Vorwort.

Mit dem vorliegenden fünften Bande findet A. W. Thayers Beethovenbiographie erstmalig ihren Abschluß. Über die Gründe der langjährigen Verzögerung ihrer Beendung gibt das Vorwort der 2. Auflage des ersten Bandes hinlängliche Auskunft. Während die ersten drei Bände einander verhältnismäßig schnell folgen konnten (1866, 1872, 1879), liegen zwischen dem dritten und vierten Bandenicht weniger als 28 Jahre! Daß nun aber der fünfte Band bereits nach Jahresfrist dem vierten folgen kann, ist dem glücklichen Umstande zu danken, daß beide eigentlich zusammen als abschließender vierter Band projektiert waren und erst zuletzt wegen allzustarken Anschwellens des Umfangs geteilt wurden. Wie schon das Vorwort des vierten Bandes berichtet, lag dieser bereits bis zum letzten Bogen gedruckt vor, als der hochbetagte Bearbeiter des Werkes, Geheimrat Hermann Deiters aus dem Leben abberufen wurde; aber auch der fünfte Band war im Manuskript vollständig ausgearbeitet, sogar in doppelter Fassung, so daß der unterzeichnete Herausgeber die Veröffentlichung nicht weiter hinauszuschieben brauchte. Da aber von diesem fünften Bande noch nichts gesetzt war, so hatte der Herausgeber Gelegenheit, einige gelegentli che Beziehungen auf Beethoveniana neuesten Datums sowie kleine Zusätze irgend welcher Art als Anmerkungen zum Text zu geben; er hat indes vermieden, stärker modifizierend in den Text selbst einzugreifen. Das war gewiß ein selbstverständliches Gebot der Pietät gegen den hochverdienten berufenen Erben und Vollender von Thayers Lebenswerk. Denn das sei wiederholt hervorgehoben: ein von dem 1897 verstorbenen Thayer selbst ausgearbeiteter Text hat Deiters auch schon für den vierten Band nicht vorgelegen; vielmehr sah er sich vor die Aufgabe gestellt, das angehäufte [3] wenn auch nach Jahrgängen geordnete Material selbständig durchzuarbeiten und zu einem Buche zu gestalten. Mit der größten Gewissenhaftigkeit hat er aber fortlaufend kenntlich erhalten, wie bedeutend der Anteil Thayers selbst an dem Zustandekommen der beiden Schlußbände gewesen ist, wie sie jetzt vorliegen. Keine Mühe hatte Thayer gescheut, noch persönlich von Überlebenden aus der Zeit Beethovens authentische Bekundungen zu erlangen und wo die Augenzeugen selbst nicht mehr am Leben waren, bei ihren Nachkommen nach etwaigen Aufzeichnungen derselben zu fahnden.

In noch höherem Maße als für den vierten Band sind für den fünften, die letzten Lebensjahre des Meisters (1824–27) umspannenden, die Konversationsbücher eine Hauptquelle der Darstellung geworden. Ein Vergleich mit anderen Biographien, auch z.B. mit dem Schlußbande des die Konversationen schon etwas ausgiebiger benutzenden Nohlschen Werkes erweist, daß die gründliche Beschäftigung mit den erhaltenen Konversationsbüchern der Schilderung der letzten Lebenszeit Beethovens eine beispiellose Lebenswahrheit verliehen hat, da der Leser sozusagen sich täglich, ja stündlich persönlich bei Beethoven selbst befindet. Die strenge Sichtung und Richtigdatierung der Konversationsbücher ist ein Verdienst Thayers, das noch manchem zugute kommen wird, der nach ihm sich mit Beethovens Leben beschäftigt. Ein sehr bedeutender Teil der Konversationen ist von Thayer eigenhändig kopiert worden, der dieselben von der Berliner Kgl. Bibliothek nach Triest zugesandt erhielt, wo er sie in häuslicher Ruhe gründlich durcharbeiten konnte. Auch dem Herausgeber war daher möglich, hie und da noch kleine Ergänzungen den Kopien Thayers zu entnehmen. Gegenüber sehr verbreiteten legendarischen und sensationell aufgebauschten Schilderungen mancher Details aus Beethovens letzter Lebenszeit wirkt die besonnen erwägende, nach Möglichkeit jede Ungerechtigkeit und Schroffheit meidende Darstellung Deiters' bzw. Thayers wohltuend und versöhnend. Das gilt besonders für die neben Breuning Vater und Sohn wichtigsten Persönlichkeiten, die wir in dieser Zeit als Gesellschafter Beethovens treffen: den Neffen Karl, den Bruder Johann, die beiden rivalisierenden und einander befehdenden Faktoten Schindler und [4] Holz und auch für den behandelnden Arzt Dr. Wawruch. Sie alle treten uns gerade durch die Konversationen menschlich näher, so daß wir, ohne ihre Schwächen zu verkennen, sie gerecht zu beurteilen Gelegenheit erhalten. Es ist sicher nicht das kleinste Verdienst des Thayerschen Werkes, Übertreibungen und Schwarzfärbereien in der Charakteristik dieser Personen bestimmt entgegengetreten zu sein.

Gerade bezüglich der letzten Lebenszeit hat die Beethoven-Kleinliteratur neuestens nur wenig gebracht, was die Thayer-Deiterssche Darstellung zu ergänzen oder zu berichtigen geeignet gewesen wäre. Im Gegenteil muß betont werden, daß die vorliegenden beiden Schlußbände ohne Zweifel bei weitem das bedeutendste sind, was für diese Epoche die Literatur überhaupt aufzuweisen hat, und daß vielmehr die Kleinarbeit durch dieselben Anregungen in Hülle und Fülle erhalten wird.

Auch für die bevorstehende Überarbeitung des zweiten und dritten Bandes, die im Buchhandel vergriffen sind, hat noch Thayer selbst wertvolles Material zusammengetragen, so daß auch sie sich wenigstens teilweise noch auf seine Vorarbeit stützen kann. Der Herausgeber hält es nicht für überflüssig, darauf einigen Nachdruck zu legen, um das Mißverständnis zu verhüten, als setze mit dem Tode Thayers eine nicht mehr von diesem herrührende Fortsetzung der Arbeit ein und wäre somit die Bezeichnung des ganzen fünfbändigen Werkes mit Thayers Namen nur eine Titel- und Etikettensache. Das ist ganz und gar nicht der Fall, und Deiters hat auch keinerlei Anlaß zu einer solchen Annahme gegeben. Vielmehr gebührt demselben Dank und Anerkennung dafür, daß er in demselben Geiste, wie er bei Lebzeiten des Verfassers mit dessen ausdrücklicher Zustimmung Eigenes dem ihm vorliegenden Material eingefügt, auch nach Thayers Tode die beiden abschließenden Bände ausgeführt hat, so daß dem ganzen Werke innere Einheitlichkeit und Konsequenz mit freudiger Anerkennung zugesprochen werden muß. Wenn durch die Einverleibung von eingehenden Besprechungen der Hauptwerke Beethovens bezüglich ihres musikalischen Gehaltes etwas dem ursprünglichen Plan fremdes in das Werk gekommen ist, so sind aber zweifellos gerade die beiden Schlußbände geeignet, die Richtigkeit dieses Verfahrens darzutun, da in ihnen durch die Briefe und Konversationen [5] so manches speziell Musikalische in den Vordergrund gerückt und das Eingehen auf den künstlerischen Gehalt nahe gelegt ist. Es liegt nun dem Herausgeber ob, Deiters' Plan in dieser Richtung auch für den zweiten und dritten Band durchzuführen.

Wie der vierte bringt auch der fünfte Band ein alphabetisches Register zur bequemeren Orientierung.

Zum Schluß erfüllt der Herausgeber eine Pflicht der Dankbarkeit, indem er die Mitwirkung des Herrn Dr. Paul Deiters, Sohnes des verstorbenen Bearbeiters des Werkes, bei der Kontrolle der Drucklegung ausdrücklich hervorhebt.


Leipzig, im Sommer 1908.

Hugo Riemann.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1908., S. 7.
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