Bruan (Ursus malayanus)

[179] Ein von den bisher erwähnten Arten der Familie merklich abweichender, zwar gestreckt, aber doch plump gebauter, dickköpfiger Bär, mit breiter Schnauze, kleinen Ohren, sehr kleinen blöden Augen, verhältnismäßig ungeheueren Tatzen, langen und starken Krallen und kurzhaarigem Fell, Vertreter der Untersippe der Sonnenbären (Helarctos), ist der Bruan, wie er in seiner Heimat genannt wird, oder der Malaienbär (Ursus malayanus, Helarctos und Prochilus malayanus). Seine Länge beträgt etwa 1,4 Meter, die Höhe am Widerrist ungefähr 70 Centimeter. Der kurzhaarige, aber dichte Pelz ist mit Ausnahme der fahlgelben Schnauzenseiten und eines hufeisenförmigen Brustfleckens von gelber oder lichter Grundfärbung, glänzend schwarz.

Der Bruan, ein Bewohner Nepals, Hinderindiens und der Sundainseln ist mehr noch als die Verwandten Pflanzenfresser; vor allem liebt er süße Früchte. In den Kakaopflanzungen richtet er oft bedeutenden Schaden an; zuweilen macht er sie unmöglich. Er lebt ebensoviel auf den Bäumen wie auf dem Boden. Unter allen eigentlichen Bären klettert er am geschicktesten. Ueber Fortpflanzung und Jugendleben fehlen Berichte.

Man sagt, daß er in Indien oft gefangen gehalten werde, weil man ihn, als einen gutmüthigen harmlosen Gesellen, selbst Kindern zum Spielgenossen geben und nach Belieben in Haus, Hof und Garten umherstreifen lassen dürfe. Raffles, welcher einen dieser Bären besaß, durfte ihm den Aufenthalt in der Kinderstube gestatten und war niemals genöthigt, ihn durch Anlegen an die Kette oder durch Schläge zu bestrafen. Mehr als einmal kam er ganz artig an den Tisch und bat sich etwas zu fressen aus. Dabei zeigte er sich als ein echter Gutschmecker, da er von den Früchten bloß Mango verzehren und nur Schaumwein trinken wollte. Der Wein hatte für ihn einen unendlichen Reiz, und wenn er eine Zeitlang sein Lieblingsgetränk vermissen mußte, schien er die gute Laune zu verlieren. Aber dieses vortreffliche Thier verdiente auch ein Glas Wein. Es wurde im [179] ganzen Hause geliebt und geehrt und betrug sich in jeder Hinsicht musterhaft; denn es that nicht einmal dem kleinsten Thiere etwas zu Leide. Mehr als einmal nahm es sein Futter mit dem Hunde, der Katze und dem kleinen Papagei aus einem und demselben Gefäße.


Bruan (Ursus malayanus) 1/12 natürl. Größe.
Bruan (Ursus malayanus) 1/12 natürl. Größe.

Ein anderer Bruan war mit ebensoviel Erfolg gezähmt, aber auch gewöhnt worden, ebensogut thierische wie Pflanzennahrung zu sich zu nehmen. Letztere behagte ihm jedoch immer am besten, und Brod und Milch bildeten entschieden seine Lieblingsspeise. Davon konnte er in einem Tage mehr als zehn Pfund verbrauchen. Die Speisen nahm er auf sehr eigenthümliche Weise zu sich, indem er sich auf die Hinterfüße setzte, die lange Zunge unglaublich weit herausstreckte, den Bissen damit faßte und durch plötzliches Einziehen in den Mund brachte. Während dies geschah, führte er die sonderbarsten und auffallendsten Bewegungen mit den Vordergliedern aus und wiegte seinen [180] Körper mit unerschöpflicher Ausdauer von der einen Seite zur anderen. Seine Bewegungen waren auffallend rasch und kräftig und ließen vermuthen, daß er im Nothfalle einen umfassenden und wirksamen Gebrauch seiner starken Glieder machen kann.

Meine Erfahrungen stimmen mit dieser Schilderung nicht überein. Ich habe den Bruan mehrfach in der Gefangenschaft gesehen und wiederholt gepflegt. Das Thier ist dumm, sehr dumm, aber nichts weniger als gutmüthig, eher verstockt und tückisch. Der besten Pflege ungeachtet befreundet er sich selten mit seinem Wärter. Er nimmt das ihm vorgehaltene Brod scheinbar mit Dank an, zeigt aber durchaus keine Erkenntlichkeit, sondern eher Lust, dem Nahenden gelegentlich einen Tatzenschlag zu versetzen. Störrisch im höchsten Grade, läßt er sich z.B. durchaus nicht aus einem Raume in den anderen treiben und läuft, wenn er vorwärts nicht durchkommen kann, trotzig und blindlings rückwärts. Strafen fruchten gar nichts. Sehr widerlich ist seine Unreinlichkeit, nicht minder unangenehm seine unbezähmbare Sucht, alles Holzwerk seiner Käfige zu zernagen. Er zerfrißt Balken und dicke Eichenstämme und arbeitet dabei mit einer Unverdrossenheit, welche einer bessern Sache würdig wäre. Sein Betragen unterhält höchstens den, welcher ihn nicht kennt: seinen Pflegern macht er sich verhaßt.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 179-181.
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