Wander-, Zugheuschrecke (Pachytylus migratorius)

[551] Nicht nur die alten Chroniken berichten aus Europa, besonders aus dessen Süden und Südosten, wiederholte Heuschreckenverwüstungen, welche sich bis Deutschland erstreckt haben, sondern jedes Jahr bringen die Zeitungen neue Klagen. Für das südliche Rußland allein wurden aus diesem Jahrhundert folgende Jahre angemerkt: 1800, 1801, 1803, 1812-16, 1820-22, 1829-31, 1834-36, 1844, 1847, 1850, 1851, 1859-61. Ueberall spielt hier die Wander- oder Zugheuschrecke (Pachytylus migratorius oder Oedipoda migratoria) die Hauptrolle, als deren Heimat die Länder anzusehen sind, in welchen sie sich alljährlich fortpflanzt; deren aber gibt es eine Menge: die Tatarei, Syrien, Kleinasien, das südliche Europa. Im mittleren Rußland kommt sie stellenweise nur in sehr warmen Herbsten und Frühjahren vor, in der Mark Brandenburg erschien sie einige Male zu Anfang der funfziger Jahre und in dem laufenden (1876), 1856 bei Breslau, 1859 in Hinterpommern. Die Nordlinie ihrer Verbreitung geht von Spanien durch Südfrankreich, die Schweiz, Bayern, Thüringen, Sachsen, die Mark, Posen, Polen, Volhynien, Südrußland, Südsibirien bis zum nördlichen China. Ich selbst fing einzelne Wanderheuschrecken zu verschiedenen Zeiten bei Seesen im Braunschweigischen und auf dem Wege zwischen Halle und dem Petersberge. Vereinzelte Züge wurden auch in Schweden, England und Schottland beobachtet. Wenn man so unerhörte Dinge über die Heuschrecken vernimmt, so könnte man vielleicht geneigt sein, mit Plinius zu glauben, es seien Thiere von drei Fuß Länge und von solcher Stärke, daß die Hausfrauen die Beine derselben als Sägen gebrauchten, oder Thiere, denen die Araber in ihrer bilderreichen Sprache die Augen des Elefanten, den Nacken des Stieres, das Geweih des Hirsches, die Brust des Löwen, den Bauch des Skorpions, die Flügel des Adlers, die Schenkel des Kamels, die Füße des Straußen und den Schwanz der Schlange zugeschrieben haben. Von alledem finden wir aber höchstens den Kopf so gestellt wie beim Pferde, worauf einige der oben erwähnten Namen hindeuten. Die Färbung dieser größten europäischen Feldheuschrecke bleibt sich nicht bei allen gleich und scheint dunkler zu werden, je weiter die Jahreszeit vorrückt. Im allgemeinen herrscht auf der Oberseite Graugrün, unten Fleischroth vor, jedoch geht jenes in Grasgrün oder bräunliches Grün, dieses mehr in Roth oder in Gelb über. Die Hinterschenkel sind auf der Innenseite mit zwei dunklen Querbinden, ihre Schienen mit einem gelbrothen Anstriche, die bräunlichen Flügeldecken endlich mit [551] dunkleren Flecken gezeichnet. Als Merkmale der Gattung gelten die fadenförmigen, nicht zugespitzten Fühler, eine glatte, nicht höckerige Vorderbrust, ein vorn stumpfer und senkrechter Kopf, welcher breiter als der Hals ist, und die abgerundeten Seitenkanten dieses letzteren.

Die Paarung dauert zwölf bis vierundzwanzig Stunden. Sieben Tage später wird das Weibchen unruhig, frißt nicht mehr und sucht ein Plätzchen, wo es seine Eier ablegt, meist neununddreißig Millimeter tief in die Erde, welche natürlich ziemlich locker sein muß, wenn es so tief indringen soll. Ein Eiklümpchen enthält sechzig bis hundert Stück, der Eierstock im Durchschnitte hundertundfunfzig. Daraus schon geht hervor, daß es wenigstens zwei Pakete daraus machen muß, wenn es alle seine Eier unterbringen will, und es wird dies beabsichtigen, wenn unfreundliche Witterung oder Mangel an Futter nicht hinderlich in den Weg treten. Man beobachtete eine wiederholte Paarung. Nöthig wird dieselbe schwerlich, wenn sie aber als etwas ungewöhnliches vorkommt, so hat sie ihren Grund in der ungewöhnlichen Anzahl der Thiere. Körte fand 1826, als die Zugheuschrecke in der Mark Brandenburg so verheerend auftrat, vereinigte Pärchen vom 23. Juli bis zum 10. Oktober, so daß also das Eierlegen einen Zeitraum von fast einem Vierteljahre ausfüllt.


Wanderheuschrecke (Pachytylus migratorius) nebst Larve; nördliche Form (Pachytylus cinerascens). Natürliche Größe.
Wanderheuschrecke (Pachytylus migratorius) nebst Larve; nördliche Form (Pachytylus cinerascens). Natürliche Größe.

Desgleichen erfolgt im Frühjahre das Ausschlüpfen während zwei oder drei Wochen, welche Zeitabschnitte theilweise durch die Witterungsverhältnisse beeinflußt werden; denn mehr als viele andere Kerfe verlangen die Heuschrecken einen warmen, trockenen Sommer und Herbst zu ihrem Gedeihen. Treffen diese Bedingungen wenigstens für gewisse Länderstrecken ein, so haben sie auch entschieden die Heuschreckenplage im Gefolge, sofern sich im vergangenen Jahre die Thiere gezeigt hatten. Diese Ansicht steht keineswegs im Widerspruche mit jener, welche oben von Fritsch angeführt wurde; denn ein warmer, trockener Sommer hat für unsere nördlichen Gegenden eine vollständig andere Bedeutung, wie ein regenloser für das südliche Afrika. Das junge Lärvchen ist gelblichweiß, dunkelt aber schnell, so daß es bereits nach vier Stunden grauschwarz aussieht. Bis zur zweiten Häutung nach ungefähr fünf Wochen behält es diese Farbe, mit weißen Zeichnungen am [552] Hinterleibe untermischt, und sucht die zartesten Keime als Nahrung auf. Nach dieser Zeit breitet sich die Gesellschaft mehr und mehr aus und wird auch durch ihre Wirkungen in dem Maße bemerklicher, in welchem sie heranwächst, was unter noch zweimaliger Häutung ziemlich schnell geschieht. Etwa vierzehn Tage nach der vierten, mit welcher die Flügelstumpfe recht stattlich auftreten, kriechen sie an Halmen in die Höhe, hängen sich an den Hinterbeinen auf, und binnen zwanzig bis vierzig Minuten weicht das letzte Gewand und die Flügel entfalten sich. Es mag in den meisten Fällen scheinen, als wenn Futtermangel die Heuschrecken zum Abziehen nöthigte, dieser dürfte aber nicht den alleinigen Grund dazu abgeben, sondern ihnen, wie manchen anderen Kerfen, der Wandertrieb aus noch unerklärten Ursachen angeboren sein. – Eine kleinere Form, welche, für eine andere Art gehalten, Pachytylus cinerascens genannt wurde und vorherrschend in Afrika, Spanien, Frankreich und Süddeutschland mit der größeren zusammen vorkommt, jüngst (1875, 1876) auch allein in mehreren preußischen Provinzen stellenweise verheerend auftrat, dürfte nach den neuesten Beobachtungen keine selbständige Art sein.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 551-553.
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