6. Sippe: Kriechquallen (Clavatella)

[457] Um eine ganz aparte Abzweigung von diesem allbekannten und in seinen gleichförmigen Gewohnheiten bald sattsam beobachteten Typus kennen zu lernen, eine Qualle, welche zu den übrigen sich so verhält, wie der des Flugvermögens beraubte Pinguin zu den übrigen Vögeln, lade ich ein, mich nach Lesina in Dalmatien zu begleiten, wo ich oft dieser niederen Thierwelt nachgegangen bin. Wir haben uns im Kloster bei unserem Freunde Pater Bona Grazia einquartiert. Die Schwelle des Hauses wird vom Meere bespült, und ein Griff in das Wasser füllt das Gefäß mit großen blattartigen Ausbreitungen der grünen Lattich-Ulve. Wir mustern nun mit dem einfachen Vergrößerungsglase ein Stückchen dieser Pflanze und entdecken ein feines blasses [457] Wesen, welches, nachdem wir es einmal gefunden, auch dem bloßen Auge erkenntlich bleibt, wie es mühsam und langsam auf langen Armen über sein grünes Feld kriecht. Beim ersten Versuche es abzulösen, fällt es plump zu Boden; es ist überhaupt unfähig zu schwimmen. Nun, dieses Thier ist in jedem Punkte seines Baues eine Qualle, zwar verwandt einer schon längst bekannten Sippe (Eleutheria oder Cladonema), aber der eigentlichen Quallennatur in einer Beziehung noch mehr entfremdet, indem jene wenigstens abwechselnd schwimmt und kriecht. Unsere Kriechqualle (S. 457) hat sechs am Ende mit wahren Saugnäpfen versehene Arme. Auf ihnen stelzt sie einher, während von jedem Arme wie ein Leuchter sich ein kürzerer Stiel erhebt, dessen angeschwollenes Ende mit Nesselkapseln gespickt ist. Der sehr dehnbare Schlund und Mund tastet bald da, bald dort hervor und bewältigt mit Leichtigkeit die auf derselben Weide sich erlustigenden Krebschen. Gleich oberhalb der Basis eines jeden Armes liegt ein hufeisenförmiger Augenfleck, in welchem ich eine gut ausgebildete Linse fand, ohne jedoch zu einem wirklichen Auge gehörige Nerven entdecken zu können. Noch etwas höher befindet sich auf dem Abschnitte zwischen je zwei Armen eine Knospe. Keins der vielen von mir im Mai untersuchten Thiere von einer gewissen Größe war ohne seine sechs Knospen, und diese in so verschiedenen Stufen der Ausbildung, daß die allmähliche Entwickelung immer klar vor Augen lag. An den reiferen Knospen war oft schon die Anlage abermaliger Knospung zu sehen.


Gruppe der Corymorpha nutans nebst abgelösten Quallen. Natürliche Größe.
Gruppe der Corymorpha nutans nebst abgelösten Quallen. Natürliche Größe.

Diese Fortpflanzung durch Knospen bei ausgebildeten Quallen wurde zwar bei verschiedenen Sippen beobachtet, ist aber der minder häufige Fall der Vermehrung. Regel ist, daß alle Quallen auf geschlechtlichem Wege durch befruchtete Eier sich fortpflanzen. Auch unsere Kriechqualle legt zu anderer Jahreszeit Eier.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 457-458.
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