Vorwort zur zweiten Auflage.

[5] Die von Hermann Deiters in der zweiten Auflage des 1. Bandes (1901) und in den beiden Schlußbänden (4.–5.) des Werkes durchgeführte Veränderung der Gesamtanlage – Ersetzung der Einteilung in »Bücher« durch die in Kapitel mit Einarbeitung musikalischer Würdigungen der Werke Beethovens – hatte der Herausgeber der neuen Auflage nun auch auf den zweiten und dritten Band auszudehnen. Er hat versucht, dieser heikeln Aufgabe mit möglichster Pietät gerecht zu werden; doch waren starke Umlegungen auf die Werke bezüglicher Briefe und anderweiter Mitteilungen nicht zu vermeiden. In noch höherem Maße wurden aber Umgruppierungen des Materials der ersten Auflage bedingt durch die Zusammenrückung von zusammengehörigen Betrachtungen, die in der ersten Auflage in Gestalt von Nachträgen, Anhängen usw. auf verschiedene Stellen des 2.–3. Bandes verteilt waren, so besonders die Untersuchungen über den Brief an die »Unsterbliche Geliebte«, die Versuche, festzustellen, an wen derselbe gerichtet gewesen ist. Ein großer Teil der Beweisführungen Thayers ist hinfällig geworden durch den Umstand, daß der Heiratsplan Beethovens im Jahre 1810 nicht Therese Brunswik, sondern Therese Malfatti anging. Durch Aufdeckung der Tatsache, daß Beethoven das Honorar für die 1807 an Clementi verkauften Kompositionen erst im Frühjahr 1810 ausgezahlt erhalten hat, mußte eine ganze Reihe von Briefen Beethovens, die bisher allgemein in das Jahr 1807 gesetzt wurden, in die Jahre 1809–10 verwiesen werden. Damit erhält dieser Teil der Biographie eine durchaus veränderte Physiognomie. Von sonstigen wichtigen Publikationen, welche auf die Umgestaltung der beiden Bände Einfluß gewinnen mußten, sind besonders hervorzuheben die durch La Mara herausgegebenen Memoiren der Gräfin Therese Brunswik, welche zwar die intimen Beziehungen Beethovens zur Familie Brunswik bestätigen und auch eine ernste Herzensneigung der Gräfin für Beethoven mehr als wahrscheinlich gemacht haben, [5] aber den bisherigen Beweisführungen für die Datierung des Liebesbriefs in das Jahr 1806 oder 1807 den Boden entziehen. Daß der Brief erst 1812 und zwar von Teplitz nach Karlsbad geschrieben, ist durch die Schrift von Thomas-San Galli »Beethovens unsterbliche Geliebte, Amalie Seebald« (1909) sehr wahrscheinlich gemacht, wenn auch der Nachweis, daß Amalie Sebald die. Adressatin des Briefes sei, nicht geglückt ist. Es ist nicht die Aufgabe der Biographie, in dieser merkwürdig komplizierten Frage eine Entscheidung zu treffen, solange strikte Beweisführungen unmöglich sind, wohl aber hat sie die von verschiedenen Seiten versuchten Entscheidungen zu prüfen und zu wägen. Auch sonst wurde manche Umgestaltung im Detail unerläßlich durch Bekanntgabe früher unzugänglicher Briefe, wie der Korrespondenz Beethovens mit Breitkopf & Härtel, mit N. Simrock u.a.m. Der Herausgeber der Neubearbeitung bittet sehr um Nachsicht, wenn die starken Umwälzungen ganzer Partien der Biographie hie und da die Glätte der Darstellung und die Proportionierung der Teile gefährdet haben. Jede solche Umgießung hat immer ihr Bedenkliches, weil Konflikte zwischen pietätvoller Konservierung der älteren Darstellung und Einschaltung neuer Ergebnisse unausbleiblich sind. Eine bloße Beschränkung auf Zusätze in Gestalt von Anmerkungen war schon darum nicht möglich, weil die erwähnten Änderungen des Gesamtplanes (Aufnahme musikalischer Analysen) in voraus bestimmt waren. Dazu kommt, daß in den vorliegenden Materialien die Einfügung von Anhängen der ersten Auflage in den Text der zweiten und andere Änderungen durch Bemerkungen Thayers selbst ausdrücklich gewünscht waren. Bemerkt sei noch, daß Vorarbeiten von Deiters nur noch für einen kleinen Teil des zweiten Bandes (bis Op. 21) vorlagen, daher in weitergehendem Maße als im vierten oder fünften Bande der neue Herausgeber für den Inhalt verantwortlich ist.

Noch bleibt dem Herausgeber die Ehrenpflicht zu erfüllen, die in Anhang IX der ersten Auflage des zweiten Bandes ausgesprochenen Worte dankbaren Gedächtnisses an Otto Jahn an dieser Stelle auch für die Leser der neuen Ausgabe zu konservieren.


Dem unveränderlichen Wohlwollen, welches Professor Otto Jahn während der letzten zehn Jahre seines Lebens dem Verfasser dieses Buches erzeigte, und dem tiefen und eingehenden Interesse, welches er an dem Fortschreiten desselben, als einer authentischen Berichterstattung über die Tatsachen in Beethovens persönlicher Lebensgeschichte nahm, ist der erste Band in höherem Grade verpflichtet, [6] als in den beiden Briefen hervortreten konnte, welche die Stelle der gewöhnlichen Vorrede einnehmen. Der Mangel war durch einen dritten Brief ausgeglichen worden, welcher indes beim Drucke auf Jahns ausdrücklichen Wunsch wegblieb. Das trauervolle Ereignis, durch welches die musikalische Welt ihren größten biographischen Schriftsteller, und mit ihm alle Hoffnung auf ein würdiges Gegenstück zu dem Leben Mozarts durch eine Biographie von derselben Meisterhand verloren hat, gestattet es uns nicht allein, sondern gewährt uns eine Art von schmerzlicher Genugtuung, wenn wir den damals unterdrückten Zoll der Dankbarkeit hier nachtragen. »Wenn in meinem ersten Briefe«, schrieb der Verfasser damals an den Übersetzer seines Buches, »jener Dank gegen Professor Jahn, welcher seiner beständigen Güte und Liebenswürdigkeit gegen uns gebührt, nicht genügend ausgedrückt sein sollte, so muß der Fehler hier wieder gut gemacht werden. Von dem ersten Augenblicke unserer persönlichen Bekanntschaft habe ich in ihm jederzeit einen Freund gefunden, an den ich mich um Hülfe und Rath bei meiner Aufgabe wenden konnte, und eine aufrichtige und lebendige Theilnahme. Da ich weiß, daß keine Arbeit über die Geschichte Beethoven's, welche ich hervorzubringen im Stande bin, mir jemals eine entsprechende Erstattung für die pecuniären Verluste, welche mir durch dieselbe erwachsen sind, gewähren kann – gar nicht zu reden von der Mühe und den tausend anderen mir auferlegten Opfern – so ist es ja doch kein geringer Lohn für eine solche Aufgabe, daß sie mir die Freundschaft von Männern wie Jahn, Sonnleithner, Köchel und Anderen verschafft hat, deren Billigung mir eine hinlängliche Garantie dafür bietet, daß mein Streben nach Erforschung der Wahrheit nicht erfolglos gewesen ist.«

Daß Jahns freundliche Aufmerksamkeit und Gesinnung unverändert bis zuletzt sich gleich geblieben ist, wird aus jener »Erklärung« seines Neffen, Professor Adolf Michaelis, in betreff des Jahnschen Nachlasses ersichtlich, die in der Allgemeinen Musikal. Zeitung vom 10. Nov. 1869 zu lesen war, und in welcher es zum Schlusse hieß:

»Als nun Jahn im August dieses Jahres in Erwartung seines nahen Todes seine sämmtlichen Papiere ordnete, beabsichtigte er jene Materialsammlungen [nämlich ›einzelne Notizen, Abschriften von Documenten, Ausschnitte aus Zeitschriften und dgl.‹], da sie doch in dieser Gestalt keinem andern nützen könnten, zu vernichten. Indessen gestattete er mir schließlich die Aufbewahrung, und ging auf[7] meinen Vorschlag ein, da die Sammlungen bei mir ganz unbenutzt liegen würden, eine Benutzung von Seiten Unberufener aber nicht stattfinden sollte, den Herren Pohl und Thayer, wenn diese Werth darauf legen sollten, die Haydn'schen und Beethoven'schen Materialien zu weiterem Gebrauch mitzutheilen.«

Den beiden Professoren Jahn und Michaelis gebührt demnach der Dank der Leser dieses Buches für viele und interessante Beiträge zu ihrer Kenntnis von Beethovens Charakter und Lebensgeschichte, die von dem ersteren aus der Unterhaltung mit glaubwürdigen, seitdem längst verstorbenen Zeugen aufgezeichnet oder ihm von ihnen in ihren eigenhändigen Aufzeichnungen übergeben worden sind. Die meisten der Anhang VIII der ersten Auflage des zweiten Bandes mitgeteilten Dokumente waren jener Quelle entnommen; dieselben sind in die inzwischen (1901) erschienene zweite Auflage des ersten Bandes eingearbeitet worden.

Es darf hinzugefügt werden, daß außer der Befriedigung, die natürlicherweise aus der Auffindung neuen und wertvollen Materials zu diesem Buche erwuchs, dasselbe dem Verfasser die doppelte Freude gewährt hat, daß er in der Sammlung nichts gefunden hat, was irgend eine seiner früheren Schlußfolgerungen oder der von ihm ausgesprochenen Meinungen zweifelhaft gemacht hätte, vieles hingegen, was geeignet war, dieselben zu bestätigen und zu befestigen.

Es bleibt nur übrig, an dieser Stelle öffentlich die dankbare Anerkennung zu wiederholen, die der Verfasser schon persönlich Herrn Professor Michaelis für seine wertvolle Mitteilung ausgesprochen hat.–


Leipzig im Februar 1910.

Hugo Riemann.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1910..
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