Plumplori (Stenops tardigradus)

[260] Der Plumplori (Stenops tardigradus, Nycticebus, Bradylemur tardigradus, Lori, Nycticebus bengalensis) ist etwas mehr bekannt geworden, wahrscheinlich, weil er häufiger und verbreiteter ist als sein schlanker Vetter. So viel man weiß, bewohnt das Thier die Waldungen des indischen Festlandes und die Sundainseln, wenigstens Sumatra. In Ostindien heißt er Tonger oder Schläfer, und Tevang oder Schleicher; unter den Hindus Lajja-Banar und auf Sumatra Bru-Samun di. Er ist größer und untersetzter gebaut als sein Verwandter; seine Leibeslänge beträgt reichlich 35 Centim.

Der plumpe Lori, ein überall seltener Bewohner der einsamsten Wälder seiner Heimat, lebt in Familien zusammen, welche den Tag in Baumlöchern verschlafen, nach Einbruch der Dämmerung munter werden und nunmehr ihrer Nahrung nachgehen. In der Freiheit ist das Thier von Europäern noch nicht beobachtet worden; dagegen hat man es sehr oft zahm gehalten, auch wiederholt lebend nach Europa gebracht. Observille, Seba und Jones haben das Beste über sein Leben berichtet. Der Tevang verdient seinen Namen. Er schleicht so langsam dahin, daß er in einer Minute kaum mehr als vier Klaftern zurücklegt. Höchst selten geht er ein paar Schritte weit aufrecht, sonst immer nur auf allen Vieren. Das Klettern versteht er besser; seine Trägheit ist aber auch hierbei sehr auffallend. Gegen das Tageslicht scheint er äußerst empfindlich zu sein; nachts aber sieht er vortrefflich, und die bei Tage glanzlosen Augen leuchten dann. Sein Gehör ist so fein, daß er, auch wenn er schläft, augenblicklich das Geräusch eines sich ihm nähernden Kerbthieres [260] wahrnimmt und davon erweckt wird. Kerfe und kleine Vögel versteht er meisterhaft zu beschleichen und mit einem einzigen, blitzschnellen Griffe zu erhaschen. Seine gewöhnliche Stimme besteht in einem sanften Pfeifen, welches abändert, je nachdem es Vergnügen, Schmerz, Aerger oder Ungeduld ausdrücken soll; im Zorne läßt er durchdringende Töne vernehmen.


Plumplori (Stenops tardigradus). 2/5 natürl. Größe.
Plumplori (Stenops tardigradus). 2/5 natürl. Größe.

Bei den Eingeborenen Javas steht der »Muka« (das Gesicht), wie sie den Plumplori nennen, in sehr schlechtem Rufe. Seine Anwesenheit, so glaubt man, bringt Gefahr, Krankheit, Tod oder sonstiges Unglück, und deshalb meidet jeder das Thier, so viel er kann. »Als ich einen solchen Gast in meinem Hause unterbrachte«, schreibt mir Haßkarl, dem ich vorstehende Angaben verdanke, »wurde ich allgemein gewarnt und mir verschiedenartige Gefahren in Aussicht gestellt. Ich hielt auch meinen Lori nicht lange am Leben; wahrscheinlich wurde er von Inländern, nämlich meiner Hausbedienung, welche sich entsetzlich vor ihm fürchteten, und denen der widerliche Geruch überaus unangenehm war, durch ein oder das andere Mittel getödtet.«

»Gefangene Tevangs sind still, geduldig und schwermüthig. Sie ruhen den ganzen Tag über in kauernder Stellung und stützen den Kopf auf ihre zusammengelegten Hände. Der eine war anfangs mit einem Stricke angebunden und hob ihn mehrere Male mit trauriger Geberde auf, als klage er über seine Fesseln: sie zu brechen, versuchte er nicht. Er biß in der ersten Zeit nach seinem Wärter; einige kleine Züchtigungen reichten jedoch hin, solche Ausbrüche seines Zornes zu unterdrücken. Wenn man ihn streichelte, nahm er die ihn liebkosende Hand, drückte sie an seine Brust und richtete die halbgeöffneten Augen gegen seinen Pfleger. Mit Einbruch der Nacht wurde er munter. Zuerst rieb er sich die Augen, wie ein schlaftrunkener Mensch; dann sah er sich um und begann umherzustreifen. Er wanderte dabei auch geschickt auf Seilen umher, welche man für ihn ausgespannt hatte. Früchte und Milch genoß er sehr gern; besonders lüstern aber war er nur nach [261] Vögeln und Kerfen. Hielt man ihm solches Wildpret vor, so kam er mit vorsichtigen Schritten herangeschlichen, oft das ganze Zimmer durchmessend, gerade so, wie Jemand, welcher auf den Zehen geht, um einen Anderen zu überraschen. Wenn er sich dann seinem Raube etwa bis auf einen Fuß genähert hatte, blieb er stehen, richtete sich in die Höhe, rückte noch näher heran, streckte sachte die Arme aus, fuhr endlich blitzschnell auf seine Beute los und erdrückte sie in wenigen Augenblicken.«

Ein anderer Lori dieser Art, welchen man in Holland lebend beobachtete, wachte erst abends gegen neun Uhr aus seinem Schlummer auf und bewegte sich dann äußerst langsam und gleichförmig, ließ sich auch nicht durch Antreiben zu einer schnelleren Bewegung bringen. Beim Klettern ließ er niemals einen Fuß los, bevor er sich mit dem anderen wieder fest versichert hatte. Vögel und Kerfe fing er mit großem Geschicke; außerdem fraß er gekochten Reis, Brod, Eier und Früchte. Seine Stimme, welche man nur nachts hörte, klang kläglich, ungefähr wie Ai, ai; im Unwillen murmelte oder knurrte er wie ein Eichhörnchen.

Jones hielt einen Tevang während seines Aufenthaltes in Indien. Dieser war sehr sanft während der warmen Jahreszeit, änderte aber sein Betragen, nachdem Kälte eingetreten war. Sie verstimmte ihn sichtlich und machte ihn bei der unbedeutendsten Veranlassung zornig. Während der heißen Zeit zeigte er sich sehr dankbar, wenn er gebadet wurde, während der kalten Zeit unwillig, sobald man ihn überhaupt störte. Eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang fiel er in Schlaf und rollte sich dabei wie ein Igel zusammen; eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang erwachte er, leckte und putzte sich nach Katzenart, nahm ein kleines Frühstück, schlummerte noch ein wenig und ermunterte erst dann sich vollständig, wenn die Dämmerung wirklich angebrochen war. Seine gewöhnliche Nahrung bildeten die süßen Früchte Indiens mit wenigen Ausnahmen. Obgleich nicht gefräßig, konnte er doch gar nicht genug Heuschrecken oder andere Kerfe bekommen, und stellte ihnen, zumal in der heißen Jahreszeit, während der ganzen Nacht nach. Wenn ein Kerbthier in seiner Nähe sich niederließ, heftete er seine leuchtenden Augen fest auf dasselbe, zog sich dann etwas zurück, sprang plötzlich schnell vorwärts und fing die Beute mit beiden Händen. Gewöhnlich brachte er seine Speise nur mit einer Hand zum Munde; sonst aber brauchte er seine vier Hände ohne Bevorzugung des vorderen Paares. Oft hielt er mit einer Hand sich oben am Käfige, während die drei anderen sich unten etwas zu thun machten; am liebsten aber hing er sich, den Leib verkehrt nach unten gerichtet, mit Händen und Füßen an das obere Gitter seines Gefängnisses und schwang sich einige Minuten lang hin und her, als versuche er, die ihm fehlende Bewegung sich zu verschaffen. Gegen Tagesanbruch schien er am geneigtesten zu sein, mit seinem Wärter zu spielen, und wenn ihm dieser dann seinen Finger gab, leckte und saugte er recht artig daran. Mit Tagesanbruch verloren die Augen ihren Glanz, er wurde ruhiger und bereitete sich nun zu seinem zehn- bis zwölfstündigen Schlafe vor. Eines Tages fand man ihn todt in seiner gewöhnlichen Stellung.

Die größte Unannehmlichkeit, welche das schmucke Thierchen in der Gefangenschaft verursacht, ist der von ihm ausgehende widerliche Geruch: man vergißt dies aber gern über die Freude, welche das so seltene und zarte Geschöpf seinem Herrn bereitet.

Ich habe bis jetzt nur zwei lebende Plumploris gesehen und beobachtet, den ersten im Thiergarten zu Amsterdam, und zwar nur bei Tage. Er zeigte sich jedoch nicht ganz so freundlich, als ich nach obigen Berichten erwartet hatte. Mochte ihn die Störung, welche wir ihm anthaten, verstimmt haben oder er von Hause aus ein reizbarer Gesell sein: er war augenscheinlich äußerst entrüstet über die ihm zugefügte Unbill. Der Gesichtsausdruck des eben erweckten Thieres hatte wohl etwas Fremdartiges, keineswegs aber etwas »Mitleidanrufendes«, wie Weinland von einem im Londoner Garten beobachteten Tevang sagt. Unser Amsterdamer Gefangener fauchte sehr verständlich und erläuterte seine Gesinnungen noch besonders durch die Bestrebungen, die störende Hand des Wärters mit Bissen zu züchtigen, wie er früher schon einige Male gethan hatte. Heute gelang ihm seine Rache nicht, und ärgerlich darüber, zog er sich langsam zurück. Dies [262] geschah in einer Weise, welche mich, trotz der trefflichen Abbildung, welche Harvey schon vor dreißig Jahren gab, sehr überraschte. Seine großen Augen starr auf uns geheftet, ging er äußerst langsam Schritt um Schritt rückwärts zurück, und zwar nach aufwärts an einem nur wenig von der senkrechten Linie abweichenden Pfahle. Er klettert also von unten nach oben mit niederwärts gerichtetem Gesichte. Dies thut meines Wissens kein anderes Thier! An einer Gabel angelangt, machte er Halt und verharrte nunmehr regungslos in seiner Stellung, daß er dem Zeichner seine Arbeit sehr erleichterte.

Einen zweiten Plumplori pflege ich selbst seit geraumer Zeit. Er ist ein verhältnismäßig gutmüthiges, richtiger wohl ein leidlich gezähmtes Geschöpf und läßt sich mühelos behandeln. Doch liebt auch er Berührungen unsanfter Art durchaus nicht und wehrt sich mit einem absonderlichen Geschrei, einem nicht gerade lauten, obschon scharfen »Kekekeker«, zuweilen auch mit Beißen dagegen.


Rückwärts kletternder Plumplori.
Rückwärts kletternder Plumplori.

Wenn er das letztere thut, geschieht es mit solchem Nachdrucke, daß regelmäßig Blut fließt: seinem Wärter biß er einmal den Nagel des Daumens durch. Ueber Tages ruht er in einer ganz ähnlichen Stellung wie sein Verwandter, zum Ball zusammen gerollt, den Kopf tief herniedergebeugt und zwischen den Schenkeln versteckt, mit Händen und Füßen an einem senkrechten oder wagerechten Zweige sich anhaltend. Nachdem er in einen größeren Käfig mit von unten her geheiztem Fußboden gebracht worden war, verließ er die Sitzstangen, um der ihm wohlthuenden Wärme nachzugehen, grub sich in das auf dem Boden liegende Heu ein und legte sich hier, zusammengerollt wie immer, aber halb zur Seite geneigt, nieder. Während er schläft, athmet er ruhig und tief, etwa zweiundzwanzig Mal in der Minute. Was um ihn her vorgeht, kümmert ihn nicht; Anrufe lassen ihn gleichgültig; bei wiederholter Berührung aber wacht er auf, öffnet die Augen und starrt schlaftrunken ins Weite.

Nach reichlich zwölfstündigem Schlafe ermuntert er sich, klettert gemächlich auf eine seiner Sitzstangen, klammert hier mit den dicht behaarten, breiten, zangenartigen Füßen sich fest und beginnt mit Händen und Zunge sein plüschähnliches Fell zu säubern und zu glätten. Dabei dreht und wendet er sich mit unvermutheter Gelenkigkeit, so daß er alle Theile seines Pelzes erreichen und in Ordnung bringen kann. Im Sitzen nimmt er nicht selten eine Stellung an, welche kaum von einem Klammeraffen nachgeahmt werden möchte, indem er mit den Schenkeln auf einer Sitzstange sich niederläßt, mit den Händen an einer benachbarten sich festhält, die Beine über die Arme wegstreckt und die Füße über diesen zusammenschlägt. Außerdem hockt er nach Affenart auf dem Gesäß, doch nie, ohne mit den Klammerfüßen an einem Zweige sich zu befestigen. Beim Gehen auf wagerechten Aesten steht er hinten viel höher als vorn. Sein Gang im Gezweige entspricht den Angaben Observille's durchaus nicht, ist im Gegentheile sehr leicht und gewandt, fördert auch weit rascher, als jener Beobachter behauptet. Zwar thut der Plumplori keinen Schritt, ohne gewiß zu sein, beim nächsten wieder einen sicheren Anhalt zu haben, umklammert auch bei jedesmaligem Auffußen den Ast fest und bestimmt; der Wechsel der Schritte geschieht jedoch so rasch und gleichmäßig wie bei vielen Tagaffen. Daumen und Daumenzehen setzt er beim Gehen ebenso oft vorals rückwärts, dreht auch wohl gleichzeitig das eine Glied nach vorn, das andere nach hinten. [263] Gleich seinem Verwandten spreizt er seine Beine zuweilen ungemein weit aus, so, wie es unser Künstler an der Figur im Hintergrunde des Bildes getreulich dargestellt hat. Auf dem Boden bewegt er sich ebenfalls schwerfällig weiter; so unbeholfen und täppisch wie sein Verwandter aber ist er nicht.

Nach geschehener Reinigung des Felles denkt er zunächst ans Fressen. Mit Auge und Nase untersucht er den Raum des Käfigs, geht sodann auf den Futternapf zu, ergreift mit der Hand einen Brocken seiner Nahrung und führt ihn zum Munde, nach und nach in kleineren Bissen ihn verzehrend. In der Auswahl seiner Nahrung gibt er sich als Raubthier, nicht als Pflanzenfresser zu erkennen. Er nimmt eingeweichtes Milchbrod, weil er an dasselbe gewöhnt worden ist, lieber als Milchreis oder als Früchte verschiedener Art, zieht jedoch Kerfe und Kleingethier höherer Klassen jeder anderen Speise vor. Mehlwürmer frißt er dutzendweise; kleine lebende Vögel erregen sofort seine Aufmerksamkeit und Mordlust. Doch zeigt er, wenn er einen lebenden Vogel innerhalb seines Käfigs entdeckt hat, keineswegs besondere Gier, läßt sich auch nicht aus dem gewohnten Geleise bringen. Achtsam jede Regung des Opfers verfolgend, setzt er sich endlich in Bewegung, schreitet, nicht schneller als sonst, auf dasselbe los, nähert sich mehr und mehr, greift blitzschnell zu, packt mit sicherem Griffe die Beute und führt sie ebenso ruhig und bedächtig wie einen sonstigen Brocken dem Maule zu, um ihr zunächst mit kräftigem Bisse die Hirnschale zu zertrümmern, und frißt hierauf gemächlich, ohne mit Rupfen sich aufzuhalten, erst das Hirn, sodann das Fleisch, alle Federn mit den Lippen abstreifend und liegen lassend.

Den in einem anderen Käfige eingesperrten Schlanklori betrachtete er, als er zum ersten Male in seine Nähe gebracht wurde, mit ersichtlicher Theil nahme, ohne jedoch einen Versuch zu weiterer Annäherung zu machen; später ließ ihn der Verwandte ebenso gleichgültig wie jedes andere Thier, mit Ausnahme eines ihm zur Nahrung geeignet erscheinenden natürlich. Sein Verstand ist, wie aus allen bisher mit ihm angestellten Versuchen hervorzugehen scheint, höchst gering, seine Theilnahmlosigkeit gegen die Außenwelt dafür um so größer; denn sein Gedankengang bewegt sich ersichtlich in einem sehr beschränkten Gebiete. Ob er geistig höher steht als ein Galago, dürfte fraglich sein, unter den Lemuren steht er gewiß.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. CCLX260-CCLXIV264.
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