Sand- oder Zwergpricke (Petromyzon Planeri)

[399] Die Sand- oder Zwergpricke, das kleine Neunauge (Petromyzon Planeri, branchialis, lumbricalis, ruber, coecus, niger, sanguisuga, bicolor und plumbeus, Lampetra Planeri, Ammocoetes branchialis), ähnelt der letztgenannten Verwandten, unterscheidet sich jedoch durch geringere Größe, durch Gebiß und Beflossung so entschieden, daß sie nicht verwechselt werden kann. Zwölf Zähne oder Zahnspitzen erheben sich von der Platte, welche dem Unterkiefer entspricht; der Umfang des Saugmundes wird von einem dichten, aus mehreren Reihen bestehenden Kranze kurzer, warzenartiger Fransen umstellt, zwischen denen man ebenfalls kleine Zähne bemerkt; im übrigen ähnelt das Gebiß dem der Pricke.


Meer-, Fluß- und Sandpricke (Petromyzon marinus, fluviatilis und Planeri). 1/4 natürl. Größe.
Meer-, Fluß- und Sandpricke (Petromyzon marinus, fluviatilis und Planeri). 1/4 natürl. Größe.

Die erste Rückenflosse geht in die zweite entweder unmittelbar über, oder ist nur durch einen kurzen Zwischenraum getrennt. Hinsichtlich der Färbung unterscheidet sie sich von der Pricke hauptsächlich dadurch, daß der Rücken mehr ins Oelgrünliche spielt. Ihre Länge beträgt zwanzig bis vierzig Centimeter.

Nach den Angaben Yarrells kommt die Sandpricke, welche sich über Europa und Nordamerika verbreitet, auch im Meere vor; häufiger aber findet sie sich im Süßwasser, und zwar fast allerorts, bis zu den kleinsten Nebenbächen empor, da, wo der Grund günstig, das heißt weichsandig oder schlammig ist, meist in sehr großer Anzahl.

[399] Ungeachtet der geringen Ausbildung der Flossen bewegen sich die Neunaugen rasch und geschickt im Wasser. Da, wo die Strömung nicht bedeutend ist, fördern sie sich durch seitlich schlängelnde Bewegungen; in schnell fließendem Wasser hingegen eilen sie ruckweise vor, saugen sich nach jedem Sprunge an einem festen Gegenstande an, ruhen in dieser Lage, eilen von neuem vorwärts und sind so im Stande, selbst reißenden Strömen entgegenzuschwimmen. Oefter noch mögen sie sich durch andere Thiere weiter führen lassen. »Die Lampreten sollen die Salmen, so sie auß dem Meer herauff streichen, begleyten, indem daß sie an jenen hangen mit jrem Maul.« Unsere Beobachtungen bestreiten diese Angabe nicht, eine Bemerkung Günthers scheint sie im Gegentheile zu bestätigen. »Beinahe jedes Jahr«, sagt er von der Seepricke, »fängt man diesen Fisch im Frühjahre bei Heilbronn und sogar in der Enns, und allgemein behauptet man, daß sie um diese Zeit in die Flüsse steige, um zu laichen. Sie schwimmt jedoch zu schlecht, als daß man begreifen könnte, wie sie in so kurzer Zeit den bedeutenden Weg zurückzulegen vermag; ich halte es daher für nicht unwahrscheinlich, daß die so hoch in den Flüssen gefangenen Lampreten sich an andere Meerfische angesaugt haben und mit diesen heraufgekommen sind. Dafür spricht, daß die Lamprete immer zugleich mit dem Lachse und mit dem Maifische ankommt und daß man, meines Wissens, noch nie eine Brut von ihr im Neckar angetroffen hat.« Für die anderen Arten der Familie gilt diese Angabe wohl nicht, wenigstens nicht in demselben Umfange; bei ihnen walten aber auch entschieden andere Verhältnisse ob. Während nämlich die Seelamprete nur ausnahmsweise in dem oberen Stromgebiete eines Flusses sich findet, bevölkern jene, wie bemerkt, auch die kleinsten Nebenflüsse; ja, sie pflanzen sich vorzugsweise, wo nicht ausschließlich, in ihnen fort. Die Schilderung der Art und Weise der Fortpflanzung nun wird es erklären, daß derartige Reisen stromaufwärts gar nicht nöthig sind. Daß alle Neunaugen sich nicht allein an feste Gegenstände, sondern auch an Fische ansaugen, unterliegt keinem Zweifel; sie zählen unbedingt unter die Schmarotzer und sind für manche Fische sicherlich die gefährlichsten, welche auf ihnen sich einnisten können. Wenn man von ihrer Nahrung spricht, gibt man gewöhnlich verschiedene Würmer, Fischbrut und Kerbthiere in den verschiedenen Lebenszuständen als die hauptsächlichsten Stoffe an; alle Beobachter aber stimmen auch in dem einen überein, daß jene sich nebenbei hauptsächlich von dem Fleische und Blute anderer Thiere, insbesondere anderer Fische, ernähren. Das Ansaugen geschieht nur ausnahmsweise zu dem Zwecke, um sich an einem Gegenstande zu befestigen, in der Regel aber, um sich zu ernähren. Nachdem die Lampreten ihren Saugmund fest an die äußere Bedeckung eines Fisches geheftet, setzen sie ihre Raspelzähne in Thätigkeit, schaben und feilen die Bedeckung durch, bohren sich, weiter und weiter vordringend, immer tiefer ein, verschlingen die abgeschabten Stoffe und fressen so nach und nach einem Fische tiefe Löcher in den Leib, gleichviel ob derselbe lebendig oder todt ist. Am häufigsten sollen sie Fische anbohren, welche an einer Grundangel sich fingen; es mögen ihnen jedoch auch kerngesunde oft genug zum Opfer fallen.

Die Laichzeit fällt in die ersten Frühlingsmonate und geschieht unter eigenthümlichen Umständen. »Sie laichen«, sagt der alte Baldner von der Meerpricke, »im April, in strengem Wasser, auf Steinboden, tragen mit den Mäulern zweipfündige Steine um die Gruben herum.« Genau dasselbe wird durch Jardiner berichtet. »Sie sind«, meint dieser Naturforscher, »nicht ausgerüstet mit den Werkzeugen anderer Süßwasserfische, um Gruben zur Aufnahme ihrer Eier zu bilden; dieser Mangel aber wird ihnen ersetzt durch ihren Saugmund, vermittels welchen sie Steine bewegen. Ihre Kraft ist erstaunlich; Steine von bedeutender Größe werden zur Seite geschafft und so rasch große Höhlungen gebildet. In einer solchen verweilt nun ein Paar Neunaugen, indem es sich an einem der größeren Steine festhält, um zu laichen.« Auch die Sandpricke hat Baldner beim Laichgeschäfte beobachtet. »Sie hangen an den Steinen hauffecht beyeinander, wo das Wasser starkh laufft; da machen sie dieffe grüblein, darin thut sich das paar mit den Bauchen zusammen, ihre geylheit zu verrichten, welches ich sonsten an keinem Fisch also gesehen, als von den Neunhocken, dieweil sie in den Wassern, da es nicht dieff, leychen, daß mans wohl sehen kann.«

[400] August Müller, welcher Gelegenheit hatte, das Laichgeschäft dieser Pricke in der Panke bei Berlin zu beobachten, bestätigt die alte Angabe in allen wesentlichen Punkten. Er sah zehn und mehr Stücke der Sandpricke dicht gedrängt beisammen und bemerkte, daß einzelne Milchner sich am Nacken der Roggener festsogen und in einer halben Windung nach der Unterseite desselben hinabbogen, um die abgehenden Eier zu befruchten. Bis zur Zeit der Müller'schen Forschungen hatte man auf den Laichplätzen der Sandpricke einen wurmartigen Fisch bemerkt, welcher unter dem Namen Querder, Kieferwurm oder Ulen (Ammocoetes branchialis) wohlbekannt und schon von Aldrovandi beschrieben worden war. Dieses Thier hat bei achtzehn Centimeter Länge in der Regel nur die Dicke eines Federkieles, einen sehr kleinen Kopf mit kaum sichtbaren Augen, Kiemenlöcher, welche in einer tiefen Längsfurche liegen, deutliche Hautringel und matt silberglänzende, auf den Flossen in Gelblichweiß übergehende Färbung. Es findet sich überall ziemlich häufig, hält sich ebenso im Wasser mit schlammigem als mit sandigem Grunde auf und erinnert in seiner Lebensweise mehr an die Würmer als an die Fische, denen es überhaupt erst, nachdem es sorgfältig zergliedert worden war, beigesellt werden konnte. Wie Würmer bohrt es sich in den Schlamm ein; willkürlich verläßt es denselben fast nie; denn von seinen Flossen macht es nur dann Gebrauch, wenn es gilt, sich von neuem wieder im Schlamme oder an ähnlichen Versteckplätzen zu verbergen. Besonders gern verkriecht es sich auch in die zum Rösten eingelegten Flachsbündel und heißt deshalb hier und da Leinaal, weil man es findet, wenn man den aus dem Wasser genommenen Flachs zum Bleichen ausbreitet. An manchen Orten macht man Jagd auf die Querder, schneidet ihnen den Kopf ab, kocht sie in Weinbrühe, Butter und Citronensaft und hält sie als schmackhaftes Gericht in Ehren; der gemeine Mann verachtet sie jedoch der wurmförmigen Gestalt halber, und der Fischer braucht sie in der Regel nur als Köder, weil sie ein überaus zähes Leben haben und selbst bei bedeutenden Verwundungen noch tagelang leben, sich wenigstens bewegen. Alle Naturforscher betrachten den Querder als einen den Lampreten sehr ähnlichen Fisch; keinem von ihnen fiel es ein, in ihm noch mehr als einen Verwandten zu erkennen.

Um die Entwickelung der vor seinen Augen befruchteten Eier der Sandpricke zu studiren, entnahm Müller Laich, ließ denselben sich entwickeln und erhielt aus ihm nach achtzehn Tagen junge Fischchen, welche zu seinem höchsten Erstaunen von jungen Querdern nicht zu unterscheiden waren und beim weiteren Heranwachsen unzweifelhaft als solche sich herausstellten. Diese Wahrnehmung mußte den Beobachter auf den Gedanken bringen, daß der Querder keine besondere Art sein könne, sondern die Larve der Sandpricke sein müsse. Einmal auf das ungewöhnliche der Entwickelung der Neunaugen aufmerksam geworden, gelang es Müller, die verschiedenen Verwandlungszustände der Pricken, vom blinden Querder an bis zur ausgebildeten großäugigen Sandpricke, aufzufinden. Daß die Entwickelung und Umwandlung der übrigen Neunaugen genau in derselben Weise erfolgt, unterliegt kaum noch einem Zweifel. Aus allen Eiern entstehen zuerst Querder, welche binnen drei oder vier Jahren bis zur Größe von achtzehn bis zwanzig Centimeter heranwachsen und sodann in sehr kurzer Zeit, im Verlaufe von wenigen Tagen nämlich, in ausgebildete Fische sich umwandeln.

Die Feststellung dieser Thatsache gab noch einen weiteren Aufschluß über das Leben unserer Fische. Schon den alten Forschern war bekannt, daß die Lampreten um die Fortpflanzungszeit »durch viel bewegnuß abnemmen vnd sterben, etliche ehe sie geberen oder leychen«. Man wußte auch, daß sie während des Sommers wenig oder nicht gefunden werden, hatte endlich viele von ihnen todt im Wasser treibend gesehen; ja, ein italienischer Forscher, Panizza, sagt geradezu, daß man die Seelampreten nach beendigtem Laichgeschäfte todt im Flusse auffische. Als nun Müller ungeachtet aller Nachsuchungen bald nach der Laichzeit keine Spur mehr von den in der Panke häufigen Sandpricken auffinden, sondern nur einige ihrer Leichname im Wasser wahrnehmen, er bei genauester Untersuchung der Eierstöcke außerdem niemals Eier verschiedener Entwickelungszustände, wie bei anderen Thieren, sondern kurz nach der Laichzeit immer nichts weiter als die leeren Kelche wahrnehmen konnte, hielt er sich für berechtigt daraus zu schließen, daß die Neunaugen nach der [401] Laichzeit untergehen. Die Wahrheit dieser Annahme vorausgesetzt, ergibt sich also, daß unsere so tiefstehenden Wirbelthiere, ähnlich wie so viele wirbellose, ein langes Leben als Larve und nur wenige Tage als erwachsene, bezüglich umgewandelte Fische durchleben.

Zum Fange der Neunaugen bedient man sich meistens mehrkammeriger Reusen, welche aus Binsen geflochten und an reißenden Stellen des Stromes aufgestellt werden, wendet hier und da auch Garne an oder gebraucht endlich Gehren und Haken, um diejenigen, welche sich am Grunde festgesogen haben, empor zu ziehen. Der Hauptfang findet im Frühlinge statt, wenn die Thiere aus dem Meere aufsteigen; Flußpricken werden aber auch im Herbste in Menge erbeutet, da sie um diese Zeit von den Flüssen aus in das Meer hinaus wandern. Zum Versandte röstet man die gefangenen Fische ein wenig und bringt sie dann in eine reichlich mit Essig und Gewürzen versetzte Lake. Das Fleisch wird bei uns in Ehren gehalten, das Kilogramm Neunaugen jedoch selten höher als mit sechzig Pfennigen bezahlt. »Die Lampreten«, sagt Geßner, »sind Frühlingszeit gantz gut vnd löblich, auch je größer, je besser. Sehr angenem vnd lieblich sind sie zu essen: geberen doch ein dickes vnd schleimiges Geblüt, auß vrsach man sie mit gutem Wein vnd Gewürtz bereyten soll.« Im Mittelalter wurden in Frankreich die Neunaugen von Nantes besonders gerühmt, und es gab Händler, welche keine anderen Fische nach Paris brachten als diese. Der Begehr war so stark, daß durch königlichen Befehl verboten werden mußte, besagten Händlern entgegen zu gehen und deren Waare vorweg zu kaufen. Auch in England hielt und hält man sie hoch; in Schottland dagegen pflegen die Fischer, laut Parnell, diejenigen, welche zufällig in ihre Netze geriethen, stets wieder ins Wasser zu werfen, weil sie ein nicht auszurottendes Vorurtheil gegen diese Fische hegen.

Gefangene Neunaugen dauern auch in wohleingerichteten Becken nicht lange aus, weil sie kein Futter annehmen. Sobald wie möglich saugen sie sich an irgend einem Gegenstande, auch an der glättesten Glastafel, fest, athmen lebhaft, unter deutlich sichtbaren Bewegungen der Kiemenknorpel, bewegen sich jedoch, ungezwungen, nicht weiter und fallen endlich todt von ihrem Platze auf den Boden herab.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Achter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Zweiter Band: Fische. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 399-403.
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