[Biographie]

Der Musikhistoriker, der es unternimmt, Wesen und Charakter der einzelnen Perioden in der Entwickelung der Tonkunst darzulegen, wird die gegenwärtige, wie die ganze Nach-Beethoven'sche Epoche überhaupt, als eine von poetischer Tendenz erfüllte bezeichnen dürfen. Seit Beethoven in der Riesenthat seiner neunten Symphonie die Schranken der absoluten Musik durchbrach und im instrumentalen Kunstwerk die Hülfe des dichterischen Wortes in Anspruch nahm, hiermit eine neue Phase seiner Kunst einleitend, einigten sich die Schwesterkünste Musik und Poesie zu immer innigerem Bunde. Ein Blick auf die musikalische Dramatik Weber's und Wagner's, auf die instrumentale und vocale Lyrik der letzten fünf oder sechs Jahrzehnte läßt uns darüber nicht im Zweifel. Die letzten, mehr im declamatorischen Stil gehaltenen Lieder Schubert's, die Concert-Ouvertüren und Lieder ohne Worte Mendelssohn's, die Symphonien Berlioz', die Clavier- und Liederpoesie Chopin's, Schumann's, Franz', die Orchester- und Kirchenwerke Liszt's endlich veranschaulichen auf's deutlichste den Weg, den die Tonkunst nach dieser Richtung eingeschlagen. Am schärfsten aber zeigen sich die Consequenzen dieses poetischen Princips in den Schöpfungen Wagner's und Liszt's entwickelt. Als Musiker[289] und Poet zugleich hatte Franz Liszt, der größte Virtuos, den die Welt gesehen, sich schon als reproducirender Künstler beglaubigt; Musiker und Poet zugleich war er auch als schöpferischer Meister. Eins mit Wagner in der Idee einer engsten Verbindung von Dicht- und Tonkunst, brachten Beide dieselbe gleichwohl auf verschiedenen Gebieten zur Ausführung. Auf der Bühne vollzog der Eine, in Concertsaal und Kirche der Andere seine Thaten. In Beider Namen concentriren sich wesentlich die musikalischen Bestrebungen der Gegenwart; unter den bewegenden Mächten der modernen Kunst stehen sie obenan. Bahnbrechend, umgestaltend wirkten sie, wo immer sie in die letztere eingriffen. Das Wort Beethoven's: »Freiheit, Weitergehen ist in der Kunstwelt wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck«, schrieben sie mit weithin sichtbaren Lettern auf ihr Banner, um das sich die jüngeren Musiker in Scharen sammelten, um schaffend, ausführend oder leitend von ihnen zu lernen. Wo es der Verkündung neuer musikalischer Offenbarungen, der Verwirklichung neuer hoher künstlerischer Ideale galt, übernahmen sie Beide die Führung, und wenn Wagner mit dem nur auf einen Punkt gerichteten ehernen Willen fast ausschließlich nur für die eigenen Ziele Wort und Waffen führte, bediente der selbstlose Liszt nur zu Anderer, nie zu seinen eigenen Gunsten sich seiner glänzenden schriftlichen und mündlichen Beredtsamkeit; stets nur zu Anderer Besten warf er die Macht seiner Autorität in die Wagschale. Vereint, ob auch nach Maßgabe ihrer Art und Persönlichkeit nach verschiedenen Seiten wirkend, viel bezweifelt, viel umstritten, viel bekämpft als Häupter jener neuen Richtung, welche die Spottlust der Gegner in der sichren Zuversicht, daß der Tag ihrer Anerkennung nimmer kommen werde, als »Zukunftsmusik« bewitzelte, vollbrachten sie, unbeirrt durch alles Kampfgewühl, ihre Arbeit[290] für die Gegenwart und für kommende Generationen und sahen sich von dem wachsenden Verständniß der Mitlebenden immer freigebiger die Kränze gereicht, die ihrem Künstlerthum von Gottes Gnaden ziemten. Hand in Hand, als treu verbündete Freunde und Genossen, erfochten sie ihre Siege, bis der Tod unlängst, früher als wir's wähnten, sie auseinander riß und gerade den Kampflustigeren von Beiden, den großen Sieger von Bayreuth, hinüber führte in eine Sphäre ewiger Harmonie und ewigen Friedens.

Magyarisches und deutsches Blut mischt sich in Franz Liszt's Adern.1 Seine Mutter, Anna geb. Lager, hatte in Krems, unsern Wien ihre Heimat. Sein Vater, Adam Liszt, war der Abkömmling eines alten ungarischen Adelsgeschlechts. Unbegütert, wie dasselbe in seinen jüngeren Generationen war, aber trat er nach Vorgang seines Vaters eine einfache bürgerliche Carriere an. Durch den überreichen Familiensegen der Eltern zu früher Selbständigkeit gedrängt, hatte er als Rechnungsbeamter des Fürsten Esterhazy eine schlichte Anstellung gefunden und in dem Dorfe Raiding bei Oedenburg seinen bescheidenen Hausstand begründet. Seinen künstlerischen Bedürfnissen, seiner leidenschaftlichen Musikliebe hatte er bei Wahl seines Berufs kein Gehör schenken dürfen. Nur in seinen Freistunden konnte er sie pflegen. Doch reichte dies bei seiner natürlichen Begabung hin, sich fast ohne jede Anleitung auf allen Streichinstrumenten wie auf Clavier, Guitarre und Flöte eine Fertigkeit anzueignen, die in der Capelle des benachbarten Eisenstadt, der Residenz des Fürsten Esterhazy, häufige Verwendung fand. Mit Haydn, dem Capellmeister des Fürsten, und Hummel, dem[291] damaligen Concertmeister, ward er daselbst befreundet; Cherubini und viele andere berühmte Meister lernte er hier kennen. Was Wunder, daß er bei so regem Verkehr mit Musik und Musikern mit heller Freude, die frühzeitig sich kundgebende Begabung des Sohnes erkannte, der ihm am 22. October des Kometenjahres 1811 geboren wurde?

Die Hausmusik des Vaters, die sonn- und festtäglichen Meßgesänge in der Kirche, die wild-phantastischen Weisen der häufig im Dorfe rastenden Zigeuner warfen die ersten musikalischen Eindrücke in des Kindes empfängliche, leicht erregbare Seele. »So Einer will ich auch werden!« rief der kleine Franz, auf das Bild Beethoven's deutend, aus, das neben andern Musikerbildern die Wand des Wohnzimmers schmückte. Er war sechs Jahre alt, da begann der Vater auf seine inständigen Bitten mit ihm den Clavierunterricht. Fortan ward die Musik der Mittelpunkt seines Lebens. Aus der Gemeinschaft mit seinen Spielkameraden schlich er sich weg zu seinem Instrument. Mit solcher Leidenschaft spielte der zarte Knabe, mit so fieberhaftem Eifer suchte er, eher Noten als Buchstaben schreibend, schon nach eigenen Klängen, nach einem sich in »seltsamen Harmonien und Modulationen« äußernden musikalischen Ausdruck für sein kindliches Empfinden, daß die besorgte Mutter mit Recht nachtheilige Einwirkungen auf seine Gesundheit fürchtete. Eine monatelange Krankheit brachte in der That sein Leben in so ernste Gefahr, daß schon die Kunde von seinem Tode sich in der Umgegend verbreitete und der Dorftischler bereits an seinem Sarge zimmerte. Zum Glück erwies sich die wunderbare Elasticität seiner Natur stärker als die Krankheit – der kleine Künstler genas wieder, um ein großer Künstler zu werden.

Rasch und unaufhaltsam ging es nun vorwärts. Seine Fingerfertigkeit, sein prima-vista-Spiel und mehr noch seine[292] Improvisationen erregten das Staunen Aller, die Franz hörten. Neunjährig trat er schon mit dem Es-dur-Concert von Ries und einer freien Phantasie in Oedenburg vor die Oeffentlichkeit und erspielte sich, nachdem er sich inzwischen auch den Beifall des Fürsten Esterhazy in hohem Maße gewonnen, bald darauf auch in einem im fürstlichen Palais veranstalteten Concert in Preßburg die Bewunderung eines zahlreicheren kunstverständigen Publikums in solchem Maße, daß einige ungarische Magnaten, an ihrer Spitze die Grafen Amadée und Szapary, sich sofort erboten, durch ein Stipendium von sechshundert Gulden sechs Jahre hindurch die Kosten seiner Ausbildung zu tragen.

Wer war glücklicher als Franz? Seine felsenfeste Zuversicht auf den ihm eingeborenen Musikerberuf und den Beistand Gottes, der ihm, wie er sagte, schon helfen werde, alle Sorgen und Opfer der Eltern einst wieder zu vergelten, überwand die Bedenken und Einwürfe der zagenden Mutter. Auf des Knaben zarte Schultern ward nun die Zukunft der Familie gestellt. Die sichere Stellung des Vaters wurde aufgegeben und hinaus in die Welt zogen die Eltern mit ihrem Kinde.

Adam Liszt's Hoffnung, seinen mittlerweile nach Weimar übergesiedelten Freund Hummel als Lehrer für seinen Sohn zu gewinnen, scheiterte an den seine Mittel übersteigenden Forderungen desselben. So ward denn in Wien zunächst und zwar unter Führung Czerny's im Clavierspiel und Salieri's in der Composition, die Ausbildung des jungen Musikers betrieben. Seine bei mangelnder systematischer Schulung aller künstlerischen Grundlage entbehrende Technik ward nun in strenge Zucht genommen; während er sich auch im Partiturlesen und -Spielen bald eine erstaunliche Fertigkeit erwarb und auch in der Composition so viel Geschick zeigte, daß ein von ihm geschriebenes Tantum ergo Salieri's lebhaftesten Beifall errang. Genug mit[293] glänzendem Erfolge konnte sich der elfjährige Franz am 1. December 1822 der musikliebenden Kaiserstadt in einem Concert im landständischen Saale zuerst vorstellen. Ein zweites, am 13. April 1823 von ihm im Redoutensaal gegebenes Concert, dem Beethoven die seltene Ehre seiner Anwesenheit schenkte, trug ihm als liebsten Lohn einen Kuß des großen Tonmeisters ein, dem er schon zuvor zu seinem Stolze durch Schindler zugeführt worden war und zu dem er von je mit glühender Verehrung als zu seinem höchsten Ideal emporblickte. Beide Concerte ergaben die Mittel, des Knaben künstlerische Ausrüstung in Paris zu vollenden.

Nicht nur einen Virtuosen, einen Componisten vielmehr wollte Adam Liszt der Welt in seinem Sohne erziehen; er wollte ihn auf dem Pariser Conservatorium unter Cherubini's Leitung diesem höchsten Ziele entgegenführen. Allein die Thore der berühmten Anstalt verschlossen sich, einem streng festgehaltenen Gesetz zufolge, dem Ausländer. Vergeblich flehten Vater und Sohn – »das Reglement war unerbittlich – und ich untröstlich«, schreibt Franz.2 »Alles schien mir verloren, selbst die Ehre und ich glaubte an keine Hülfe mehr.« Zum Glück fand er in Paer und Reicha, die Beide nach einander seine Compositionslehrer wurden, thätige Förderer seiner Bestrebungen. Auch ohne Conservatorium machte er seinen Weg. Empfehlungen der ungarischen und österreichischen Aristokratie öffneten ihrem Schützling die Salons ihrer französischen Standesgenossen. Die Herzogin von Berry und der Herzog von Orleans, der nachmalige König Louis Philippe, nahmen ihn in ihre besondere Protection. Im Umsehen war »le petit Litz«, wie man ihn nannte, der Held des Tages, der Liebling des Adels, der[294] Künstler und Gelehrten, kurz des ganzen gebildeten Paris. Hatte sich schon die Presse in Wien, wie auf der Durchreise in München und Stuttgart für den »kleinen Herkules«, den »zweiten Mozart«, als den man ihn begrüßte, begeistert, so strömten auch die Pariser Blätter, nachdem man ihn am 8. März 1824 in einem Concert in der italienischen Oper zum ersten Mal öffentlich bewundert hatte, von Lobpreisungen des phänomenalen Talentes über, »das keinen Nebenbuhler mehr kannte«. Als dem »ersten Clavierspieler Europas« huldigte man dem »unvergleichlichen Kind«, dessen »bezaubernde Eleganz«, Geistesanmuth, liebenswürdige Herzensgüte und eigenthümlich schöne aristokratische Erscheinung den Eindruck seiner Kunst noch erhöhten und Alle gefangen nahmen.

Auch als Componisten lernte Paris alsbald »le petit Litz« kennen. Fand doch sein Lehrer Paer, wie früher Salieri, seine schöpferischen Versuche so vielversprechend, daß er ihn unter anderm zur Composition einer Oper – sie blieb die einzige seines Lebens – aufmunterte. Das einactige auf einen Text von Théaulon geschriebene Werk »Don Sancho ou le château de l'amour« ward, als er es am 17. October 1825 unter Leitung Rudolf Kreutzer's in der Académie royale zur Aufführung brachte, so beifällig aufgenommen, daß Adolf Nourrit, der Repräsentant der Hauptrolle, den vierzehnjährigen Componisten auf seinen Armen dem jauchzenden Publikum entgegentrug. Nach einigen Wiederholungen bei Seite gelegt, ging die Partitur später bei einem Brand in der Bibliothek des Opernhauses zu Grunde.

Gelegentlich eines Concertes auch wagte es Franz' übermüthiges Genie, eine Sonate eigener Composition unter Beethoven's Namen einzuführen, ohne daß die anwesenden Künstler die Täuschung gewahr geworden wären. Dabei gab er sich[295] contrapunktischen Studien mit Eifer hin. Alle polyphonen Formen lernte er mit gleicher Leichtigkeit beherrschen, mit der seine Finger den Tasten geboten. Zwischendurch brachten ihm längere und wiederholte Reisen in Begleitung Erard's nach England (1824 und 1825) – wo Georg IV. ihm seine besondere Gunst bezeigte –, in die französischen Departements und die Schweiz neue und immer neue Ruhmesernten. Da starb plötzlich (am 28. August 1827) in Boulogne sur mer, wo Franz sich seiner angegriffenen Gesundheit wegen, zum Gebrauch der Seebäder aufhielt, sein treuer fürsorglicher Vater, und führerlos, auf sich selbst gestellt im Leben wie in der Kunst sah sich mit einem Male der sechzehnjährige Jüngling. Er besann sich nicht, allsogleich volle Mannespflichten auf sich zu nehmen. Voll inniger Liebe zu seiner Mutter, die während seiner letzten Wanderjahre von ihm getrennt in Oesterreich gelebt hatte, entbot er sie sofort zu sich nach Paris, um durch Clavierunterricht daselbst ihre und seine Existenz zu begründen. Selten nur trat er zunächst als Virtuos vor die Oeffentlichkeit. Doch unternahm der Siebzehnjährige es unter Anderem, Beethoven's Es-dur-Concert zu spielen. Zu jener Zeit (1828) ein unerhörtes Wagniß in Paris, wo man Beethoven kaum mehr als dem Namen nach kannte; wie denn Liszt's Programme in der That als »schlecht gewählt« getadelt wurden, – weil er Beethoven und Weber darin aufgenommen hatte.

In möglichster Zurückgezogenheit, wie in schweren inneren Kämpfen, in heißer Arbeit an sich selbst gingen ihm die nächsten Jahre dahin. In diese Zeit fiel ein erster Liebestraum, dem ein jähes Erwachen und Entsagenmüssen folgte. Caroline Comtesse St. Crig, die Tochter des Ministers des Innern, durfte, ob ihm auch ihr ganzes Herz gehörte, nicht die Seine werden. Die Wahl des Vaters bestimmte ihr den ungeliebten Gatten.[296] Bei der Religion allein Trost suchend, ihr ohnedies schon von früher Kindheit an von ganzer Seele ergeben und mit dem seiner Natur eigenen mystischen Zug ihren Mysterien anhangend, begehrte Franz, wie schon einmal vor des Vaters Hingang, auch jetzt wiederum seine Kunst mit der Kirche zu vertauschen. Das Flehen der Mutter und der Gehorsam des Sohnes nur hielten ihn davon zurück, dem innern Drange zu gehorchen; doch tiefe Apathie bemächtigte sich seiner, und an Gemüth und Körper krank, verbarg er sich vor der Welt, die schon eine verfrühte Todtenklage um ihn anstimmte.

Erst die Juli-Revolution mit ihren die Jugend Frankreichs allmächtig erfassenden Ideen und Träumen einer freieren, glücklicheren Weltgestaltung erweckte ihn zu neuer Thatkraft, und die in ihrem Gefolge auf künstlerischem Gebiet zum Durchbruch kommende romantische Bewegung sah ihn mit Hector Berlioz und Chopin, mit Victor Hugo, Alfred de Musset, George Sand, Delacroix u. A. in ihrer Mitte. Von ihr nahm er die Idee des Fortschritts der Kunst auf, die Ueberzeugung, daß in den bewegenden Gedanken der Zeit und der Nationen »der ewige Verjüngungsquell der Kunst zu finden, daß nur das Leben selbst ihr Leben sei.« Einen entscheidenden Impuls empfing er zudem um dieselbe Zeit (1831) durch das Erscheinen Paganini's in Paris.

Völlig neu war bisher in der reproducirenden instrumentalen Kunst jene Unmittelbarkeit der Vortragsweise, die das eigenste Ich des Spielers und sein innerstes Erleben zum Ausdruck bringt. Mit Paginini kam dieselbe, kam mit ihr die Inspiration im Virtuosenthum zu ihrem Rechte; er vertrat den in der Luft liegenden Fortschritt auf reproducirendem Gebiet.

Als die vollendete Verkörperung dessen, was er selbst erstrebte, berührte das weltberückende Spiel des Geigerkönigs den[297] jungen Franz Liszt. Am Genie des Italieners reiste das seine. Die Höhe von dessen Meisterschaft zu erreichen, ja zu überbieten, war sein Trachten, und so in unablässigem Studium dessen violinistische Technik gleichsam in's Pianistische übertragend, sie dabei aber zu seiner eigensten Sprache umschaffend, ward Liszt, indem er, die Sprung-und Spannungsfähigkeit der Hand ausbildend, der Claviermusik die Weitgriffigkeit gewann, welche ihr Klangreich in's Ungemessene erweiterte, der Begründer einer neuen Claviertechnik.

Doch auch negativ lernte Liszt von Paganini. Was dessen Kunst die Krone raubte: der Mangel an allgemeiner und menschlicher Bildung, der Mangel an Idealität mit einem Worte, brachte Liszt zum Bewußtsein der wahren Mission des Künstlers. »Die Kunst« – schreibt er in seinem berühmten Nachruf an Paganini (1841) – »die Kunst nicht als bequemes Mittel für egoistische Vortheile und unfruchtbare Berühmtheit auffassen, sondern als eine sympathische Macht, welche die Menschen vereint und einander verbindet, das eigene Leben ausbilden zu jener hohen Würde, die dem Talent als Ideal vorschwebt, den Künstlern das Verständniß öffnen für das, was sie sollen und was sie können, die öffentliche Meinung beherrschen durch das edle Uebergewicht eines hochsinnigen Lebens, und in den Gemüthern die dem Guten so nah verwandte Begeisterung für das Schöne entzünden und nähren – das ist die Aufgabe, welche sich der Künstler zu stellen hat, der sich kraftvoll genug fühlt, Paganini's Erbe zu erstreben.«

Liszt selbst trat dies Erbe an. »Génie oblige« wählte er zur Devise seines Lebens, das an Liebesthaten reicher war und ist als dasjenige irgend eines seiner Kunstgenossen. In stiller unermüdlicher Arbeit erreichte er, vom Schauplatz der Oeffentlichkeit mehrere Jahre zurückgezogen, die Höhe seines unerreichten[298] pianistischen Meisterthums und erwarb sich zugleich jene Universalität der Geistesbildung, die er in Verbindung mit wahrer Herzensbildung für den Culturberuf des Künstlers als unentbehrlich erachtet. Seine Interessen für geistige Materien, für Geschichte, Philosophie, Poesie, Staatswissenschaft, bildende Kunst, wie für die Arbeiten des öffentlichen Lebens forderten Befriedigung und fanden sie in den ernsten vielseitigen Studien, denen er sich widmete – Studien, wie sie bisher seinen Kunstgenossen allerdings fern gelegen hatten. Aber welche Kluft auch trennte ihn, der einen völligen Umschwung in der Stellung des Künstlers herbeiführte, und sein ideales Künstlerbewußtsein von den allgemein herrschenden Kunsttendenzen! Wie viel Handwerkerthum, so klagte er, und wie wenig echte Künstlerschaft gewahrte er allenthalben!

Mit Bitterniß erfüllte ihn oft die Wahrnehmung, daß die Menge vom Virtuosen nur augenblickliche Zerstreuung statt ernster Vermittelung künstlerischer Offenbarungen begehrt. »Ich leugne es nicht,« schreibt er in einem Briefe an Massard3 »es liegt ein mir unerklärbarer mächtiger Zauber, eine mir unerklärliche stolze und doch – ich möchte sagen – wonnige Gewalt darin, eine Geistesgabe zu entfalten, welche uns Gedanken und Herzen der Menschen gewinnt und in die Seele Anderer zündende Funken desselben heiligen Feuers wirft, das unsere eigene Seele verzehrt, in ihnen Sympathien erweckt, die sie unwiderstehlich uns nach, empor zu den Regionen des Schönen, des Idealen, des Göttlichen ziehen! Diese Wirkung, welche der Künstler auf Einzelne ausübt, überträgt seine Phantasie manchmal auf die Menge – dann fühlt er sich König über alle diese Geister, dann fühlt er in sich den Funken der Schöpferkraft:[299] denn durch seine Töne schafft er Erregungen, Gefühle, Gedanken. Es ist nur ein Traum, aber ein Traum, der sein Dasein adelt. Es war auch der meine. – – Ruhig und stoisch aber will ich nun im Wechsel von Erfolg und Nichterfolg bleiben; dem Einen mißtrauend, gleichgültig gegen den Andern will ich in mir allein meinen Stützpunkt finden: mein Gewissen soll mein einziges Kriterium sein.«

Erst im Winter 1834 erschien Liszt wieder im Concertsaal, durch die inzwischen erklommene schwindelnde Höhe seiner Virtuosität, wie durch seine für die bahnbrechenden Zeitgenossen propagandirenden Programme den Parisern ein völlig Neuer geworden. Als Vertreter des modernen romantischen Kunstgeistes trat der junge Himmelsstürmer, der in der überschäumenden Kraft und Souveränetät seines Ich's die conventionellen Dämme durchbrach, zur alten classischen Schule in Gegensatz, aus den Reihen der letzteren ebenso erbittert angegriffen, als vom Publikum, die Aristokratie an der Spitze, begeistert gefeiert. Jahre hindurch währte dieser Meinungskampf, der namentlich in Folge von Thalberg's Auftreten in Paris (1836 und 1837) neu und heftiger entbrannte.

Eine so wenig zu unterschätzende Gegnerschaft Liszt aber auch in dem Wiener Künstler erstand, über das vornehme, aber rein technische Talent des Letzteren trug das spirituelle Genie Liszt's den unausbleiblichen Sieg davon. Der bezeichnende Ausspruch einer geistreichen Frau: »Thalberg ist der Erste – Liszt aber der Einzige«, wurde zum geflügelten Wort, und die Stimme des Volkes, die, wie das Sprüchwort sagt, Gottes Stimme ist, krönte ihn, dessen jugendliche Excentricitäten einer immer harmonischeren Künstlerschaft wichen, als den König der Virtuosen. Das Ideal derselben, »der Einzige« ist er geblieben bis auf diesen Tag.[300]

Liszt's Spiel, dem, der es nie hörte, schildern zu wollen, wäre vergebliches Beginnen. Wie sich der Sphärenklang, die Allgewalt von Wagner's Orchester nicht beschreiben lassen, so auch nicht die diesem verwandte Tonsprache Liszt's am Clavier. »Beängstigend und beseligend zugleich« nannte sie der ihm befreundete Heine, damit die Vermählung des Dämonischen und Göttlichen andeutend, die sie charakterisirt. Es ist weniger die vollkommene Souveränetät seiner Technik, mit der Liszt dem spröden Tasteninstrument gebietet und ihm den seelenvollsten Gesang, ja jede gewollte Gefühlsnuance und Wirkung abzwingt: es ist mehr noch der Geist, die Empfindungstiefe und - Größe, das Ueberwältigende des Genies, das sich aus alledem seine ureigenste Sprache schuf, was uns in diesem Spiel elektrisirt und berauscht, was die Seele mit Eindrücken füllt, die nicht von dieser Welt sind. Liszt's Spiel ist Offenbarung. »Als die absolute Kunst,« hat man gesagt, »frei von allen irdischen Mängeln und Mühen« tritt es uns entgegen.

»Den Virtuosen der Zukunft« nannte Berlioz Franz Liszt. Ein in sich widerspruchsvolles Wort, insofern die Virtuosität, deren Kundgebung im Momente lebt und mit ihm dahin geht, sich ausschließlich mit dem Besitz der Gegenwart begnügen muß, und gleichwohl ein berechtigter Ausspruch, insofern als mit Liszt eine Virtuosenschule in's Leben trat, der mit der Gegenwart zugleich die Zukunft gehört, da sie die Unterordnung der Bravour unter den Geist, der Materie unter die Idee zum Princip erhebt und den gesammten technischen Apparat nur als Darstellungsorgan höherer Intentionen verwendet wissen will. Seit Liszt datirt jenes höhere Virtuosenthum, dem die Virtuosität nicht, wie ehedem unter ihren ersten Vertretern auf dem Clavier, von Clementi und Hummel bis Thalberg, Selbstzweck, sondern nur Mittel zur vollendeten Verlebendigung des Kunstwerks[301] ist. Während Liszt aber die Virtuosität solchergestalt scheinbar erniedrigend, in die Schranken einer Dienerin und Trägerin der Composition bannte, hob er sie gleichzeitig da durch weit über sich selbst hinaus, daß er einerseits ihr technisches Vermögen, ihre Ausdrucksfähigkeit unermeßlich steigerte, andrerseits aber die schöpferische Betheiligung des reproducirenden Künstlers als unerläßliche Forderung feststellte.

Vor seinem, ganz Paris in Aufregung versetzenden Wettkampf mit Thalberg hatte Liszt, durch seine Verbindung mit der unter dem Schriftstellernamen Daniel Stern bekannten Gräfin d'Agoult4 – der Mutter von Richard Wagner's Gattin Cosima – veranlaßt, längere Zeit (die Jahre 1835 und 1836) zurückgezogen in Genf gelebt. Dort hatte er mit einer Reihe von Artikeln für die wesentlich auf seinen Antrieb von Schlesinger begründete Pariser »Gazette musicale« jene tief bedeutsame schriftstellerische Thätigkeit eröffnet, welche die musikalische Literatur um mehrere ihrer allerwerthvollsten Erzeugnisse – wie die Arbeiten über Chopin, Wagner, Berlioz, Schumann, Franz etc., die gegenwärtig als »Gesammelte Schriften«5 vorliegen und das Genie und ausgebreitete Wissen Liszt's auch auf diesem Gebiete allkundig darthun – bereicherten. Dabei ließ er, fortwährend auch schöpferisch thätig, dem neubegründeten Genfer Conservatorium seine seltene Lehrgabe in der ihm eigenen selbstlosen Weise zu Gute kommen.

Auch während der nächsten Jahre (1837–1839) suchte er[302] wenig Zusammenhang mit der Oeffentlichkeit. Er widmete dieselben, Frankreich mit Italien vertauschend, vorzugsweise seiner Selbstbildung, seiner »Ausarbeitung als Künstler«, wie er sagte. »In ihrer ganzen Universalität und Einheit enthüllte sich ihm« – so bezeugt er selbst – »die Kunst«. Konnten ihm auch die modernen musikalischen Zustände daselbst nichts geben, so wandte er sich, wie er an Berlioz schreibt, »zu den Todten. Rafael und Michel Angelo verhalfen ihm,« dem sich alle Eindrücke in Musik umsetzten, »zum Verständniß Mozart's und Beethoven's, das Colosseum und der Campo Santo zu dem der Eroica und des Requiems.« Als Führer durch die römischen Gallerien und Museen wurde ihm besonders Ingres, der damalige Director der französischen Academie, nützlich. Auch mit Rossini verkehrte er viel. In Italien wie in Frankreich (es sei hier nur an Chopin, Berlioz, George Sand, Balzac, Heine, Delacroix, Ary Scheffer, Alfred de Musset als an seinen engeren Freundeskreis erinnert!) und überall, wo er weilte, suchten die bedeutendsten Männer und Frauen der Zeit seine Nähe. Nur zu vereinzelten Malen hatte er sich in Italien öffentlich hören lassen, u. A. auch in Rom (1838) zum ersten Mal ohne mitwirkende Kräfte allein am Clavier ein Concert gegeben, was vor ihm Keiner gewagt hatte, was aber nach seinem glorreichen Vorgang die vielfältigste Nachahmung fand.

Ein innerlich Gereister trat er mit Ende des Jahres 1839 von neuem in die Welt. Glanzvolle Erfolge in Wien, wo man ihn schon 1838 zum Besten der Donauüberschwemmten in Pest gehört und mit unbegrenztem Enthusiasmus als kurzen Gast gesehen hatte, stellten auch auf deutscher Erde seinen Künstlerruf fest und leiteten die Virtuosenreisen ein, die ihn nun vom Norden bis zum Süden, vom Osten bis zum Westen Europas, in einem Triumphzug ohne Gleichen, durch alle[303] Lande und alle musikpflegenden Städte führten. Aller Orten begeistert gefeiert, erlebte er zumal in Ungarn und Deutschland nie dagewesene Huldigungen. Von seinen Landsleuten ward er, der ruhmgekrönte Vertreter heimischer Kunst im Ausland, zugleich als der Repräsentant ihrer eigensten idealsten Interessen, als Vertreter des Fortschritts in der Kunstwelt Ungarns, als der Träger einer nationalen Idee betrachtet und ausgezeichnet und seine Berühmtheit mit dem geistigen Aufschwung seines Volkes in Verbindung gesetzt. Nicht minder sah er sich namentlich in Berlin von einem Enthusiasmus umringt, wie er glühender keinem ausführenden Künstler je lohnte. Rückhaltlos huldigten ihm auch seine Leipziger Kunstgenossen. »Das Instrument glüht und sprüht unter seinem Meister. Es ist nicht mehr Clavierspiel dieser oder jener Art, sondern Aussprache eines kühnen Charakters überhaupt, dem zu herrschen, zu siegen das Geschick einmal statt gefährlichen Werkzeugs das friedliche der Kunst zugetheilt«, schreibt Schumann von dem »Jupiterjüngling«. Und in einem seiner Briefe (1840) äußert Mendelssohn: »Ich habe keinen Musiker gesehen, dem so wie dem Liszt die musikalische Empfindung bis in die Fingerspitzen liefe und da unmittelbar ausströmte. Er besitzt ein durch und durch musikalisches Gefühl, das wohl nirgends seines Gleichen finden möchte.« Fürsten und Papst bedeckten ihn mit Titeln und. Orden; der österreichische Kaiser stellte seinen Adel wieder her, wie er ihn später zum königlich ungarischen Rath mit einem Ehrensold und zum Präsidenten der Pester Musikacademie ernannte. Städte erhoben ihn zu ihrem Ehrenbürger, Pest überreichte ihm den ungarischen Ehrensäbel, die Universität Königsberg verlieh ihm die Doctorwürde. (Er führt, obgleich mit Ehren und Titeln aller Art überhäuft, mit Vorliebe den schlichten Doctortitel.) Ein Begeisterungsrausch folgte, wo man ihn hörte,[304] seinen Spuren; wie bei keinem andern Künstler hefteten sich Triumph und Ehren an seine Fersen. Da – staunend sah es die Welt – hielt er plötzlich ein in seinem Siegeslaufe und schloß, auf der Sonnenhöhe seines Ruhmes stehend, seine Laufbahn als Virtuos, um sich der weiteren Mission, zu der er sich berufen fühlte, der des Dirigenten, Lehrers und Componisten, zuzuwenden.

Siegesmüde, nach einem Heim, einem concentrirteren Wirkungskreis verlangend, der ihm die nöthige Muße zum Schaffen bot, ließ der verwöhnte Liebling Europas sich in dem kleinen Weimar fesseln und nahm dort, einem Rufe des Großherzogs als Hofcapellmeister folgend, im November 1847 seinen Wohnsitz. Auf der »Altenburg« ließ er sich nieder und versammelte mit der geistig hochbedeutenden Herrin des Hauses, der russischen Fürstin Caroline Sayn-Wittgenstein, bald einen Kreis vornehmer Geister um sich, dem die besten Musiker, Dichter, Gelehrten, Maler, Bühnenkünstler Deutschlands und des Auslands als einheimische Elemente oder Gäste angehörten.

Eine neue Kunstblüte rief Liszt auf dem alten classischen Boden hervor und entfaltete eine Wirksamkeit, die für das gesammte Musikleben der Gegenwart von weittragendster Bedeutung wurde. Die neudeutsche Fahne, das Banner des Fortschritts pflanzte er auf mit fester Hand. Erschien es ihm doch als ein wesentlicher Theil seiner Aufgabe, neben den classischen Werken auch den Erzeugnissen unserer Tage, so weit sie sich als lebensfähig erwiesen, gerecht zu werden. Vieles, was bisher unbekannt oder verkannt ein dunkles Dasein fristete, hat er, wie vordem als Virtuos, so nachmals als Dirigent an's Licht gerufen und sich somit billigen Anspruch auf den Dank seiner Zeitgenossen erworben. Welche Verdienste er sich vor allem um Wagner gewann, ist bekannt, wenn auch nicht allenthalben[305] nach seinem vollen Umfang gewürdigt worden. Treuer und wärmer, erfolgreicher und consequenter als irgend Einer trat er von je mit Wort und That für ihn und seine Sache ein. Mit der Intuition des Genies erkannte er, noch ehe ein Anderer sie ahnte, die Größe des ihm wahlverwandten Kunstgeistes, die Tragweite und Bedeutung seiner neuen unerhört kühnen Bahnen. Als Wagner, künstlerische Reformen anstrebend, in Folge seiner Betheiligung an einer Revolution, deren politischem Charakter er durchaus fern stand, als Flüchtling und Verbannter die deutsche Erde meiden mußte, übernahm Liszt, sein »zweites Ich«, wie er ihn nannte, an seiner Stelle die Mission, sein Volk mit seinen Werken bekannt zu machen. In Weimar gründete er »Holländer«, »Tannhäuser«, »Lohengrin« eine sichere Heimat, von der, als festem Mittelpunkt aus, sie sich allmälig, dank seinem siegreichen Vorgehen, die Welt eroberten. Doch damit that er sich nicht genug. Um das Verständniß der ihrer Zeit weit vorausgeeilten und ihr darum fremdartig erscheinenden neuen Schöpfungen auf alle Weise zu fördern, veröffentlichte er seine berühmten Analysen und Artikel über die drei genannten Opern und »Rheingold«6, durch die hinreißende Beredtsamkeit seiner Feder die musikalisch-poetische Wirkung der Erstgenannten unterstützend, ergänzend und motivirend. Liszt's Mahnruf auch feuerte Wagner zu erneuter Thätigkeit an, als er, nach dem Scheitern mannigfacher Pläne, zu einer Zeit tiefster Niedergeschlagenheit das Ende seines Kunstschaffens gekommen glaubte. Liszt war der Erwecker der schlummernden Nibelungen-Idee.

Auch zur Verwirklichung der Festspiele bot er zuerst die Hand. Was wir nachmals in Bayreuth zur Ausführung kommen[306] sahen, war vor Jahren schon von ihm zuerst für Weimar geplant. Der classische Boden, der uns die größten deutschen Dichterwerke geboren, sollte, so wollte er, auch die Geburtsstätte der größten musikalisch-dramatischen Thaten der Neuzeit werden. War es Liszt's Schuld, wenn seine Vorschläge an maßgebender Stelle kein Gehör fanden, wenn der Glaube an den größten Tongenius unserer Zeit erst langsam wachsen und reisen mußte, um seinem Ideal die Verwirklichung zu bringen? Nie, das ist gewiß, fanden große, kühne Ideen einen kühneren, congenialeren Vorkämpfer, als die Gedanken und Ziele Wagner's in Franz Liszt.

Auch für die in Deutschland wie in Frankreich zu jener Zeit noch nicht zu verdienter Geltung gelangten Schöpfungen Berlioz' und namentlich seine Oper »Benvenuto Cellini« wirkte Liszt mit Eifer und Nachdruck. Er war der Erste, der Schumann's »Manfred« auf die Bühne brachte, wie er auch, ungeachtet der vorausgegangenen Mißerfolge in Leipzig, dessen »Genoveva« dem Weimarer Repertoire einverleibte. Schubert's »Alfonso und Estrella« entriß er der Vergessenheit; Rubinstein, Raff, Cornelius, Lassen und andere junge Meister führte er als Operncomponisten ein. Wegbereitend und verständnißfördernd wirkte er für Alle. Keine neue musikalische Erscheinung irgend welcher Bedeutung blieb von ihm unberücksichtigt, und die von ihm geleiteten Opern und Concerte, nicht minder als die allsonntäglich in seinem Hause veranstalteten Matinéen, in denen man den für die Oeffentlichkeit nunmehr verstummten Virtuosen Liszt einzig noch bewundern durfte, übten ihre Anziehungskraft bis in die weite Ferne.

War es sein Grundsatz als Dirigent, daß »die Aufgabe eines Capellmeisters darin bestehe, sich thunlichst überflüssig zu machen und mit seiner Function möglichst zu verschwinden«, –[307] denn »wir sind Steuermänner, aber keine Ruderknechte«, heißt es in seinem »Brief über das Dirigiren«7 und man weiß, mit welch praktischem Erfolge sich diese Methode bewährte – so ließ er auch in seiner Thätigkeit als Lehrer der Individualität die größte Freiheit in der Entwickelung. Da war und ist von Schablone keine Rede; die volle Eigenthümlichkeit und Selbständigkeit bleibt jedem Einzelnen gewahrt, dem er die unschätzbaren Reichthümer seiner Erfahrung in der Technik seiner Kunst erschließt. Läßt sich der individuelle seelische Zauber seines Spiels, die unvergleichlich inspirirte Weise, die seinem Vortrag das Unmittelbare einer neuen schöpferischen Offenbarung giebt, auch auf keinen Andern übertragen: seine Schule ist in sicherem Bestand über alle Welttheile verbreitet. Aus ihr gingen die berühmtesten der jüngeren Pianisten, an ihrer Spitze Hans von Bülow, Tausig, von Bronsart, Sofie Menter, Eugen d'Albert8 hervor, denen sich ein weiter Kreis von Capellmitgliedern und Musikern, wie Joachim, Laub, Singer, Coßmann, Cornelius, Lassen, anschloß.

Wenn Schumann sagt: »Bei Talenten zweiten Ranges genügt es, daß sie hergebrachte Formen beherrschen; bei denen ersten Ranges billigen wir, daß sie sie erweitern; das Genie aber darf frei gebären,« so hat Liszt seinen Anspruch auf dieses Recht mit vollem Bewußtsein seiner Kraft geltend gemacht. Wie er als Pianist auf seinem Instrument gleichsam eine neue Welt entdeckte, die in ihm schlummernden orchestralen Kräfte erweckte und dessen eigentlichste Glanzzeit herbeiführte, mußte er auch als Componist neue selbständige Bahnen wandeln. Ist[308] doch die Signatur seines künstlerischen Charakters das Ungewöhnliche, Großartige. Während seines Wander- und Virtuosenlebens bereits hatte er eine beträchtliche Anzahl von Werken geschaffen, die, für das Clavier geschrieben, zunächst der Ausdruck seiner Virtuosität waren. Gleichzeitig mit der neuen, im Vergleich zu dem bisher Vorhandenen unerhört vervollkommneten Technik, die sie begründeten, versinnlichten sie meist eine poetische Idee. Nachdrücklicher als vor ihm Robert Schumann stellte Liszt ja von je die Ueberzeugung auf, daß das Reich der Musik unbegrenzter sei als daß der Empfindung daß es sich auch die Gedankenwelt zu erschließen vermöge. »Die Vocalmusik vermag es durch die Wahl ihrer Texte, deren Sinn durch ihre Hülfe zu erhöhtem Ausdruck gelangt; die instrumentale kann es durch Programme,« sagt er selbst. An Stelle des reinen Musikschönen tritt somit bei ihm, ähnlich wie bei Berlioz, das »Gedankenhafte«. Eine poetische Idee liegt seinen Concertparaphrasen und Phantasien, die ein bisher in Mißcredit gerathenes Genre künstlerisch adelten und mit völlig neuem charakteristisch-dramatischem Leben füllten, seinen Etüden, Notturnos, Polonaisen und Balladen, den »Consolations«, »Apparitions« und »Harmonies poétiques et religieuses« zu Grunde. In den »Années de pélerinage« haben Natur- und Kunsteindrücke aus der Schweiz und Italien sich zu charakteristischen Tonbildern umgesetzt. In den »Ungarischen Rhapsodien« ließ das Volksleben seiner Heimat sein aus den Liedern, Tänzen und Märschen der Ungarn und Zigeuner zusammengewobenes phantastisches Spiegelbild zurück. In den viel später, erst in Rom entstandenen »Franziskus-Legenden« werden – beigegebene Programme verständigen uns des näheren darüber – fromme Wunder der Heiligengeschichte in Tönen illustrirt.

Musikalische Poesie webt nicht minder in den berühmten[309] Transcriptionen Beethoven'scher, Weber'scher, Mendelssohn'scher, Schumann'scher, Franz'scher, Lassen'scher, Rossini'scher und vor allen Schubert'scher Lieder, die eine neue Aera auf dem Feld der musikalischen Uebertragung begründeten und, dem Geist der Originale bis in die Einzelstimmung hinein Rechnung tragend, denselben der Individualität des Claviers angemessen, durchaus eigenartig reproduciren. Gegen sechzig Transcriptionen Schubert'scher Lieder allein besitzen wir, denen das Publikum zum Theil erst die Bekanntschaft mit den damals noch wenig verbreiteten Originalgesängen dankte. Daneben stellten seine »Clavierpartituren« der Beethoven'schen Symphonien und der phantastischen Symphonie von Berlioz – welche letztere allgemein als die genialste aller Clavierübertragungen von Orchesterwerken bewundert wird –, wie seine Bearbeitungen Wagner'scher, Berlioz'scher, Rossini'scher, Weber'scher Ouvertüren, Schubert'scher Clavier- und Bach'scher Orgelcompositionen sein unübertroffenes Genie als musikalischer Uebersetzer in das hellste Licht.

Größere, umfänglichere musikalische Thaten kamen während seines Weimarer Aufenthaltes zur Vollendung. Hier entstanden seine beiden Clavierconcerte in Es und A, wie die Schumann gewidmete Sonate. Sie zeigen, trotz einer bei näherer Betrachtung unverkennbaren Verwandtschaft der Grundzüge des inneren Baues, eine von den herkömmlichen Formen veränderte Physiognomie. In einem Satze geschaffen, obwohl durch öfteren Tempowechsel den gegensätzlichen Stimmungen der bisher getrennten selbständigen Sätze entsprechend, bringen dieselben eine in dieser Weise neue Einheit des Gedankens und der Empfindung zur Erscheinung. Liszt spinnt zumeist seine Antithesen aus der These heraus, ein Hauptthema und ein Gegenthema verarbeitet er durch rhythmische und harmonische Veränderungen zu den frappantesten Gestaltungen.[310] Zugleich aber legt er in seinen Concerten, mehr als dies sonst hergebracht, den Schwerpunkt auf das Pianoforte und verleiht demselben vornehmlich durch ausgedehntere Cadenzen einen besonderen Glanz.

Was er hiermit im Concert und in der Sonate vollbracht, trieb es ihn, endlich auch auf dem Gebiet der Symphonie zu vollziehen. Vor Jahren schon war die Mahnung laut geworden, er möge »das weitere Feld der symphonischen und dramatischen Composition« betreten. So lange ihm jedoch das Studium und die Entwickelung des Clavierspiels eines weiteren Fortschritts durch ihn fähig schien, beschränkte er sich auf das Clavier, das – er selber sagt es – bisher »sein Ich, seine Sprache, sein Leben« war. Nun trat er als Beherrscher großer orchestraler Formen hervor: er überraschte die musikalische Welt mit seinen zwölf »Symphonischen Dichtungen.«9 Völlig neue Erscheinungen ihrer Art, waren sie der Idee wie der Form nach seine eigensten Geschöpfe. Eine Dichtung, einen poetischen Vorwurf bringt er, indem er ihm seine musikalischen Seiten abgewinnt, zu tonkünstlerischer Darstellung. Die äußere Gestalt wächst aus dem Inhalt heraus, sie ist so mannigfaltig wie dieser Inhalt selbst und eher der Ouvertüre als der Symphonie verwandt. Der Sonatensatz, auf dem die letztere beruht, erwies sich als nicht elastisch genug zur Aufnahme eines neuen poetischen, einen fortlaufenden Ideengehalt repräsentirenden Inhaltes, und so griff Liszt zur freien Variationenform, wie sie Beethoven im Vocalsatz seiner neunten Symphonie – dem Ausgangspunkte für Liszt's gesammtes instrumentales Schaffen – anwandte. Aus[311] einem oder zwei gegensätzlichen Themen – oder Leitmotiven, wenn man will – heraus entwickelt er, ähnlich wie in seinen Concerten, eine ganze Folge verschiedenartigster Stimmungen, die durch rhythmische und harmonische Veränderungen in immer neuer Gestalt erscheinen, dem Gesetze des Wechsels, des Gegensatzes und der Steigerung entsprechend. Das auf diesem Gesetz beruhende Princip des Sonatenbaus ist also trotz der thematischen Einheit und der eine freiere Periodengliederung aufweisenden einsätzigen Form auch hier wirksam, ja die Umrisse der herkömmlichen vier Sätze blicken, freilich zusammengedrängt, mehr oder minder kenntlich noch immer hervor. Bei seinen beiden umfangreichsten und großartigsten Instrumental-Dichtungen »Dante« und »Faust«, bei denen er die Bezeichnung Symphonie beibehielt, beließ er es auch bei der Theilung in selbständige Sätze; aber er schaltet innerhalb derselben auf seine eigene Weise. In beiden, welche die tiefsinnigsten Dichterwerke, die wir besitzen: »die göttliche Komödie« und Goethe's »Faust«, in Tönen verlebendigen, brachte er, wiederum nach Vorbild der neunten Symphonie, im Schlußsatz Chöre zur Anwendung. Den einzelnen Sätzen fügte er erläuternde Titel (hier Inferno, Purgatorio, Magnificat, dort Faust, Gretchen, Mephistopheles) bei, wie er auch die Mehrzahl seiner symphonischen Dichtungen, um Genuß und Verständniß derselben zu erleichtern und uns über den Gedankengang, den er beim Schaffen im Wesentlichen verfolgte, aufzuklären, mit Programmen begleitete. Er giebt uns in denselben entweder vollständige oder theilweise Dichtungen, wie die Verse Victor Hugo's und Lamartine's zur »Bergsymphonie«, zu »Mazeppa« und den »Préludes«, oder er knüpft, wie in »Tasso« und »Prometheus«, an Dichterwerke, oder wie in der »Heldenklage«, an ein historisches Ereigniß an, oder er feiert in der mythischen Gestalt des »Orpheus« die Kunst selber in[312] ihrer erlösenden Macht. Die »Festklänge« und »Hungaria«, sowie »Hamlet«, die »Hunnenschlacht« (nach Kaulbach) und die »Ideale« (nach Schiller) hat er ohne Programm gelassen, da er durch die Titel die ihn leitenden Ideen hinreichend bezeichnet zu haben glaubte.

Eben diese ihre poetisch-musikalische Doppelnatur in Verbindung mit der Neuheit ihrer Form, die doch lediglich das Resultat dieses Inhaltes ist, war dem Verständniß der großen Orchesterschöpfungen Liszt's von vornherein ungünstig und erschwerte durch ihre ungewohnt hohen Anforderungen an das Publikum deren Verbreitung. An sie auch heftete sich trotz ihres strahlenden instrumentalen Glanzes und der in ihnen zu Tage tretenden virtuosen harmonischen und contrapunktischen Kunst eine erbitterte Opposition, die freilich nicht hindern konnte, daß die von Liszt vertretene poetische Richtung in allen Gattungen der Musik zu energischem Ausdruck gelangte und daß seine symphonischen Dichtungen und andere seiner Instrumentalwerke, wie seine geistreichen »Faustepisoden« (nach Lenau), seine erwähnten, äußerst wirkungsvollen Clavierconcerte u.s.w. in alle Concertsäle eindrangen. Scheint auch die aristokratische Natur der sich von der Bühne fern haltenden Liszt'schen Muse, ihr, eine höhere Intelligenz und Empfänglichkeit seitens des Hörers beanspruchendes, feinfühliges dichterisches Wesen, ihr mehr internationaler als specifisch deutscher Geist von vornherein weniger bei uns zur Popularität angelegt, als das ganz im deutschen Gefühls- und Gedankenleben wurzelnde dramatische Kunstwerk des urdeutschen Wagner, das von der Bühne herab täglich vor Tausenden und aber Tausenden seine lebendigen Wunder wirkt: das sich immer unaufhaltsamer ausbreitende Verständniß für dieses wirkte auch für jene förderlich. Genug, wir sahen zumal in den letzten Jahren den Norden und Süden Deutschlands, Oesterreich,[313] Ungarn, Belgien, die Schweiz, Italien wetteifern, Franz Liszt und seine Werke in glänzenden Festen zu feiern.

Nicht minder als seine instrumentalen Schöpfungen haben sich Liszt's Vocalwerke, allen voran seine farbenprächtigen Chöre zur symphonischen Dichtung »Prometheus«, seine Lieder, seine Oratorien und Kirchencompositionen nach anfänglichem Widerstand allerwärts Boden gewonnen. Im Liede vertritt er die Durchführung des poetischen Princips bis zu seinen äußersten Consequenzen. Dem Dichter ordnet sich der Musiker völlig unter. Bei voller Freiheit in Behandlung des Rhythmischen und Melodischen waltet ein declamatorisches Element vor, das Wagners »Sprechgesang« ähnlich sieht. Es sei hier nur an das gefühlsinnige »Ich liebe dich« (von Rückert) erinnert, wogegen sich das populärste von Liszt's Liedern »Es muß ein Wunderbares sein« der älteren Liedform am meisten nähert.

Das poetische charakterisirende Princip, das Liszt im Liede und in seinem Schaffen überhaupt, das thematische Einheitsprincip, das er in seinen Instrumentalschöpfungen verfolgte, gelangt auch in seinen Oratorien und Kirchenwerken zu vollem Rechte. Die Leitmotive, aus denen Wagner das Gewebe seines musikalischen Dramas spinnt, bringt Liszt nun zuerst auch in Oratorium und Messe zur Geltung. Auch auf diesem Gebiet, dem er alle modernen Errungenschaften der Instrumentation und des freien Formenspiels zu Gute kommen läßt, schafft er den Bedürfnissen seiner nun einmal phänomenal organisirten Natur gemäß, Neues, Originales. Wie überall, gab er auch hier, wo es ihm um nichts Geringeres als um die Regeneration der katholischen Kirchenmusik zu thun ist, mit vollen Händen. Wir können bei der Fülle des Gegebenen an dieser Stelle nur der durch die großartig-dramatische Behandlung[314] des Meßtextes insbesondere imponirenden Graner Festmesse (1855), der für die Krönung des österreichischen Kaiserpaares in Pest (1867) geschriebenen ungarischen Krönungsmesse, in der sich das nationale Element den strengen kirchlichen Formen anpaßt und vereint, der Missa choralis, der Messe und des Requiems für Männerstimmen, der Kirchenchorgesänge und Psalmen, sowie der Oratorien »Die heilige Elisabeth« und »Christus« gedenken.

Die am 15. August 1865, gelegentlich des großen Pester National-Musikfestes zuerst aufgeführte »Elisabeth«, die Schwind's bekannten Gemälden auf der Wartburg die nächste Anregung dankt, ist ein auf Text von Roquette geschaffenes musikalisches Drama, das eine Folge von sechs einzelnen abgerundeten Scenen aus dem Leben der Heiligen, zwar ohne den Apparat der Bühne, wie ohne äußerlich entwickelten Zusammenhang, doch mit allen musikalischen Mitteln charakteristischer Individualisirung der Situationen und Personen darstellt. Ganz in Poesie und Romantik getaucht, eine Art »geistlicher Oper«, wie sie Rubinstein anstrebt, tritt bei ihr das dramatische Element dergestalt in den Vordergrund, daß man in Weimar (bei Gelegenheit des siebzigsten Geburtstages des Meisters) sogar eine scenische Darstellung wagte, an die der Autor selbst nie gedacht hatte, die sich aber als in hohem Maße wirksam erwies.

Dagegen wurde beim »Christus«, der am 29. Mai 1873 in Weimar seine erste vollständige, vom Componisten geleitete Aufführung erlebte, das Dramatische und Epische vollständig ausgeschieden. Ein lyrisches Tongemälde, bringt derselbe nicht, wie verwandte Werke Händel's, Bach's, Mendelssohn's, Kiel's, die Person des Heilands oder andere Persönlichkeiten der heiligen Tragödie, sondern die Christusidee von der Geburt bis zur Auferstehung zum Ausdruck. Das dreitheilige Ganze[315] (»Weihnachtsoratorium«, »Nach Epiphania« und »Passion und Auferstehung«) gliedert sich in abgeschlossene charakteristische Instrumentalbilder und Vocalsätze, die durch Leitmotive (theilweise, wie in der »Elisabeth« und der Graner Messe auf altkirchlichen Intonationen beruhende) in innere Beziehung zu einander gesetzt sind und deren Text Liszt selbst aus Worten der heiligen Schrift und der katholischen Liturgie zusammenstellte. Die ehrwürdigen Traditionen des katholischen Kirchengesangs erscheinen dabei mit den Glanzwirkungen des modernen, echt Lisztisch behandelten Orchesters in Zusammenhang und Harmonie gebracht. Hier haben wir Liszt's gewaltigste That im Bereich der geistlichen Musik, eine Schöpfung voll unvergleichlicher Geistestiefe – durfte man sie doch als die größte oratorische Erscheinung unsres Jahrhunderts bezeichnen.

Weitaus die Mehrzahl der kirchlichen Compositionen Liszt's entkeimte übrigens nicht mehr dem weimarischen, sondern dem römischen Boden. Mehr und mehr war Liszt seiner Stellung in Weimar müde geworden, seit mit Dingelstedt's Eintritt in die Generalintendantur (im September 1857) das Hauptgewicht des Theaters auf das Drama gelegt ward, während andrerseits die Gründung der Malerschule zu viel Mittel in Anspruch nahm, um bei dem beschränkten Hofbudget noch für Oper und Orchester Ersprießliches so fördern zu können, wie es eines Liszt würdig war. Auch das öfters aufgetauchte und von Liszt unterstützte Project eines Conservatoriums mußte wegen der Malerschule fallen, und die Schillerstiftung trat dagegen in den Vordergrund. Als im December 1859 die Oper »Der Barbier von Bagdad« von Peter Cornelius, einem der trefflichsten Schüler des Meisters, als Opfer einer Coterie, die sich gegen Liszt gebildet hatte, durchfiel, nahm der Letztere dies zur Veranlassung, von der Direction der Oper für immer zurückzutreten.[316] Im darauffolgenden Jahre lebte er eine Zeitlang in Paris, das er um seiner Mutter willen fast alljährlich besuchte (er verlor sie 1866), und nahm dann einen längeren Aufenthalt bei dem Fürsten von Hohenzollern-Hechingen in Löwenberg in Schlesien. Im Sommer 1861 organisirte und leitete er zwar wieder das Weimarer Sängerfest und das Musikfest des unter seinem Präsidium 1859 gegründeten »Allgemeinen deutschen Musikvereins«, das Wagner nach langen Jahren der Verbannung zum ersten Mal wieder auf deutschem Boden mit deutschen Kunstgenossen zusammenführte; doch sollte dies seine letzte Kundgebung als weimar'scher Hofcapellmeister sein. Bald darauf, im September 1861 verließ er den Ort seines langjährigen Aufenthaltes und begab sich über Paris nach Rom. Dort empfing er am 25. April 1865 vom Cardinal Hohenlohe, dem damaligen Großalmosenier des Papstes, in der vaticanischen Capelle die Weihen, die ihm den Rang eines Abbate verliehen, zu dem man später noch die Würde eines Canonicus fügte.

Den Wunsch, den er als Jüngling um seiner Eltern willen aufgegeben, ihn brachte der Mann, der schon des Lebens Mittagshöhe überschritten hatte, nun zur Erfüllung. »Du gehörst der Kunst, nicht der Kirche«, hatte einst der Vater gesagt – jetzt gehörte er beiden. Denn seinem künstlerischen Beruf blieb der »moderne Palestrina«, wie man den Liebling des heiligen Vaters nannte, auch ferner getreu.

Die ewige Stadt erlebte auch den Triumph, ihn nach langen Jahren der Zurückgezogenheit als Virtuosen wieder vor die Oeffentlichkeit treten zu sehen. Die academia sacra, die zu Gunsten des heiligen Stuhls am 21. März 1864 veranstaltet ward und das imponirende Resultat einer Einnahme von einigen zwanzigtausend Francs ergab, nannte unter den stolzen Namen[317] ihrer Mitwirkenden auch Franz Liszt. Reden der Cardinäle Reisach, Pitta und Guidi und des Erzbischofs von Westminster, Monsignore Manning, die in deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache die lehrende, streitende, segnende und endlich triumphirende Macht der Kirche zum Gegenstand hatten, wechselten mit Liszt's Vortrag mehrerer Clavierstücke und Gesängen der päpstlichen Capelle; während der Dichter Tarnassi den poetischen Theil der Feier übernahm und Monsignore Nardi in einem italienischen Epilog dem ebenso glänzenden als zahlreich versammelten Publikum seinen Dank für die Theilnahme an »dem Aermsten der Souveräne« aussprach.

Im Uebrigen lebte Liszt still in dem ehemaligen Dominikanerkloster auf dem Monte Mario, das er bald nach seiner Ankunft in Rom zu seinem Aufenthaltsort erwählte, aber später mit einer Wohnung in nächster Nachbarschaft des Klosters Santa Francesca Romana vertauschte, das inmitten der Ruinen des alten Forum gelegen ist. Mit Vorliebe zieht er sich nach Villa d'Este in Tivoli zurück, das Eigenthum des Cardinal Hohenlohe, mit dem ihn ein nahes Verhältniß verbindet und bei dem er, nachdem er die Weihen erhalten, über ein Jahr lang im Vatican lebte. Einem Orden trat er nicht bei, doch hielt er sich zu den Franziskanern, bei denen er schon früher Tertiarius war. Sein Verkehr beschränkt sich auf wenige Freunde, die französische Diplomatie und die hohe Geistlichkeit. In besonderer Gunst stand er beim heiligen Vater, der ihn selbst besuchte, um den Offenbarungen seines Genius entzückt zu lauschen, und wiederholt verweilte Liszt längere Zeit in der Nähe Pio Nono's, der ihn »seinen treuen Sohn«, »seinen Palestrina« nannte und ihm bis zu seinem Tode aufrichtig zugethan blieb.[318]

Seit 1869 kehrt Liszt, nachdem er im August 1864 zum Carlsruher Musikfest zum ersten Mal wieder Deutschland und somit auch Weimar besucht hatte, wieder als regelmäßiger Gast für mehrere Monate jährlich in der sächsischen Residenz an der Ilm ein, wo sich ihm in der »Hofgärtnerei«, inmitten des berühmten Parkes, der Goethe seine Anlage dankt, ein neues poetisches Heim erschlossen. Dort organisirte er im Mai 1870 das Beethovenfest, bei welcher Gelegenheit er eine neu componirte Beethoven-Cantate zu Gehör brachte, um im December desselben Jahres auch die Beethoven-Säcularfeier in Pest zu leiten.

Seither lebt er, nebenbei um künstlerischer Zwecke willen – wie zu größeren Aufführungen seiner Werke, den Tonkünstlerversammlungen des »Allgemeinen deutschen Musikvereins«, den Bayreuther Festspielen – noch vielfach reisend, abwechselnd in Weimar, Rom und Pest, wo er sein ihm 1875 übertragenes Amt als Präsident der Musikacademie im Februar 1876 officiell antrat, nachdem er am 18. November 1873 dort sein fünfzigjähriges Künstlerjubiläum festlich begangen hatte. Ob hier oder dort, allerwärts sieht er sich umdrängt von Scharen Kunstbeflissener, die von ihm zu lernen begehren, von Freunden und Verehrern, die sein Genie nicht minder als der Zauber seiner Persönlichkeit an ihn kettet, wie denn die Freundschaft der Männer und die Liebe der Frauen seinem unter einem seltenen Glücksstern stehenden Leben nie fehlten.

Wo immer er auch weilt, unablässig wirkt er zu Nutz und Frommen der Kunst und Künstler. Unzähligen schon hat er den Weg in die Oeffentlichkeit gebahnt, allen künstlerischen Bestrebungen zeigt er ein offenes Herz und offene Hände. Für wie viele humanitäre Zwecke setzte er von je seine Künstlerschaft ein! Machte er schon während seiner Virtuosenlaufbahn seinen[319] Genius unvergleichlich mehr dem Vortheil Anderer als seinem eigenen dienstbar – denn von den Millionen, die er erspielte, erübrigte er für sich selbst nur eine verhältnißmäßig bescheidene Summe, während er allein für den Ausbau des Cölner Doms, das Bonner Beethoven-Denkmal, dessen Kosten er zum vollen Dritttheil deckte, die Hamburger Abgebrannten viele Tausende hingab – so war nach Abschluß seiner Pianistencarrière seine öffentliche künstlerische Thätigkeit ausschließlich dem Besten Anderer, sei es künstlerischen oder mildthätigen Zwecken geweiht. Wie oft, noch bis in das Jahr 1882 hinein, erschien er, dank seiner unerschöpflichen Güte und Menschenfreundlichkeit, öffentlich an dem Instrument, das er wie kein Anderer zu beseelen und zu beflügeln versteht! Und doch floß seit Ende 1847 weder durch Clavierspielen und Dirigiren, noch durch Unterrichten ein Heller in seine eigene Tasche. Dies Alles, was Andern reiche Capitalien und Zinsen eintrug, kostete ihm selbst nur Opfer an Zeit und Geld.

»Génie oblige«, dem Wahlspruch seiner Jugend, lebte er, edlen, großmüthigen Herzens, nach bis in sein Alter, das freilich, dank der fast unverminderten Spannkraft seines Geistes und Körpers, nur einer verlängerten Jugend gleicht. Einer der Auserwähltesten unter den Berufenen, eine der vornehmsten Zierden unsres Jahrhunderts, möge er noch lange, lange unter uns weilen![320]

Quelle:
La Mara (d.i.: Marie Lipsius): Musikalische Studienköpfe, Erster Band: Romantiker, sechste umgearbeitete Auflage, Leipzig: Heinrich Schmidt & Carl Günther, 1883., S. 287,321.
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