Sein Bildungsgang.

[17] Der Ort, wo Mozart geboren war, Salzburg, auf der Gränze von Deutschland und Italien, den beiden Ländern, die sich damals in der Musik den Rang streitig zu machen begannen, und die vielen Reisen brachten unsern Meister frühzeitig in Verbindung mit Allem, was seine Kunst damals leistete. In Italien hatte die Neapolitanische Schule von Scarlatti bis auf Hasse herab besonders in der Oper eine Menge von festen Formen geschaffen, aus dem Recitativ waren allmählich die Cavatine und die Arie hervorgegangen, und ebenso war die Form des Ensembles sowie der Ouverture festgestellt. Mozart selbst schrieb noch als Knabe in Mailand und Rom mehrere[17] Opern ganz in der damals hergebrachten Form, und sie sollen den Erzeugnissen der Zeit in keiner Weise nachgestanden, ja der Divino Sassone Hasse soll schon damals an der Klaue den Löwen erkannt haben. Er gewann sich daraus die Beherrschung des melodiösen Elementes, das dem Italiener, dem Bastardbruder der alten Griechen, vorzüglich am Herzen liegt, die wunderbare Klarheit und fließende Schönheit des einfachen Tonganges, die zur damaligen Zeit den deutschen Meistern durchaus fehlte, und fügte später der Anmuth und Lieblichkeit dieser Schreibweise die deutsche Tiefe und Wahrheit des Gefühls, den Ausdruck hinzu. Auf diese Weise rettete er für die Kunst überhaupt die Vorzüge der italienischen Musik, die, jenes tiefern Gehaltes immer mehr entbehrend, bald zum hohlen Formalismus der Bravourarie herabsank. Nach Frankreich hatte in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts der Florentiner Lully die Oper hinüber gebracht. Dort bildete sich allmählich das Dramatische derselben ebenso vorwiegend aus, wie in Italien das musikalische Element. Es entsprach dies dem Geiste der Franzosen, die gerne Leben, Bewegung um sich sehen; in der Melodie waren sie aus demselben Grunde mehr dem lebendigen Elemente des Rhythmus zugethan, der das französische Volkslied bis auf den heutigen Tag kennzeichnet. Der Dirigent der Oper gab jeden Takt mit einem lauten Schlag auf das Pult an. Aber auch die Anfänge einer reichern Harmonisirung waren gemacht. Rameau, aus dem germanischen Frankreich stammend, fühlte zuerst das Bedürfniß nach der Innerlichkeit und Weichheit, welche die Harmonie der Melodie verleiht, und gab auch der Oper etwas Accordleben bei. Doch erst der deutsche Gluck brachte aus seinem Vaterlande den vollen Gehalt des Innern, das deutsche Gemüth,[18] mit, das die Harmonie erzeugt hatte. Mozart lebte in Paris, als jener Musiker den Sieg erfocht gegen die italienische Oper, die auch dort drohte, ihren einseitigen Formalismus, ihre Gesangsvirtuosität geltend zu machen. Gluck, der selbst viele italienische Opern geschrieben hatte, und also ihre Formen ziemlich beherrschte, vermochte es bei seinem Streben nach Naturwahrheit, der jedesmaligen Situation den richtigen Ausdruck in der Musik zu geben, und Mozart bewies schon bald nachher in seinem Idomeneo, daß er diese Tendenz begriffen habe. Nur war er unendlich musikalischer als Gluck, und daher gelang es erst ihm, den Ausdruck aus der bloßen Richtigkeit und Naturwahrheit bis zur vollen Schönheit zu erheben und über seine Gestalten ein mehr individuelles Leben zu verbreiten als jener Meister vermocht hatte.

Von deutschen Meistern hat Mozart wohl direct am meisten gelernt. Freilich trug er in seinem eigenen, echt deutschen Gemüthe den Grund, der sich nach den Tiefen der Musik sehnt, und schuf aus sich selbst heraus die Fülle der Harmonie und der Polyphonie. Aber abgesehen davon, daß sein Vater sein Lehrer war und dieser ihm die Regeln der deutschen Kunst, die Wahrheit des Gefühls im Tonausdruck beibrachte, wissen wir von Mozart selbst, daß er von I. Haydn vieles gelernt hatte. Er selbst nannte diesen seinen lieben Papa und widmete ihm die ersten sechs Quartette. Haydn hinwiederum behauptete, von Emanuel Bach, dem Schöpfer der heutigen Klaviermusik, das Meiste seiner Kunst zu haben. Aber es ist nicht wahrscheinlich, daß sowohl Haydn als Mozart sehr bekannt gewesen sind mit dem, was in Norddeutschland sich besonders durch I. Sebastian Bach aus dem Choral heraus entwickelt hatte. In der Zeit seiner Bildung ist[19] die mystische Innerlichkeit der Musik dieses Meisters an Mozart sicherlich nicht herangetreten, würde auch in ihrem specifisch evangelischen Geiste schwerlich besondern Anklang bei ihm gefunden haben. Und von Händel wissen wir bestimmt, daß Mozart ihn in seinen größeren Werken erst später (in Wien im van Swieten'schen Hause) kennen gelernt hat, aber noch früh genug, um sich von seiner Gewalt und Schlagfertigkeit das Nöthige anzueignen. Erst die freieren Formen der Sonate, des Quartetts und der Symphonie, die Joseph Haydn allmählich immer bestimmter herausgeschaffen, konnten Mozart passend erscheinen, den ganzen Gehalt seines Fühlens frei sich ergießen zu lassen.

Aus diesem Bildungsgange erklärt sich die Universalität, die Mozart in der Musik hat; die Kraft seines Genius allein hätte sie ihm nicht erworben. In allen Gebieten der Musik waren die Typen und Formen fast bis zur Vollendung gediehen; er brauchte wie zu seiner Zeit Raphael bloß an dem Baume seiner Kunst zu schütteln, und die reifen Früchte fielen ihm in den Schooß. So kam es, daß auch er, wie Goethe von jenem Meister sagt, »eben immer das machte, was die Andern zu machen wünschten.« Erst seinem Genius war es verliehen, all diesen Formen den vollen Gehalt zu geben, und die Musik zu einem vollen, freien Aussprechen der Seele zu machen. Wunderbar ist die Leichtigkeit, mit der er sich schon als Kind alles Positive, alle Fertigkeiten seiner Kunst aneignete; es schien als bedürfe er dazu keiner Arbeit, sondern als ruhe jede Art der musikalischen Sprache schon eingeboren in seiner Seele, und er brauche sich ihrer nur zu erinnern, um sie zu beherrschen. In jedes Meisters »Manier« vermochte er zu schreiben. Erst aus späterer Zeit[20] wissen wir, daß er mit großer Aufmerksamkeit die Partituren der verschiedensten Meister, Gluck, Salieri, Händel u.A. studirte. Er erreichte freilich nicht des Letztern Großheit, nicht Bach's Tiefe, aber dennoch, behaupten wir, ging er über sie Alle unendlich hinaus, denn nur ihm gelang es, zur reinen Schönheit zu kommen.

Um dies näher zu begründen, müssen wir auf den Geist eingehen, aus dem heraus seine großen Vorgänger schufen.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 17-21.
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