7. Krieg.

[265] Der 1812 ausbrechende Krieg berührte mich zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar von mehrern Seiten und zum Theil recht schmerzlich.

Zuerst riß er einen theuern Freund von meiner Seite. Kaysarow hatte bei seiner glühenden Vaterlandsliebe dem drohenden Ausbruche des Kriegs mit großer Spannung entgegen gesehen und die Stellung, die er dabei einnehmen wollte, bestimmt. Er verschaffte sich nämlich den Auftrag, das Hauptquartier zu begleiten, um Armeeberichte und öffentliche Bekanntmachungen abzufassen, denn da man meinte, den Krieg im Auslande führen zu können, wo es eine öffentliche Meinung gibt, wollte man für diese auch ein schreibendes Hauptquartier einrichten. Er wählte sich einen unsrer Collegen, den Professor Rambach zum Gehülfen, und ging am 27. Juni, zwei Tage nach der Kriegserklärung von Seiten Rußlands, zur Armee; die Freudigkeit, mit welcher er den Eintritt in seinen künftigen Beruf erwartet hatte, machte beim Abschiede einem düstern Ernste Platz; trübe Ahnungen schienen sich über seine Seele gelagert zu haben, die nur zu bald in Erfüllung gingen. Im Hauptquartiere fand er durchaus nichts für sein Geschäft vorbereitet, und er mußte müßig den immerwährenden Rückzügen folgen; als aber endlich das russische Heer im Bunde mit Brand und Frost wieder vorrückte, waren doch die Verhältnisse nicht so geordnet, daß er seinem Wunsche gemäß hätte thätig sein können. Während Rambach nach Dorpat zurückkehrte, nahm er Kriegsdienste, und als nach den Schlachten von Lützen und Bauzen die rückgängigen Bewegungen wieder begannen,[265] erfaßte ihn, wie man erzählt, eine solche Verzweiflung, daß er sich mit einem Pulvertransporte, den er commandirte, in die Luft sprengte.

Wir hatten, ohne deßhalb sehr besorgt zu werden, im August gehört, daß ein französisches und preußisches Corps unter Macdonald gegen Riga vorrückte, als eines Tages Wagen auf Wagen mit Flüchtlingen aus Riga durch Dorpat zogen, die uns ins Ohr sagten, daß Macdonald über die Düna gegangen sei und der Generalgouverneur van Essen die großen Vorstädte von Riga habe niederbrennen lassen. Wir sahen ein, daß die geringe Befestigung von Riga nicht lange widerstehen konnte, daß von da aus auf dem Wege nach Petersburg die erste feste Position auf den Anhöhen von Dorpat ist, an deren Fuße die Embach mit ihrer steinernen Brücke sich befindet, daß also nach dem Falle von Riga hier um den Besitz von Petersburg gekämpft werden würde. Es galt einen Entschluß zu fassen: entweder zeitig genug und ehe der Schreck über das wirkliche Heranrücken der Heere die Bande der Ordnung löste, ins Innere von Rußland zu flüchten, oder, auf Alles gefaßt, zu bleiben. Ich wählte das Letztere. Nach wenigen Tagen erfuhren wir, daß nur ein panischer Schrecken gewaltet hatte: General Essen hatte eines Abends nach aufgehobener Tafel die Meldung erhalten, daß auf dem rechten Ufer der Düna Franzosen gesehen worden waren, und ohne Weiteres das Abbrennen der Vorstädte befohlen, wobei Tausende von Menschen Obdach und Habe, mehrere auch ihr Leben verloren, und zwar bloß auf einen blinden Lärmen; im folgenden Jahre, am Jahrestage des unglücklichen Brandes, nahm Essen sich selbst das Leben. – Die verzweiflungsvolle Lage der Abgebrannten forderte die allgemeine Wohlthätigkeit auf. Bei einem academischen Actus (ich glaube, es war zum Namensfeste des Kaisers), zu welchem die angesehenern Einwohner von Dorpat auf außergewöhnliche Weise und besonders dringend eingeladen worden waren, hielt Parrot eine Rede in welcher er unerwartet eine beredte Schilderung des durch den Brand verursachten Elends gab, und als er mit einer feurigen[266] Aufforderung an den Patriotismus zur Wohlthätigkeit schloß, sprangen vier bisher hinter dem Katheder verborgen gewesene Universitätsbeamte hervor, zwei Tische tragend, auf welchen Schreibmaterialien zu Unterzeichnung von Bei trägen sich befanden. Das Manoeuvre hatte im Ganzen den erwünschten Erfolg, nur nicht bei mir und einigen mir gleich Gesinnten, die für einen würdigen Zweck auch würdige Mittel gewählt wissen wollen: wir mochten uns durch eine Attrape und durch den Sporn der Aussicht, für einen Patrioten zu gelten, nicht zur Wohlthätigkeit zwingen lassen. Ich muß übrigens noch bemerken, daß ich damals mit Parrot noch nicht in Streit gerathen war.

Der Krieg und die Liebe waren Ursache, daß ich meinen wackern Amanuensis Pietsch verlor. Um seine Geliebte, die Tochter eines Dorpater Professors, heirathen zu können, suchte er eine Anstellung als Militärarzt, und da ich ihn hierzu dem Obersten Arentschild empfahl, der in Reval mit Organisation der deutschen Legion beschäftigt war, so erhielt er von demselben unterm 12. October 1812 das Patent als Regimentsarzt beim ersten Husaren-Regimente mit der Ordre, sich sogleich nach Borgo zu seinem Regimente zu begeben. Er machte in aller Eile und ohne große Anstrengung seine Prüfungen, promovirte am 19. Oct., heirathete einige Tage darnach, und ging sogleich darauf mit seiner jungen Frau zu seiner Bestimmung ab. In Reval schifften sie sich ein, wurden von einem Sturme überfallen, und strandeten auf einer Sandbank; bei der Unschlüssigkeit des Capitains übernahm mein rüstiger Pietsch das Commando, ließ die Maste kappen und schickte Böte aus; da diese das Land nicht zu erreichen vermochten, warf er sich mit seiner Frau und einigen Matrosen in eine Schaluppe, mußte aber nach sechsstündigem Kampfe mit dem Sturme, an Kräften erschöpft, ebenfalls zum Schiffe zurückkehren, bis er nach 36 Stunden bei beruhigter See mit der ganzen Mannschaft ans Land gebracht wurde. Hier kam er nach einem mühsamen Wege in Borgo an, wo er beinahe alle Officiere und gegen hundert Gemeine an Typhus und Ruhr krank fand, die insgesammt seine Hülfe in Anspruch nahmen, da der einzige Arzt außer[267] ihm schon im Sterben lag. Es fehlte an Allem; er mußte selbst Häuser mit Gewalt der Waffen einnehmen, um nur die Kranken unter Obdach zu bringen. »Bei dieser Anstrengung,« schrieb er mir unterm 5. November, »werde ich vielleicht selbst bald unterliegen.« Und so kam es denn auch; er wurde zugleich mit seiner Frau vom Typhus ergriffen, und starb, während sie noch in Betäubung darnieder lag. Dr. Lerche, der, um sein College zu werden, nach Borgo gekommen war und nun sein Nachfolger wurde und übrigens über 200 Kranke in namenlosem Elende bei Mangel an Raum, Bekleidung, Nahrung, Wärtern und Arzneimitteln fand, mußte die genesende Wittwe, um sie nicht zu tödten, durch Erdichtung von Geschäftsreisen ihres Mannes eine Zeitlang wenigstens in Ungewißheit über dessen Tod lassen, bis sie die Gewißheit ertragen und nach Dorpat zurückreisen konnte.

Auch in Riga brach der Kriegstyphus aus, besonders unter den erst vor Kurzem zum Militär gezogenen unkriegerischen Esthen und Letten, die, unter russische Regimenter gesteckt, sich in ein ganz fremdartiges und widerwärtiges Verhältniß versetzt sahen, indem ihnen ihre langen Haare abgeschoren, ihre Pelzmützen genommen, statt ihrer warmen Röcke leichte Monturen gegeben waren; wozu denn kam, daß Alles um sie her eine ihnen ganz unbekannte Sprache, die sie doch verstehen sollten, redete, daß sie eine ihnen ganz ungewohnte Nahrung bekamen u.s.w. Die Zahl der Militärärzte reichte nicht mehr aus, selbst als die Rigaischen Stadtärzte ihnen zu Hülfe kamen. Es wurden also die auf Kosten der Regierung in Dorpat studirenden Mediciner, die sogenannten Kronstudenten, nach abgelegter Prüfung nach Riga geschickt, und auf ergangene Aufforderung des Generalgouverneurs Paulucci gingen noch elf Studirende der Medicin freiwillig dahin, um als Unterärzte in den Hospitälern zu dienen. Mehrere von ihnen, namentlich Lerche, Merklin, Melart, Schmidt, Struve, Köhler, Levi, gaben mir fleißig Nachrichten, schilderten die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hätten, insbesondere die schlechte Verpflegung der Kranken und den elnden Zustand der Apotheken,[268] und sehnten sich bald nach Dorpat zurück. Dieser Wunsch konnte ihnen schon im Anfange des Jahrs 1813 gewährt werden, da theils die Armee von Riga aus vorrückte, theils Kranke von derselben nach Dorpat zurückgeschickt und Militärhospitäler daselbst errichtet wurden, wo auch Studirende gegen Gehalt als Unterärzte fungirten. Mein ehrlicher Styr rieth mir, gleich ihm mich zur Direction eines Hospitals zu melden, denn die Krone pflege dergleichen freiwillige Dienstleistungen nicht unbelohnt zu lassen; ich aber wollte auf solche Speculation nicht eingehen, sondern erklärte im Conseil, daß, sobald es an einem Arzte für ein Hospital mangle, ich auf der Stelle dasselbe übernehmen, bis dahin aber in meinem gewöhnlichen Wirkungskreise bleiben würde; die Militärhospitäler wurden auch in Dorpat bald ausgehoben. – Drei meiner Zuhörer ließen sich als Aerzte bei der deutschen Legion anstellen, einer auch bei der Miliz in Nowgorod, wo die Kranken ebenfalls im furchtbarsten Elende schmachten mußten.

Mit welchem Jubel die Siegesnachrichten aufgenommen wurden, läßt sich denken. Besonders wurde Witgenstein gefeiert, da er die drohende Gefahr von Liefland abgewendet hatte. Um ihn zu portraitiren, reiste Professor Senff im Februar 1813 ins russische Hauptquartier, konnte erst kurz vor der Schlacht bei Lützen seinen Zweck erreichen und kam im Juni zurück, wo er einen trefflichen Kupferstich davon lieferte. Uebrigens hatte man eine ziemlich klare Ansicht von dem Antheile, welchen das Verdienst der Feldherren und welchen das Geschick an den Siegen hatte; unter Andrem sollte folgende Erzählung im Volke verbreitet sein Ein russischer Grenadier träumt, er kommt in den Himmel, und wird sogleich vvr Gottes Thron geführt, um Auskunft zu geben, weshalb aus der Erde so viel geschossen wird, und da Herrgott hört, daß Krieg mit den Türken ist und Kutusow commandirt, beruhigt er sich und läßt den Grenadier abtreten. Dieser steht aber nach einiger Zeit vor Herrgotts Thüre Wache, und wird herein gerufen, um das fortwährende Schießen zu erklären, erzählt also, daß es gegen die Franzosen geht und daß ebenfalls Kutusow commandirt;[269] da springt Hergott auf, und ruft: Iwan! die Stiefeln! – Der Russe pflegt nämlich, erst wenn er ausgehen will, die Stiefeln anzuziehen.

Mit Enthusiasmus lasen wir die Aufforderungen an die Deutschen, ihre Ketten zu zerbrechen, besonders die von Raupach, der damals in Petersburg lebte. Ich mußte meine Gesinnungen gegen ihn aussprechen. In seinem Antwortschreiben vom 13. Februar 1813 fand ich einen Widerhall meiner Hoffnungen und Besorgnisse. »Wahrlich,« schrieb er, »ich fürchte die Zukunft mehr, als ich die Vergangenheit verabscheue. Austreiben wird man zwar den unsaubern Geist, aber er wird noch sieben andre zu sich nehmen und wiederkehren, und der letzte Betrug wird ärger sein denn der erste. Bei dem jetzigen Laufe der Begebenheiten scheint mir Deutschlands Erlösung von Frankreichs Joche nicht mehr zweifelhaft; ich glaube auch an die Großmuth des russischen Kaisers, daß er es nicht wird aus einer Sklaverei in die andre fallen lassen; allein ist das genug für die Wünsche, für die Sehnsucht des Patrioten? Frei sein ist nichts, der Freiheit würdig sein ist Alles; nicht Deutschlands Wiederherstellung war mein Verlangen, sondern seine Verjüngung. Ich frage mich oft: ist diese Verjüngung ein Hirngespinnst? Allein so weit ich die Menschheit aus ihrem Tagebuche, der Geschichte, und an ihren Proben, mir selbst, habe kennen lernen, muß ich: nein! antworten. Doch nur eine allgemeine Umwälzung kann die Wiedergeburt des Geistes begünstigen, die mir unumgänglich nöthig scheint, wenn Deutschland jemals zu dem schönen Sein auferstehen soll, das ich Freiheit nenne. Nicht die langsame Zeit, sondern der augenblickliche stürmische Kampf der Elemente verjüngt den Weltkörper, der alt und schadhaft geworden ist. Will man, wie es doch scheint, in gemächlicher Ruhe aus den alten Trümmern des morschen Gebäudes ein neues aufführen, so wird der leidige, anmaßende Verstand, den trotz seinem Uebermuthe doch gewöhnlich erzkleinliche Rücksichten lenken, den Baumeister spielen und ein Werk zusammen zwingen, das kaum einem Geschlechte zur sichern Wohnung dienen wird.«[270]

Als ich nach Petersburg kam, wurde ich ihm durch persönlichen Umgang noch mehr befreundet. Er war Erzieher in einigen großen russischen Familien gewesen, und hatte da einen recht gründlichen Haß gegen die mit der Farbe der Cultur geschminkte Barbarei eingesogen. Um sich für die spätern Jahre seines Lebens eine unabhängige Stellung in Deutschland zu verschaffen, hatte er sparsam gelebt und das gesammelte Capital einem Kaufmanne in Moskau anvertraut; dieser hatte bei dem großen Brande sein ganzes Vermögen verloren, nach einigen Monaten aber ihm gemeldet, daß er sein Geschäft mit Glück wieder angefangen habe, und das ihm geliehene Capital dadurch von Neuem gesichert werde, – war jedoch kurz darauf gestorben. So um das mühsam Ersparte gekommen, bewarb sich Raupach während meiner Anwesenheit in Petersburg um eine Predigerstelle daselbst, wurde aber 1816 Professor an der dasigen Universität. Wegen freier Aeußerungen in seinen historischen Vorlesungen verdächtigt, gab er 1822 diese Stellung auf, und reiste durch Königsberg nach Deutschland. Ich hatte unterdessen seine Tragödien mit Begeisterung gelesen, fand aber jetzt ihn selbst in grellem Widerspruche mit seinen poetischen Schöpfungen, indem er diese als die Werke einer berechnenden trocknen Verständigkeit schilderte und z.B. behauptete, seine Aufgabe bei Dichtung der »Erdennacht« fei keine andre gewesen, als die Maxime anschaulich zu machen, daß man einem Sterbenden nichts versprechen dürfe! Ich schrieb diese Aeußerungen bloß auf Rechnung seines Schicksals, welches ihn für den Augenblick zu dem Vorsatze gebracht haben konnte, künftig nur auf die Stimme des berechnenden Verstandes zu hören.

Meine Theilnahme an der großen Weltbegebenheit konnte ich durch nichts andres beweisen, als daß ich die kriegsgefangenen Deutschen, die nun gegen Frankreich fechten sollten, dazu ermunterte, und Geldbeiträge zur Bewaffnung nach Preußen sandte. Ich schrieb im Namen eines Studirenden eine Aufforderung an seine Commilitonen zu Lieferung solcher Beiträge, wodurch 545 Rubel Bauko Assignaten zusammen kamen. Ein andrer Student, Namens Jacquet, erbot sich, eine humoristische[271] Schrift unter dem Titel: »Reise in meinem Zimmer« herauszugeben, deren Ertrag zu gleichem Zwecke dienen sollte; unvorsichtig genug, übernahm ich die Ankündigung und Sammlung von Pränumeranten, denn als mir hernach das Manuscript übergeben wurde, fand ich nur schale Witze darin: indeß konnte ich nun nicht mehr zurücktreten und mußte, indem ich noch eine absonderliche Vorrede dazu schrieb, mich damit trösten, daß der reine Ertrag von 400 Rubel B.A. an das Militärgouvernement in Berlin abgeschickt werden konnte.

Mein Hänsel war durch unsere Trennung noch weit schmerzlicher betroffen worden als ich, der ich beim Abschiede von meinem Vaterlande die Fesseln abstreifte, die mich bisher gedrückt hatten, und ich nun erst eine heitre Zukunft meiner Wirksamkeit vor mir sah, während sich für ihn nichts ereignete, außer daß eben sein Freund ihn verließ. Dazu kam, daß er bei der Tiefe und Stärke seines Gefühls sich in das Unvermeidliche weniger leicht fügen konnte als ich. Auch blieb seine Ehe kinderlos, und indem seine sanfte, fromme Frau sich deshalb grämte, gewährte ihm diese bei aller seiner Liebe doch nicht die volle Befriedigung, nach welcher sein Herz sich sehnte. In jedem Briese, den ich in Dorpat von ihm erhielt, verkündete sich die Gluth seiner Freundschaft. Ich kann es mir nicht versagen, einige Stellen daraus her zu setzen. Es mag ruhmredig klingen; aber soll man sich nicht rühmen, solchen Freund besessen zu haben, wenn man es dabei als die edelste Gabe des Glücks dankbar anerkennt? Ueberdies lernt man ihn selbst auch in diesen seinen Herzensergießungen besser kennen, als ich ihn zu schildern vermag. Wohl hat er mich idealisirt; aber das ist eine kalte, prosaische Freundschaft, die ihren Gegenstand nicht vollkommner dichtet, als er in der Wirklichkeit ist; und daß sich Hänsel nicht so ganz in mir irren konnte, dafür sicherte ihn sein heller Verstand.

Gewohnt, die Weihnachtsfeiertage ganz dem Genusse des häuslichen Glücks und der Freundschaft zu widmen, namentlich nach dem ausnahmsweise in Gesellschaft von Frau und Kindern eingenommenen Frühstücke an meine entfernten Freunde zu[272] schreiben, hatte ich auch zu Weihnachten 1811 an meinen Hänsel geschrieben. Er dankte mir für diese Weihnachtsgabe und schrieb: »Als ich Deinen Brief vom 25. Decbr. das erste mal flüchtig überlesen hatte (mit der cursorischen Lectüre fange ich an), so drängte und trieb es in mir so gewaltig, daß ich sofort Papier haben mußte, um auf dasselbe den Strom der Empfindungen abzuleiten. Doch hielt ich es für Pflicht, die fröhliche Botschaft weiter zu verpflanzen, bevor ich mich an der Unterhaltung mit Dir labte. Ich schrieb also zur selbigen Stunde nach Wien an Deinen Schwager, schickte ihm aber den Brief nicht mit, denn er hat Deinen ersten von Dorpat aus noch nicht zurückgeschickt, und beide Pfänder Deiner Liebe kann ich zugleich nicht missen. Nachher sprach ich zu Dir; – wie? kannst Du leicht denken, da Du weißt, wie ich Dich liebe, auch meine, fast weibische, Empfindungsweise kennst. Ich konnte Dir nichts schreiben von dem, was geschehen war, – und was ich für Dich empfunden, soll ich das in Worte kleiden? Ich habe daher beide Briefe nach Urthel und Recht vernichtet, und hebe daraus bloß das Gelübde für Dich auf, daß das erste halbe Jahr, welches ich bei einer fixen Besoldung dem Berufe abbrechen kann, Dir, einer Reife nach Dorpat, gewidmet ist.«

Ein Brief, den ich einige Monate später von ihm erhielt, fängt so an: »Ich hatte nicht geglaubt, daß ich diesmal so bald Antwort von Dir erhalten würde, mein Bruder! aus den Gründen, die ich Dir in meinem letzten und vorletzten Briefe mitgetheilt. Desto größer war meine Freude, als ich, aus dem Gewölbe des Leupoldischen Kellers in meine luftige Wohnung tretend, ein Papier in das Auge faßte, welches ich, ohne die Züge Deiner Hand zu sehen, gleich als ein Schreiben meines einzigen Freundes erkannte. Ich jauchzte und trauerte zugleich. Doch wenn ich jetzt ruhiger nicht den einzelnen Moment, sondern den ganzen Gang Deines Lebens erwäge, wenn ich erwäge, wie die Ereignisse, welche Dich bis jetzt betroffen, auf Dich gewirkt haben, so vergesse ich, was ich in der räumlichen Trennung von Dir entbehre. Wie hat der Kampf gegen[273] äußern Druck Deine innre Kraft so ausgebildet, Dich so reich gemacht im Wissen, so stark und muthig im Dulden und Handeln! Die frühe Verklärung Deines Kindes hat Dich mit unauflöslichen Banden an das Ueberirdische gefesselt. Kann ein Gemüth, wie das Deine, so ergriffen, das Ziel irdischer Vollendung verfehlen? Aber hinweg mußt Du im Mannesalter aus der Mitte zwischen südlicher Weichheit und nordischer Kraft, wo der herrschende Charakter Flachheit ist. Auch für den Süden bist Du noch nicht bestimmt. Im Norden sollst Du Dich stählen, um im spätern Alter in südlicher Natur reiner und geistiger zu empfinden. Wie verstehe ich jetzo den Trieb, der mich, o! ich erinnre mich noch lebhaft daran, schon in dem zarten Knabenalter unwiderstehlich an Dich zog. Immer betrachtete ich Dich mit einer gewissen Ehrfurcht. Der Tag, mit Dir verlebt, hatte eine höhere Bedeutung. Gab es einen kindischen Kampf zu bestehen, so war mir die stärkere Partei nicht furchtbar, wenn Du Dich der schwächern beigeselltest. Wie oft habe ich Dir gezürnt, wenn Du, reifer an Jahren und Bildung, fremden Umgang vorzogst, bisweilen wohl auch meine Unbedeutendheit mir fühlbar machtest: doch konnte ich nicht von Dir lassen. Und siehe, ich bin mit Dir verbunden, bin es durch das Streben, welches Dein Geist in dem meinigen geweckt hat, bin es durch die Beziehung Deines Kindes in den letzten Stunden seines irdischen Daseins (S. 145). O! wie lebhaft habe ich mich gestern, als ich an dem Hügel stand, der ihre Gebeine bedeckt, an die Stunden erinnert, in denen sie mich mit einer so innigen Liebe an sich zog, mit einer Liebe, welcher selbst die Liebe zu dem Vater auf einen Augenblick nachstehen mußte; dann an den hellgesternten Morgen, an dem wir ihre irdischen Reste der Erde vertrauten. – So, mein Freund! bin auch ich einem höhern Leben geweiht, durch Dich; auf mich fallen die Strahlen Deines Geistes zurück, und so erkennst Du, duldest, handelst auch für mich. Ein lebhafteres Gefühl hat mich ergriffen, indem ich dies schreibe. Ich weine sanfte Thränen, aber heiter blicke ich auch in die Zukunft. Der Himmel fordert kein Opfer mehr; Dein Wirken nach außen bringt Dir Früchte entgegen.[274] O, mein Burdach! wenn wir uns wiedersehen, wiedersehen, um uns nie zu trennen!«

Gegen Ende des Jahres 1812 starb seine Gattin und seitdem sprach sich in seinen Briesen eine innere Zerrüttung aus, über deren eigentlichen Grund ich erst späterhin einige Aufklärung erhielt: bald wollte er nach Dorpat kommen, bald gegen Frankreich fechten, bald dachte er an Herbeiführung eines Umschwunges in den öffentlichen Angelegenheiten Sachsens, bald wieder traten die Verpflichtungen gegen seine Familie mit erneuter Lebhaftigkeit vor seine Seele. Er jammerte darüber, daß seine Frau meine ärztliche Hülfe hätte entbehren müssen; ich würde ihr Leben wohl auch nicht haben retten können, aber ihm wäre ich gewiß eine sichernde Stütze gewesen, wenn ich an feiner Seite gestanden hätte, und ich glaube, ich hätte ihn der Welt erhalten. – Nach der Leipziger Schlacht übernahm er die Aussicht über die Räumung von einem Theile des Schlachtfeldes, und indem er den Verwundeten Beistand schaffte, den Sterbenden die letzten Augenblicke ihres Lebens erträglicher machte und für Beerdigung der Todten Sorge trug, strengte er sich dermaßen an, daß er von dem damals herrschenden Typhus ergriffen wurde. Erst im Januar 1814 erhielt ich folgende mit zitternder Hand von ihm geschriebene Zeilen:


»Auf meinem Kranken-, vermuthlich Sterbelager danke ich Dir nochmals für Deine Freundschaft. Antworte mir nicht. Erhältst Du in vier Wochen keinen zweiten Brief, so bin ich todt. In der Ewigkeit wieder.

D. 3. November 1813.«


Ich erhielt aber keinen zweiten Brief und gewann keinen zweiten Freund.[275]

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 265-276.
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