Hydatina senta

[109] An die Familie der Schildräderthierchen mit dem Panzer und dem längeren, geringelten und dem Endgriffel versehenen Fuße schließt sich die panzerlose Familie der Krystallfischchen (Hydatinaea) an mit kurzem Fuße. Besonders an der weit verbreiteten, in kleinen, stehenden Gewässern und in frei stehenden Wasserbehältern oft millionenweise vorkommenden Hydatina senta machte Ehrenberg seine Erfahrungen über den komplicirten Bau dieser mikroskopischen Wesen.

[109] »In kleinen Cylindergläsern von der Dicke starker Federspulen sind sie sehr gut zu beobachten und schon mit bloßem Auge erkennbar. Haben sie darin Nahrung, so legen sie alsbald dicht unter dem Wasserrande ihre horizontal gelegten Eier am Glase ab, die man mit der Lupe deutlich erkennt und unter dem Mikroskope im verstöpselten weißen Glase beobachten kann. Mit einer pinselartigen Federspitze kann man sie abnehmen, auf ein flaches Glas bringen und sie offen betrachten. Schon nach zwei bis drei Tagen sieht man reichliche Vermehrung der Thiere und leere Eierschalen unter den vollen Eiern. Ueber das Erkenntnisvermögen, die Wahlfähigkeit und den Ortssinn, auch einen Gesellschaftssinn dieser Thierchen kann kein Zweifel bei denen bleiben, welche sie mit Lust beobachten. Man mag diese Erscheinungen Instinkt, oder wie man will, nennen, so bleiben es jedenfalls Geistesthätigkeiten, die man doch nur aus Eitelkeit gern niedriger stellt, als sie es sind.« Wir müssen hier zur Ergänzung unserer obigen Angaben über den Bau des Noteus hinzufügen, daß man bei allen größeren Räderthieren in der Schlund- und Nackengegend eine ansehnliche Nervenmasse, dem Schlundrin ge der Gliederthiere entsprechend, entdeckt hat, und daß bei vielen mit dieser Art von Gehirn Augen mit ordentlichen, lichtbrechenden und zur Bilderzeugung dienlichen Linsen in unmittelbarer Verbindung stehen.


Kiefer des Rückenauges. 300mal vergrößert.
Kiefer des Rückenauges. 300mal vergrößert.

Ueber die ans Fabelhafte grenzende Vermehrung der Hydatina senta lesen wir ferner in dem großen Infusorienwerke Ehrenbergs: »Ein junges Thierchen bildete schon in zwei bis drei Stunden nach dem Auskriechen die ersten Eikeime aus, und binnen vierundzwanzig Stunden sah ich aus zwei Individuen durch Eibildung (Keimbildung; – ich weise auf die Sommereier der Daphnien S. 48) acht entstanden, vier aus einem größeren, zwei aus einem kleineren. Bei gleicher Fortbildung von täglich vier Eiern und deren Ausschlüpfen gibt dies in zehn aufeinander folgenden Tagen eine mögliche Produktion von 100,048,576 Individuen von einer Mutter, am folgenden elften Tage aber vier Millionen. Dergleichen Berechnungen sind nun zwar, besonders für längere Zeiträume, deshalb sehr unsicher, weil eine solche Produktivität bei einem und demselben Organismus nie sehr lange anhält; allein wenn es sich um die Erklärung der fast plötzlichen Erscheinung großer und auffallender Mengen solcher Organismen handelt, so geben die obigen Erfahrungen dem nüchternen Beurtheiler Mittel an die Hand, um alle eingebildete Zauberei und Mystik in das Geleise der gewöhnlicheren, an sich weit mächtiger ergreifenden wahren Naturgesetze zu bringen«.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 109-110.
Lizenz:
Kategorien: