Weberknecht, Kanker (Opilio parietinus und cornutus)

[641] Wenn die bisher besprochenen Spinnenthiere fast ausschließlich nur dem Südländer und den Bewohnern heißer Erdstriche im Freien zu Gesichte kommen und als Nachtwandler auch diesen nur ausnahmsweise und zufällig, so bilden die jetzt zu besprechenden, weniger versteckt lebenden die über die gemäßigten Erdgürtel und über ganz Amerika ausgebreitete Familie (Ordnung) der Afterspinnen (Phalangida). Die ungemein lang- und dünnbeinigen Thiere, welche in Deutschland nicht minder, wie in den nördlichen und südlichen Theilen Europas und in Nordamerika ihren kleinen eirunden und gegliederten Leib in der Schwebe tragen, wenn sie an einem Baumstamme, einer Mauer, auf dem Boden entlang kriechen, demselben aber mit dem Bauche auflegen, wenn sie mit lang ausgestreckten Beinen der Ruhe pflegen, kennt jedermann, wenn nicht unter diesem, so doch unter jenem Namen, wie Weberknecht, Kanker, Schneider, Schuster, Geist, Tod, Faucheur der Franzosen, und anderen. Die Buben erzählen sich von ihnen, daß der Rumpf süß schmecke wie eine Nuß, und es fehlt nicht an lüsternen, welche den Versuch machen und ihren Kameraden die Versicherung geben, daß die Sache ihre Richtigkeit habe. Dabei erfahren sie auch, daß die langen, dünnen Beine vom fleischigen Hüfttheile sehr leicht abfallen und stundenlang nachher noch krampfhaft zucken, als wenn immer noch Leben in ihnen wäre. Man sieht die Thiere bei Tage in dunklen Winkeln der Häuser, aber auch draußen im Freien allerwärts und eben nicht sehr versteckt sitzen, sich auch träge wie auf Stelzen fortbewegen; doch erst mit anbrechender Nacht erwachen sie aus ihren Träumereien, treiben allerlei Kurzweil, sich gegenseitig neckend, mit den Beinen in einander verstrickend, eines das andere von seinem Platze herabwerfend, hauptsächlich aber suchen sie jetzt kleinere Insekten und Spinnen zur Nahrung auf. Wie eine Katze springt der Schneider auf die Beute und verarbeitet sie schnell mit seinen Mundtheilen. Nach Gödarts Ansicht dauert es drei Jahre, bevor die aus den weißen Eierchen entschlüpften Weberknechte ihre vollkommene Größe, und zwar unter wiederholten Häutungen, erlangt haben. Die Kälte scheint sie wenig zu belästigen, denn man findet sie hoch oben auf den Bergen, ja in den Schweizer Alpen beobachtete man den Eis-Kanker (Opilio glacialis) in einer Höhe von dreitausenddreihundertvierundvierzig Meter. Die Thiere wurden früher mit den vorherbesprochenen unter dem Gattungsnamen Phalangium vereinigt, später trennte man sie, die einen unter Beibehaltung des Namens, die anderen unter dem Gattungsnamen Opilio, welcher in neueren Zeiten nicht für ausreichend befunden wurde, und für gewisse Arten noch andere neben sich erhielt. Die Weberknechte, für die wir den Herbst'schen Namen Opilio festhalten wollen, stimmen in folgenden Merkmalen überein. Strahlenförmig von den langen Beinen umgeben, zeigt der feiste Körper, welcher am Kopfbruststücke etwas uneben ist, die Eiform, aber nicht immer deutlich die sechs Ringe am gewölbten Hinterleibe. Die Natur hat ihn in manchen Beziehungen etwas stiefmütterlich ausgestattet: nur zwei Augen stehen so ziemlich in der Mitte des Kopfbruststückes, zwei unter den Hüften der hintersten Beine gelegene Luftlöcher bilden die einzigen Ausgänge für die Luftröhren, durch welche hier das Athmen bewirkt wird. Die dreigliederigen Kieferfühler hängen vor dem Maule herunter und endigen in eine kleine Schere; die Kiefertaster bestehen aus sechs fadenförmigen, nicht bedornten Gliedern, von denen das erste an der Außenseite der Kieferfühler eingelenkt ist, das letzte in eine feine Kralle ausläuft, wie das beinförmige nächste Kieferpaar. Dieses und die echten Beine erreichen eine Länge, wie bei keinem zweiten Gliederfüßler, und obschon sie in zehn bis funfzehn haarfeine Fußglieder ausgehen, enthalten sie als Tastwerkzeuge zahlreiche Nerven, wie auch das stundenlange Zucken der vom Körper getrennten Beine beweist. Sie alle sind fleischigen Hüften angefügt, welche gedrängt hinter einander stehen und deren letztes Paar weder durch Dicke, noch durch breiteren Abstand von einander vor den übrigen etwas voraus hat.

Im inneren Körperbaue stimmen die Afterspinnen der Hauptsache nach mit den Spinnen überein. Von den zwei Nervenknoten über und unter dem Schlunde versieht der letztere, größere, die Beine und den Hinterleib mit Nervenfäden. Der im Vorderleibe gelegene Magen sendet zahlreiche, blindschlauchartige Fortsätze aus und zwar vom oberen Theile vier Reihen kurzer, von den [642] Seiten drei Paar langer, den ganzen Hinterleib durchziehender. Das Rückengefäß besteht aus drei Kammern und gestattet nur aus seinen zugespitzten beiden Enden dem Blute einen Ausweg. Wie bei allen Gliederspinnen öffnen sich auch hier die Geschlechtstheile an der Wurzel des Bauches, und das Männchen besitzt die Eigenthümlichkeit, ein zapfenförmiges Organ herausstülpen zu können. Die Forscher unterscheiden zahlreiche Arten unter den mit obigen volksthümlichen Namen belegten Thieren, welche meist eine graulichgelbe, etwas mehr oder weniger dunkelgefleckte Oberseite, eine fast weiße Unterseite zeigen und sich schwerer oder leichter unterscheiden lassen.


Männchen des krummbeinigen Gonyleptes (Gonyleptes curvipes). Natürliche Größe.
Männchen des krummbeinigen Gonyleptes (Gonyleptes curvipes). Natürliche Größe.

Die verbreitetste Art, welche jene Namen vorzugsweise für sich in Anspruch nimmt, wurde von Linné Phalangium opilio, von Herbst Opilio parietinus genannt, mißt im grauen oder graugelben Leibe reichlich 5 Millimeter und trägt an Hüften, Schenkeln und dem Kopfbruststücke feine Dörnchen. Eine sehr ähnliche Art, von manchen für das Männchen der vorigen gehalten, ist der Opilio cornutus, ausgezeichnet durch einen hornartigen Ansatz hinter der Scherenwurzel der Kieferfühler. Noch zahlreiche ähnliche Kanker leben in Europa und Amerika.

Andere Arten, von denen jedoch keine einzige in Europa vorkommt, zeichnen sich durch abgerückte Hinterbeine mit verdickten Schenkeln, breitgedrückte Taster ohne Stachelborsten und durch einen gegen den viereckigen Vorderleib sehr in den Hintergrund tretenden, kleinen Hinterleib aus. Sie gehören der Gattung Cosmetus und einigen zunächst verwandten an.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 641-643.
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