Musikzustand in London

[649] Ehe wir Weber's Schritten auf dem Schauplatz seiner Thätigkeit weiter folgen, sei es vergönnt, einen Blick auf denselben zu werfen.

Wie alle bedeutenden Erscheinungen des englischen Culturlebens, hat sich auch das musikalische Denken und Empfinden dieses kraftvollen Volkes, fast ohne jedwede Leitung der Geschmacksrichtung aus den Kreisen der Fürstenumgebung, entwickelt, zu der auch wohl der Einfluß keiner Fürstenreihe weniger geeignet war, als der der ersten George. Desto wirksamer war dagegen von jeher die Bevormundung desselben durch gewisse gesellschaftliche Sphären, denen das britische Volk selbst und freiwillig den Scepter im Reiche alles dessen gegeben hatte, was es unter, Feinsinn, Geschmack, edler Lebensform und hoher Bildung begriff. Von seiner Gentry, seiner Nobility erhielt das englische Volk, wenn es in Sachen dieser Richtung Hand und Wort zum Preisen oder Verdammen zu erheben galt, weit gebieterischer und vertrauensvoller befolgte Signale, als je von der Loge Ludwigs XV. im Theatre français ausgingen.

Wie alle Autodidaxis führte diese Selbstbestimmung zu bedenklichen Entwickelungskrisen, die unter der Leitung von feinsinnigen und taktvollen, kunstfreundlichen, Fürsten vielleicht vermieden, oder wenigstens[649] wesentlich abgekürzt worden wären. Der energische, positive Geist des eigentlichen Volks, der »strong saxon spirit«, die gewaltige Basis der wundervollen Entwickelung der männlichsten Künste, Architektur und Poesie, war kein Boden für die naturwüchsige Cultur der weichsten und sinnlichsten der Künste, der Musik.

Von der Pflege der exotischen Blumen italienischer und deutscher Kunst in den Treibhäusern der fashionablen Gesellschaft erhielt daher die ganze Musik den Charakter einer von der Mode weit mehr, als ihre Schwestern, beeinflußten Kunst. Dieser Gesellschaft stand daher in Angelegenheiten der Musik der letzte Spruch in einer Weise zu, welche die freie Selbstbestimmung des Einzelnen eben so unmöglich macht, wie die Wahl des Kleiderschnittes oder der Hutform im modischen Leben.

Die Folge hiervon war die Entwickelung eines Autoritätsglaubens, eines Cultus des festgestellten Namens und Ruhmes, der England bei dem großen auf der Insel aufgehäuften Reichthume, zu einem Eldorado aller mehr oder weniger solid begründeten Berühmtheit gemacht hat, wo der Künstler, ohne Hoffnung und Wunsch, verstanden zu werden, doch gierig das gute Geld der Insulaner einstrich. Dieß Gebahren der Künstler konnte, bei der Anschauungsweise des englischen Volks im Allgemeinen, nicht verfehlen, die Kunst als eine Handelswaare, den Künstler als einen producirenden Fabrikanten erscheinen zu lassen, dem man sein Fabrikat abkaufen kann, ohne ihm dann ferner noch große Kundgebungen von Ehrerbietung schuldig zu sein. Wie indeß jede außerordentlich tüchtige Leistung, gleichviel ob sie idealster oder praktischster Natur sei, dem Engländer einen gewissen Enthusiasmus des Kopfes abringt, der sich dann in derben, graden und lauten Formen zur Anschauung bringt, so hat auch großer musikalischer Ruhm nie verfehlt, das englische Volk zu den geräuschvollsten Kundgebungen der Sympathie zu veranlassen, die indeß morgen vielleicht mit gleicher Lebhaftigkeit einem Boxer oder Jockey gespendet wird. Es giebt vielleicht nur eine Richtung, wo die musikalische Erscheinung mit dem tiefinnersten Leben des englischen Volkes coincidirt, und das ist die der religiösen Schilderung.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 2, Leipzig: Ernst Keil, 1866, S. 649-650.
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