Musikgeschmack in Breslau

[89] Der Musikgeschmack des Breslauer Publikums war zur Zeit als Carl Maria dort sein Amt antrat, noch ein ziemlich unausgebildeter, obgleich Sinn für die Tonkunst herrschte und gute Musiker daselbst wohnten. Einen Theil der Schuld hieran trug die Organisation, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, dieses Publikums. Es herrschte ein mit seltener Schärfe ausgeprägter Kastengeist, der durch die strenge Sonderung der Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, die ins Lebenführung gemeinnütziger Unternehmungen ungemein erschwerte. Der höhre, reiche Adel der Provinz lebte im Sommer auf seinen Gütern und brachte, wenn er im Winter in die Stadt strömte, wenig Laune und Fähigkeit mit, sich den feineren Lebensgenüssen hinzugeben. Der ärmere Adel diente in der Armee oder hatte in ihr gedient, auch ihm wohnte gerade kein mäcenatischer Geist bei. Auch die obern Stellen der Beamtenwelt bevölkerte dieser ärmere Adel, der seine Erziehung in der Mitte von Standesgenossen in einem Militärstaate erhalten hatte. Diese Klasse des Breslauer Publikums, die sich in horizontaler, strenger Schicht von den andern schied, war daher mit sehr weniger Ausnahme für die Pflege der Musik, in so weit sie nicht Tafel- oder Tanzmusik hieß, null und nichtig.[89]

Die Geldaristokratie war stark aus den Bekennern mosaischen Glaubens rekrutirt und so oft man bei diesen, in consolidirten Verhältnissen, Kunstliebe findet, so selten war sie bei den Emporkömmlingen der aufblühenden Stadt heimisch, die, mehr als für den guten Ton der Gesellschaft dienlich, die cavaliermäßigen Sitten des spielenden, reitenden, singenden und zechenden Adels unglücklich copirten.

Die Kunst fand daher ihre Heimath in den verhältnißmäßig kleinen und mittelmäßig begüterten Kreisen, der der Universität attachirten Gelehrten, der mittleren Beamtencategorie und des christlichen Kaufmanns- und Bürgerstandes, wo, wie nicht zu läugnen ist, viele Herzen warm für sie schlugen. Diese Formation des Publikums war leider von allen diejenige, in der Carl Maria's äußere und innere Wesenheit am wenigsten Wurzel schlagen konnte. Der scharf gesonderte, reiche Adel nahm es ihm übel, daß er, der Adlige, Musikant war, der ärmere Adel zog sich von dem Fremden zurück, der Bürgerstand mißtraute ihm als Adligen. So trat er von Vorurtheilen begrüßt und von ihnen geleitet in einen Thätigkeitskreis, zu dessen Ausfüllung, schon unter günstigen Verhältnissen, seine jugendlichen Kräfte kaum ausgereicht haben würden und in dem er sich niemals heimisch und wohl fühlen konnte, wo er aber, als Künstler, Dirigent und Mensch, ein Indien von Reichthum an Erfahrung sammeln sollte.

Einen andern Theil der Schuld, der in der Hauptsache im Vorerwähnten wurzelte, trug der Mangel eines gut geleiteten Theaters, eines tüchtig zusammengespielten Orchesters mit fest engagirten Mitgliedern und die Seltenheit von gelungenen Concerten mit wohlvorgeführten classischen Werken, seitdem das Theater verpachtet war und der verstorbene Fürstbischof seine Residenz nach Johannisberg verlegt und seine Capelle mitgenommen hatte, so daß auch die Kirchenmusik in Verfall gerathen mußte.

Eine Anzahl der gebildetsten und einflußreichsten Bürger Breslau's, denen die dramatische und musikalische Situation der wohlhabenden und großen Hauptstadt Schlesiens am Herzen lag, strebte daher seit mehren Jahren auf verschiedenen Wegen nach Hebung der geistigen Verfassung in diesen Beziehungen.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 1, Leipzig: Ernst Keil, 1864, S. 89-90.
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