Vorwort der dritten Auflage.

Da der Name des Unterzeichneten sich bereits auf den Titelblättern des zweiten bis fünften Bandes denen des Verfassers und des Bearbeiters gesellen durfte, wenn auch in der Hauptsache nur in der bescheidenen Rolle des Herausgebers der für den Druck vorbereiteten Arbeiten von Hermann Deiters, so wird es nicht eben sehr auffallen, wenn er nun auch auf dem Titelblatt des ersten Bandes erscheint, der hier seine dritte Auflage erfährt (1. Auflage 1866, 2. Auflage 1901). Diese dritte Auflage unterscheidet sich von der zweiten nicht so stark wie diese von der ersten, zu der ja die zweite außer einer an sich nicht eben belangreichen Abänderung der Gesamtgliederung (Ersetzung der Einteilung in Bücher und Kapitel durch die ausschließlich chronologische nach Jahren) eingehende Auslassungen von H. Deiters über die musikalische Beschaffenheit der einzelnen Werke des Meisters gebracht hatte, wie solche auch die späteren Bände enthalten (der zweite und dritte erst in der zweiten Auflage). Der Herausgeber hielt sich nicht für befugt, diese ästhetischen Würdigungen zu überarbeiten, und hat ein paar Zusätze, in denen er seiner persönlichen Ansicht Ausdruck gibt, als solche kenntlich gemacht. Überhaupt sind aber seine Zusätze oder Änderungen nur wenig zahlreiche, da in der Zeit seit Erscheinen der zweiten Auflage des ersten Bandes (1901) gerade für die in demselben behandelten Jahre (bis einschließlich 1795) neue Funde und neue Spezialarbeiten nicht zu berücksichtigen und einzuarbeiten waren. Nur eins konnte nicht ohne einen ernstlichen Eingriff in den Text selbst wieder gedruckt werden, nämlich die ganz irrige Meinung Thayers und Deiters', daß zur Zeit der Regierung von Kurfürst Clemens August von Köln (1724–1761) »verhältnismäßig wenig Musik durch Druck bekanntgemacht worden sei« und zufolgedessen »neue Formen und neue Stile nur langsam den Weg zur allgemeinen Anerkennung fanden« (2. Aufl. S. 34). Heute wissen wir, daß die Pariser, Londoner und Amsterdamer Musikverleger zum mindesten seit etwa 1750 eine geradezu fieberhafte Tätigkeit entfaltet und den Markt mit Werken eines neuen Stiles förmlich überschwemmt [3] haben, sofern dieselben Werke in drei und mehr Ausgaben kursierten. Freilich waren dabei deutsche Verleger zunächst nur in sehr bescheidenem Maße beteiligt, besonders bezüglich des neuen Stils. Die norddeutschen (Fr. M. Birnstiel, G. L. Winter und Fr. Wever in Berlin, Im. Breitkopf in Leipzig) verhielten sich gegenüber der süddeutschen (Mannheimer) neuen Stilrichtung ablehnend und zuwartend und brachten ausschließlich Werke der norddeutschen (Berlin-Leipziger) Schule (Ph. Em. Bach, Kirnberger, Marpurg, Schaffrath usw.). Von süddeutschen Verlegern ist Balthasar Schmidt in Nürnberg (seit ca. 1740) ein Hauptverleger Ph. E. Bachs; dagegen hat Ulrich Haffner in Nürnberg (gest. 1766) neben Werken der Norddeutschen doch z.B. Fr. X. Richters geschichtlich wichtige Klaviertrios gebracht und wahrscheinlich auch Johann Stamitz' Trios Op. 1. Aber erst als die Verbreitung der Mannheimer Musik durch die Pariser, Londoner und Amsterdamer Offizinen ihren Höhepunkt erreichte, regte sich auch der Unternehmungsgeist der süddeutschen Verleger stärker (J.M. Götz in Mannheim, H. Ph. Boßler in Speier, W. N. Haueisen in Frankfurt am Main, M. Falter in München, J. André in Offenbach, B. Schott in Mainz, N. Simrock in Bonn) und erlangte besonders auf dem Gebiete der Kammermusik (Trios, Quartette, Duos ohne und mit Klavier) eine Position, die den Import der außerdeutschen Verlagswerke einschränkte. Mit der Übersiedelung des Verlegers J.J. Hummel von Amsterdam nach Berlin (1771) markiert sich der endgültige Sieg der süddeutschen Richtung über die norddeutsche. Von 1760–1770 während des letzten Jahrzehnts vor Beethovens Geburt ist die Produktion eine fast beispiellos rege. Breitkopfs Kataloge und Supplemente (mit den thematischen Anfängen der Werke) von 1760ff. zeigen ein starkes Überwiegen der Pariser und Amsterdamer Ausgaben; die parallel gehenden Londoner sind nicht berücksichtigt, haben aber gleichfalls ihren Weg nach Deutschland gefunden, wie die vielen erhaltenen Exemplare in deutschen Bibliotheken beweisen (besonders der sehr ausgedehnte Bremnersche Verlag; doch hat auch noch J. Walsh viele Werke der Mannheimer gebracht). Während der Knabenjahre Beethovens war ganz zweifellos Bonn mit deutschen und ausländischen Drucken der Musik der Mannheimer Stilrichtung überflutet; mußte das bislang aus ganz allgemeinen Gründen und aus der stilistischen Beschaffenheit der Frühwerke Beethovens geschlossen werden, so hat die Auffindung der Inventur der Musikbestände der Bonner Kapelle beim Regierungswechsel 1784 den letzten Zweifel behoben (Näheres darüber im Text S. 201).

[4] Da die ersten Hinweise des Herausgebers auf die historische Bedeutung der Mannheimer gerade um die Zeit erfolgten, als die zweite Auflage des ersten Bandes des Thayerschen Werkes die Presse verließ (1901), so hatte Deiters noch keine Kenntnis derselben und ist es daher begreiflich, daß er die Wurzeln von Beethovens Stil und die stärksten Einflüsse auf seine künstlerische Entwicklung in der Zeit vor der allgemeinen Anerkennung Mozarts und Haydns in den Werken der Norddeutschen (Ph. Em. Bach, Hiller, Neefe) suchte. Daß aber Mozart und Haydn selbst auf den Schultern der Mannheimer standen, hätte freilich schon Otto Jahn wohl zu erkennen und zu betonen Gelegenheit gehabt; die sehr einschneidende Korrektur, welche seine Darstellung von Mozarts Werdegang jetzt durch Wyzewa und Saint-Foix hat erfahren müssen, wäre dann nicht nötig geworden. Heute, wo wir wissen, daß Mozart den neuen Stil nicht aufgebracht, sondern nur aufgenommen hat, muß das, was man in Beethovens Frühwerken früher kurzweg »mozartisch« nannte, vielmehr »mannheimisch« genannt werden; Beethoven ist nicht eigentlich ein Schüler und Nachfolger Mozarts oder. Haydns, sondern vielmehr gleich ihnen ein auf dem Boden der neuen Stilrichtung erwachsenes Genie, und zwar stellt er sich bewußt als dritter in ihre Reihe, um über sie hinauszuwachsen. Graf Waldsteins Stammbucheinzeichnung von 1792 kann ohne Zwang als die Formulierung von Beethovens künstlerischer Mission verstanden werden, wie sie dem genialen Jünglinge selbst vorschwebte. Die auffällige Zurückhaltung mit der Publikation seiner Werke in einer Zeit, wo die Verleger Unmengen von Kompositionen druckten, unter denen schon die drei Klaviersonaten von 1783 sich höchst respektabel ausnehmen, ist nur verständlich, wenn man annimmt, daß Beethoven nicht danach strebte, einer von vielen zu sein, sondern der dritte und der größte von den dreien. Erst in dem Moment, wo er sich Haydn völlig gewachsen fühlte, gab er diese Zurückhaltung auf (1795).

Es muß genügen, diesen Gesichtspunkt hier als orientierend für den Inhalt des ganzen Bandes zu betonen, anstatt ihn in einer den Text im einzelnen umgestaltenden Form zur Durchführung zu bringen. Die schuldige Pietät gegen die beiden hochverdienten Autoren, den 1897 verstorbenen Verfasser und den 1907 verstorbenen Übersetzer und Bearbeiter verboten das letztere unbedingt. Andererseits wäre es aber wiederum nicht zu verantworten gewesen, wenn der Herausgeber die durch die neuesten Forschungsergebnisse bedingte veränderte Beurteilung des Werdegangs Beethovens ganz unterdrückt hätte.

[5] Das der vorliegenden neuen Auflage beigegebene Register zum ersten Bande wird willkommen sein, da sein Fehlen bisher vielfach bedauert worden ist. Das von H. Deiters verheißene Generalregister für das ganze Werk ist dagegen angesichts der wie bisher auch fernerhin nicht wohl vermeidbaren Neudrucke von Einzelbänden nicht wohl möglich und soll nicht wieder in Aussicht gestellt werden. Eine fortgesetzte Vervollständigung und Verbesserung der Register der Einzelbände wird aber gewiß auch zweckdienlicher sein als ein solches Generalregister, das unpraktikabel ausfallen würde, wenn es auch die Auflagen sämtlich berücksichtigte, im gegenteiligen Falle aber doch unvollständig bliebe.

Dem Werke als Ganzem hier noch empfehlende Worte mitzugeben, ist wohl nicht nötig. Die grundlegende Bedeutung der Forschungen Thayers ist allgemein unumwunden anerkannt, und alle neueren Beethoven-Bücher bekennen offen ihre Abhängigkeit von demselben in allem, was das Sachlich-Biographische anlangt. Wenn außerdem auch hie und da Ergebnisse der ästhetischen und kompositionstechnischen Betrachtung mit in dieselben übergegangen sind, so soll daraus kein Grund zu kleinlichen Prioritätsreklamationen abgeleitet werden.


Leipzig, im Herbst 1916.

Hugo Riemann.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 1, 3. Auflage, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1917, S. 3-7.
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