Gottesanbeterin (Mantis religiosa)

[540] Die Gottesanbeterin (Mantis religiosa) gehört ihrer äußeren Erscheinung nach entschieden zu den abenteuerlichsten Kerfen, welche in Europa gefunden werden, und hat auch ihres Namens wegen zu sonderbaren Vermuthungen Anlaß gegeben. Bei den Griechen bezeichnete nämlich das Wort mantis männlichen Geschlechts (ὁ μάντις) einen Seher, Propheten, sie gebrauchten es aber auch im weiblichen Geschlechte und verstanden darunter das eben genannte Thier oder eine sehr nahe stehende andere Art. Der bereits öfters erwähnte englische Forscher Moufet aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts sucht nun nach Gründen für diese Benennung und führt deren drei auf. Die Thiere seien Verkündiger des Frühlings, weil sie als die ersten erschienen. Er beruft sich hierbei auf den Dichter Anakreon, irrt aber sammt diesem, wie das Weitere ergeben wird. Sodann sollen nach Cälius und der Scholastiker Weisheit die genannten Kerfe Verkündiger von Hungersnoth sein. Auch hier liegt ein Irrthum und höchst wahrscheinlich eine Verwechselung mit den nahe verwandten Heuschrecken zu Grunde, deren Erscheinen leicht Nahrungsmangel zur Folge haben kann. Eher läßt sich die dritte Erklärungsweise hören, welche auch dem deutschen Namen »Gottesanbeterin«, den Bezeichnungen der provençalischen Bauern préga-diou (prie-dieu), dem Louva dios der Spanier und anderen zu Grunde liegt, weil das Thier die Vorderbeine, wie der Bittende die Hände, vorstreckt, nach Art der Propheten, welche in solcher Stellung Gott ihre Gebete vorzutragen pflegen. Die Mantis soll aber nicht bloß durch solche Stellung an den Seher erinnern, sondern auch durch ihre Haltung überhaupt; denn sie spiele nicht, wie andere, hüpfe nicht, sei nicht muthwillig, sondern zeige in ihrem bedächtigen Gange Mäßigung und eine gewisse würdevolle Ruhe. Sie werde bis zu dem Grade für weißagend (divina) gehalten, daß sie einem nach [540] dem Wege fragenden Knaben durch Ausstrecken des einen oder des anderen Vorderbeines den richtigen zeige und selten oder niemals täusche.

Anschauungsweisen, wie die zuletzt ausgesprochene, konnten nur zu einer Zeit und unter Völkern entstehen, wo man alles Gewicht auf den äußeren Schein legte und denjenigen für fromm und brav hielt, der solches Wesen zur Schau trug. Bei unserer Mantis lauert hinter jener Stellung, welche bei einem Menschen Andacht bedeuten kann, nur Tücke und Verrath. Grün von Farbe, wie die Blätter, zwischen denen sie sich auf Buschwerk aufhält, sitzt sie stundenlang ohne Regung in der gedachten Stellung, den langen Hals aufgerichtet, die eigenthümlichen »Fangbeine« erhoben und vorgestreckt, und entwickelt ebensoviel Ausdauer wie List. Kommt eine arglose Fliege, ein Käferchen oder sonst ein Kerf in ihre Nähe, dem sie sich gewachsen fühlt, so verfolgt sie dasselbe, den Kopf hin und her drehend, mit dem Blicke, schleicht auch mit größter Vorsicht nach Katzenart heran und weiß den richtigen Zeitpunkt abzupassen, in welchem sie der Gebrauch ihrer Werkzeuge zum gewünschten Ziele führt.


Gottesanbeterin (Mantis religiosa), Weibchen nebst einem Eierhaufen, aus welchem einige Larven auskriechen. Natürliche Größe.
Gottesanbeterin (Mantis religiosa), Weibchen nebst einem Eierhaufen, aus welchem einige Larven auskriechen. Natürliche Größe.

Das unglückiche Schlachtopfer ist zwischen den Stacheln eines der Fangarme eingeklemmt, der zweite greift zu und verdoppelt die Haft, so daß ein Entrinnen unmöglich wird. Durch Einziehen der Arme wird der Raub nun den Freßzangen zugeführt und in aller Behaglichkeit verzehrt. Ist dies geschehen, so reinigt die Gottesanbeterin ihre Fangarme mit dem Maule, zieht die Borstenfühler zwischen jenen durch, mit einem Worte, sie »putzt sich« und nimmt, auf neue Beute lauernd, die frühere Stellung wieder ein.

In den letzten Tagen des August 1873 traf ich unsere Art ziemlich häufig, theilweise noch als Larve, auf dem insektenreichen Kalvarienberge bei Bozen. Sie trieb sich vorherrschend im dichten Brombeergestrüpp und auf anderem Buschwerke umher, welches der Berg in reicher Auswahl bietet. Wenn ich eine und die andere ergriff, klammerte sie sich so fest mit ihren Fangarmen an die Finger an, daß einige Vorsicht dazu gehörte, sie wieder los zu bekommen, ohne den sonst zarten und weichen Körper zu verletzen; denn wie eine Klette immer wieder an den Kleidern haftet, so wurden die Finger immer wieder an einer anderen Stelle erfaßt, wenn sie an der ersten befreit waren, ohne jedoch schmerzlich berührt zu werden. Die Art kommt im ganzen südlichen Europa und in Afrika vor, wurde bei Freiburg im Breisgau, bei Frankfurt am Main beobachtet und gelten diese Punkte, wie weiter nach Osten Mähren als die nördlichste Grenze ihrer Verbreitung.

Unsere Abbildung läßt die große Beweglichkeit der vorderen Körpertheile und die charakteristischen Merkmale der artenreichen Gattung Mantis erkennen. Der dreieckige Kopf ist wie bei den Schaben gestellt, der Scheitel zuvorderst, der Mund zuhinterst, trägt drei Nebenaugen und vor denselben die Borstenfühler. Der stabförmige erste Brustring ist einundeinhalb-bis dreimal so lang als die beiden anderen zusammengenommen, hinten gerundet, an der Seitenkante geschweift [541] und über der Anheftungsstelle der Vorderbeine am breitesten. Diese bestehen aus sehr langen, dreiseitigen Hüften und aus Schienen, welche wie die Klinge eines Taschenmessers gegen seinen Stiel, so in eine Doppelreihe von Stacheln an dem breitgedrückten Schenkel hineinpassen, in einen sichelartigen Dorn auslaufen und so das gefährliche Greifwerkzeug bilden; die fünfgliederigen Füße erscheinen wie ein dünnes, überflüssiges Anhängsel, welches seitlich absteht. Der gestreckte Hinterleib läuft bei beiden Geschlechtern in zwei gegliederte Raife aus, und birgt bei dem stets dickeren und plumperen Weibchen in einem tiefen Ausschnitte der vorletzten Bauchschuppe eine kurze hakenförmige Legröhre, während beim Männchen am Ende zwei Griffel sichtbar werden, welche im trockenen Zustande leicht abbrechen und daher den Stücken in den Sammlungen häufig fehlen. Die Flügel und ihre Decken, sehr verschieden in Form und letztere zum Theil auch in der Derbheit, stimmen nur im Verlaufe der Adern mit einander überein, indem sie von stärkeren der Länge nach, von schwächeren in der Quere durchzogen werden, welche in ihrer Vereinigung meist viereckige, aber auch unregelmäßige Maschen darstellen. Beide Flügelpaare sind manchmal kürzer als der Hinterleib, in der Regel aber, wenigstens beim Männchen, länger und geben gute Unterschiede bei Gruppirung der Arten ab. Die Gottesanbeterin gehört zu denen, welche wegen der etwas lederartigen Beschaffenheit getrübte Vorderflügel und einen gleichgefärbten Hornfleck hinter der Hauptlängsader, das Randfeld nicht derber als den Raum unmittelbar hinter jener und dies alles gleichfarbig haben, dagegen wird das Nahtfeld, das heißt der größere, hinter der Hauptader gelegene Flügeltheil, allmählich gegen den Hinterrand heller und hier glasartig. Bei ihr ist die Körperfarbe vielfachen Abänderungen unterworfen: bald durchaus braungelb, bald durchaus grün und an den Rändern der Flügel, des Vorderrückens und an den Beinen bräunlichgelb. Die zwei hintersten Paare dieser sind bei allen Mantis-Arten lang und dünn, mit fünf Fußgliedern ausgestattet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 540-542.
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