I.

Seine Eltern.

Die Familie Liszt. Adam Liszt's Herkunft und Berufsthätigkeit. Seine Liebe zur Musik. Leben in Eisenstadt. Seine Anstellung als Beamter. Verheirathung mit Adam Lager. Charakteristik beider.


Eintausend achthundert und elf war ein Kometenjahr, – eintausend achthundert und elf war die Jahreswiege vieler großer Männer Europas. Schwert- und Harfenklang umrauschten es und verkündeten der Zukunft bahnbrechende Geister. Licht, Leben, Glanz verheißend erscheint dieses Jahr in der Geschichte europäischen Geisteslebens.

Eintausend achthundert und elf war auch das Geburtsjahr Franz Liszt's.

Das Genie, wohl Kronen tragend, ist nicht auf dem Thron geboren, – es entsteigt dem Herzen der Völker. Selten feiert es seinen Eintritt in die Welt da, wo Reichthum und Macht ihre Paläste gebaut. Wo die Arbeit herrscht und das Schaffen Lebensbedingung ist, da lebt es vorzugsweise seinen Kindestraum. Auch Franz Liszt's Wiege umstanden einfache Verhältnisse. Ein Vater, der die Mittel für des Lebens Bedürfnisse als Rechnungsbeamter des Fürsten Esterhazy erwarb, eine Mutter, deren Hände des Hauses Arbeit verrichteten, ländliche Einfachheit, ländlicher Frieden, Wiesen-, Waldesgrün, Vogelsang ringsum, in weiter Ferne das Aufsteigen großer Bergketten, welche eine Ebene umgrenzend doch Sehnsucht im Herzen erregten: das war die Scenerie seiner Kindheit. Sein Vater war Ungar, seine Mutter eine Österreicherin, – magyarische und deutsche Zunge, magyarische und deutsche Gefühlsweise, kein Einerlei umstand seine Wiege trotz der Einfachheit, die sie umgab.[3]

Der beobachtende Verstand nannte durch Plato's Mund die Kinder eine »Fortsetzung ihrer Eltern«. Tausendjährige Erfahrung hat dieses Wort tausendfach zu einer Regel der Natur gestempelt, und selbst da, wo das allmächtige Schaffen der letzteren diese Regel überholt zu haben scheint und ihrer geheimnisvollen Umarmung mit der Zeit ein Genius entspringt, selbst da lebt sie fort in wesentlichen Eigenschaften, welche Vater und Mutter erkennen lassen und uns zur irdischen Spur werden, um für seine Besonderheit einen Anfang und eine Erklärung zu finden. Eine Ausnahme der Regel, stößt der Genius die Regel nicht um. Wie jedoch eines Baumes Kraft und Größe an seinem einstmaligen Keime sich nicht messen läßt, so können umgekehrt die Keime, welche die Eigenschaften seiner Eltern ihm geben, nicht Maß oder Vorbestimmung sein weder für die Kraft und die Höhe, noch für die Schönheit und Richtung, die sie in ihm erreichen und einschlagen werden. Seine Eltern sind sein Vorgedanke. Franz Liszt hat viel von Vater und Mütter. Von beiden Wahrhaftigkeit, vom Vater das heißwallende Ungarnblut, von der Mutter das deutsche Gemüth voll Innigkeit; vom Vater das Talent zur Musik, und von der Mutter die Seele, die seiner Harfe den Klang gab; von seinem Vater den Sinn für Ordnung und Pflichttreue, und von der Mutter die heilige Liebe, welche Menschheit und Gott aus Herz drückt, – er hat viel von beiden. –

Dem Namen und den Familientraditionen nach gehört der Name Liszt zu den ungarischen Adelsnamen. Wie jedoch die Aristokratie der Ungarn und der slawischen Völker überhaupt, als nicht aus dem Lehnswesen entstanden, das »von« vor dem Namen nicht kennt, so trug auch er nicht dieses anderen Nationen Europas so geläufige Abzeichen des Adelsstandes. Seine Spuren reichen mehrere Jahrhunderte zurück. Über die Familie selbst, über ihre Abstammung, sowie über ihre Entwickelung von Generation zu Generation liegen jedoch keine bestimmten Urkunden vor. Hierin theilt sie mit vielen anderen Familien des ungarischen Adels dasselbe Los, welches auch aus ein und derselben Ursache entsprang. Die Kriege und Fehden nämlich, in welche Ungarn Jahrhunderte hindurch innerhalb des eigenen Landes verwickelt war, die hiemit verbundenen Verheerungen und Verwüstungen, das Sengen und Brennen, das mit den Türkenkriegen während des sechzehnte und siebzehnten Jahrhunderts durch das Land zog, zerstörten die[4] Kulturarbeit der kurzen Perioden der Ruhe und des Friedens, und machten das Auffinden von unzähligen Familienurkunden unmöglich. Nur über einen Johann Liszt (Johannes Liszthius), welcher im sechzehnten Jahrhundert lebte und bis zum königlichen Kanzler und Bischof von Raab emporgestiegen war, liegen noch Dokumente vor. Sekretär bei Isabella, der Wittwe Zapolyá's, trat er, nachdem diese 1551 Siebenbürgen an Kaiser Ferdinand I. abgetreten, in gleicher Eigenschaft in die Dienste des neuen Landesherrn. Aus seiner Verheirathung mit Lucretia, der Nichte des berühmten Grauer Erzbischofs Nikolaus Olahus, waren ihm zwei Söhne und eine Tochter, Johann, Stephan und Agnetha, entsprungen, seine Gattin aber wurde ihm bald durch den Tod entrissen, ein Verlust, welcher ihn zum geistlichen Stand getrieben haben mag. Bald darauf erhielt er als Vice-Hofkanzler das Bisthum Veszprim (1568), ward später wirklicher Hofkanzler und stieg endlich 1573 zum Bischof von Raab empor. Er starb in Prag 1577. Ob aber oder auch inwieweit dieser Bischof mit seinen Verwandten und Nachkommen, deren Spuren sich bis zur zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts verfolgen lassen, dann aber vollständig erlöschen, mit der Familie, welcher Franz Liszt entsprossen, verbunden ist, hat sich bis zur Stunde und trotz mancher hierher bezüglichen Forschung nicht ermitteln, folglich auch nicht feststellen lassen. Alles Nachforschen ist durch die Türkenkriege, welche damals über Ungarn verhängt waren, dann aber auch durch einen der neueren Zeit angehörenden Brand in Raab, welcher Kirchenbücher, Urkunden und Protokolle aller Art vernichtete, geradezu abgeschnitten. Nur so viel weiß man, daß die Brüder und Nachkommen des Bischofs Liszt begütert waren und daß diese Güter in den Komitaten Preßburg, Raab, Wieselburg lagen. Die jüngeren Generationen dagegen, der Vater, Groß- und Urgroßvater Franz Liszt's, waren unbegütert.

Weiter zurück als bis hierher, bis zum Urgroßvater unseres Künstlers, reichen die Nachrichten über seine Voreltern nicht, und auch von diesem weiß man nur, daß er ein Officier unteren Ranges im I. Kaiser-Husaren-Regiment (jetzt Franz-Josef I.) war und zu Ragendorf bei Ödenburg starb. Sein Sohn Adam, geboren 1755, der Großvater Franz Liszt's, bekleidete eine Stelle als fürstlich Esterhazy'scher Kastner (Verwalter). Dreimal verheirathet, und aus seinen drei Ehen mit sechsundzwanzig Kindern[5] gesegnet, war er nicht im Stande ihnen durch Erziehung glänzende Wege anzubahnen. Bei der Berufswahl seiner Söhne verlangten seine Vermögensverhältnisse nur an ihre bald zu erlangende Selbständigkeit zu denken. Die meisten von ihnen ergriffen ein Handwerk und zerstreuten sich in die verschiedensten Länder, wo sie allmählich die Berührungspunkte untereinander verloren. Nur von dreien von ihnen läßt sich der Lebenslauf verfolgen: Adam, ein ihm gleichnamiger Sohn aus erster Ehe, trat in die Fußtapfen seines Vaters; Anton, der zweiten Ehe entsprossen, ward Uhrmacher in Wien, wo er 1876, ein geachteter Bürger mit Hinterlassung mehrerer Kinder starb; Eduard endlich widmete sich wie sein Halbbruder Adam dem Verwaltungsfach. Hoch begabt schwang er sich bis zu der Stellung eines k.k. österreichischen Generalprokurators empor, von allen, die ihn kannten, geschätzt, geehrt, bewundert, bei seinem zu Anfang des Jahres 1879 erfolgten Tod tief betrauert. Er hinterließ ebenfalls mehrere Kinder. Von diesen drei Brüdern war Adam der Vater Franz Liszt's. Auch bei seiner Berufswahl war der Versorgungsgedanke maßgebend. Zuverlässigen Charakters, ausgestattet mit Energie und guter Auffassungsgabe saß er in noch sehr jugendlichem Alter bereits im Schreiberbüreau eines fürstlich Esterhazy'schen Beamten, sich auf diesem praktischen Weg für das administrative Fach vorbereitend und zu gleich seinen Vater der Sorge nm ihn enthebend.

Seiner Neigung und seinen Anlagen nach wäre Adam Liszt Musiker geworden, zu einer künstlerischen Ausbildung fehlten jedoch die Mittel, und um sich mit dem gewöhnlichen Musikantenthum begnügen zu können, war er eine zu hoch angelegte Natur. Nichtsdestoweniger war seine Liebe zur Musik zu groß, um ihr entsagen zu können. Er versuchte es mit jedem Instrument, das ihm unter die Hände kam. Dabei waren einige Handgriffe, die ihm bald herumziehende Musikanten, bald geschultere Musiker zeigten, seine einzigen Lehrmeister. Auf diese Art erlernte er allmählich alle Streichinstrumente, die Guitarre und das Klavier zu spielen, sowie Flöte zu blasen. Auf allen diesen Instrumenten war er so sicher und für damalige Zeit so fertig, daß Musiker von Fach gerne mit ihm musicirten und ihn zur Aushilfe baten, wenn bei einem Ensemble ein Platz unbesetzt war.

Das war namentlich in Eisenstadt der Fall, wohin ihn als jungen Mann ein günstiges Geschick zu einer Zeit geführt, wahrend[6] welcher die fürstlich Esterhazy'sche Musikkapelle noch in jenem Glanze stand, der ihr einen historischen Ruf gegeben hat. Adam Liszt bekleidete in diesem Städtchen eine Assistentenstelle bei der Administration der Esterhazy'schen Güter. Hier in Eisenstadt, der Residenz der ungarischen Magnaten und Fürsten Esterhazy, deren Würden, Ehren und Reichthum in Ungarn und Österreich sprichwörtlich geworden waren, dem Städtchen, in welchem Joseph Haydn als Kapellmeister dieser Fürsten seine unsterblichen Werke geschaffen, um ihm einen unvergänglichen Ruhm zu geben, hier in Eisenstadt ging Adam Liszt ein Leben auf, das seinem Talent eine höhere Richtung, seinen Gedanken einen höheren Flug und seinem musikliebenden Herzen künstlerische Ideale gab. Eisenstadt ward die Vorschule des Vaters und Erziehers von Franz Liszt.

Adam Liszt hatte sich bald mit den Mitgliedern der von Joseph Haydn geschulten und durch ihn in Glanz und Ruhm stehenden fürstlichen Kapelle befreundet, und bald auch hatte seine musikalische Brauchbarkeit und seine Liebe zur Musik seine Schritte in die nahe am fürstlichen Park gelegene Klostergasse geführt und ihm die Thüre zu dem Hause geöffnet, das von dem edlen und kunstliebenden Fürsten Nikolaus seinem Kapellmeister gebaut und von diesem zur Sommer- und Herbstzeit noch bewohnt wurde. Er erwarb sich das Glück bei dem greisen Meister und Komponisten der »Schöpfung« und der »Jahreszeiten«, bei dem »Vater des Quartetts und der Symphonie«, wie die Musikgeschichte dankbar Joseph Haydn nennt, gern gesehen zu sein. Das alles brachte ihn mit der Kapelle in noch nähere Beziehung. Oftmals war er bei derselben bald aushelfend, bald verstärkend thätig.

In Folge dessen kam er häufig in das mit großem, fürstlichem Sinn und Aufwand angelegte stattliche, von Palatin Paul 1683 neugeschaffene Schloß, das hoch gelegen gleich einer stolzen Warte die Ebene überschaut und in dessen großem, mit werthvollen Fresken reich geziertem Saale die größeren Orchesterproduktionen stattfanden, während in einem kleineren, nicht minder kostbaren, die Kammermusiken und kleineren Aufführungen abgehalten wurden. Viele Musiker, Komponisten und Virtuosen von Ruf, die von Wien herüber an die musikalische Tafel des Fürsten geladen waren, lernte er hier kennen. Adam Liszt wurde in Eisenstadt mit Cherubini bekannt und befreundete sich mit Nepomuk[7] Hummel, dessen Klavierspiel und Klaviermusik damals anfingen Schule machend zu werden.

Die Bekanntschaft mit letzterem war für ihn von besonderer Bedeutung. Hummel, der Schüler Mozart's, war damals am Virtuosenhimmel ein Stern ersten Ranges. Er hatte Deutschland, Dänemark, Großbrittanien und Holland durchreist und war lorbeerbedeckt nach Ungarn zurückgekehrt. Ein Ruf des Fürsten hatte ihn alsdann nach Eisenstadt geführt, wo er als Klavierspieler und Kirchenkomponist im musikalischen Hoflager war. A. Liszt, der viel mit ihm zusammen kam und auch persönlich ihm nahe stand, gehörte zu seinen enthusiastischen Verehrern. Der Eindruck, den Hummel's Klavierspiel auf ihn machte, war für ihn so bestimmend, daß er von diesem Moment an das Klavier unter allen andern von ihm gespielten Instrumenten bevorzugte und es mit so leidenschaftlicher Liebe übte, daß diese ihn in eine tiefe Verstimmung, um nicht zu sagen, in einen Konflikt mit seinem Beruf brachte. Durch sie kam es ihm zum Bewußtsein, daß seine Anlagen ihn an die Musik gewiesen, während die Verhältnisse seiner Eltern ihn in eine Berufsbahn gelenkt, die jenen nicht entsprach und ihm nun gegenüber seiner Liebe zur Musik und seinen Kunstidealen zu prosaisch und äußerlich vorkam, um sich zufrieden fühlen zu können. Nun aber war es zu spät, um noch umsatteln zu können. Mit Bitterkeit nannte er sein Leben ein verfehltes. Doch war Adam Liszt kein eitler Phantast. Trotz des Zwiespaltes zwischen seiner Neigung und seiner. Berufsthätigkeit lag er letzterer mit größter Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue ob, und seine Büreauarbeiten zeichneten sich so durch Tüchtigkeit aus, daß sie ihm des Fürsten Gunst gewannen. Niemand ahnte etwas von dem inneren Zwang, unter dem er arbeitete. Den Zwiespalt vergrub er in seinem Innern.

Alle freie Zeit verbrachte er musicirend, oder im Kreis der Hofmusiker, bei denen außer Musik das Leben und Treiben im fürstlichen Schloß die Sonne war, um welche sich ihr Dasein drehte. »Musik und Schloß« waren in diesem Kreise untrennbar. Sie wurden es auch im Kopf und Herzen Adam Liszt's und verwoben sich im Gegensatz zu seiner Thätigkeit zu einem Ideal musikalischen Lebens. Nicht nur, daß er hier mit guter und der besten Musik der Welt bekannt wurde und sein Geschmack eine Läuterung und Richtung erfuhr, wie sie selten Dilettanten zu theil[8] werden, nicht nur, daß er selbst in seiner Ausübung der Musik bedeutend gewann, er sah hier auch die Musik umwoben von Fürstengunst, auf dem Piedestal von Glanz und Ehre, und ihre Strahlen sah er zurückfallen auf das Leben der Künstler, welche dieses Piedestal umstanden.

Mehrere Jahre währte sein Assistenzdienst in Eisenstadt, trotz des Mißmuths über seine »verfehlte Existenz« schöne und bildende Jahre für ihn. Als er 1810 vom Fürsten Esterhazy in Folge seiner administrativen Tüchtigkeit eine Verwalterstelle in dem kleinen, aber dem Fürsten Tausende einbringenden Raiding, welches gleich Eisenstadt im Komitat Ödenburg, doch mehrere Stunden von Eisenstadt entfernt lag, erhielt, nahm er, obgleich diese Beamtenstelle kein unbedeutendes Avancement war und ihm die Gründung eines eigenen Herdes ermöglichte, mit schwerem Herzen Abschied von dem Ort seiner bisherigen Thätigkeit. Allein erst als er eingezogen in dem keinen, von allem Verkehr abgeschnittenen und nur auf Nebenwegen zu erreichenden Dorfe, unter dessen niedern Häusern und kleinen Hütten nur das große und weitläufige Verwaltungsgebäude einen Anstrich von besserer Kultur trug, da erst empfand er so ganz, welches Glück ihm Eisenstadt gewesen, was er gehabt und was er entbehren sollte. Um Eisenstadt, seine Musik und sein fürstliches Schloß wob von da an seine Phantasie einen Glorienschein, der an Helle zunahm, jemehr er hier in Raiding allem dem entsagen mußte, was dort sein Wesen gehoben und seine Bildung auf ein höheres Niveau gestellt hatte, als dasjenige war, auf welchem die seiner Eltern und seiner ersten Jugend gestanden.

Er war bereits ein Mann in den dreißiger Jahren, in Wesen und Charakter entwickelt, als er seine Beamtenstelle antrat, zugleich aber auch nach einer Genossin sich umsah das einsame Landleben mit ihm zu theilen und den eigenen Herd wohlig und wohnlich zu machen. Seine Wahl fiel auf eine junge Österreicherin von angenehmem Äußeren und sanftem Wesen.

Anna Lager war die Tochter eines Gewerbtreibenden deutschen Ursprungs, welcher in dem bei Wien gelegenen Städtchen Krems ansässig war. Hier war Anna geboren und auferzogen, ihren Eltern in stetem Gehorsam. Die Verhältnisse, in welchen sie sich bewegte, waren wie der Stand ihres Vaters es mit sich brachte, klein und eng. Das hatte sie frühzeitig Hand anlegen[9] gelehrt bei allen häuslichen Beschäftigungen und sie gewöhnt ihren Blick auf das nächstliegende zu richten. Als sie im Herbst 1810 in Adam Liszt's Haus einzog, brachte sie ihm als Hauptmitgift einen reinen Sinn, ein treues Herz und einen Schatz häuslicher Tugenden, wie jede Zeit ihn am Weib zu ehren wußte.

Ihre äußere Erscheinung entsprach ihren Tugenden. Ziemlich groß und schlank, drückten ihre Bewegungen jene anspruchslose Anmuth aus, die unbewußt und unmittelbar aus einfachem Sinn und warmem Gemüth entspringt. Ihre Gesichtszüge waren regelmäßig, ruhig und friedvoll. Insbesondere ergoß sich von ihrem Auge aus, das dunkel von Farbe immer warm, aber leidenschaftslos blickte, ein inniges Leben über ihr ganzes Antlitz. Schwarzes Haar, das sie nach damaliger Sitte in Scheiteln schlicht an die Schläfe gelegt trug, erhöhte noch mehr das Bild einfacher, aber gewinnender Weiblichkeit.

Das war die Mutter Franz Liszt's. Sie hatte nichts von jener berühmten Dichtermutter mit urkräftigem Sinn, weltliebendem Herzen und der Lust zum »Fabuliren«; sie glich mehr den weiblichen Sinnpflanzen, deren inneres Leben sich schließt bei der Berührung von Außen. Aber sie war ganz Seele: das geistige Etwas, aus welchem der Welt ein Musikergenius erblühen konnte. Wie wohl alle Mütter der Geister, deren Flug dem Ideal und der Schönheit sich zuwendet, mit irgend einer hervorragenden Eigenschaft gesegnet sind und durch sie gleichsam ihre höhere Aufgabe bekunden, so bekundete auch die einfache Frau aus dem Volke die ihrige durch eine Eigenschaft, die sie über Tausende erhob: eine große neidlose Liebe für alle Menschen thronte in ihrem Herzen. Diese Liebe hielt aus ein langes Leben hindurch, rein und unwandelbar. Als sie ein Kind auf ihren Armen wiegte und dieses Kind zum Jüngling, zum Manne reifte, mit dem des Lebens Sturm und glänzendes Spiel ihr Wesen trieben, verschmolz sie sich mit gläubiger Mutterliebe, welche ihr Innerstes gleichsam durchtränkte. Letztere stellt sie neben die berühmte Dichtermutter. Während aber die Mutter Goethe's mehr den Mutterstolz repräsentirte, brachte die Franz Liszt's mehr das stille Mutterglück zum Ausdruck.

Auch der Vater Franz Liszt's war, obwohl in anderer Weise wie dessen Gattin, eine Persönlichkeit, deren Äußeres mit ihrem Charakter harmonirte.

Sein Hauptgepräge war Rechtschaffenheit, Festigkeit und Zähigkeit[10] des Willens. Hoch gewachsen, hager, muskelkräftig von Gestalt, gerade Haltung, der Kopf mit dem scharfen Gesichtsschnitt seiner Rasse und stramm – stolz könnte man sagen im Hinblick auf seine adelige Abstammung – auf dem Nacken sitzend, das Gesicht von dunkelblondem Haar umgeben, mit ernstem, durch einen melancholischen Zug um den Mund sogar düster erscheinendem Ausdruck, wobei aber die Züge so geregelt und der Lauf ihrer Linien so klar war, daß der Eindruck eines geordneten Inneren unverwischbar blieb, ein Augenpaar, das klug und besonnen, jedoch ohne Lug und Trug den Blick auffing, der ihm begegnete, – das war so insgesammt die äußere Erscheinung Adam Liszt's.

Beide Eltern waren katholisch und hielten die Gebräuche ihrer Kirche; beide gottesfürchtig, aber ohne Bigotterie. Ein fester Glaube an die Vorsehung und an die himmliche Fügung des menschlichen Geschicks lebte in beider Gemüth und vererbte sich mit den Grundzügen des Wesens beider auf ihren Sohn.

Insbesondere bewegte sich die Lebensanschauung der Mutter auf religiösem Boden, die Adam Liszt's hielt Religion und Leben mehr auseinander, bei ihr flossen beide zusammen. Sie war gläubig, kindlich gläubig, aber ohne große Devotion für den Klerus – ein Punkt, der speciell Erwähnung verdient, da er im vollsten Widerspruch steht mit dem Bild, das einige novellistische Federn der Öffentlichkeit von ihr entworfen haben, vielleicht um der Religiosität ihres Sohnes eine hübsche Folie zu geben.

Charakteristisch aber für ihre religiöse Richtung ist, daß Zschokke's »Stunden der Andacht« zu ihren liebsten Erbauungsbüchern gehörten.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 3-11.
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