V.

1840.

London. Am Rhein. Hamburg.

(Koncertreisen 1840–1847. Fortsetzung.)

[76] Der Enthusiasmus auch für Liszt als Mensch. London I. Die Kritik. Ab Irato. Koncerte am Rhein. Bei der Kaiserin von Rußland in Ems. London II und III. Hamburg. Die Großartige Uneingennützigkeit. Belloni. Übertragungen.


Liszt's nächstes Reiseziel war London über Paris – nicht um hier zu koncertiren, vielmehr seiner Privatverhältnisse wegen, die seine Anwesenheit verlangten und ihn einen ganzen Monat hindurch festhielten. Zwei Koncerte, die er in den Sälen Erard gab, waren nicht öffentlich1. »Der Napoleon des Fortepiano sei von seinen transalpinischen und transrhenanischen Triumphen nur nach Paris zurückgekehrt, um neue Feldzüge gegen England und Rußland zu meditiren,« soll George Sand geäußert haben.

Anfangs Mai begab sich der Künstler zur Koncertsaison nach London, blieb bis Mitte Juni, koncertirte dann längs des Rheines, kehrte zurück nach England, reifte von da nach Hamburg, um abermals englischen Boden zu betreten, besuchte Liverpool, Edinburg und andere Städte, und reiste endlich über Belgien (Februar 1841) nach Paris, wo sein siegendes Auftreten als Pianist einen Abschnitt in seinem Koncertleben bildet. Dies der äußere Umriß seiner Reisen 1840/41.

In allen Städten, in allen Ländern, wohin sein Schritt sich lenkte, rief die Schöpferkraft seines Spiels, begleitet von dem Genius seiner großen und schönen Natur, eine Begeisterung hervor,[77] die nicht selten nur noch in der von der deutschen Sprache so bedeutsam mit »Außer-sich-sein« bezeichneten Form des Rausches ihren Ausdruck finden konnte. Es handelte sich nicht mehr um Musik allein: es handelte sich mit um den seltenen Menschen. Die Feier seiner Person trat hinzu. In immer größer werdenden Dimensionen umgab sie sein Kommen, Weilen, Gehen mit einem festlichen Gepräge von geistigen Anregungen und humanem Liebeswerk, gemischt mit Gedichten, die ihn besangen, mit Serenaden, Lichterglanz und Tafellust. Im Hintergrund gaukelten zwischendurch bald schattenhaft, bald in greifbarer Gestalt kleine romantische Episoden, die je nach Sonnenstand des Temperamentes kurz wie der Tag oder kurz wie die Nacht oder wie beide zusammen sich woben und spannen. – Das war die andere Seite der Koncertperiode des Künstlers. Sie zu schildern ist Dichterwerk und der Dichtkunst muß es überlassen bleiben sich dieses Stoffes mit seinen Scenen, Situationen, Episoden und Novellen, die reich sind an epischen, lyrischen und dramatischen Motiven, zu bemächtigen. Die Biographie muß sich begnügen diese Nebendinge nur anzudeuten, die, wenn festgehalten, nur zu leicht zur Chronik führen und den Faden verdecken würden, der doch bei allem einheitlich mit den künstlerischen Zielen dieses Genies weder riß noch sich verwirrte und den gegenüber der ernsten Mission eines solchen sichtbar zu erhalten und offen darzulegen die erste und letzte Aufgabe seiner Lebensschilderung bleiben muß.

Im Großen und Ganzen gleicht alles einer Wiederholung des bisherigen –: der größte Enthusiasmus des Publikums, die vollste Anerkennung der Kritik, daneben ihre bohrende Opposition. Nur die Äußerungsform war nach dem Charakter von Land und Leuten verschieden. Die hervorragenden Punkte bilden hiebei seine Erfolge in den Weltstädten: wie vordem Wien, Leipzig, so jetzt London 1840, dann Paris 1841, Berlin 1842 u.a., Städte von ihm wiederholt betreten, wobei aber stets sein erster Besuch maßgebend war. Liszt's Koncertgeschichte kennt nicht jene Allmählichkeit des Gewinnens eines Publikums, wie sie neue Erscheinungen am öftesten begleitet.

Als Liszt jetzt am 6. Mai 1840 in London ankam, um schon am 8. Mai in einem Koncert mitzuwirken, war die öffentliche Aufmerksamkeit wohl auf ihn gelenkt; man gedachte noch des Knaben, der vor fünfzehn Jahren als früh begünstigter Liebling der Tonmuse sich hier seinen Anerkennungstribut geholt hatte, und war[78] gespannt auf die zu gewärtigende Parallele zwischen dem Knaben und dem Manne. Doch nur in kleinen Kreisen. Das große London mit seinem verschiedenen musikalischen Publikum war in diese Interessen kaum hineingezogen. Es giebt überhaupt keine zweite Stadt – Paris nicht ausgenommen –, wo es schwerer für den Künstler ist einen durchgreifenden Erfolg zu erringen als hier, wo trotz des außerordentlichen Zusammenflusses der heterogensten Elemente diese doch nicht im Stande sind Phantasie und Stimmung zu jenem Punkt zu erheben und in jene Richtung zu führen, welche ein engeres Zusammenleben mit der Kunst und den Erscheinungen des Kunstlebens der Zeit zu einer geistigen Nothwendigkeit im Allgemeinen machte. So vielfach England im Staatsleben mit seinen Formen die Initiative des Fortschritts ergriffen hat und den andern Nationen Europas vorangegangen ist, gegenüber der Musik ist es in seiner wesentlichen Richtung konservativ und, was im Charakter des Insulaners sich überwiegend geltend macht, abgeschlossen gegen Elemente, welche nicht aus dem eigenen Nationalleben hervortreiben oder auch Generationen hindurch mit ihm verwachsen sind, wie z.B. Händel's Oratorien. Sind auch in neuerer Zeit die geistigen Einflüsse des Kontinents, wobei die deutschen Bildungsanstalten zu betonen sind, unverkennbar, so ist der dem Fortschritt in der Musik entgegenstehende Sinn doch immer der überwiegende, und selbst die so tief in der menschlichen Natur gegründete erste Nährerin des Wissensdranges, die Neugierde, vermag nicht ihn stets seiner Abgeschlossenheit zu entreißen, wie es vor noch nicht allzulanger Zeit das Verhalten der Londoner gegenüber dem Besuch Richard Wagner's (1877) und den von ihm in London gegebenen Koncerten von neuem belegt hat. Allerdings ein entgegengesetztes Beispiel bietet die Aufnahme des greifen Franz Liszt im April 1886, die so wirbelnd enthusiastisch sich äußerte, als wolle das londoner Musikleben aus seinen Fugen gehen, ja als wäre ganz London betheiligt.

Auch 1840, wenn auch nicht in dem Umfange wie sechsundvierzig Jahre später und sich beschränkend auf den koncertbesuchenden Theil, schien diese City dem Virtuosen Liszt gegenüber zu einer Ausnahme bestimmt. Wie das Publikum, so die Musiker. Unter ihnen herrschte festliche Stimmung. Producirende und reproducirende Künstler der verschiedenen musikalischen Zweige, jung und alt, schaarten sich um ihn. Seine alles zwingende Liebenswürdigkeit[79] verband, was sonst sich trennte. Und wie Rafael, umgeben von einer Künstlerschaar, die Stufen des Vatikan hinanschritt, so betrat dieser Künstler die Koncerthallen und das Podium.

Jetzt bei seinem ersten Auftreten am 8. Mai in einem von den damals sehr beliebten Künstlern A. Talmin und John Parry (Sänger) in den Hannover Square Rooms gegebenen Koncert, an welchem er sich mit seiner »Puritaner«- und »Lucie-Fantasie«, seinem »Ungarischen Marsch«,»Valse di Bravura« und »Chromatischen Galop« betheiligt hatte, stieg das Koncertthermometer zu einer Wärme des Beifalls, die den sonst so reservirten Engländer kaum wieder erkennen ließ.

Viele Musiker, unter ihnen alle zur Zeit in London anwesenden hervorragenden Tonkünstler, wie Moscheles, Benedict, Döhler, Madame Dulken, Mrs. Anderson u.A., umstanden während seiner Vorträge den Flügel –, »nach Liszt müsse man das Instrument schließen«, meinte Moscheles.

Der Enthusiasmus war derartig, daß der Künstler während der ganzen Koncertsaison die einzige anziehende Erscheinung wurde und wenigen Koncerten eine Aussicht auf Erfolg ohne seine Mitwirkung blieb2. Bereitwilligst betheiligte er bei sich den Koncerten Benedicts, Döhlers, Sidels, Madame Dulkens, Mrs. W.H. Segwins und J. Hullahs u.A.

Er selbst gab nur zwei eigene Koncerte, am 9. und 22. Juni, Klavier-Koncerte, wie er sie seit Rom in Wien, Leipzig, allmählich in ganz Europa ohne irgend eine Mitwirkung anderer Künstler durchgeführt hat. Für England erfand er die Benennung: »Piano-Recitals« die – seitdem dort beibehalten – nun ganz eingebürgert ist.

Die größte Sensation erregte er mit dem Vortrag des »Koncertstücks« von Weber, welches er am 11. Mai in dem fünften Koncert der Philharmonic Society recitirte. Moscheles hatte es kurz vordem in einem Koncert derselben Gesellschaft gespielt. Der Direktor stimmte darum gegen diese Wahl. Doch der Künstler hegte die Ansicht, daß zwei Meister sich in ihren Programmen[80] begegnen können, ohne sich oder die Sache zu beeinträchtigen, und bemerkte kurz in Beziehung auf seine Wiedergabe: »C'est une autre chose«. – Ein ungeheurer Beifallssturm brach los, als Liszt am Koncertabend das »Koncertstück« beendet hatte. Musiker und Musikfreunde umdrängten ihn mit Entzücken, und selbst ihm völlig fremde Personen aus dem Publikum schüttelten ihm die Hände. Ein alter Herr mit schneeweißem Bart, Aufregung in den Mienen, ergriff seine Hand mit dem Ausruf: »It was worth more! it was worth more!« und – drückte eine Banknote hinein3. Kaum minder wirkte er mit seinem »Ungarischen Marsch«, den er mit Orchesterbegleitung vortrug und bei dem er die ganze Kapelle zu einem Schwung und einem Feuer hinriß, als gälte es unter Árpád's Fahnen eine Festung zu erstürmen.

Bemerkenswerth waren nach diesem Koncert die kritischen Stimmen – eine Fortsetzung der Leipziger Kritik in ihrer zweifachen Richtung. Wie die »Neue Zeitschrift für Musik« sich zur »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« verhielt, ebenso entgegengesetzt waren die Anschauungen des »Athenaeum« denen der »Musical World«. Es überrascht, mit welchem der Zeit vorangehenden Verständnis und musikalischen Schwung das »Athenäum« Liszt's Erscheinung vor allen andern englischen Zeitungen auffaßte und dadurch gleichsam die Fahne des Fortschritts trug, während die »Musical World«, die das Urtheil der Leipziger »Allgem. M.-Ztg.« noch übertraf, ihr künstlerisches Anathema ihm entgegenschleuderte. Sie sah in ihm nur den außergewöhnlichsten Fingerhelden, musikalisch aber war er ihr »the most unsentimental« aller Künstler, sein Vertrag geradezu »ugly«.

Die Aufsätze des »Athenäum« waren aus der Feder des als Kritiker und musikalischer Schriftsteller in England sehr geschätzten Henry F. Chorley. Muthig und unbestechlich von Charakter, dabei eine geistig angelegte Natur, war er der ersten einer, welcher den modernen Kunstanschauungen, speciell der Verbindung der reinen Musik mit der Poesie das Wort geredet hat4.[81]

Nach Liszt's Auftreten in der Philh. Soc. beleuchtete er, seinen Bericht5 mit einem Überblick über des Künstlers bisherige Laufbahn einleitend, dessen technische Neuerungen und den Geist seines Vortrags in einer die Grenzen der früheren und der von Liszt eingeleiteten neuen Ära des Klavierspiels so scharf zeichnenden Weise, daß eine zukünftige geschichtliche Darstellung des Klavierspiels ihn so wenig umgehen dürfte, wie z.B. Fêtis' hierher bezügliche schon früher mitgetheilte Bemerkungen6.

Gegenüber dem Vortrag seiner eigenen Kompositionen findet Chorley das treffende Wort, indem er sagt: »we have never heard any one, more instinct with the feeling of time than M. Liszt«. In der Wiedergabe des »Koncertstücks« erkannte er alle die geistigen Wunder, die des Künstlers weiter Horizont, die Intentionen Weber's im echtesten Sinne wahrend, hier erschloß.

Entgegengesetzt die »Musical World«7. Hatte sie schon nach dem Koncert in den Hannover Sq. Rooms geurtheilt, daß mit des Virtuosen Fertigkeit weder Thalberg noch irgend einer rivalisiren könne, und fortfahrend geäußert: »but there is a manner of beating of his instrument (to pieces be every moment expected), that to our minds places Thalberg far before him«, so brach nun ihr konservativer Zorn in einer Weise los, verständnisloser und radikal absprechender, als es von irgend einer Seite geschehen war.»Unable to detect an atom of genuine feeling«, denuncirt sie seine »fantastic tricks with time«, nennt seinen Ausdruck »an elaborate caricature«, so daß er »more frequently suggests the idia of a delirious posture-master than a refined artist« und protestirt schließlich gegen die »sophistications practised on the Koncert-Stück«, wo er »elegance into ugliness« verkehrt. – Nach dem Vortrag einer seiner Fantasien[82] in einem Koncert von Benedict schließt sie8, daß alle, die Musik lieben, dahin urtheilen:


»that he employs his acquirements on some of the ugliest and least artistic combinations of sound that ever found acceptance in a concert room«.


Das »Athenäum« dagegen urtheilte, daß Liszt sich »in all his glory«9 gezeigt habe.

Die »Musical World« beharrte in dieser Stellung zu Liszt nicht nur während der Zeit seines Koncertirens in London, sondern auch später. Gegen seine symphonischen Werke schlug sie den gleichen Ton an, wie gegen den Pianisten und seine »Fantasien«. Ihre Ausfälle wurden immer schärfer, feindseliger und unverständlicher.

Wie sie, so blieb das »Athenäum« noch lange seiner Anschauung treu, wenigstens so lange Chorley am musikalischen Ruder saß. Beide dürften hiedurch Liszt gegenüber die Repräsentanten der damaligen konservativen und der fortschreitenden Presse Englands bilden. Im Moment seiner Anwesenheit in London konnte die »Musical World« keine Depression auf die Stimmung des Publikums ausüben. Seine Koncerte waren überfüllt, seine Vorträge von Enthusiasmus getragen.


»We cannot call to mind any other artist, referirt Chorley nach Liszt's zweitem Piano-Recital am 29. Juni dem »Athenäum«10, vocal or instrumental who could thus, by his own unassisted power, attract and engage an audience for a couple of hours. The critics may not understand M. Liszt, but the musicians crowd to listen to him etc.«


Außer in öffentlichen Koncerten spielte der Künstler viel in Privatkreisen, insbesondere bei Moscheles, dessen Haus, ein Sammelplatz vorzüglicher Künstler, er häufig aufsuchte, um mit Moscheles zu musiciren oder mit Frau Moscheles über die Erziehung und Bildung der Frauen11 und von Neuigkeiten aus der großen und kleinen Welt zu plaudern. In den Kreisen der Aristokratie trat er ebenfalls auf, doch in Windsor erst, nachdem er von seiner Koncerttour am Rhein zurückgekehrt war.[83]

Seine Programme waren die bekannten. Zum ersten Mal jedoch begegnen wir dem Vortrag einiger seiner. Bravourstudien nach Paganini's Capricen. Die Nachricht von dem Ableben dieses Künstlers war soeben eingetroffen. Gleichsam ein musikalisches Erinnerungsopfer trug er sie in einer seiner Privat-Matinéen vor. Sie galten als Wunder technischer Erfindung und Ausführung. »Eine alles schlagende Technik!« steht hierüber in Moscheles' Tagebuch12. »Er macht, was er will, und macht es vortrefflich; und die hoch in die Luft geworfenen Hände kommen nur selten, nur erstaunlich selten auf eine falsche Taste herunter.«

In diese Zeit fällt Liszt's Paganini-Nekrolog mit dem bedeutungsvollen Schlußwort:»Genie oblige«13.

Im Juli vertauschte Liszt London mit dem Rhein. Er reiste über Brüssel, wo – einem Virtuosenkongreß nicht unähnlich – Ole Bull, Beriot, Servais, Vieuxtemps, Haumann, Herz, Geraldi und andere Künstler anwesend waren. Bei dieser Gelegenheit hatte er eine persönliche Begegnung mit Proffessor Fêtis – die erste nach seiner Thalberg-Affaire in Paris 1836/37. Welch ein bewundernder Freund dieser ihm ward, ist aus dessen Tonkünstler-Lexikon (»Biographies universelles«) zu ersehen. In diesen Tagen skizzirte Liszt auf seine Veranlassung für das von Fêtis und Moscheles gemeinschaftlich herausgegebene Studienwerk: »Méthode des Méthodes de Piano« seine Etüde:


Ab Irato.

Grande Etude de perfectionnement.


Unter dem Titel: »Morceau de Salon, Etüde etc.« erschien sie 1841 und dann 1852 »revue et corrigée par l'auteur« bei Schlesinger in einer Separat-Ausgabe.


Sodann sehen wir ihn koncertirend in Baden-Baden, Wiesbaden, Ems, Frankfurt a. Main, in Mainz, Bonn und andern Rheinstädten.

In Ems war gerade die Kaiserin Alexandra Feodorowna14, die Gemahlin Nicolaus' I., zur Kur. Während seines dreitägigen[84] Aufenthaltes hatte Liszt die Ehre ihr allabendlich vorzuspielen – eine Auszeichnung, die nach der Stimmung, welche anfangs seitens der Kaiserin gegen ihn zu walten schien, kaum zu gewärtigen war. Die hohe Dame mochte es keineswegs freundlich aufgenommen haben, daß der Künstler sich einen Weltruhm erworben hatte ohne noch je seinen Fuß nach der russischen Hauptstadt und Residenz gesetzt zu haben. Bei der Vorstellung wandte sie sich barsch an ihn mit den Worten: »Waren noch nicht in Petersburg?«

Auf ihren Wink nahm der Virtuos vor dem Instrumente Platz, das für ihn bereit stand, ein schwacher und untermittelmäßiger Flügel, der ihm wenig Stand zu halten versprach. So war es auch. So sehr er seine Kraft ihm anzupassen strebte: zu seinem Entsetzen – o weh! – riß eine Saite und – noch eine. Er fühlte die kalten Blicke, die ihn streiften, die ihm noch ungünstiger werdende Stimmung der Czarin, die, ein allmächtiger mot d'ordre, sich den anwesenden Hofdamen und Cavalieren mittheilte. Eine abweisende Haltung, wohin er sah. Allgemeines Schweigen nach seinem Vortrag; auch nach seinem nächsten, – ein Schweigen, welches ihm gegenüber sogar noch den Moment überdauerte, der in Form einer Tasse Thee mit Bisquit das Signal zu flüchtiger Konversation bringt. Der Künstler hatte Petersburg ignorirt: die Kaiserin ignorirte ihn. Sie schien den Virtuosen ganz vergessen zu haben. Ihres ausschließlichen Interesses dagegen erfreute sich der Komponist des »Robert« und der »Hugenotten«, der die Ehre hatte zu den Geladenen zu zählen. Nur eine der Prinzessinnen, eine jugendlich freundliche Erscheinung, wandte sich harmlos plaudernd an ihn und brachte ihm einigermaßen Befreiung aus seiner peinlichen Lage. – Dem Thee folgte abermals ein Klaviervortrag. Das »Ave Maria«. In dem Künstler aber arbeitete und stürmte es, die ihn so verletzende Situation zu besiegen – und ein Zauber, ein unwiderstehlicher Zauber drang aus seinen Tönen. Plötzlich schien eine Wandlung im Herzen der vornehmen Frau sich zu vollziehen. Ihr Gesicht verlor seine Eiseskälte, ihre Züge wurden mild und weich, Thränen hingen an ihren Wimpern.

Aber auch die ganze Atmosphäre des Salons schien wie mit einem Schlag verwandelt. »Die Kaiserin weint« schienen sich die Blicke, wieder einem mot d'ordre gleich, zuzuflüstern – die Hofdamen brachten ihre Spitzentaschentücher vor die Augen – Rührung, Entzücken in allen Mienen – enthusiastische Äußerungen[85] ohne Ende. – Nach dem »Ave Maria« trug Liszt in künstlerischer Courtoisie für Meyerbeer noch seine »Hugenotten-Fantasie« vor, welche eine gleiche Aufnahme wie seine Übertragung des Schubert'schen Liedes fand.

Von diesem Abend an wurde der Künstler nie wieder von der Kaiserin ignorirt. Er blieb in ihrer Erinnerung und in ihrer Gunst. In ihrer Erinnerung als der »große Liszt«15, in ihrer Gunst auch dann, als die Ungunst Kaiser Nicolaus' I. ihn traf, trotz deren sie seine Petersburger Koncerte durch ihre Gegenwart auszeichnete.

Nach seiner rheinischen Koncerttour, im September, reifte Liszt nochmals, aber nur auf kurze Zeit, nach London, wo er in mehreren Koncerten – insbesondere zwei Mal in der Philharmonic Society – auftrat. Als er zum dritten Mal in diesem Jahr dahin kam, spielte er in Castle Windsor, wo die Königin Victoria und ihr Gemahl ihn auszeichnend empfingen, in London mit Ole Bull u.A. Hierauf reiste er nach Schottland, und spielte in Edinburg (Januar 184116), Liverpool und anderen Städten.

Sein Ausflug von England nach Hamburg (October 1840), wo er bei übervollem Hause sechs Koncerte gab, gestaltete sich zu einem Triumph, der hier noch lange sichtbar blieb und besondere Erwähnung verlangt. Der besonnene kalkulirende Hanseate schien wie aus dem Boden seiner eigensten Natur herausgerissen, als ob ein Blitz, ein zündendes Feuer walte. Senat, Männer, Frauen, die ganze Stadt war wie von Fieber ergriffen. Festesrauschen, Jubelschwirren bis zum Abschied, bei welchem die Hamburger Frauen ihn durch Überreichung eines Silberpokals zur Erinnerung an die Tage in Hamburg besonders zu ehren gedachten17. Er aber setzte sich hier ein bleibendes Monument anderer Art.[86]

Als er von der schutzlosen Lage der dortigen Orchestermusiker vernahm, rief er aus: »Meine erste Einnahme sei für sie!« – Nach seinem ersten Koncert übersandte er dem Senat ein Kapital von 3189 Thaler Courant18 zur Gründung eines Musiker- Pensionsfonds; nach seinem vierten eine andere große Summe zur Vertheilung unter die Armen Hamburgs, der späteren Summen, die bei der Heimsuchung des Brandes dieser Stadt für die Hab- und Gutlosen von Petersburg aus dahin abgingen, nicht zu gedenken. – So war es am Rhein. Der Rhein, der den Komponisten Liszt später so schnöde behandelt hat, besitzt unter den Städten, in denen er als Virtuos aufgetreten ist, kaum eine, die ihm nicht zu Dank verpflichtet wäre. Wie viele Koncerteinnahmen wanderten nach Köln zur Erbauung des Domes und welche Anregung gab er hier durch sein Beispiel, daß die nöthigen Gelder flossen! In Bonn übersandte er dem Beethoven-Comité als ersten Beitrag für das Beethoven-Monument die Frucht seiner englischen Reise – 10000 Francs. In Frankfurt a/M. half er der Mozart-Stiftung zum Werden – und so ging es fort. Die Städte vieler Länder können hiervon berichten: ihre Kirchen, Schulhäuser, Monumente, Musiker-Pensionsfonds, Invaliden-, Blinden-, Wittwen- und Waisenkassen – gar nicht zu rechnen, was im Stillen geschah.

Die Summen aber selbst waren nicht so leicht gewonnen, wie es denen scheinen mag, die mit dem Künstler- und Koncertleben nicht vertraut sind. Wer hineingesehen in dieses tausendmaschige, immer im Weben begriffene Netz von Intrigue, Neid, Eigennutz und Kleinlichkeit, ahnt, was eine so hoch angelegte Natur ertragen hat, um diesen von den Idealen auferlegten Verpflichtungen, die wie ein lebendiges, unabweisbares Gesetz in ihr lagen, zu genügen. Dieselben aber wurden allmählich zu Anforderungen an ihn, die in das Maßlose wuchsen19. Daneben die Ausbeute seitens jener Unwürdigen, die bei der Großherzigkeit immer zu Gast kommen, sei es in Apoll oder in Dionys. Er durfte heute, um einem strebsamen Cello-Künstler20 zu dem Nothwendigen einer Existenz – dem[87] Besitz eines guten Instrumentes – zu verhelfen, sein Koncertbillet mit einer Quittung über ein angekauftes Cello einlösen so konnte man sicher sein, daß morgen so und so viele Geiger, Pianisten, Flötisten u.a. ihm brieflich ihre Instrumentennoth klagten.

Diesem Mißbrauch gegenüber waren seine Mutter und deren Freunde21 mit Recht besorgt, er könne seine Familienpflichten schädigen. Sie drangen darum darauf, daß ein ihnen bekannter und zuverlässiger Mann in Sekretärdienst von ihm genommen wurde. Dieser Mann war Belloni, welcher dem Künstler bis Brüssel entgegen reiste (Februar 1841) und hier sein Amt antrat. Während Liszt's Koncertperiode begleitete er ihn auf allen Reisen und war, nach des Künstlers Zeugnis, ein »sich in den verschiedensten Lagen als rechtschaffen und treu bewährender Mann.« Konnte er auch jenen Mißbrauch nicht hindern, so vertrat er doch treu die Interessen sowohl der Familie als auch des Künstlers.

In Hamburg 1840 knüpften sich die Beziehungen zu dem noch jugendlichen und genialen Musikverleger Julius Schuberth, mit dem er von da bis zu dessen Tod 1875 in geschäftlicher Verbindung blieb. Auf seine Veranlassung entstanden die noch in demselben Jahre veröffentlichten Übertragungen:


Beethoven's Geistl. Lieder nach Gellert.22


  • 1) Gottes Macht und Vorsehung.

  • 2) Bitten.

  • 3) Bußlied.

  • 4) Vom Tode.

  • 5) Die Liebe des Nächsten.

  • 6) Die Ehre Gottes aus der Natur.


Als Pendant zu denselben:


Schubert's Geistl. Lieder.23


  • 1) Litanei.

  • 2) Himmelsfunken.

  • 3) Gestirne.

  • 4) Hymne.


Desgleichen:


Beethoven's Septett opus 2024[88]


– eine Klavier-Partitur, welcher durch Treue und Genialität einen Platz neben denen der Symphonien dieses Meisters zukommt. Auch dieser Übertragung schuf er, aber einige Jahre darnach (ebenfalls von Schuberth beauftragt) ein würdiges Seitenstück in der Klavier-Partitur von


Hummel's Septett opus 74.25


Beide Septette hatte Liszt mit andern Künstlern in seinen Hamburger Koncerten vorgetragen.

Fußnoten

1 Nächstes Kapitel.


2 Durch seinen Namen suchte man um jeden Preis das Publikum zu locken. Thatsache ist, daß die Affichen, in dem bekannten großen Format der Engländer, die Anzeigen des Koncertes, bei dem er mitwirkte, in schwarzen Lettern, Liszt's Namen neben dem des Koncertgebers, doch ellenlang und samielroth brachten. Selbst da, wo er nicht mitwirkte, setzten Koncertgeber in gleicher Ausstattung seinen Namen auf ihre Affiche, aber darunter ganz klein und kaum zu entziffern: With whom an engagement is pending.


3 Obige Thatsache hörte ich Liszt in Freundeskreis erzählen.

»Wie taktlos!« rief Jemand aus, »Sie haben doch das Geld zurückgewiesen?«

›Mit nichten‹ entgegnete er einfach; ›ich dankte herzlich! Ich würde ja den alten Herrn verletzt haben, hätte ich seine Gabe stolz zurückgewiesen.‹ –


4 Sein Buch: »Modern German music, Recollections and Criticisms in two volumes«, enthält vortreffliche Bemerkungen über deutsche von Chorley meist auf deutschem Boden gehörte Musik, sowie über die bedeutendsten von ihm persönlich gekannten Tonkünstler seiner Zeit und deren Bestrebungen. Für das »Athenäum« – eine der hervorragendsten Zeitschriften Englands für Kunst und Literatur – referirte er viele Jahre hindurch über die Londoner Koncertereignisse und alle bedeutenden Erscheinungen im dortigen Kunstleben. Damals über Liszt.


5 »Athenaeum«, May 16. 1840.


6 Siehe I. Band, S. 268 u.f.


7 »Musical World«, May 14. 1840.


8 »Musical World«, June 4. 1840.


9 »Athenaeum«, June 6. 1840.


10 »Athenaeum«, July 4. 1840.


11 Er war sehr eingenommen von der hierher bezüglichen Schrift der Mme. Necker de Saussure und verehrte sie Frau Moscheles mit der Bemerkung »es sei dieselbe ein herrliches Buch«.


12 »Moscheles' Leben«, Leipzig, Duncker & Humblot. II. Band, Seite 49.


13 Siehe I. Bd. dieses Werkes, Seite 171.


14 Eine Schwester des deutschen Kaisers Wilhelm I.


15 Als sie später einmal durch Schlesien reiste und in Teschen bei einem Pferdewechsel ihr Blick zufällig auf eine Koncertanzeige mit seinem Namen fiel, rief die sonst so schweigsame Frau aus: »Der große Liszt im kleinen Teschen!« – ein Ausruf, der von ihrer Umgebung oft wiederholt worden ist.


16 »Scotsman« 1841, Jan.


17 Die Phil. Soc. in London übersandte ihm als besondere Anerkennung ein silbernes Frühstücksservice, die Kaiserin von Rußland Diamanten u.s.f.


18 17300 Frank, nach der »Gazette musicale« de Paris.


19 In Berlin 1842, um ein Beispiel herauszugreifen, liefen während seines Aufenthaltes daselbst über 3000 Briefe ein, die ihn um Unterstützung, Beförderung, Empfehlungen etc. angingen – in London 1886 über 700 gleichen Inhalts.


20 Alfred Piatti, Paris.


21 Insbesondere eine Musikerfamilie Seghers, zu denen später die Kinder Liszt's und der Gräfin d'Agoult in Pension kamen.


22 Edirt 1840.


23 Edirt 1842.


24 Edirt 1840.


25 Edirt 1846.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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