Archaisieren. Die altertümlichen Elemente, die er in der Musik wieder einführte, dienen ihm dazu, Wirkungen hervorzubringen, welche ihm die allzu trivial[227] gewordene moderne Chromatik und Enharmonik versagt. Das kleine Lied lebt nur von sechs Takten, die durch Wiederholungen vervierfacht werden, und umspannt in seinem Tonumfange nicht mehr als eine Oktave. Und doch erzählt es uns eine ganze Geschichte, und aus der herben Strenge seiner jungfräulichen Akkorde begreifen wir das Schicksal der Heldin und ihre freudelose Jugend. Nicht so unmittelbar spricht uns das vorhergehende, ebenfalls ein schwäbisches Volkslied, an (›Die Schwälbe ziehet fort‹). Hier merkt man gar zu sehr die künstliche Verlängerung der Melodie, zu der sich der Komponist bewogen fand; die Eurhythmie leidet unter den eingeschobenen zwei Takten, welche ein unmotiviertes, allzu launisches Echo vorstellen. Die Lieder sind Zwillinge und im August 1852 zur Welt gekommen. »Parole« und »Anklänge«, beide nach Eichendorffschen Texten, gehören ebenfalls eng zusammen, wenn auch das zweite, im März 1853 komponierte, um drei Monate jünger ist als sein Vorgänger, der alle Rechte des Erstgeborenen für sich geltend machen darf. Welches Kenn- oder Losungswort mit »Parole« ausgesprochen werden sollte, ist nicht zu ergründen. Die Überschrift rührt nicht vom Dichter her. Eichendorff hat das Lied der als Jägerbursch verkleideten Fiametta (»Dichter und ihre Gesellen«) in den Mund gelegt, und in seinen Gedichten erscheint es als Romanze unter dem Titel »Die Verlassene«. »Anklänge« ist zwar ein gut Eichendorffscher Titel, gehört aber zu einem anderen Gedicht als zu dem von Brahms komponierten, das sich in dieser Verfassung überhaupt nicht bei Eichendorff vorfindet. Nur die erste Strophe stimmt mit dem Anfang der von Julie in »Ahnung und Gegenwart« gesungenen langen Romanze überein. Ein poetischer Freund des jungen Brahms mag den kurzen Schluß der zweiten Strophe hinzugefügt haben. Mit den »Anklängen« ist wohl das Hornmotiv gemeint, das die neue Strophe im Baß begleitet; es klingt wie eine Reminiszenz an die Jagdfanfaren im Mittelsatze des älteren Liedes. Beide Stellen aber erinnern wieder an den Dur-Teil aus Schuberts »Rückblick«: »Wie anders hast du mich empfangen,« so daß der verworrenen Rückblicke und geheimnisvollen Anklänge kein Ende zu finden ist. Ihre intime Verwandtschaft verraten die Lieder nicht bloß durch ein äußeres Erkennungsmal – vielleicht blasen gar die verkappten [228] Hifthörner die »Parole?« – sondern auch durch das Bildnisartige ihrer Komposition. Man glaubt zu sehen, was man kaum hört; die wundervolle Landschaft der Eichendorffschen Romantik mit ihren stillen Wipfelhöhen, lauschigen Tälern und blitzenden Strömen taucht wie ein duftiger. Traum zwischen den Notenlinien auf.

Brahms verschmäht die malerische Wirkung der Musik nicht, wo sie sich ihm ungezwungen darbietet, sich wie von selbst einstellt; aber er geht niemals nach ihr aus und hängt nicht von ihr ab. Das unterscheidet seine Lyrik zu ihrem Vorteil von jenen im trüben Dunst der »Stimmung« verschwimmenden Liedern, welche mit den tausend einander drängenden und aufhebenden Lichtern und Schatten ihrer beständig wechselnden Harmonien dem Landschaftsmaler ins Handwerk pfuschen möchten. Die in rastlosen Imitationen durcheinander spielenden Sechzehntel der Begleitungsfiguren in »Treue Liebe« (op. 7 Nr. 1) erwecken die Vorstellung der in der Sonne glitzernden, leicht bewegten Meeresflut. Aber das äußere Bild tritt bescheiden zurück vor dem innern der Gesangsmelodie, welche uns den Seelenzustand des am Strande stehenden Mädchens versinnlicht. Wie schaurig unterbricht das zweitaktige Zwischenspiel den Gesang, die gurgelnden Wasser haben sich über ihrem Opfer geschlossen, und das Wellenspiel kann wieder beginnen. Die »stille Gewalt«, mit der es die Trauernde zur Tiefe zog, ist in der Komposition mächtig und sorgt dafür, daß der erzählte Vorgang nicht zur theatralischen Szene ausartet. Ebenso dezent und maßvoll verfährt Brahms, sobald er sich zunutze macht, was ihm von fremdnationaler Musik zu Gebote steht. Auch hier überschreitet er nicht die bestimmte Grenze, die ihm angeborener Takt und früh erworbener guter Geschmack gezogen haben. Kein Komponist sollte sich besser auf die charakteristischen Feinheiten ausländischer Tonweisen verstehen, keiner ist ein eifrigerer musikalischer Kosmopolit geworden, und keiner hat dabei sein deutsches Wesen so wenig verleugnet wie er. Falls er uns einmal spanisch kommen will, bedarf er der klappernden Kastagnetten so wenig wie des tobenden Zymbals bei seinen Zigeunersängen; die Roheit dieser primitiven Instrumente auf dem Klavier nachzuahmen, meinte er andern überlassen zu dürfen. Der bloße [229] Rhythmus ruft ihm das Land des Weins und der Gesänge herbei, und die krausgelockte Schöne, die er nach Geibel-Heyses »Spanischem Liederbuche« singen lehrt, legitimiert sich durch die selbstbewußte, kokette Haltung ihrer Melodie als Sevillanerin, wenn auch ein blaues Augenpaar hinter ihrem Fächer hervorsieht. Dasselbe Liederheft (op. 6) enthält in dem jubelnd anstürmenden »Juchhe!« und der von Leidenschaft erwärmten »Nachwirkung« neue Typen Brahmsscher Lyrik. Das Feuer glimmt und schwält schon, das in den erotischen Stücken von Tieck und Daumer zu brünstiger, den ganzen Menschen in Flammen setzender Glut emporlodern soll.

Eine Bereicherung hat sein Liederschatz im Jahre 1855 nicht erfahren. Auch sonst hat dieses Jahr kein fertiges Werk gezeitigt; im Kompositionsverzeichnisse des Meisters ist es durch ein leeres Blatt vertreten. Man müßte angesichts dieser auffallenden Tatsache an einen Stillstand in der Produktionskraft des Komponisten glauben. Aber allerlei Anzeichen sprechen dafür, daß gerade damals einige seiner bedeutendsten Werke konzipiert und skizziert wurden, deren schnelle Ausführung an Hemmnissen äußerer und innerer Art scheiterte. Der Gemütszustand des zweiundzwanzigjährigen Jünglings, der sich von allen Seiten in die Enge getrieben sah, ohne einen rettenden Ausweg aus seinen verworrenen Verhältnissen zu erblicken, war ein äußerst gespannter und wechselte zwischen trunkener Seligkeit und tiefer Depression. Die Nähe der von ihm angebeteten, schwärmerisch verehrten Frau und Künstlerin, in deren Hause er zu Zeiten wohnte, beglückte ihn. Wohl liebte er in ihr vor allem die Gattin des unglücklichen Meisters, als deren Beschützer und Tröster er sich berufen wußte. Aber es kamen doch Stunden, in denen er sich seiner ihm vom Schicksal zugewiesenen Aufgabe kaum noch gewachsen fühlte, und er hätte nicht der leidenschaftliche, ebenso heftig wie zart empfindende Jüngling sein müssen, wenn er sich nicht auf heftigen Wallungen des Gemütes, die über das Maß freundschaftlicher Zuneigung und getreuer Ergebenheit hinausgingen, ertappt hätte. Auch Frau Klara, die in der Fülle ihrer Lebenskraft stand, auch sie, die grausam von einem furchtbaren Verhängnisse zur frühen Witwenschaft Verurteilte, mag Anfechtungen [230] zu bestehen gehabt haben, über deren Natur sie sich bei der Reinheit ihres Herzens und der Hoheit ihrer sittlichen Gesinnung schwerlich klar geworden sein wird. Da sie um vierzehn Jahre älter war als Johannes, so konnte sie sich für die leise emporkeimende Neigung zu ihrem jungen Freunde auf die über jeden Zweifel erhabenen Rechte einer älteren Schwester oder Mutter berufen, und die frei geäußerte Herzlichkeit ihres Gefühls gewährte ihr vielleicht größere Sicherheit, als eine absichtlich zur Schau getragene kühle Gelassenheit dies imstande gewesen wäre. Die treueste Gattin und der treueste Freund wurden durch ihre stillen Kämpfe, aus denen sie beide siegreich und mit gehobener und geläuterter Kraft der Seele hervorgingen, auch als Menschen einander wert; ihre Empfindungen strömten zusammen in der einigen unerschütterlichen, mitleidsvollen Liebe zu dem herrlichen Genius, der, den dunklen Mächten des Wahnsinns verfallen, fern von den Seinigen und abgeschieden von der schönen Welt, in dumpfer Einsamkeit dahinsiechte. In seiner Kunst, die sie zu ihrer gemeinsamen Angelegenheit machten, fanden sie sich immer wieder wie zum Gottesdienste vereinigt, und wenn sie in traulichen Dämmerstunden neben einander am Klavier saßen, so war er bei ihnen und umgab sie mit der ernsten Glorie seines Martertums. Eine Aureole weiht für alle Zeiten die Häupter von Klara Schumann und Johannes Brahms.

Ein musikalisches Denkmal hat Brahms seiner Wertherzeit, als welche man seinen Düsseldorfer Aufenthalt von 1854–56 bezeichnen kann, im Allegro des c-moll-Quartetts op. 60 gesetzt. Die Vermutung liegt nahe, daß er das Werk schon 1855 begann. Er ließ es aber dann bis zum Winter 1873/74 liegen, wo er, seinen eigenen Notizen zufolge, die beiden letzten Sätze komponierte. Dazu bemerkt er: »Satz 1 und 2 früher«. Er wußte also, als er das Datum fixieren wollte, nicht mehr genau, wann er das Quartett begonnen hatte; jedenfalls mußte es vor sehr langer Zeit gewesen sein. Das Scherzo empfing, wie schon früher mitgeteilt, von der 1853 mit Schumann und Dietrich gemeinsam komponierten Violinsonate mancherlei Stoff. Zahlen und Namen zu behalten, war immer Brahms schwächste Seite. Erinnerte er sich doch zehn Jahre nach dem Tode seines Vaters nicht mehr daran,[231] wann dieser gestorben war! Um so treuer haftete die innere Veranlassung jener Komposition in seinem Gedächtnisse. Denn als er im Sommer 1868 in Bonn seinem Freunde Hermann Deiters den ersten Satz des Quartetts zeigte, sagte er, ehe er zu spielen anfing: »Nun stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich eben totschießen will, und dem gar nichts anderes mehr übrig bleibt.« Niemals würde Brahms auch nur andeutungsweise von einem solchen Zustande seines Gemütes gesprochen haben, wenn er sich nicht längst aus ihm herausgearbeitet gehabt hätte. Der Ernst aber, mit dem er davon sprach, bewies, daß es sich für ihn um keine bloße Jugendtorheit gehandelt hatte. Sechs Jahre später, nachdem das Werk endlich zum Abschlusse gekommen war, schickte er das Manuskript an Billroth (23. Oktober 1874) und schrieb dazu: »Das Quartett wird bloß als Kuriosum mitgeteilt! Etwa eine Illustration zum letzten Kapitel vom Mann im blauen Frack und gelber Weste.« Die Anspielung auf »Werthers Leiden« ist klar. Bei Goethe heißt es am Schluß des Romans: »Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt im blauen Frack mit gelber Weste.« Deiters meint in seiner Besprechung der drei Klavierquartette, das dritte, eben dieses c-moll-Quartett, sei »der Konzeption nach« wohl ziemlich gleichzeitig mit den anderen beiden entstanden. Auch diese, die im Herbst 1861 in Hamm bei Hamburg vollendet wurden, wären also in ihren Anfängen auf die Jahre 1855 und 1856 zurückzuführen.8

[232] Aber noch ein viertes großes Werk begann damals in der Phantasie des Tondichters zu keimen: seinec-moll-Symphonie. Wie die Orchester- und Choraufführung der Neunten Symphonie, der Brahms 1854 in Köln beiwohnte, befruchtend auf ihn eingewirkt hatte, so daß dieses musikalische Erlebnis zusammen mit der Katastrophe im Schumannschen Hause ihn zur Komposition des d-moll-Konzertes antrieb, so schlug ihn jetzt Schumanns »Manfred« in seinen dämonischen Bann. Am 21. April 1855 veranstaltete G.D. Otten in Hamburg auf Betreiben von Brahms eine Aufführung des »Manfred«, die erste, welche, nachdem Liszt 1852 das Werk aus dem Manuskript auf die Bühne gebracht hatte, im Konzertsaale stattfand. Die Weimarer Theateraufführung war im Sande verlaufen und hatte dem gewaltig intentionierten Werke mehr Schaden als Gewinn eingetragen. Schumanns Versuch, der, von Posgaru-Suckows spekulativer Manfred-Übersetzung9 angeregt, eine neuartige Verbindung des Dramas mit der Musik anstrebte, hatte so gut wie gar keine Beachtung gefunden. Deshalb galt es eine rühmliche Tat: für den Konzertsaal zu retten, was einstweilen für das Theater verloren gegeben werden mußte. Otten, der seit 1843 in Hamburg viel besuchte Vokal- und Instrumentalkonzerte größeren Stiles veranstaltete, war von Brahms auf »Manfred« aufmerksam gemacht worden, und er sorgte für eine möglichst sorgfältige Reproduktion des Werkes. Ein beliebter Schauspieler (Kökert) sprach den Manfred, die kleineren Rollen waren angemessen besetzt; das wohlgeübte Orchester und der volle Chor taten ihre Schuldigkeit, und das Werk machte einen tiefen [233] Eindruck, den tiefsten wohl auf die Gattin und den jungen Freund des Meisters an ihrer Seite, die unter den Zuhörern saßen.

Frau Klara, die in Holland, Stettin, Danzig und Königsberg konzertiert hatte – von Danzig schickte sie einen Blumengruß aus ihrem Bouket an Johannes – war im April über Berlin nach Düsseldorf zurückgekehrt, und Johannes konnte der mit sehnsüchtiger Ungeduld von ihm Erwarteten die Einladung Ottens übergeben, die natürlich auch für ihn galt. So waren sie denn mit einander nach Hamburg gefahren, um in der tiefen Bekümmernis ihrer Herzen einen eigentümlichen Festtag der Seele zu erleben. Auch wenn Brahms nicht in so bedeutungsvoll erlesener Gesellschaft und in solcher verzweifelt günstigen Disposition zum erstenmale das auf den labyrinthischen Pfaden einer verirrten Psyche schwermütig dahinwandelnde Drama Byrons mit der kongenialen Schumannschen Musik gehört hätte, würde »Manfred« ihn, wie jeden für wahrhaft große Gegenstände der Kunst Empfänglichen, im Innersten erschüttert haben. Die schwesterliche Astarte tat es ihm an.

Sie mochte ihm als der verkörperte Inbegriff alles Guten und Schönen gelten, das dereinst in Manfreds Seele gelebt, für das Ideal des Unseligen, das er im Taumel der Sinne mit tempelschänderischen Gedanken entweiht und zerschlagen:


»Sie war mir gleich an Zügen – ihre Augen,

Ihr Haar, ihr Angesicht, ja selbst der Ton

Der Stimme, alles machte sie mir gleich;

Doch alles milder und verklärt in Schönheit.

Sie suchte auch die Wege und Gedanken

Der Einsamkeit und das verborgene Wissen.

Ihr Geist umschloß das Weltall, doch besaß

Sie sanftere Gewalten noch als ich,

Erbarmen, Lächeln, Tränen, die mir fremd,

Und Liebe, die ich nur für sie empfand,

Und Demut, welche nimmer ich gekannt.

Was schwach an ihr, war mein, ihr blieb das Gute,

Ich liebte und verdarb sie ...

Mein Herz zerbrach ihr Herz,

Es welkte, mich durchschauend.«


Wie mußten ihn diese Worte aufrütteln, und welchen Schauder mußte er empfinden, als ihn aus den Monologen des der Menschenwelt [234] entfremdeten Naturschwärmers ein Stück seines eigenen Wesens ansprach! Der Geisterbannfluch lastete auch auf ihm; auch zu ihm redete die Natur mit wunderbaren Stimmen, auch ihm gehorchten die in Lüften und Fluten hausenden Dämonen, und auch er konnte ausrufen:


»Wir sind des Schreckens Narren und der Zeit:

Die Tage schleichen her und schleichen hin,

Mit Lebensekel fürchten wir den Tod.«


Und wie wahr und überzeugend drückte die aus den Abgründen eines zerrissenen Gemütes heraufgeholte Musik, vor allem die grandiose Ouverture, den Streit der Gefühle und Gedanken aus, welcher die Brust des düsteren Träumers durchwogt! Nur die Musik konnte den durch Schmerzen zum Manne reifenden Jüngling von der schweren Last seiner Erlebnisse befreien; Werther-Manfred beschwor die Astarte und entwarf das Allegro der c-moll-Symphonie. Dieser erste Satz trägt das Zeichen Manfreds unverkennbar an der Stirne. Die Melodie, welche ihm im Herzen sitzt, sein zweites, von der Oboe intoniertes Thema:


6. Kapitel

kann ihre Verwandschaft mit:


6. Kapitel

nicht verleugnen. Das zufällige Zusammentreffen der Intervalle ist dabei nicht das Entscheidende, sondern der beiden Melodien [235] gemeinsame Charakter schmerzlicher und verängstigter Sehnsucht, der rührende Ausdruck einer unerfüllbaren Bitte und der Gegensatz, in welchem sie zu dem in wilder Ruhelosigkeit aufstürmenden leidenschaftlichen Hauptthema stehen. Damit soll keineswegs behauptet werden, Brahms habe so etwas wie eine Manfred-Symphonie schreiben wollen. Er braucht nicht einmal an Manfred gedacht zu haben, als ihm der Komplex musikalischer Motive einfiel, aus welchem sich allmählich der erste Satz der Symphonie und viele Jahre später das ganze Werk entfaltete. In seinem Verzeichnisse fehlt der sonst übliche Hinweis auf frühere Zeiten. Das könnte unsere Hypothese wankend machen. In seinen »Erinnerungen« aber schreibt Dietrich (p. 42): »In Münster am Stein zeigte Brahms mir auch den ersten Satz seiner c-moll-Symphonie, welche freilich erst viel später, und zwar sehr umgearbeitet erschien.« Das war schon im Jahre 1862! Dietrich bewahrte sich für alles, was mit den Werken seines Jugendgenossen zusammenhängt, ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Ein Irrtum seinerseits ist übrigens auch darum ausgeschlossen, weil Brahms ihm unmittelbar vor seiner Abreise nach Wien (im Herbste 1862) schreibt: »Die c-moll-Symphonie ist nicht fertig.«10 Das Werk hat also ähnliche Schicksale erlebt wie das Klavierquartett in c-moll. Daß weder in dem einen noch im andern Falle der Komponist, wie bei seinen Klaviersonaten, vom Adagio ausging, sondern, nach der Ordnung, den Bau mit dem Allegro fundamentierte, soll nicht übersehen werden. Zur weiteren Begründung der Ansicht, daß die ersten Sätze des c-moll-Quartetts, der c-moll-Symphonie und desd-moll-Konzerts aus derselben Schaffensperiode herstammen, sei hingewiesen auf die romantische Behandlung des als Individuum heraustretenden Waldhorns bei entscheidenden Übergängen des Satzes (Konzert, [236] Partitur p. 37 und Symphonie, Partitur p. 10 nebst den analogen Stellen p. 82 und p. 22), ferner auf die das Brahmssche Grundmotiv (vgl. p. 102 dieses Buches) umspielenden Themen:


6. Kapitel

(Konzert) und


6. Kapitel

(Symphonie), endlich auf die Melodie:


6. Kapitel

(Konzert) und deren Umkehrung


6. Kapitel

Eine große Beruhigung für Brahms war es, daß Joachim ihm versprochen hatte, im Sommer längere Zeit in Düsseldorf bei ihm zuzubringen. Als er die Nachricht empfing, »nagte« er gerade an einem Briefe Klaras, die ihm mitteilte, sie werde acht Tage über die Verabredung hinaus in Berlin bleiben. Da wäre es ihm gewesen, schreibt er dem Freunde, als ob Joachim ihm recht tröstend die Backen streichelte. Die gute Laune, in die ihn der Brief Joachims versetzte, kommt zum Ausdruck in einer Bemerkung über die neue Oper Ferdinand Hillers: »Traum in der Christnacht«. Er habe sich, sagt er, bei dieser Gelegenheit getröstet, daß sie ihm (Hiller) mit ihrer Antipathie doch nicht so sehr Unrecht täten. Joachim und Brahms fanden an den Kompositionen des rheinischen Musikdirektors kein Gefallen, so hoch sie übrigens in Hiller den umgänglichen Menschen, [237] geistvollen Schriftsteller und verdienten Dirigenten schätzten. Brahms macht es ihm zum Vorwurf, den Stoff des gräßlichen Raupachschen Dramas zu seiner Oper genommen zu haben. Die Personen rührten sich nicht vom Fleck und ließen sich nicht von bösen Mächten, sondern bloß vom Aberglauben hin- und herwerfen, verfluchten sich zuletzt alle und stürben. In der Freude seines Herzens, den allzu lange entbehrten Freund bald wiederzusehen, ging er gleich daran, ein passendes Quartier für Joachim zu suchen, und fand zwei Zimmer in einer hübschen Gartenwohnung. Gern hätte er sie gleich vom 1. April an auf sechs Monate gemietet und wartete nur den Auftrag des Freundes ab. Joachim trug sich damals mit dem Gedanken, nach Berlin überzusiedeln (die Arnims und Hermann Grimm zogen ihn magnetisch an). Er hatte vom Könige von Hannover, der den Künstler nicht verlieren wollte, großmütigerweise einen zweijährigen Urlaub erhalten, und er konnte ihn, mit der Einschränkung, einige Monate während der Konzertsaison auf seinem Posten zu erscheinen, verbringen, wo und wie es ihm beliebte. Was zögerte er also noch, sein Versprechen zu erfüllen? Zürnte er dem Freunde, daß dieser im Winter so lange in Hamburg geblieben war? Er wisse ja, daß nicht viel fehle, und Brahms säße auch im Sommer dort, weil er zu wenig berechnet und bedacht habe. Joachim beschwichtigte den Ungeduldigen und traf zu dessen Geburtstage in Düsseldorf ein. Seine Schüler Bargheer11 und Tofte folgten ihm nach. Es fehlte zur Vervollständigung des Streichquartetts also nur an einem Violoncellisten.

Dieser sollte durch einen komischen Zufall gefunden werden, und zwar in der Person des königlich preußischen Regierungsassessors v. Diest.12 Der Assessor bewohnte in demselben Hause, in welchem Brahms für Joachim die Zimmer gemietet [238] hatte, am »Schwanenspiegel«, einem großen, von Anlagen des Hofgartens umgebenen Teich, ein prächtig gelegenes Quartier. Ein vortrefflich gebildeter Dilettant und Kollege des damals ebenfalls in Düsseldorf anwesenden gleichveranlagten Robert von Keudell, wirkte er bei den niederrheinischen Musikfesten im Orchester am ersten Cellopulte mit. Er war nicht gerade angenehm überrascht, als sein neuer Zimmernachbar, den weder er noch der Wirt dem Namen nach kannte, sich seines Violoncellspiels wegen bei diesem beschwerte; aber er verpflichtete sich artig, alle mögliche Rücksicht auf den Unbekannten zu nehmen, der meist mit Notenschreiben beschäftigt war. Von einer Dienstreise zurückgekehrt, empfing Herr v. Diest den Dankbesuch des Fremden, der mit den Worten bei ihm eintrat: »Ich komme Ihnen zu danken, daß Sie nicht mehr Cello gespielt haben, und um Sie aufzufordern, mit mir zusammen zu musizieren.« Joachim gab sich dem Verblüfften zu erkennen, und sie verabredeten mit Bargheer und Tofte regelmäßige Quartettübungen. Es wurde des Abends bei offenen Fenstern musiziert, und die Wasserfläche des Schwanenteiches trug die Musik ans jenseitige Ufer hinüber, wo sich Hunderte von Spaziergängern als Zuhörer einfanden. Sie spielten immer drei bis vier Quartette. Im Zimmer hörten oft Klara Schumann und Brahms zu. Brahms setzte sich gewöhnlich in die Sofaecke, bedeckte die Augen mit der Hand und sprach kein Wort. Aber man konnte ihm, wie Herr v. Diest des weiteren mitteilt, anmerken, daß er von der ihm damals noch wenig bekannten Musik tief ergriffen war. Während eines Mozartschen Adagios fuhr Brahms einmal plötzlich in die Höhe und ging mit schweren Schritten zur Tür hinaus, die er heftig hinter sich zuwarf. Von Joachim darüber zur Rede gestellt, entschuldigte er sich: er sei so voll von Musik gewesen, daß ihm zu Mute geworden sei, wie einem Seekranken, und er habe keinen Ton mehr vertragen. Zweimal wöchentlich fanden die Übungen statt. Da auch das Klavier hinzugezogen wurde, so wechselten die Abende bei Diest (Mittwoch) und Frau Schumann (Samstag). An den musikalischen Abenden bei Klara Schumann spielte Brahms gewöhnlich die Klavierpartie. Diest bat Frau Schumann, sie möge doch Brahms manchmal ablösen. Da sagte sie: »Ich spiele nicht gern, wenn Brahms dabei ist, denn seine Kritik ist zu scharf; und[239] er hat leider immer recht.« Für Brahms waren diese Quartettübungen von großer Wichtigkeit.13

Wenn Herr v. Diest erwähnt, Brahms habe diese Art von Musik damals noch wenig gekannt, so ist das insofern gewiß richtig, als er bisher wenig Gelegenheit gehabt hatte, gute Kammermusik zu hören, geschweige denn in solcher Kontinuität wie an den Düsseldorfer Abenden, die im Mai des nächsten Jahres wieder aufgenommen wurden. Seine eigenen früheren Versuche aus der Hamburger Zeit, wo er hin und wieder einmal mit Kollegen des Vaters ein Klavierquartett und Trio von Mozart oder Beethoven vorgenommen hatte, mochten ihm jetzt noch erbärmlicher vorkommen als vor zwei Jahren, wo er sich nicht entschließen konnte, eines seiner Quartette zu veröffentlichen. Über die ab- und ausschweifende Romantik seines H-dur-Trios war er hinaus. Er merkte, daß es ihm hier, wie bei seinen Orchesterarbeiten, noch an allen Ecken und Enden fehlte, und in seiner Verstimmung kamen ihm selbst seine gediegenen musikalischen Kenntnisse mangelhaft und unzureichend vor. Es war ihm, als hätte er nicht genug gelernt, als sollte er die Hochschule seiner Kunst erst absolvieren. Alles in und um ihn schien ins Schwanken geraten. Zu welchen praktischen Ergebnissen diese seine Bedenken und Zweifel, unter denen er unsäglich litt, führten, werden wir noch sehen. Sein zweiundzwanzigster Geburtstag brachte ihm manches ermutigende Zeichen liebevoller Teilnahme. Klara erfreute ihn mit einer »ihrem lieben Freunde Johannes komponierten« Romanze für Klavier in a-moll (de dato 2. April 1855,14 und Schumann [240] schickte ihm die Partitur seiner Ouverture zur »Braut von Messina« mit der Widmung: »Willkommen zum 1. [statt 7.] Mai, Johannes, nimm sie liebend an, die Partitur. Bist du ein Maikind? Dein Robert.«

Darauf erwiderte Brahms in einem Briefe »Düsseldorf, Mai 1855«, dem letzten, den er an Schumann geschrieben:


»Geliebter, verehrter Freund!


Den innigsten Dank muß ich Ihnen sagen, daß Sie meiner am 7. Mai so liebend gedachten. Wie überraschten und erfreuten mich das schöne Geschenk und die liebevollen Worte im Buch!

Der Tag war überhaupt so schön, wie man nicht oft einen erlebt. Ihre teure Frau versteht es, recht selig zu machen – Sie wissen das wohl am besten.

Ein Bild der Mutter und Schwester und Ihres überraschten mich; nachmittags kam Joachim, und für recht lange, hoffen wir.

In Hamburg hörte ich die Ouverture zur, Braut von Messina' kürzlich, wie Sie wissen. Wie sehr hat mich das tiefernste Werk ergriffen, und nach dem ›Manfred‹! Immer wünschte ich Sie hin, um mitzuhören und zu sehen, welche Wonne Sie durch Ihre herrlichsten Werke bereiten.

Lange schon sehnte ich mich zumeist ›Manfred‹ oder den ›Faust‹ zu hören; ich hoffe, das Letzte, Größte hören wir noch einmal zusammen.

Nur Ihr langes Schweigen, das uns beunruhigte, konnte mich abhalten, Ihnen meinen Dank früher zu sagen; nehmen Sie jetzt den herzlichsten Dank für das teure Andenken an den 7. Mai 1855.


In herzlicher Liebe und Verehrung


Ihr Johannes.«


Das dritte der großen Schumannschen Werke für Soli, Chor und Orchester: »Paradies und Peri«, welches den Ruhm seines Meisters in die weitesten Kreise getragen hatte, kam bald darauf in Düsseldorf zur Aufführung, und zwar bei dem dreiunddreißigsten der seit 1818 bestehenden niederrheinischen Musikfeste, das diesmal mit ganz besonderem Glanze gefeiert wurde. [241] Es war dem Komitee gelungen, die erste Sängerin ihrer Zeit, Frau Jenny Goldschmidt-Lind, heranzuziehen. Schon 1846, als sie mit Mendelssohn zum erstenmale auf einem rheinischen Feste (in Aachen) erschien, hatte sich die »schwedische Nachtigall« als goldener Lockvogel erwiesen, und sie bewährte auch jetzt wieder ihre unwiderstehliche Anziehungskraft. Ihr Wunsch hatte den Ausschlag für die Wahl des Schumannschen Oratoriums gegeben, und die menschliche Teilnahme mit dem tragischen Lose des Komponisten erhöhte die Empfänglichkeit für sein Werk. Neben der Lind wirkte Fräulein Mathilde Hartmann aus Düsseldorf als zweiter Solosopran mit. Sie verdient deshalb besonders erwähnt zu werden, weil sie, wenn nicht die Erste, so doch eine der ersten war, die öffentlich Lieder von Brahms sang, in einem Konzert, das Joachim im Oktober in Elberfeld gab.

Eifriger als sonst beteiligten sich die Gesangvereine der rheinischen Städte an dem Feste; ein imposanter Chor von sechshundertvierundfünfzig Stimmen nahm auf dem Podium in der am Ende der Schadowstraße erbauten Tonhalle Platz; ihm stand ein Orchester von hundertfünfundsechzig Mann zur Seite, mit fünfundsechzig, dem Leipziger Konzertmeister Ferdinand David untergeordneten Violinen und vierzehn Kontrabässen, und über dieses gewaltige musikalische Heer schwang Ferdinand Hiller den Kommandostab des Dirigenten. Die Zahl der herbeiströmenden Zuhörer war so groß, daß in der auf zweitausend Besucher eingerichteten Halle noch eine besondere Tribüne errichtet und mehrere hundert Stehplätze ausgegeben werden mußten.15 Wer einmal ein rheinisches Musikfest miterlebt hat, wird die durch Harmonie gehobenen und veredelten geselligen Freuden jener musikalischen Weihe- und Wonnetage nicht wieder vergessen. Am Rhein kehren zur Zeit des Maiweins, der Rosen und der Nachtigallen immer wieder die Tage der heiligen Pfingsten wieder. Wenn sie dann, wie es in der Schrift heißt, alle einmütig beisammen sind, geschieht ein Brausen vom Himmel und erfüllet das ganze Haus, da sie sitzen. Und sie werden voll des Geistes und fangen an zu sprechen, in fremden Zungen, wie der Geist es ihnen eingibt.

[242] Ein äußerer Umstand trug dazu bei, die gehobene Stimmung der Festgäste zu erhöhen: Prinz Friedrich von Preußen, der 1848 seine langjährige Residenz Düsseldorf verlassen hatte, kehrte dort zum erstenmal wieder als Gast ein. Die Straßen, welche die ganze Festzeit hindurch mit Maienbäumen, Guirlanden und Flaggen geschmückt waren, erglänzten in strahlender Illumination, und ein Fackelzug hieß den Prinzen willkommen. Otto Jahn, der Mozartbiograph, Ostern 1855 als Professor der klassischen Philologie von Leipzig nach Bonn berufen, war als gefürchteter Berichterstatter des »Grenzboten« anwesend und hat der Nachwelt ein authentisches, farbenreiches Bild jener Tage hinterlassen.16 Von der zwanglosen Versammlung der Festgenossen, die am Morgen des Pfingstsonntags (27. Mai) auf dem Ananasberge stattfand, schreibt der Gelehrte: »In der heitersten Stimmung zog man dem Sammelplatze zu, wo Hiller mit anderen Mitgliedern des Komitees auf die liebenswürdigste Art den Wirt machte, Bekanntschaften vermittelte und der Gesellschaft einen sehr erwünschten Mittelpunkt bot. Allmählich füllte sich der Raum mit präsumtiven großen Musikern, und nun gab es für Alle Bekanntschaften zu erneuern und neue zu machen; allein wie eifrig einer auch sein mochte, sich vorzustellen und vorstellen zu lassen, immer blieben noch große Unbekannte zurück, und einige erregten die allgemeine Aufmerksamkeit nur dadurch, daß sie niemand kannte. Aber auch an allgemein bekannten und berühmten Männern fehlte es nicht, und wer die Bedeutung eines solchen Festes nach Namen abmißt, der konnte zufrieden sein. Ein Verzeichnis der Zelebritäten zu geben, ist untunlich, ›wer fasset ihre Zahl?‹ Um nur einige Spitzen zu streifen; es fanden sich Kritiker zusammen von Chorley aus London bis Hanslick aus Wien, Pianisten von St. Heller aus Paris bis Stein aus Reval, Komponisten von Gouvy bis Verhulst, Kapellmeister von Franz Lachner bis Franz Liszt, Musikdirektoren aber gab es beinahe noch mehr als Geheimräte in Berlin. In munteren Gesprächen trieb sich alles miteinander herum, einzelne Gruppen bildeten sich und lösten sich auf, stehend, sitzend, gehend, je nach Bedürfnis; wer die Runde machte und [243] hörte, wie die verschiedensten Ansichten und Gesichtspunkte, Sympathien und Antipathien sich aussprachen, mochte wohl denken, daß Oberon und Titania wieder goldene Hochzeit hielten.«

Zu den »präsumtiven großen Musikern«, von denen Otto Jahn ironisch berichtet, gehörte auch Brahms; ja man könnte darauf wetten, daß der der »neuen Richtung« absolut feindlich gesinnte Kenner der Klassiker, eben ihn im Sinne hatte, als er jenen Passus niederschrieb. Wie andere war Jahn durch Schumanns »Neue Bahnen« gegen den Jüngling eingenommen worden, der es obendrein gewagt hatte, mit seinem Scherzo und seiner Sonate die Tradition der Gewandhausquartette zu durchbrechen, und Brahms wurde von ihm zu den verabscheuten »Zukunftsmusikern« geworfen. Erst später kam Jahn von seiner irrigen Meinung zurück. Folgenreicher und ersprießlicher als die Bekanntschaft mit Jahn war für Brahms sein erstes Zusammentreffen mit Eduard Hanslick, der im vierten Buche seiner Selbstbiographie (»Aus meinem Leben«) erzählt, wie er in »Jacobis Garten« (Pempelfort), dem durch Goethes Aufenthalt bei Fritz Jacobi geweihten Ort, des Morgens dem Freundespaare Joachim und Brahms begegnete. »Der Dreiundzwanzigjährige« (Hanslick macht ihn um ein Jahr älter) »mit seinem langen blonden Haar, seinen Vergißmeinnichtaugen und einer Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, glich irgend einem Jean Paulschen Idealjüngling«. Brahms konnte Hanslick seiner freudigen, wenn auch nicht unbedingten Zustimmung zu der unlängst erschienenen Schrift »Vom Musikalisch-Schönen« versichern, die zum Zankapfel der Musikgelehrten geworden war. Die junge Bekanntschaft wurde in den Familien des Malers Sohn und des Notars Euler fortgesetzt. Der Gruppe Joachim-Brahms gesellten sich Bargheer, Tofte, Allgeyer, Dietrich, der im Hause Sohn seine spätere Gattin fand, Grimm, Bargiel und Grädener hinzu. Von Hamburg zum Musikfeste gekommen, überbrachte Grädener Brahms die frohe Botschaft, Otten wolle ihn zur Mitwirkung bei seinen Abonnementskonzerten einladen und rechne auf seine Zusage. Ebenso wurde mit Ferdinand David für den Winter eine Verabredung für Leipzig getroffen, so daß die Düsseldorfer Pfingsttage auch in materieller Hinsicht von Nutzen für Brahms waren. Überreich aber waren die geistigen und gemütlichen [244] Eindrücke, die er von ihnen empfing. Haydns »Schöpfung«, diese tiefsinnige und heitere musikalische Bilderfibel, in welcher das ABC der Tonkunst und die Elemente der Musik auch denen noch gelehrt werden, die darüber längst hinausgekommen zu sein wähnen, erfüllte ihn mit Entzücken und Bewunderung für das Genie ihres Autors.

Die Wahrnehmung, daß mit den einfachsten Mitteln die großartigsten Wirkungen hervorgebracht werden können, und die ihm aus jedem Chor, aus jeder Arie entgegenleuchtende Gewißheit, daß das Schöne nicht in der Verworrenheit, sondern in der Klarheit zu suchen sei, stimmten mit den Erfahrungen überein, die er an sich selbst gemacht hatte, und bestärkten ihn in der Absicht, sich immer größerer Natürlichkeit und Schlichtheit zu befleißigen. Er fühlte lebhafter denn je, daß eine unüberbrückbare Kluft ihn von Liszt und den Doktrinen der neudeutschen Schule trennte, und sein Gefühl teilte sich Joachim mit. Sie begrüßten den Obergewaltigen des Klaviers, der sich zum Besuche Düsseldorfs herabgelassen hatte, zwar mit geziemendem Respekt, aber das alte herzliche Verhältnis zwischen Liszt und Joachim wollte sich nicht wieder herstellen, obwohl Liszt eigens, um mit Brahms und Joachim zusammen zu sein, den Düsseldorfer Aufenthalt um eine Nacht verlängerte. Gewohnt, überall, wo er erschien, den umschwärmten Mittelpunkt der Gesellschaft zu bilden, trat er diesmal, wo er weder als ausübender Künstler noch als Erfinder unerhörter musikalischer Neuerungen anwesend war, vor Jenny Lind in die zweite Reihe zurück. In dem Briefe, den er am 20. Mai an seinen bon ange adorable, die Fürstin Sayn-Wittgenstein, richtete, bricht sein Unmut darüber in ergötzlicher Weise aus. Sein Logis, schreibt er, zwei mehr als bescheidene Zimmerchen im zweiten Stock, sei gewiß die drei und vier Taler, die er dafür bezahlen müsse, nicht wert; die Masse der zu dem Musikfeste herbeigeströmten Fremden habe eben alles außer Preis gesetzt. Im Publikum herrsche ein mittelmäßiger Enthusiasmus, wenn es sich nicht um die Lind handelte, welche, man denke! so artig sei, gratis zu singen. Hillers Frühlings-Symphonie (»Es muß doch Frühling werden«) leide an dem Fehler, für Leute von leichterem Geschmack zu ernsthaft, für ernsthafte Leute aber zu leicht zu sein, [245] und habe sich denn auch mit einem Achtungserfolge zu begnügen gehabt. »Quant à la Création«, fährt er mißvergnügt fort, »j'avoue qu'elle m'a passablement ennuyé d'un bout à l'autre – à commencer par le ›Chaos‹, qui est plutôt une espèce de ›Cacao‹ jusqu'au Duo: Mit dir, mit dir genieß ich doppelt sie«, qui nous avait déjà si peu édifé à Jena – y compris le petit ›Buffon en miniature‹ des Airs de Raphaël et d'Uriel dans la seconde partie ... Le Prince Frédéric, qui résidait autrefois à Düsseldorf, mais qui n'y était plus revenu depuis 48, assistait à ce premier concert. Pour mon humble personne, elle sest trouvée placée entre Schadow, le directeur de l'école de peinture, et Chorley. »En fait de notabilités, en visite à ce festival – j'ai renouvelé connaissance avec Hanslick, Stephen Heller, Härtel, Jahn, Bischoff, David de Leipzig, Wasielewski, Brahms, Rosti, Ricard, le peintre de portraits etc. Joachim est arrivé ce matin (ein Irrtum, da er schon seit drei Wochen in Düsseldorf war), et compte passer tout l'été ici.« Am 29. Mai kommt Liszt noch einmal auf denselben Gegenstand zurück und resumiert: »En somme ce ›Musikfest‹ ne m'apprend rien et me satisfait peu. Il n'y a guère de profit à faire pour moi dans la › Création‹ – et les clairs de lune assez pâles de la ›Péri‹ ne sont pas plus de mon goût qu'il ne faut. Le public a accueilli avec une tolerance réservée cet ouvrage, qui contient cependant quelques beaux moments...Joachim me dit à l'endroit d'un bel effet de pédale: ›Er ist ein Mensch!‹ – ›Oder wenigstens ein Musiker‹, lui répondis-je. Quant à Chorley, il ne mâche pas le mot et trouve que ›le paradis et la Péri‹ est un › paradis perdu‹.«

Am 30. Mai wohnte Liszt einer musikalischen Matinee bei Klara Schumann bei. Sie nahm ihren illustren Gast sehr freundschaftlich auf, sagte ihm aber zu seinem Befremden keine Silbe über die Huldigung, die er ihr in der »Neuen Zeitschrift für Musik« mit liebevoller Charakteristik ihres Wesens und ihrer Kunst dargebracht hatte. Sie konnte es nicht, weil sie dann auch von den drei Essais über Robert Schumann hätte sprechen müssen, die Liszt ebendort kurz vor dem Feste veröffentlichte. In diesen mit Geist und Grazie verfaßten Aufsätzen wurde durch allerlei Verdrehungen [246] und Sophistereien der Nachweis zu führen gesucht, daß Schumann eigentlich ein Programm-Musiker sei. Danach sollte sich die Methode des von der Poesie angeregten Komponisten, der seinen streng musikalischen Tonstücken eine bezeichnende Überschrift gab, mit den Willkürlichkeiten Liszts und seiner Anhänger decken, die ihrer inhaltsleeren, gewaltsam auf den äußerlichen Effekt hergerichteten Musik durch die Verquickung mit einer detaillierten poetischen Beschreibung Ansehen und Bedeutung zu geben trachteten. Einem Manne, dem Haydns Schöpfung langweilig und ihre Darstellung des Chaos, mit dem Himmel und Erde befreienden Durchbruche des Lichts (»Und es ward Licht«) eine Art von Cacao war, einem solchen Verkenner und Verächter des Einfach-Erhabenen mußten natürlich die vier Trompeterchöre des Berliozschen Weltgerichts mehr imponieren als das bescheidene Orchester Haydns, das auch an der eindrucksvollsten Kraftstelle seines Werkes von dem großen Blech den bescheidensten Gebrauch macht, ohne in dieser Art von irgend einem modernen Vokal- und Instrumentaleffekt bisher übertroffen wor den zu sein.

Eine Erinnerung an das Düsseldorfer Fest glauben wir in dem Brahmsschen Klavierquartett op. 26 erkennen zu dürfen. Jenes träumerische, süße Adagio, welches den zweiten Satz des Quartetts bildet, scheint einer ganz bestimmten rheinischen Mainacht seine Entstehung zu verdanken. Sein Gesang kommt wie das Mondlicht, das sich auf den leise bewegten Wellen des breiten Stromes schaukelt. Manchmal fährt ein duftiger Windhauch über die Fläche und trübt den Glanz, als würde die Bewegung der Flut unterbrochen. Dazu schlagen die Nachtigallen in allen Büschen, – es ist, als sollte einem das Herz vor Sehnsucht zerspringen. Die schaukelnden Achtel der Saiteninstrumente, welche vier Takte hindurch jede Note der Melodie kanonisch vorausnehmen, sind das Wellenspiel, die verminderten Septimenharmonien der folgenden Klavierarpeggien die leisen Luftstöße, und die wiederaufgenommene, immer voller begleitete, auf die Streichinstrumente verteilte Melodie mit dem aufsteigenden Triller in der ersten Violine trägt die Stimmen der Nachtigallen auf ihren Akkorden. Das wunderbare, ganz objektive Bild wird leidenschaftlich gefärbt durch [247] einen plötzlich einfallenden Gesang (inh-moll), der wie ein persönliches Geständnis hoffnungsloser Liebe klingt – der am Strom einsam hinirrende Jüngling möchte sich aufraffen, bricht aber in schluchzende Klagen aus, nimmt immer wieder einen Anlauf, um endlich ermattet niederzusinken. Ein Traum zeigt ihm das lächelnde Gesicht der Geliebten (Terzett der Streicher), und sein Herz jubelt. Seltsam, wie dieser Jubel an die Stretta einer italienischen Arie anklingt – hat nicht die Lind im Künstlerkonzert des Festes eine Arie aus Bellinis »Beatrice di Tenda« vorgetragen? Ein solches Stück, wie das Adagio desA-dur, Quartetts, welches mit Zeit und Raum spielt, Wahrheit und Dichtung, Erlebtes und Erträumtes, Äußeres und Inneres durcheinanderwebt und die verschiedenartigsten Elemente in reiner Form zur Einheit verbindet, ist spezifisch musikalisch; keine andere Kunst vermag etwas Ähnliches hervorzubringen.

Wie dem auch sei, soviel steht fest, daß Brahms, von den musikalischen und persönlichen Erlebnissen des Frühlings in Düsseldorf mächtig angeregt, manches größere (zyklische) Werk in Angriff nahm, dessen Vollendung von ihm auf Jahre hinaus verschoben wurde. Auffallend klingen im Andante des g-moll-Quartetts op. 25 zwei Stellen an die »Schöpfung« an. Beide folgen einander, im Mittelsatze desC-dur-Animatos. Die erste sieht aus wie ein Zitat. – Brahms liebte es, wie wir schon früher gesehen, solche Merkmale für sich anzubringen: –


6. Kapitel

Der Sopran im Chor der »Schöpfung« Nr. 4 singt:


6. Kapitel

Die zweite charakterisiert sich durch die spannende Wiederholung ihrer Phrase; der Klavierbaß wird durch das Violoncell hervorgehoben:


6. Kapitel

[248] Wir glauben Uriel zu hören:


6. Kapitel

Bei Brahms hat der Satz einen chevaleresken, minnefreudig stolzierenden Charakter; der Komponist reitet auf dem Rößlein der Phantasie zum Turnier für die Farbe seiner Dame und streckt alle Gegner in den Sand.

Joachim hielt es in Düsseldorf nur bis Ende Juni aus und bereitete sich dann auf eine Reise nach Tirol vor. Frau Schumann, die Rastlose, Unermüdliche, war bald nach dem Musikfeste einer Einladung an den Fürstenhof zu Detmold gefolgt und hatte sich dort mit Joachim ein Rendezvous gegeben. Beide spielten zusammen in einem Konzert bei Hofe. Dann kehrte Klara an den Rhein zurück, weil sie ein künstlerisches Übereinkommen mit Frau Jenny Lind, die in Ems die Kur gebrauchte, getroffen hatte. Johannes begleitete sie in den eleganten Nassauischen Badeort, [249] ging aber gleich nach dem Konzert, das die beiden Künstlerinnen am 15. Juli gaben, auf und davon. Frau Klara schreibt an Joachim, Brahms habe sie verlassen, »um der geputzten Welt, den Eseln und vor allem derC(anaille) zu entfliehen«. Zwei Tage freute er sich des Alleinseins auf Goetheschen Pfaden im reizenden Lahntale und labte sein patriotisches Gemüt mit den Erinnerungen an den Freiherrn v. Stein und die Befreiung Deutschlands von der französischen Herrschaft. »Des Guten Grundstein, des Bösen Eckstein, der Deutschen Edelstein« ist eine Devise, die seinem Sinne wohlgefiel. In St. Goar erwartete er die Freundin, das Ränzel auf dem Rücken, und sie machten zusammen rheinaufwärts eine Fußtour, die sie bis nach Heidelberg führte. Anfangs war ein Konzert für Baden-Baden geplant, aber Frau Schumann konnte ihren Ekel von dem Allerwelts-Badepöbel nicht überwinden. Noch immer hoffte sie auf die baldige Wiederkehr ihres Gatten, die sie vor Entwürdigungen und Demütigungen, wie sie das Herumkonzertieren in Bädern mit sich brachte, bewahren würde. Sie glaubte dem geflissentlich verbreiteten Märchen, das man aus Mitleid für sie ersonnen hatte: Schumann sei bereits wiederhergestellt, und nur um sein noch immer aufgeregtes Nervensystem eine Zeitlang zu schonen, werde jeder Besuch von ihm ferngehalten.17 Klara, deren Lebensgeister auch einer gründlicheren Stärkung bedurften, als auf einer Fußwanderung zu erlangen war, reiste im August nach Düsternbrook ins Seebad und kehrte erst Anfang September wieder in ihr Haus zurück.

Brahms hatte, wie er Joachim schreibt, die Reise sehr nötig gehabt. Er mußte sich einerseits von den Aufregungen der letzten Zeit erholen, andererseits aber für neue Strapazen rüsten, die seiner warteten. Denn, um aus dem Elend seiner Subsistenzlosigkeit herauszukommen, bedurfte es einer gründlichen Verbesserung seiner Einnahmen. Kleine Schulden, die er bei den nächsten Freunden kontrahiert hatte, drückten ihn schwerer, als sie andere in seiner Lage gedrückt haben würden. Er gehörte nicht zu der verbreiteten Sorte von skrupellosen Künstlern, die in ihrem Talent einen Freibrief zur Brandschatzung ihrer Nebenmenschen zu besitzen glauben. [250] Wohltaten, selbst von Begüterten und Mächtigen, sich erweisen zu lassen, war nicht nach seiner Sinnesart, und es wäre ihm ganz unmöglich gewesen, von irgend jemandem »ein unkündbares Darlehen auf Lebenszeit« zu verlangen. Niemals hat er einen Bettelbrief aufgesetzt, niemals einen Vorschuß begehrt und niemals einen Wechsel unterschrieben. Von den Werken, die er begonnen hatte oder im Geiste mit sich herumtrug, waren keine Schätze zu erhoffen. Auch mochte er fühlen, daß ihre Zeit noch nicht gekommen sei, und ließ die Skizzenblätter liegen. Da er seinem stolzen, unabhängigen und freien Genius nicht zumuten konnte, Direktor einer musikalischen Galanterie- und Modewarenfabrik zu werden, so hatte er, von den Anerbietungen Ottens und Davids ermutigt, den Entschluß gefaßt, das seit Jahren brach liegende Feld seiner Virtuosität von neuem anzubauen. Er wollte Konzerte geben und das edle Beispiel Klara Schumanns und Joachims nachahmen, welche beide ihre Meisterschaft in den Dienst der hohen Kunst stellten und das Publikum zu sich hinauszogen, während sie sich zu ihm herabzulassen schienen. Mit der ihm eigenen Energie warf sich Brahms auf das vernachlässigte Studium der Klaviertechnik und ergänzte sein noch von Marxsens Zeiten her bestehendes Repertoire, indem er es nicht nur erweiterte, sondern auch verbesserte und vertiefte. Der Klemssche Konzertflügel, der im Zimmer Klara Schumanns stand, erscholl in Abwesenheit der Herrin Tag für Tag von seinen Übungen, und als die Saison herannahte, konnte er der Zukunft mit einiger Zuversicht entgegensehen. Sein Repertoire umfaßte schon damals, außer den Klavierwerken Bachs, Mozarts, Beethovens und Schuberts, die größeren Kompositionen Schumanns: das Konzert, die C-dur-Phantasie, die Sonaten, symphonischen Etuden, Davidsbündlertänze, Kreisleriana, Toccata. Den »Karneval« liebte er nicht, ebensowenig konnte er sich für Chopin, diesen ausgesprochenen Klaviermusiker und Salonpoeten, begeistern, wenn er auch dessen bestrickendes musikalisches Konversationstalent hochschätzte. Ein einzigesmal hat Brahms, soviel uns bekannt geworden, öffentlich ein Stück von Chopin gespielt, und zwar ein Nokturne, am 18. Dezember 1863 in Wien.

[251] Das Betriebskapital für die bevorstehende Konzertreise, die sich über Norddeutschland erstrecken sollte, verschafften ihm seine »Balladen«, welche von Breitkopf und Härtel im Oktober angekauft wurden und im März 1856 als op. 10 erschienen. Am 27. Oktober fuhr Brahms nach Hamburg ab und traf in der Lilienstraße 7 als »Zimmerherr« bei seinen Eltern ein. Trotzdem die Freunde versprochen hatten, sich schon im November zu einigen gemeinsamen künstlerischen Aktionen mit ihm zu verbinden, und trotz des beglückenden Zusammenseins mit seinen Lieben, die er alle wohl antraf, war dem angehenden Konzertreisenden nicht recht geheuer in seiner Virtuosenhaut; er sehnte sich, wie er an Allgeyer schreibt,18 nach dem stillen Düsseldorf zurück und erwartete voll banger Ungeduld das verheißene Wiedersehen mit Klara und Joachim. Otten hatte, wie gewöhnlich, drei Abonnementskonzerte für den Winter angekündigt und sich für die ersten beiden auf die Zusage von Brahms berufen. Vorher aber trat Brahms am 14. und 16. November in zwei Soireen auf, die Klara Schumann mit Joachim in Danzig veranstaltete. Es war wohl noch nicht da gewesen und dürfte auch schwerlich wieder vorkommen, daß zwei Pianisten mit einem Geiger zusammen konzertierten. Wie gewissenhaft und gerecht sie sich in ihre Aufgabe teilten, lehrt ein Blick auf ihre Programme. Am 14. spielte Klara mit Joachim Mozarts A-dur-Sonate und allein die symphonischen Etuden, Brahms mit Joachim eine Sonate von Haydn (!), allein die g-moll-Phantasie von Beethoven und, damit er den ausgiebigeren symphonischen Etuden gegenüber nicht zu kurz komme, dazu Sarabande und Gavotte eigener Komposition sowie einen der vierhändigen Schubertschen Märsche (C-dur), den er sich für zwei Hände zum eigenen Gebrauch arrangiert hatte. Joachim erschien dabei als Solist in des Wortes strengster Bedeutung mit Bachs Chaconne und Variationen von Paganini. Am 16. begann Brahms mit seiner C-dur-Sonate, trug dann noch allein Bachs chromatische Phantasie vor und spielte mit Joachim dash-moll-Duo von Schubert, mit Klara die Variationen[252] für zwei Klaviere von Schumann. Klara spielte allein Beethovens c-moll-Variationen und mit Joachim die Kreutzer-Sonate. Joachim gab Stücke aus einer Bachschen Sonate und ein »Lied im Volkston« von Schumann zum besten. Glückliche Danziger! Und ein solches Prachtkonzert kostete nicht mehr als einen Reichstaler. Allerdings war dafür nur eine Kategorie von Einlaßkarten vorhanden. Da die Konzerte im großen Saale des Schützenhauses stattfanden, so wird die »Talersammlung« des armen Johannes wohl einen anständigen Zuwachs erhalten haben. Daß die Freunde ihm moralischen und materiellen Vorschub leisten wollten, liegt auf der Hand; denn sie wären ohne ihn ebenso gut fertig geworden.

Endlich erschien der große Tag, an welchem Johannes Brahms nach einer Pause von fünf Jahren wieder dem Publikum seiner Vaterstadt gegenüberstand. Außer dem Helden des Tages, dessen Angehörigen und nächsten Freunden kam der 24. November 1855, ein Sonnabend, in Hamburg keinem Menschen besonders feierlich vor. Das Konzert fing an mit Mendelssohns a-moll-Symphonie, darauf sang Madame Guhrau eine Mozartsche Arie, an welche sich eine als neu angezeigte Ouverture von Bach (1740) anschloß, und dann erst debutierte Brahms mit Beethovens Es-dur-Konzert; Werk und Spieler ließen die Zuhörer ziemlich kalt. Nicht besser erging es einem Schumannschen Klavierkanon; erst der Schubertsche Marsch, mit dem Brahms abtrat, erhielt rauschenden Beifall – es imponierte den Leuten, daß einer mit zwei Händen spielte, was für vier geschrieben war. Die Kritik wußte zwar zu loben, daß »Herr Brahms mit der Bescheidenheit eines jungen Künstlers und in steter Unterordnung unter die musikalische Gesamtwirkung des symphonistischen Konzerts« gespielt habe, fand aber, daß er in seiner Zurückhaltung zu weit gegangen sei: »Er hätte seine Fertigkeit, ohne dem Geist des Tonwerkes zu nahe zu treten, immerhin mit etwas virtuoserer Bravour an den Tag legen dürfen.« Ottens Direktion, unter der sich die besten instrumentalen Kräfte von Hamburg und Altona versammelten, mit dem vorzüglichen Quartett- und Sologeiger John Böie als Konzertmeister an der Spitze, zeigte den belebenden Geist und die sichere Hand des bewährten Musikers.

Brahms durfte sich keine Zeit gönnen, um auf seinen mageren Lorbeeren auszuruhen; es galt, in größeren und kleineren Städten [253] weiter um die spröde Gunst der zugeknöpften Hanseaten zu werben. Als Konzertgeber trat er nirgends auf, sondern richtete es klüglich so ein, daß er als Gast fremder Unternehmungen kein Risiko hatte. Lieber ein noch so geringes Honorar einheimsen als draufzahlen, war sein praktischer Geschäftsgrundsatz. Bei Vorträgen mit Orchesterbegleitung wechselte er mit Beethovens Konzerten in Es und G ab; das letzte spielte er zuerst im Dezember in Bremen und hatte sich dazu eine eigene Kadenz geschrieben. Am 12. Dezember war die erste Hälfte seiner Tournee glücklich absolviert, und am Abend desselben Tages ist er auch schon wieder bei seinem lieben Josef in Hannover. Er wußte es dann so einzurichten, daß er mit Frau Schumann zugleich in Düsseldorf anlangte, und verlebte den Weihnachtsabend wieder in ihrem Hause, diesmal ohne Joachim, der sich durch Matthesons »Vollkommenen Kapellmeister« (sein Christgeschenk) bei dem Freunde entschuldigen ließ. Brahms hat gleich etwas »sehr Wichtiges« in dem ehrwürdigen Folianten entdeckt: eine gute Beschreibung und Erklärung der alten Tänze, Gigue etc. Seine Bibliothek wächst immer stattlicher an, und es versteht sich von selbst, daß er von seinen Konzerteinnahmen einige Taler bei den Hamburger Antiquaren sitzen ließ.

In Düsseldorf fand Brahms einen Brief seines Bruders Fritz vor, der ihn daran erinnerte, daß er mit Böie und Grädener ein Konzert in Kiel veranstalten wollte. Aber er mochte in den Festtagen nichts davon hören: »Frau Schumann reist noch im alten Jahre ab, da kann ich ja unmöglich die Zeit verreisen des einen Konzertes wegen.« Auch verlangte er einige Sicherstellung, Reisekosten etc. Er habe kein überflüssiges Geld, um von Düsseldorf direkt nach Kiel zu fahren. Wäre er erst wieder in Hamburg, so könnte er den Abstecher als eine Vergnügungstour ansehen, und er freue sich schon auf die »fidele Reise« mit Böie und Grädener. Ehe er dieses Projekt ausführte, ging er in der zweiten Woche des neuen Jahres nach Leipzig. Frau Schumann, die vorher dort das Es-dur-Quintett ihres Gatten in der ersten Soiree für Kammermusik mit David, Röntgen, Hermann und Rietz gespielt hatte, konzertierte dann in Wien, wo sie mit Enthusiasmus aufgenommen wurde. Brahms dagegen brachte es in Leipzig zu keinem durchschlagenden Erfolge. Er spielte im zwölften Abonnementskonzerte [254] des Gewandhauses am 10. Januar Beethovens G-dur-Konzert, denh-moll- Kanon aus den »Studien für den Pedalflügel« und die D-dur- Novellette von Schumann. Übereinstimmend erkennt die Kritik die Größe seiner musikalischen Auffassung an, aber ebenso einmütig bemängelt sie die technische Seite seines Vortrags. Der Referent der »Neuen Zeitschrift« behauptet sogar, der junge Künstler besitze noch nicht die durchgebildete Technik, die man von dem Virtuosen verlangt. Daß Brahms diese Technik bereits besaß, als er von Marxsen losgesprochen wurde, ist gewiß, und es scheint wenig glaublich, daß sein erneuertes Studium keine besseren Früchte getragen haben sollte. Näher dem Kern der Sache kommt wohl der Berichterstatter der »Signale«, wenn er sagt, es sei dem Künstler nicht um die Be- und Verwunderung der Menge zu tun, das Kunstwerk liege ihm mehr am Herzen als die Kunstfertigkeit. Seines Bleibens in Leipzig war nicht lange. Die beabsichtigte Mitwirkung in einer der Davidschen Quartettsoireen unterblieb, und Brahms reiste nach Hamburg, um sich auf die Mozartfeier vorzubereiten, die Otten für den 26. Januar am Vorabend von Mozarts hundertstem Geburtstage, anberaumt hatte. Brahms trug dabei das d-moll- Konzert des Gefeierten vor. Er übte, wie Emil Krause, der ihn bei dieser Gelegenheit persönlich kennen lernte, im »Hamburger Fremdenblatt« mitteilt, bei Baumgardten und Heins aus einer geschriebenen Partitur, wahrscheinlich aus derselben, die er aus seiner Knabenzeit besaß, wo er sich bedeutende, ihm besonders teuere Hauptwerke der Musikliteratur aus den Stimmen in Partitur zu setzen pflegte. Das Konzert war schwach besucht, der Beifall mäßig. Vor den Ohren einer hochwohlweisen Hamburger Kritik fanden die von Brahms hinzukomponierten Kadenzen keine Gnade; man tadelte ihren modernen Stil. Leider ist das corpus delicti nicht erhalten.

Dagegen hat ein Zufall die Kadenzen zu Beethovens G-dur-Konzert vor dem Untergange gerettet.19 Es sind die besten, dem Stil des Werkes am genauesten angepaßten, die wir kennen. Bezeichnend für Brahms' Bach-Schwärmerei ist die Art, wie er seinem musikalischen Obergott einen kleinen Altar insgeheim darin errichtete, als sollte er seinen Segen zu dem Beethovenschen Konzerte [255] und seiner Ausführung geben. In der Bearbeitung des Hauptthemas zum ersten Satze findet sich die Stelle:


6. Kapitel

20


Vor dem Kieler Konzert, das glücklich von statten ging – Brahms spielte Beethovens Phantasie-Sonate in Es und c-moll-Variationen und mit Böie und Grädener zusammen ein neues Klaviertrio des Konzertgebers – schrieb er dem Hamburger Freunde: »Gott, wenn wir alle die Offiziers kriegen könnten! – Sorge für die Offiziers!« Dieser Ausruf stammt, nach einer Anekdote, aus Klara Wiecks Mädchenjahren her und bedeutete die Sehnsucht nach einem gefüllten Konzertsaal. Wie wenig noch zu damaliger Zeit Beethovens Klavierwerke von konzertierenden Virtuosen beachtet wurden, geht aus einer Vorlesung Vater Friedrich Wiecks hervor, mit der er im Februar 1856 in seiner fünften klassischen Hausmusik den Klaviervortrag seiner jungen Tochter Marie einleitete: »Meines Wissens,« sagte Wieck, »hat meine älteste Tochter Klara die Variationen (die 32 in c-moll) diesen Winter zuerst öffentlich gespielt.« In Wien meinte man, »sie seien fürs Papier, aber nicht fürs Klavier«. Auch die Variationen über das Eroica-Thema waren eine seltene Erscheinung im Konzertsaal. Brahms spielte sie am 2. Februar in der Altouaer Tonhalle bei einer »musikalischen Abendunterhaltung« John Böies. Ebendort zum erstenmale die von ihm aufs Klavier übertragene große Orgel-Toccata in F von Sebastian Bach, die eines seiner Lieblings- und Paradestücke, wenn man so sagen darf, wurde und überall, wo er sie mit dem Orgelton seines volltönenden Spieles höchst gewaltig herausbrachte, das größte Erstaunen der Kenner erregte. Daß er sich gern Stücke für seinen eigensten Gebrauch zurechtmachte, die für andere Instrumente geschrieben waren, um sie als zweite Vortragsnummer in seinen Konzerten [256] zu verwenden, wirst vielleicht ein noch grelleres Streiflicht auf sein Verhältnis zum Klavier als Frühergesagtes. Ebendahin gehören seine Bearbeitungen einzelner Sätze aus Bachs Sonaten für Violine solo, die der Gavotte aus Glucks Aulidischer »Iphigenie« und des fugierten Finales aus Beethovens C-dur-Quartett op. 59; das letzte Stück und manches andere der Art, was er für sich allein behalten wollte, sind unveröffentlicht geblieben.

Seine erste »Konzertreise«, die eigentlich in Hamburg begann und in Altona endete, bestärkte Brahms noch in seiner tief eingewurzelten Abneigung vor dem Publikum, und es kostete ihn immer wieder die größte Überwindung, so oft er, von der harten Not gezwungen, auf den Beruf eines fahrenden Künstlers zurückgriff. Wie ein Welteroberer am Klavier beschaffen sein müsse, sollte er bald darauf erfahren. Anton Rubinstein, der als Wunderkind in den Vierzigerjahren Aufsehen erregt hatte, war 1854 zum erstenmale wieder von Petersburg ins Ausland gegangen, hatte in Frankreich und England mit großem Erfolge konzertiert und wandte sich jetzt nach Deutschland. Fast unmittelbar vor Brahms war er in Hamburg (in den Philharmonischen Konzerten) aufgetreten, und als Brahms Ende Januar 1856 von seiner Vaterstadt nach Hannover ging, um von dort nach Düsseldorf weiter zu reisen, kam er gerade zu dem Abonnementskonzert zurecht, in welchem Rubinstein unter Joachims Direktion mit eigenen Kompositionen debutierte. Er lernte damals den fünfundzwanzigjährigen Künstler schon in den Proben kennen und leistete ihm mit Joachim während seines Aufenthaltes in Hannover Gesellschaft. Sie traten einander nicht näher, und auch Joachim, dem Rubinsteins nonchalante und oberflächliche Kompositionsweise wenig behagte, so glänzend das musikalische Talent war, das sich in allen seinen aus dem Ärmel geschüttelten Werken offenbarte, konnte sich mit dem französierten Russen lange nicht befreunden.21 Rubinstein ging als Spieler mit seinen eigenen Werken ebenso schonungslos um wie mit denen anderer Meister, die manchmal seine mit Sammt gepolsterte Löwentatze schmerzlich zu fühlen bekamen. Aber er war Pianist vom mähnenumflatterten Scheitel bis zur gefühligen Fußsohle, mit der er das Pedal so [257] wunderbar regierte, und besaß ein so hinreißendes wildes Feuer des Vortrags, daß er auch die Widerstrebenden mit sich fortriß. Wenn er erst an einigen Werken, die er zerfleischte, seinen Blutdurst gestillt hatte, so ging er mit anderen um so sänftlicher um. In dem Löwen steckte ein allerliebstes Schmeichelkätzchen, und er heilte die Wunden, die er schlug. Unter seinen für das Klavier geradezu geschaffenen Fingern kam Seele und Poesie in das Instrument, und je gereizter und üblerer sich aufgelegt fühlte, desto besser spielte er. Seine Kunst war der getreue Ausdruck seiner Persönlichkeit; er objektivierte sich selbst mit allen Launen und Schwächen, aber auch mit den höchsten und genialsten Eingebungen des Augenblicks. Brahms und Joachim, die anderen künstlerischen Idealen nachstrebten, mußten sich von vielem, womit Rubinstein gerade am unmittelbarsten auf das Publikum wirkte, peinlich berührt und verletzt finden. Da Antipathien meistens auf Gegenseitigkeit beruhen, so wird man sich nicht wundern, wenn man liest, wie Rubinstein über die in Hannover versammelten Freunde urteilt, in einem Briefe an Liszt (vom 2. Februar):


»J'ai fait la connaissance de Brahms et de Grimm à Hanovre, et même celle de Joachim, je ne l'ai faite que là; des trois nommés c'est lui qui m'a le plus intéressé; il m'a fait l'effet d'un novice au couvent, qui sait qu'il peut encore choisir entre le couvent et le monde, et qui n'a pas encore pris son parti.

Pour ce qui est de Brahms, je ne saurais trop préciser l'impression qu'il m'a faite; pour le salon, il n'est pas assez gracieux, pour la salle de concert, il n'est pas assez fougueux, pour les champs, il n'est pas assez primitif, pour la ville, pas assez général – j'ai peu de foi en ces natures- là.

Grimm m'a paru être une esquisse inachevée de Schumann


Der arme Jüngling! Was den Virtuosen angeht, so hatte Rubinstein mit seinem lieblosen Urteil nicht Unrecht: er war für den Salon nicht anmutig, für den Konzertsaal nicht feurig genug. Am besten paßte er vorläufig für sein der Welt entrücktes Düsseldorfer Studierzimmer, von dessen Kämpfen und Triumphen, Schmerzen und Seligkeiten weder ein Liszt noch ein Rubinstein etwas wußte.

Fußnoten

[258] 1 Wehner siedelte von Göttingen nach Hannover über, um den Musikunterricht bei dem Kronprinzen und der Prinzessin Friederike zu leiten, die Kompositionen des Königs zu sammeln und für den Druck vorzubereiten. Hille, der ihm seine Singakademie abtrat, wurde dafür mit dem Musikdirektorat in Göttingen entschädigt.


2 Phantasie für Violine und Orchester op. 131.


3 Kompositionen Schumanns.


4 (J.C. Lobe.) »Fliegende Blätter für Musik« V. p. 186 ff.


5 Hoplit beruft sich gar auf persönliche Teilnahme als Grund dafür, daß die Zeitschrift Brahms zwei Jahre lang ignorierte! Schon beim ersten Begegnen hatte ihn, wie er sagt, der junge Künstler so wunderbar sympathisch berührt, daß dann Vorsicht und Zurückhaltung im Urteil um so mehr geübt werden mußte. Prachtvoll!


6 »Zur Musik.« Sechzehn Aufsätze von Philipp Spitta. 1892.


7 Daß Wagner die f-moll-Sonate gerade kennenlern te, als er an den »Meistersingern« arbeitete, wird im zweiten Bande dieses Werkes nachgewiesen.


8 Unsere, das c-moll-Quartett angehende Vermutung ist Gewißheit geworden. Albert Dietrich teilt uns mit, er entsinne sich genau aus dem Jahre 1855, bei Brahms den Anfang eines sehr düsteren Klavierquartetts und dazu ein sehr melodisches und ausdrucksvolles zweites Thema gesehen zu haben; beide seien identisch mit den bezüglichen Stellen im c-moll-Quartett, von welchem Brahms den J. Satz später in Bonn vorgelegt habe. Über, einstimmend damit bestätigt Joachim, daß Brahms den ersten Satz desc-moll-Quartetts 1855 komponiert hat; dieser stand aber damals in cis-moll. Von den andern beiden Klavierquartetten sagt derselbe Gewährsmann, sie seien, wenn er sich recht erinnere, zu derselben Zeit begonnen worden. Daß er sie mit Brahms schon in Detmold gespielt habe, wisse er ganz genau. Bargheer erinnert sich des g-moll-Quartetts und seines Vortrages in Detmold. – Ein Brief Joachims (an Brahms) vom Jahre 1856 beschäftigt sich mit einer eingehenden Kritik jenes »cis«-moll-Quartetts. Da ist auch schon von einem letzten Satz die Rede. Wahrscheinlich genügte er dem Komponisten nicht, und er schuf 1873 einen neuen, wie er auch das Scherzo noch gründlich abänderte.


9 Karl Adolf Suckow, der als Novellendichter sich des Pseudonyms »Posgarn« (»Warum denn nicht?«) bediente, ließ 1839 unter demselben Namen eine vortreffliche Übersetzung von Byrons »Manfred« erscheinen, mit Einleitung und Anmerkungen als Beitrag zur Kritik der gegenwärtigen deutschen dramatischen Kunst und Poesie. Das Buch ist auch heute noch lesenswert wegen der eigentümlichen Ansichten, die der Verfasser über die Verbindung des Dramas mit der Musik entwickelt.


10 Dietrich hat den Brief, wie auch einige andere, falsch datiert: »Hamburg, Januar 1863,« was bei der Gewohnheit von Brahms, kein Datum auf seine Briefe zu setzen, entschuldbar ist. Auf eine direkte Anfrage erwiderte Dietrich noch präziser als in den Erinnerungen: »Der 1. Satz der c-moll-Symphonie war in Münster am Stein schon fertig. Doch fehlte ihm die langsame Einleitung.« – Ebendort lernte auch Klara Schumann, wie im dritten, inzwischen (1908) veröffentlichten Bande der Litzmann'schen Biographie bemerkt wird, den Symphoniesatz kennen und notierte dessen »kühnen Anfang« in ihrem Tagebuch. Siehe Brahms III 91.


11 Karl Louis Bargheer, geb. 31. Dezember 1831 zu Bückeburg, gest. 19. Mai 1902 zu Hamburg, ein Schüler Spohrs, war 1855 Konzertmeister in Detmold und benutzte seinen Urlaub, um seine Studien bei Joachim fortzusetzen. Waldemar Tofte, geb. 31. Oktober 1832 zu Kopenhagen, ist ebenfalls aus der Schule Spohrs hervorgegangen.


12 Von ihm hat der Verfasser das Material zu der folgenden Darstellung erhalten. Litzmann berichtigt (a.a.O. p. 386), daß die musikalischen Unterhaltungen nicht im Frühjahr, sondern im September 1855 stattfanden.


13 Brahms hat jene angeregte Zeit nicht vergessen. Gelegentlich seines letzten Besuchs in Meiningen war er mit Mühlfeld und dem Meininger Quartett einer Einladung nach Merseburg gefolgt. Der dort als Regierungspräsident a. D. in Pension lebende Herr v. Diest begrüßte den gefeierten Gast an dem ihm zu Ehren veranstalteten Brahms-Abende (21. Februar 1895, dem zehnten Merseburger). Darauf schickte ihm Brahms von Wien aus eine große Photographie, welche das kleine Düsseldorfer Doppelbild mit Joachim in einer Ecke geklebt trug. Dabei stand von der Hand des Gebers geschrieben: »Joh. Brahms, Düsseldorf, Wien, Merseburg mit verbindlichstem Danke für Ihre Liebenswürdigkeit, die ihn auf das Beste erfreut hat. Vom ergebensten altjungen Düsseldorfer.«


14 Die Romanze erschien mit zwei anderen Anfang 1856 als op. 21 »Johannes Brahms gewidmet«


15 »Blätter der Erinnerung an die fünfzigjährige Dauer der niederrheinischen Musikfeste«, Köln 1868.


16 Wiederabgedruckt in Otto Jahns »Gesammelten Aufsätzen über Musik«.


17 Hanslick, »Aus meinem Leben«, I. p. 261.


18 »Denken Sie meiner bisweilen, auch wenn Sie einmal beten sollten, denn die Konzerte rücken immer näher.«


19 Sie sind im Verlage der Deutschen Brahms-Gesellschaft herausgegeben worden. Siehe die beigebundene Faksimile-Reproduktion der Handschrift!


20 Die Buchstaben sind von Brahms hinzugesetzt.


21 Vgl. den interessanten Brief Joachims über die Ozean, Symphonie, den Moser a.a.O. p. 159 mitteilt.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 1, 4. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921, S. 200-259.
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