Gemeine Tannenlaus (Chermes abietis)

[580] Am frühesten und somit am längsten ist Gegenstand der Beobachtung gewesen die gemeine Tannenlaus (Chermes abietis), die wir nicht mit Ratzeburg als grüne (viridis) und rothe (coccineus) unterscheiden. Im flügellosen Zustande so groß wie ein Sandkörnchen, geschwollen und unbeholfen, mit kurzen Beinen, langem Rüssel und einem weiblichen Wollkleide ausgestattet, in der äußeren Erscheinung einem Schildlausweibchen nicht unähnlich, hat sich dieses Thierchen an der Wurzel einer Tannenknospe (Pinus picea) festgesogen, die im nächsten Frühjahre einen sogenannten »Maitrieb« entwickeln soll. Hier überwintert die Laus. Sobald sie aus dem Winterschlafe erwacht ist, fängt sie an zu saugen, wächst, häutet sich mehrere Male, stets nach dem Wechsel der Haut ihr Wollkleid erneuernd, bleibt aber immer auf derselben Stelle sitzen und legt den Grund zu der zierlichen Galle, in welcher sich ihre Nachkommen entwickeln, indem sie durch ihr Saugen die Axe des Maitriebes verkürzt. Noch hat sich dieser nicht vorgeschoben, so beginnt die Tannenlaus mit dem Legen hartschaliger, kurz gestielter Eier, die sich allmählich bis zu einem Häufchen von zweihundert ansammeln und theilweise in die abgestoßenen Fäden des Wollkleides gebettet sind. Dieser ungemeinen Fruchtbarkeit entspricht ein außerordentlich reich entwickelter Eierstock, der jederseits zwanzig bis vierundzwanzig Eiröhren unter dem Mikroskope erkennen läßt. Nachdem die jungen Lärvchen bereits die zuerst gelegten Eier verlassen haben, stirbt die Mutter nach Vollendung ihrer Arbeit ab. Ungefähr in der zweiten Maihälfte sind alle Larven ausgeschlüpft und gleichzeitig die umhüllenden Schuppen hinter dem herausgetretenen Maitriebe zurückgeblieben. Die Larven begeben sich nun auf die Spitze dieses, versenken ihren Rüssel zwischen die dicht gedrängten und geschwollenen Nadeln und vollenden durch ihr fortgesetztes Saugen die von der Stammutter [580] eingeleitete Mißbildung. Schließlich sitzen sie in zellenartigen Räumen innerhalb eines ananasähnlichen Zapfens (Fig. d). Dergleichen Zapfen bedecken manchmal die Kronen junger Fichten über und über und beeinträchtigen deren regelrechte Entwicklung gewaltig.

Die in den Gallen lebenden Larven (Fig. a) sind schlanker als ihre Stammutter, beweglicher als dieselbe, indem sie ihren Platz öfters verändern, und gleichfalls, aber mit kürzeren, weißen Wollfädchen bekleidet. Sie häuten sich mehrere Male, bekommen Flügelstümpfe (Fig. b), nie die Größe der Stammutter und sitzen zuletzt mit angezogenen Beinen, nur vom eingestochenen Schnabel fest gehalten, ruhig an einer Stelle, bis der Zapfen durch Vertrocknen der Nadeln regelmäßige Querrisse erhält. Jetzt kommen sie – es pflegt in der ersten Augusthälfte zu geschehen – massenhaft hervorgekrochen, besteigen die benachbarten Nadeln und klammern sich an ihnen fest. Kaum ist dies geschehen, so wird das Kleid zum letzten Male gewechselt, und geflügelte Tannenläuse (Fig. c) sitzen gedrängt umher, zerstreuen sich aber bald, von ihrem Flugvermögen Gebrauch machend, in alle Winde. Nach wenigen Tagen kann man einzelne in vollkommen natürlicher Stellung, aber – todt und hinter ihnen ein Häuflein von höchstens zwanzig Eiern antreffen, welche genau den Eindruck wie die von den überwinterten Müttern gelegten zurücklassen. Ihre Anzahl ist eine wesentlich geringere, weil es auch die der Eiröhren im Eierstocke ist. Die Jungen, welche einige Wochen später den Eiern entschlüpfen, sind nach der Ueberwinterung die Stammütter, mit denen unsere Darstellung begann. Trotz der sorgfältigsten Bemühungen hat es bisher nicht gelingen wollen, Männchen aufzufinden: denn die früher ausgesprochene Ansicht Ratzeburgs, daß die geflügelten Läuse das andere Geschlecht darstellen, ist durch Leuckarts anatomische Untersuchungen längst widerlegt worden. Sonach können wir zunächst nur annehmen, daß bei dieser Laus jungfräuliche Geburten stattfinden, und daß die zweite, geflügelte Brut zur Ausbreitung der Art bestimmt ist.


Gemeine Tannenlaus (Chermes abietis). a Larve, b eben gehäutete Larve mit Flügelstümpfen (Puppe) und mit hinten anhaftender Haut, c geflügelte Tannenlaus, d von ihr erzeugter, noch geschlossener Zapfen. Alles vergrößert.
Gemeine Tannenlaus (Chermes abietis). a Larve, b eben gehäutete Larve mit Flügelstümpfen (Puppe) und mit hinten anhaftender Haut, c geflügelte Tannenlaus, d von ihr erzeugter, noch geschlossener Zapfen. Alles vergrößert.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 580-581.
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