Die Plattwürmer

[140] In allen denjenigen Klassen des Thierreiches, deren Mitglieder uns nicht aus der Begegnung im täglichen Leben, durch augenfälligen Nutzen oder Schaden in aufdringlicher Weise bekannt werden, orientiren wir uns nicht durch allgemeine Beschreibungen, welche eben eine Menge von Einzelbeobachtungen voraussetzen, sondern indem wir jenen Weg durchmachen, auf welchem die Wissenschaft zu ihren Zusammenfassungen gelangt ist. Daß die Plattwürmer in der Regel platte Würmer sind, besagt gerade so viel, als daß die Rundwürmer in der Regel einen rundlichen Körper haben. Das »in der Regel« ist ein sehr nothwendiger Zusatz, denn viele Plattwürmer sind auf dem vertikalen Durchschnitte rund. Auch wird die Vorstellung nicht besonders belebt durch die weitere Erklärung, daß die Plattwürmer einen weichen, leichter zerreißlichen Körper haben. Da die meisten Leser wahrscheinlich nie einen Plattwurm gesehen, ist es durchaus nothwendig, wenigstens eine Art dieser wiederum unglaublich schmiegsamen großen Abtheilung der niederen Thiere zuerst todt oder lebendig vor Augen zu haben. Wir brauchen glücklicherweise nicht zu einem in Spiritus aufbewahrten Bandwurme zu greifen, sondern können die gewünschte Bekanntschaft an zierlichen und appetitlichen Wesen in der schönen freien Natur machen. Wer in der Nähe von Teichen und anderen stehenden Gewässern wohnt, die mit Schilf bewachsen sind, oder auf deren Oberfläche die breiten Blätter der Seerosen sich wiegen, wer zu einem Bache lustwandeln kann, dessen Bett mit größeren Kieseln und Rollsteinen bedeckt ist, der lasse sich von einem Kundigen begleiten, um dort eine Planaria zu suchen und in ihr den richtigsten Plattwurm anzuschauen. Bei Graz zum Beispiel, meinem früheren Wohnorte, findet man sowohl in der Mur als in mehreren in diesen Bergstrom einmündenden Bächen und Wiesengewässern eine ausgezeichnete Art zu Tausenden. Wo das Wasser nicht so reißend ist und die Geröllsteine längere Zeit ruhig liegen können, braucht man gewöhnlich nur einige umzuwenden, um auf der unteren Seite die grünliche oder braungrüne Planaria gonocephala zu finden. Die breitere Bauchfläche oder Sohle an den Stein gedrückt, öfters den Kopf mit den ohrenartigen Seitenlappen ein wenig lüftend, gleitet sie über ihre Unterlage hin. Man könnte sie etwa für ein den Nacktschnecken verwandtes Thier halten, auf die meisten Beobachter wird sie aber auch ohne nähere Untersuchung den Eindruck eines Wurmes machen, und von der verhältnismäßigen Zartheit ihres Körpers wird man oft sich überzeugen, wenn man bei dem Versuche, mit den Fingern oder einer Pincette die kleineren Exemplare in eine bereit gehaltene Flasche zu thun, sie beschädigt. Bei solchen unfreiwilligen Zerreißungen oder einer planmäßigen Zergliederung der erbeuteten Planarien zeigt es sich auch, daß ihre inneren Organe nicht, wie bei den meisten Ringel-und Rundwürmern, in einer mehr oder weniger geräumigen, vom Hautmuskelschlauche umgebenen Leibeshöhle enthalten, [140] sondern von einer den ganzen Körper ausfüllenden flockigen und faserigen Substanz dicht umgeben sind. Man nennt diese Würmer deshalb mit einem kaum noch etwas bezeichnenden Namen »parenchymatös«.

Dieselben Erfahrungen, wie an der von uns gewählten, im übrigen Deutschland noch nicht gefundenen Planarie, macht man an den anderen Arten, an den Bandwürmern, Leberegeln und ähnlichem Gethiere. Nicht der Aufenthaltsort, nicht der beiläufige Umstand, ob sie auf oder in anderen Thieren schmarotzen, sondern jene auf Gestalt und den Bau bezüglichen Merkmale geben ihnen den Rang einer eigenen Klasse innerhalb des »Typus« der Würmer. Was aber die Vereinigung frei lebender und schmarotzender Familien angeht, so machen wir an ihnen dieselbe interessante und zum Nachdenken über die eigentliche Natur dieser Verwandtschaftsverhältnisse dringend auffordernde Wahrnehmung wie an den Rundwürmern und, wie wir vorläufig andeuteten, an den Egeln. Die Uebergänge sind so unmerklich zwischen frei lebenden Formen und parasitischen, die Perioden freien und parasitischen Lebens wechseln bei einer und derselben Art in solcher Weise, daß man den Schlüssel zur Erklärung des Schmarotzerthums überhaupt ungezwungen in der Annahme findet, es sei durch allmähliche Angewöhnung und Anpassung entstanden.


Planaria gonocephala. Vergrößert.
Planaria gonocephala. Vergrößert.

Verweilen wir noch einige Augenblicke bei diesen Betrachtungen, welche dem Grunde der Mannigfaltigkeit des Lebens uns näher führen sollen, und nehmen wir dazu eines der unverfänglichsten Beispiele: den Frosch und seine parasitischen Gäste. Er beherbergt deren etwa funfzehn Arten. Dabei sind folgende Fälle möglich. Erster Fall: Es entstand auf unbegreifliche, d.h. wunderbare Weise ein Froschpaar, und in ihm fanden sich auch zugleich die sämmtlichen Parasiten. Zweiter Fall: Es entstanden, wie L. Agassiz einmal aufgestellt hat, ungefähr zu derselben Zeit an vielen Orten, wo die Bedingungen dazu sich erfüllten, viele Frösche und mit ihnen in dem einen dieser, in dem anderen jener Eingeweidewurm. Dritter Fall: Weder die Frösche noch ihre Eingeweidewürmer entstanden plötzlich und auf unbegreifliche Weise, sondern die Frösche durch allmähliche Umbildung niederer, fischähnlicher Wirbelthiere, und ihre Eingeweidewürmer ebenso allmählich durch Angewöhnung anfänglich freier Würmer an die schmarotzende Lebensweise, wobei diese Eingeweidewürmer zum Theil schon in den anders gestalteten Vorfahren der Frösche, zum Theile erst in den Fröschen, wie sie jetzt sind, sich eingefunden haben mögen.

Nur über den dritten Fall läßt sich reden, die beiden anderen müßten eben geglaubt werden. Denn auch die Theorie von Agassiz über die Ursachen der Entstehung und der geographischen Verbreitung der Thiere entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Um aber zu begreifen, daß ein Eingeweidewurm vor vielen Jahrtausenden freilebende Vorfahren hatte, ist es nicht zweckmäßig, gleich eine der komplicirtesten Arten in ihrem Entwickelungsgange sich klar machen zu wollen. Dagegen ist die Vorstellung sehr plausibel, wie eine gelegentlich auf Fischen sich aufhaltende Egelart zu einem vollkommenen Parasiten werden kann. Man denke sich diesen Egel, der bisher in fischarmen Gewässern lebte und genöthigt war, da und dort auf Brod auszugehen, theilweise in ein höchst fischreiches Gewässer versetzt. Es wird sich eine Varietät bilden, welche an das faule Leben auf den Fischen sich so gewöhnt, daß in ihrem Ernährungs- und Bewegungsorganismus erhebliche und vollkommen erklärbare und vorauszusehende Veränderungen vor sich gehen. Dauert die Isolirung der Varietät unter den gleichen günstigen Bedingungen fort, während möglicherweise die Stammart in den fischarmen Gewässern sich mehr und mehr das Schmarotzen hat abgewöhnen müssen, so kann im Laufe der Jahrtausende die anfangs wenig unterschiedene Abart zu einer durch [141] Lebensweise und Bau wohl gekennzeichneten neuen Art, und zwar zunächst zu einem Außenschmarotzer (Ektoparasit), geworden sein. Wer diese einfachen Schlußfolgerungen zugibt – und etwas Stichhaltiges läßt sich in der That nicht einwerfen – muß mit unerbittlicher Konsequenz sämmtliche parasitische Würmer von ursprünglich freien Formen ableiten. Für die systematische Anordnung ergibt sich daraus die bedeutsame Folgerung, daß die frei lebenden Würmer vor den parasitischen zu stehen haben, in dem Sinne nämlich, daß diese von jenen historisch ableitbar sind. Alle Schmarotzer verlieren infolge ihrer Lebensweise gewisse äußere und innere Vollkommenheiten ihrer frei lebenden Verwandten; ihre Farben werden bleicher oder schwinden ganz, die Bewegungs- oder Sinneswerkzeuge schrumpfen ein oder vergehen, das Nervensystem büßt seine Feinheit ein, der Ernährungsapparat wird einfacher, kurz, unter den monotoneren für das Vegetiren bequemeren Verhältnissen wird das Leben selbst und der Organismus einfacher, und die niedrigen Organismen sind in diesem Falle nicht die Vorfahren, sondern bilden spätere, abgezweigte Sippen.

Es folgt daraus, daß wir an die Spitze unserer Klasse der Plattwürmer die frei lebenden Strudelwürmer zu stellen haben, welche zwar einestheils zu den Infusorien zurückgreifen, andererseits aber die höchste Entfaltung innerhalb der Klasse zeigen. Auf sie folgen jene »Saugwürmer« genannten Eingeweidewürmer, auf welche außer den Strudelwürmern auch die Gruppe der egelartigen Gliederwürmer leitet. Die Lebensweise vieler ist wenigstens eine halb freie, auch im ausgebildeten Zustande, während bei der dritten Ordnung, den Bandwürmern, der höchste Grad der Rückbildung, Umbildung und Verkümmerung sich geltend macht.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 140-142.
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