III.

Nachspiele.

(Koncert-Reisen 1840–1847. Fortsetzung.)

Die Parteihetze in Pest. Die Pester Begebenheiten im Auslande. Liszt's Protest Büloz. Gedicht Martin Vörösmarty's an Liszt.


Es erscheint nichts natürlicher, als daß Liszt's Genie Patriotismus und dem Idealen zugewandter Charakter ihm die Herzen der Ungarn im Sturm zu eigen machten, wobei die Zeitlage und die Bildungszustände des Land seinen Besuch zu einem Moment von kulturhistorischer Tragweite für Ungarn selbst erhoben. Denn abgesehen von dem Beispiel der Vaterlandsliebe, Uneigennützigkeit, Opferfreude und Anregung die der Künstler in diesem Augenblick gegeben, liegt hier der Ausgangspunkt zu der musikalischen Stellung, die von ihm im Land der späteren Jahre seinem Vaterlande errungen werden sollte.

Während sich aber so in diesen Wintertagen eine Art Frühjahrsleben abspielte, bei dem ein Volk und ein Kunstgenie in unmittelbare Wechselbeziehung zu einander traten, entwickelte sich daher unter der Decke das jedem Frühling wie ein Naturgesetz anhängen Raupenleben, das die Knospen benagt und hier sich als »was die Welt sagt« entpuppt.

»Was die Welt sagt«, hat auch dieser Liszt-Ungarn-Episode die verschiedenartigste Beleuchtung gegeben; denn sie war keineswegs zufrieden, weder mit Liszt noch mit den Ungarn. Der Enthusiasmus, der so ganz aus der Natur der Nation und die Sache wie über Nacht emporgeschossen, war ihrer Deutung noch ein gemachter, die Ovationen waren das Mittel einer politisch[42] nach Macht strebenden Partei – und Liszt der Mann, der diese Mittel ergriffen hatte, um sich bei Hochgestellten zu insinuiren. Und gar die Ehrensäbel-Geschichte. In den Ländern, wo der nationale Urstempel weniger ritterlich war und der Säbel weder als nationales noch als Symbol persönlichen Verdienstes, sondern nur als soldatische Waffe galt, war sie vollends der kritische Punkt journalistischer Ausfälle und Begutachtung. Diese fand das Geschenk ebenso absurd wie unstatthaft. Der arme Säbel wurde der Gegenstand eines europäischen Journalistenklatsches und seines Tageswitzes. Auch Heine widmete ihm ein Lied; aber »aufwärmend« erst gegen Ende der vierziger Jahre.1 Bis zur Karikatur verzerrt machten die erzählten Vorgänge ihren Rundgang durch die Welt. Als v. Schober's Korrekturen in Form von »Briefen über Liszt's Aufenthalt in Ungarn« 18432 erschienen, hatte die öffentliche Meinung bereits entschieden – man hatte getadelt, gewitzelt, gelacht und hiermit die Sache ad acta gelegt.

Die nachträglichen Briefe wurden nur treu von einem kleinen Kreis gelesen, die frühere Anschauung blieb. Jetzt ist sie nur Wenigen noch im Gedächtniß, besteht aber fort in der Geschichtsquelle der späteren Generationen: in der Tagespresse jener Zeit. Grund genug, ihrer hier zu gedenken.

Die ersten Denunciationen kamen aus Budapest selbst. Sie gingen von Nichtungarn aus. Theils waren diese für eine korrekte[43] Berichterstattung nicht hinreichend mit dem Schauplatz und den Motiven der Handelnden vertraut, theils gehörten sie zu den außer- und antimagyarischen Elementen, die dem Gesammtkörper der ungarischen Bevölkerung einverleibt sind und sich mit dem eigentlich nationalen Theil der Bewohner beständig in Hader und Zwietracht bewegten. Auch die damals heftig in Scene tretenden Reibungen und Nationalitätenkämpfe zwischen Deutsch-Ungarn und Magyaren, die beide namentlich bezüglich der Sprache als officieller Geschäftssprache auf ihr verbrieftes und historisches Recht pochten – die Ungarn: indem sie sich aus ihre frühere Einwanderung und Besitznahme Ungarns schon unter Attila, auf die dem Lande gegebenen Helden und Herrscher stützten, die Deutsch-Ungarn: indem sie sich auf ihre Verdienste um das Land beriefen – trugen dazu bei, die Thatsachen und Motive je nach dem Parteistandpunkt, den der Berichterstatter einnahm, zu koloriren. Gerade jetzt, wo die Ungarn in leidenschaftlichem Kampfe für ihr Recht von der österreichischen Regierung ihre Nationalsprache zurückverlangten, sah man deutscherseits scheel auf ungarische Erfolge. Nicht minder die in Ungarn lebenden Slaven. Diesen war die nationale Bewegung eitel Parteigetriebe und Wühlerei. Jede von den Patrioten ausgehende Bestrebung, jeder Erfolg, ja jede Aussicht auf einen solchen, ihr überquellender Enthusiasmus über einen zurückgelegten, den nationalen Zielen näherführenden Schritt erschien den Gegnern als prahlende Propaganda der ausschließlich nach dem Staatsruder Strebenden.

So verschieden gefärbt und beleuchtet, entstellten die im Ausland kursirenden Berichte derartig die Pester Vorgänge, daß die Mißbilligung und der Spott, den sie hervorriefen, zu begreifen sind, wobei noch zu beachten bleibt, daß man gegen das Ende der dreißiger Jahre hin noch keineswegs gewillt war, der Geschichte, Sitte, Sprache, dem Temperament, überhaupt dem ungarischen Wesen allgemein Rechnung zu tragen. Man stand dieser ihrem Charakter nach noch jugendlichen Nation mit ihrem exotischen Wesen zu ferne. Der jetzt herrschende große internationale Bildungszug hatte sich literarisch Ungarns noch kaum bemächtigt; seine Pußten, Berge und Wälder waren nur vereinzelt von Touristen betreten und zu feuilletonistischer Ausbeute verwerthet; und das, was Vermittelung hätte bringen können: die ungarische Literatur, war dem großen Leserkreis eine terra incognita. Die ungarische Zunge[44] hatte im Sprachkoncert der europäischen Völker keine andere als eine Geltung für sich selbst. In Folge dessen blieben die in ihr zum Ausdruck gekommenen höheren geistigen und eigenartigen Erzeugnisse Ungarns gebannt an das eigene Land. Anders jetzt. Die Neuzeit hat begonnen, neben ihren wissenschaftlichen Geschichtsfeldzügen ihr Augenmerk auch auf die ungarischen Dichter zu richten und sie in andern Ländern einzuführen. Damals aber blieben Kundgebungen, wie Vörösmarty's Nachruf »An Liszt«3, der – eine aus dem innersten Leben der Nation hervorgetriebene Elegie und Hymnne zugleich – die Beziehungen des Künstlers zu seinem Vaterland mit ergreifendem, ja feierlichem Pathos darlegt, innerhalb der Grenzen Ungarns. Erst nach Jahrzehnten erschien er, einer Gedicht-Sammlung ungarischer Lyriker eingereiht, in deutscher Uebertragung.4

Wahrend Liszt's Aufenthalt in Pest konnten daselbst keine Gehässigkeiten aufkommen. Sein ganzes Auftreten entsprach seinem Ausspruch, daß die Musik eine sociale Kunst und, wie die Liebe, eine Alle verbindende Macht sei. »Sie steht auf neutralem Gebiet«, äußerte er sich, »und muß in einer Sphäre gehalten bleiben, in die weder Politik noch Tagesfragen zu dringen vermögen«.

Er hatte in Ungarn mit Magyaren, Deutschen, Slaven verkehrt, eben so wie er in Paris und auf seinen Reisen nicht nur mit Musikern, sondern auch mit Malern, Bildhauern, Dichtern, mit Männern aller Wissensgebiete und Stände intimen Umgang gepflogen hatte. Die Erträgnisse seiner Pester Koncerte bestimmte er sowohl für die deutschen als für die magyarischen Kunstinstitute Ungarns, für Nothleidende ohne Unterschied der Volksstämme und der Religion. Als er das Koncert zur Errichtung eines Konservatoriums für Musik im magyarischen Nationaltheater gab, nach dessen Statuten Kunstwerke anderer Nationen ausgeschlossen bleiben sollten, bestand sein Koncertprogramm nur aus Kompositionen deutscher Mister: Beethoven's, Haydn's, Mozart's, Schubert's, Weber's. Es war absurd, ihn der Parteilichkeit und des Buhlens um die Gunst der Aristokratie zu zeihen. Liszt hielt sich außerhalb des Nationalitätenkampfes und jene selbst von den edelsten[45] Ungarn, insbesondere von dem unter dem Namen der »große Ungar« gefeierten Patrioten Graf Stephan Széchenyi bekämpfte, bis zum Fanatismus – der »Magyaromanie« – vorgehende nationale Partei konnte seine wohl innige und glühende, aber zu allen Zeiten gesunde Vaterlandsliebe nie beirren. Dem Temperament nach ungarisch, den Gefühlseigenschaften nach deutsch, war Liszt beides zugleich, als Komponist aber Deutscher über alles.

Ein kleiner Vorfall war es, welcher die erste Veranlassung zu hämischen Bemerkungen gab, die in deutsche wie in französische Blätter übergingen. Als Liszt sein Abschiedskoncert in Pest gab, war auf dem Programm desselben eine Improvisation über zu gebende Themen angesetzt. Unter den Motiven, die ihm vom Publikum vorgelegt wurden, – meist Melodien von Beethoven, Schubert, Mozart und verwandten Meistern –, befand sich ein sogenannter Gassenhauer, wohl böhmischen Ursprungs. Liszt probirte die Themen am Klavier. Als er dieses spielte, brach das Publikum in ein schallendes Gelächter aus. Der Künstler, der die meisten Zettel mit heitern, oft witzigen Einfällen begleitete, legte es mit den Worten bei Seite: »Es hat Jemand einen Spaß mit mir machen wollen« und fuhr in seiner Durchsicht der Themen fort. Das Publikum, über den unzeitigen Scherz nicht beruhigt, murrte. Da stand einer der in der Nähe des Klaviers sitzenden Herren auf, suchte das verhängnisvolle Blättchen aus den andern hervor, faltete es zusammen und verbrannte es an einer Kerze, mit der scherzenden Bemerkung: »Ich erlaube mir der allgemein scheinenden Stimmung gemäß zu verfahren und ein kleines Strafgericht auszuüben.« Klatschen und Beifallrufen von allen Seiten Bei diesem kleinen Vorgang hatte man sich der deutschen Sprach bedient. Liszt selbst hatte ihn gar nicht bemerkt. Trotzdem beschuldigte man ihn öffentlich, er habe aus affektirtem Magyarismus das Deutsche und Slavische verächtlich behandelt und, um die Slaven zu höhnen, eine böhmische Nationalmelodie »öffentlich verbrannt.« Ein junger czechischer Heatsporn forderte ihn sogar persönlich zur Rechenschaft für diese »Nationalbeleidigung. – Auch seiner bei Überreichung des Ehrensäbels gehaltenen Rede legte man, weil sie in französischer Sprache gehalten worden war, »Verleugnung des Deutschen« unter. Und doch hätte er sie in keiner andern Sprache halten können. Die ungarische war seinem Gedächtniß entschlüpft und der deutschen war er nicht mächtig[46] genug, um sich ihrer öffentlich bedienen zu können. Außerdem noch lag es in den Pflichten des Taktes gegenüber den Principien des ungarischen Theaters von der deutschen Sprache ganz zu abstrahiren.

Diese Verketzerungen, sodann die außerhalb Ungarns unverständliche Überreichung des Ehrensäbels mit der Verdolmetschung der Parteien, die einem Virtuosen nie zuvor dargebrachten Ehrenbezeugungen, Neid und Sensation setzten deutsche und französische Federn in Bewegung. Als der Rumor nicht enden wollte und selbst Weltblätter, wie die »Revue des deux Mondes«, seine Berechtigung gewissermaßen bestätigten, entsandte Liszt einen geharnischten Protest. In einem offenen, an Büloz, den allmächtigen Beherrscher zweier Welten, gerichteten Brief wies er im vollen Selbstbewußtsein seiner Künstlerwürde, dabei in aller Bescheidenheit insbesondere die Auffassung, welche die ihm erwiesenen Auszeichnungen in eine gleiche Kategorie mit den Huldigungen stellte, die den Sängerinnen und Tänzerinnen dargebracht werden, mit Energie in ihre Schranken. Er schrieb:


5Monsieur!


Dans, votre Revue musicale du Octobre dernier mon nom se trouva prononcé à l'occasion des prétentions outrées et des succès exagerés de quelques artistes exécutants; je prends la liberté de vous adresser à ce sujet une observation.

Les couronnes de fleurs jetées aux pieds de mesdemoiselles Ellsler et Pixis par les dilettantes de New-York et de Palerme sont d'éclatantes manifestations de l'enthousiasme d'un public; le sabre qui m'a été donné à Pesth est une récompense donnée par une nation sous une forme toute nationale.

En Hongrie, monsieur, dans ce pays de moeurs antiques et chevaleresques, le sabre a une signification patriotique. C'est le[47] signe de la virilité par excellence; c'est l'arme de tout homme ayant droit d'en porter une arme. Lorsque six d'entre les hommes les plus marquants de mon pays me l'ont remise aux acclamations générales de mes compatriotes, pendant qu'au même moment les villes de Pesth et d'Oedenburg me conféraient les droits de citoyen et que le comitat de Pesth demandait pour moi des lettres de noblesse à sa Majesté, c'était me reconnaitre de nouveau, après une absence de quinze années, comme Hongrois; c'était une récompense de quelques légers services rendus à l'art dans ma patrie, c'était surtout, et je l'ai senti ainsi, me rattacher glorieusement à elle en m'imposant de sérieux devoirs, des obligations pour la vie comme homme et comme artiste.

Je conviens avec vous, Monsieur, que c'était, sans nul doute, aller bien au-delà de ce que j'ai pu mériter jusqu'à cette heure. Aussi, ai-je vu dans cette solennité l'expression d'une espérance encore bien plus que celle d'une satisfaction. La Hongrie a salué en moi l'homme dont elle attend une illustration artistique après toutes les illustrations guerrières et politiques qu'elle a produites en grand nombre. Enfant, j'ai reçu de mon pays de précieux témoignages d'interêt, et les moyens d'aller an loin developper ma vocation d'artiste. Grandi, après de longues'années le jeune homme vient lui rapporter le fruit de son travail et l'avenir de sa volonté, il ne faudrait pas confondre l'enthousiasme[48] des cœurs qui s'ouvrent à lui et l'expression d'une joie nationale, avec les démonstrations frénétiques d'un parterre de dilettantes.

Il y a, ce me semble, dans ce rapprochement quelque chose qui doit blesser un juste orgueuil national et des sympathies dont je m'honore.

Veuillez, Monsieur, faire insérer ces quelques li gnes dans votre prochain numéro, et recevoir l'assurance de ma considération distinguée.


Hambourg, 26. Octobre 1840.

Franz Liszt.


Trotz dieser Erklärung des Künstlers blieben die Verdrehungen der Pester Begebenheiten in Kurs, bis andere Ovationen in Deutschland sie in Schatten stellten und hier der Enthusiasmus – vor allem in Berlin – einen Grad erreichte, der kühle Köpfe nur noch von einer »Lisztomanie« sprechen ließ. Leider aber muß gesagt werden, daß jene Spaltungen und Gehässigkeiten in Ungarn ihm gegenüber keine Zeit hat tilgen können. Sie verbitterten ihm namentlich später, als er die Erwartungen seines Vaterlandes glänzend erfüllt hatte, das fruchtbringende Wirken in Pest.

Was aber Liszt den Ungarn war, als was er ihnen erschienen, was sie von ihm erhofften: das sprach unmittelbar nach seiner Abreise der Mund ihres Dichters Martin Vörösmarty in dem Nachruf, richtiger wohl gesagt: in seinem Anruf aus, dessen hier bereits gedacht worden ist. Er lautet:


An Franz Liszt.6


Fürst des Klangs, deß Spur die Völker lauschen,

Uns, wo du auch weilest, nah verwandt,

Hast du in der Saiten mächt'gem Rauschen

Einen Ton fürs kranke Vaterland?

Einen Ton – gewalt'ger Herzensstürmer,

Einen Ton – Trostbringer, Friedensschirmer?[49]


Unsre Schuld und unsres Schicksals Ketten

Drucken schwer, als hundertjähr'ges Leid,

Ein Geschlecht, verzweifelnd, statt zu retten,

Das an schnöder Ruhe sich erfreut.

Mag's zuweilen flammend aus sich schwingen,

Fiebertraum blieb stets sein eitles Ringen.


Bessre Zeiten sind uns angegangen.

Mit dem heißersehnten Morgenroth

Kehrt zurück im Heilungsschmerz, dem bangen,

Wunsch und Hoffnung, treulos längst und todt.

Neu erglühn der Väter würd'ge Erben,

Für ihr Land zu leben und zu sterben.


Und sein Pulsschlag klopft in unsern Herzen,

Freudig pocht's bei seines Namens Klang,

Und wir fühlen alle seine Schmerzen,

Seine Schmach weckt edler Thaten Drang;

Groß zu seh'n den Thron in Volkes Mitte,

Stark und glücklich selbst die kleinste Hütte.


Großer Zögling aus dem Land der Schlachten7,

Dem das Herz der Welt im Busen schlägt.

Wie die Sonn' aus blut'gen Purpurschlachten

Roth den Tag auf ihren Schwingen trägt,

Wo auf wildbewegten Volkeswogen

Wuth und Rache schnell vorüberzogen.


Und statt ihrer wallt im Lichtgewande

Jetzt der Friede und der stille Fleiß,

Und die Kunst schlingt ihre Himmelsbande

Um die neue Zeit zu Ehr' und Preis.

Kühner Geister Aufbau zu vollenden,

Schafft das Volk mit ems'gen Riesenhänden.


Gieb ein Lied uns, Du, der Töne Meister!

Wenn's uns früh'rer Tage Bild entrollt,

Sei es Flügel dann der Sturmesgeister,

Draus der Schlachten ferner Donner grollt,

Und in ihrem wogenden Gedränge

Schallen laut des Siegs Triumphgesänge.


Gieb ein Lied uns, das im Reich der Schatten

Unsre Väter aus den Gräbern weckt,

Daß im Enkel sich die Seelen gatten,

Deren Hülle nun der Rasen deckt,

Segen spendend Ungarns theurem Lande,

Dem, der's je verrathen, – Fluch und Schande.[50]


Denkst Du trüber Zeiten, dunkler Grüfte:

Dämpf' ein Schleier Deiner Saiten Klang,

Sei Dein Ton ein Flötenhauch der Lüfte,

Der durch's Herbstlaub schauert, leis' und bang,

Und bei dessen träumerischen Weisen

Schmerz und Trauer unser Herz umkreisen.


Stumm, an des Gedankens Mannesarme,

Schwankt ein bleiches Weib, das tiefe Weh;

Mohács's Schlacht taucht auf im dunkeln Schwarme,

Und des Bürgerkrieges blut'ger See:

Doch, indem die Thräne wehrt dem Schlummer,

Trost bringst Du des Herzens spätem Kummer.


Kannst erwecken Du die Heimatliebe,

Die die Gegenwart umschlungen hält,

Mit der Treue heilig süßem Triebe

Rückwärts blickend schafft der Zukunft Welt?

Laß' erklingen Deine mächt'gen Saiten

Und Dein Lied tief in die Seele gleiten.


Laß im reinen Aufschwung der Gefühle

Reifen unsrer Söhne Thaten nun,

Ringend Schwach und Stark nach einem Ziele,

Einen sich im Tragen und im Thun;

Wie ein Mann das Volk im Kampfe stehen,

Und mit eh'rnem Arm zum Siege gehen.


Ja, von heil'ger Freude sei umwittert

Selbst – als wär's Gebein von uns – der Stein,

Und der Donau Well', von Glut durchzittert,

Fließ' dahin als unsres Blutes Schein;

Selbst die Erd', wo Lust und Schmerz sich drängen,

Poch' begeistert auf bei Deinen Klängen.


Und wenn froh Du hörst, wie Dir's gelungen,

Wie Dein Land bei Deinem Lied sich hebt,

Das mit kräft'gem Ton Dir nachgesungen,

Auf Millionen Volkeslippen schwebt:

Dann tritt her und laß dies Wort Dich krönen:

»Noch lebt Árpáds Geist in seinen Söhnen.«


Des Künstlers Antwort auf diesen Anruf erfolgte bald. Erst leise, dann mit immer lauter werdender gewaltiger Stimme: die Werke, die er als Ungar seiner Mitwelt und den folgenden Zeiten schenkte, zählen zu seinen bedeutungsvollsten für den Koncertsaal (: »Ungarische Rhapsodien«, »Hungaria«, »Héroïde funèbre«, u.a.),[51] wie für die Kirche (: die Grauer, die Krönungs-Messe u.a.). Die Anfangslaute derselben finden sich in den ersten Heften der in jenen Tagen begonnenen Sammlung:


Ungarische National-Melodie8

für Piano –


einfache Weisen ergreifenden und elektrischen Charakters, gefüllt mit dem eigenartigen Fluidum von Elasticität, Schmerz, Trotz, wilder Lust und Leidenschaft der ungarischen Individualität – Weisen, von ihm den Söhnen der Pußta abgelauscht und dem Klavier übertragen. Diese Sammlung wurde bedeutungsvoll. Sie umschließt das Material zu seinen »Ungarischen Rhapsodien«, dem einzigen musikalischen Nationalepos seines Vaterlandes. Nach dem Erscheinen der Rhapsodien wurden jene kassirt. Wahrend seiner Koncertperiode jedoch begleiteten sie ihn in alle von ihm bereisten Länder. In Pest, Wien, London, Paris, Petersburg, Madrid – überall entzückte er mit diesen Melodien.

Den »Ungarischen National-Melodien« schließen sich seine Uebertragungen und Bearbeitungen des:


Rákóczy-Marsch


an, den er in verschiedenen Zeitperioden allmählich künstlerisch auf eine Höhe stellte, die der Komponist9 des einfachen Marsches schwerlich geahnt hat.10 Das musikalisch-ungarische Element gewann hiedurch Eingang und eine so eingreifende Verbreitung, wie es eine solche ohne diese Bearbeitungen schwerlich je gefunden haben würde.[52]

Zu den Erstlingen der ungarischen Muse Liszts gehört ferner sein:


Heroischer Marsch11

im ungarischen Styl,


mit folgendem Hauptmotiv:


3. Nachspiele

Auch dieser Marsch wurde bedeutungsvoll. Der Komponist nahm ihn später zum Ausgangspunkt seiner großen symphonischen Dichtung »Hungaria«. Hier bildet er, düster-entschlossenen Charakters, den Grundton der Stimmung und den motivischen Kontour des »Quasi Andante marziale«.

Fußnoten

1 Heinrich Heine's und Franz Liszt's gegenseitige Beziehungen, die wohl zu keiner Zeit den Charakter persönlicher Freundschaft getragen haben, gestalteten sich von Seite des Dichters mit der Zeit sehr pikirt. Esprit und lyrisches Fluidum hatten ihre beiderseitigen Beziehungen bestimmt. Ersteres ist aus dem Brief ersichtlich, den der Musiker im Jahr 1837 von Venedig aus an Heine schrieb (siehe L.'s Ges. Schriften II. Bd.). Von persönlicher Freundschaft trägt dieser Brief keine Spur. Das lyrische Fluidum ist aus Liszt's Komposition Heine'scher Texte zu ersehen. Die Liszt-Heine-Lieder zählen zu den poetischesten Inspirationen des Komponisten.

Liszt sprach der Verf. gegenüber mehrmals von Heine – was als ein Beitrag zur Feststellung des beiderseitigen Verhältnisses, dem zur Zeit mehrfach nachgespürt wird, hier noch erwähnt sei –, wobei er äußerte, sein Wesen habe ihn nicht angezogen, seinen »Gelderpressungen habe er keinen Geschmack« abgewinnen können. – Während der Koncerte Liszt's in Paris (ich vermuthe 1844) wurde ihm ein von Heine auf ihn ausgestellter Wechsel von einigen Tausend Francs präsentirt, den er nicht acceptirte.

»Ich war weder in der Lage noch gewillt, mir gezollte Anerkennung zu bezahlen«, äußerte sich Liszt wörtlich.


2 Berlin, Schlesinger'sche Buch- und Musikalienhandl. 1843.


3 Siehe unten.


4 Steinacker's »Ungarische Lyriker« (Leipzig, Joh. Ambr. Barth, Budapest: Grill'sche Buchhandlung, 1874).


5

Mein Herr!


In Ihrer musikalischen Revue vom letzten Oktober finde ich meinen Namen im Zusammenhang mit übermäßigen Ansprüchen und übertriebenen Erfolgen seitens reproducirender Künstler genannt: ich nehme mir darum die Freiheit, Ihnen einige Bemerkungen hierüber zu machen.

Die Blumenkränze, welche die Dilettanten der Städte New-York und Palermo den Damen Ellsler und Pixis zu Füßen legten, sind die glänzende Manifestation des Enthusiasmus eines Publikums; der Säbel, den man mir in Pest gegeben, ist eine Anerkennung, mir von einer Nation unter durchaus nationaler Form zuerkannt.

In Ungarn, mein Herr, in diesem Lande alter ritterlicher Sitten, hat der Säbel eine patriotische Bedeutung. Hier ist er das Zeichen der Männlichkeit par excellence, die Waffe jedes streitbaren Mannes. Als ihn mir sechs der bedeutendsten Männer meines Vaterlandes unter dem einstimmigen Jubelruf meiner Landesbrüder überreichten, während mir die Städte Pest und Oedenburg zugleich das Ehrenbürgerrecht ertheilten und das Pester Komitat bei Sr. Majestät um das Adelsdiplom für mich einkam, so hieß dies alles so viel als mich nach fünfzehnjähriger Abwesenheit als Ungarn anerkennen, so war das die Belohnung einiger kleiner meiner vaterländischen Kunst geleisteten Dienste, so war das insbesondere – und so empfand ich es – ein ruhmvolles Baud, das mich von neuem mit meiner Heimat verknüpfen sollte und mir als Menschen und Künstler lebenslänglich ernste Pflichten und Verbindlichkeiten auferlegt hat.

Ich stimme mit Ihnen überein, mein Herr, daß das alles viel zu viel dem gegenüber war, was ich bis jetzt habe leisten können. Darum erblicke ich in dieser Feier auch mehr den Ausdruck der Erwartung als den der Befriedigung. Ungarn begrüßte in mir den Mann, von dem es nach allen kriegerischen und politischen Ruhmesthaten, deren es so viele vollbracht, künstlerische Ruhmesthaten erwartet. Als Kind empfing ich von meinem Lande werthvolle Beweise des Interesses sowohl, als auch die Mittel, mich in der Ferne für meinen Beruf als Künstler ausbilden zu können. Wenn ihm nach langen Jahren der junge Mann die Frucht seiner Arbeit und die Zukunft seines Wollens bringt, so sollte man die sich ihm öffnende Begeisterung des Herzens und den Ausdruck einer nationalen Freude nicht mit der frenetischen Demonstration eines Parterres von Dilettanten verwechseln.

In einer solchen Zusammenstellung liegt, wie mich deucht, für einen gerechten Nationalstolz und die Sympathien, die mich ehren, etwas Verletzendes.

Haben Sie die Güte, mein Herr, diese wenigen Zeilen in Ihre nächste Nummer aufzunehmen, und empfangen Sie hiemit die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.


Hamburg, den 20. Oktober 1840. Franz Liszt.


6 Kolmár Dalok Könyve 232. – Deutsch von G. Steinacker.


7 Frankreich.


8 Zehn Hefte. Wien, Haslinger. Edirt


1840: 1.–2.,

1843: 3.–4.,

1847: 5.–10. Heft.


9 Nach der Wiener Allg. M.-Ztg.« 1846, Nr. 27, S. 104 soll er zu Anfang dieses Jahrh. von einem Kapellmeister beim Regiment Namens Scholl – einem »sehr bescheidenen, lieben, guten, dicken Mann« – komponirt worden sein.


10 Das vom Minister-Präsidenten Tisza am 26. Februar 1887 im Abgeordnetenhaus zu Budapest gesprochene, auf Liszt's Rákóczy-Marsch bezügliche Wort, »er habe nur transskribirt, was ihm von dem hochseligen Franz Rákóczy II. inspirirt worden« (Neues Pester Journal vom 27. Febr. 1887 wird stets »ein Unbegreifliches« an sich tragen.


11 Edirt 1840: A. Cranz, Hamburg (nach Verlagsverz.), dann: 1843 (?), Berlin, Schlesinger.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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