Melchior Grimm[17] 7 über Mozart

Aus einem Berichte in der »Correspondance littéraire«, II, 367;

Paris, am 1. Dezember 1763


Die wahren Wunder sind selten genug, um davon zu reden, wenn man Gelegenheit hat, eines zu sehen. Ein Salzburger Kapellmeister namens Mozart ist soeben hier angekommen mit zwei Kindern von der hübschesten Erscheinung der Welt. Seine Tochter, elf Jahre alt, spielt in der glänzendsten Weise Klavier, sie führt die größten und schwersten Stücke mit einer erstaunlichen Genauigkeit aus. Ihr Bruder ist eine so außerordentliche Erscheinung, daß man das, was man mit eigenen Augen sieht und mit eigenen Ohren hört, kaum glauben kann ...

Der vollkommenste Kapellmeister kann unmöglich eine so tiefe Kenntnis der Harmonie und Modulationen haben, welche er auf den weniger bekannten, aber immer richtigen Wegen durchzuführen weiß. Er hat eine solche Kenntnis der Klaviatur, daß, wenn man sie ihm durch eine darüber gelegte Serviette entzieht, er nun auf der Serviette mit derselben Schnelligkeit und Genauigkeit fortspielt. Es ist ihm eine Kleinigkeit, alles, was man ihm vorlegt, zu entziffern; er schreibt und komponiert mit einer wunderbaren Leichtigkeit, ohne Nötigung, ans Klavier zu gehen und seine Akkorde darauf zu suchen. Ich habe ihm ein Menuett eigenhändig aufgeschrieben und ihn ersucht, den Baß darunterzusetzen; [17] das Kind hat die Feder ergriffen und, ohne ans Klavier zu gehen, hat es meinem Menuett den Baß untergesetzt. Sie können wohl denken, daß es ihm nicht die geringste Mühe kostet, jede Arie, die man ihm vorlegt, zu transponieren und zu spielen, aus welcher Tonart man es verlangt. Allein Folgendes, was ich gesehen habe, ist nicht weniger unbegreiflich. Eine Dame fragte ihn letzthin, ob er wohl nach dem Gehör und, ohne sie anzusehen, eine italienische Kavatine, die sie auswendig wußte, begleiten würde. Sie fing an zu singen: das Kind versuchte einen Baß, der nicht nach aller Strenge richtig war, weil es unmöglich ist, die Begleitung eines Gesanges, den man nicht kennt, genau im Voraus anzugeben. Allein, sobald der Gesang zu Ende war, bat er die Dame, von vorn wieder anzufangen, und nun spielte er nicht allein mit der rechten Hand die ganze Singstimme, sondern fügte zugleich mit der Linken den Baß ohne die geringste Verlegenheit hinzu; dann ersuchte er sie zehnmal hintereinander, von neuem anzufangen, und bei jeder Wiederholung veränderte er den Charakter der Begleitung. Er hätte sie noch zwanzigmal wiederholen lassen, hätte man ihn nicht gebeten aufzuhören. Ich sehe es wahrlich noch kommen, daß dieses Kind mir den Kopf verdreht, wenn ich es noch öfter höre: es macht mir begreiflich, daß es schwer ist, sich vor dem Wahnsinn zu bewahren, wenn man Wunder sieht ...

Quelle:
Mozart. Zusammengestellt und erläutert von Dr. Roland Tenschert. Leipzig, Amsterdam [1931], S. 17-18.
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