IV.

[121] Ich rührte mich indes wirklich ganz ordentlich, und das erste, was in Pillnitz beendet wurde, war das Aperçu über den Gesamtcharakter von England nach Boden und Wasser, Luft und Pflanze, Tier und Mensch, womit mein Tagebuch später eröffnet wurde. Dabei war es gewiß diesen Arbeiten sehr förderlich, daß die obgenannte Freundin hier wieder mir zur Seite lebte, denn indem ich außer den Meinigen auch ihr alles der Art vorlas und mit ihr durchsprach, erhielt sich mir die Lust der Produktion um so mehr, da ich hiermit gleichsam jede mögliche Wirkung des Geschriebenen auf ein würdiges Publikum vorwegnahm[121] und meine Zukunft schon in der Gegenwart erblickte, Schrieb daher damals auch an Regis hiervon: »Ich darf wohl sagen, daß diese ausgezeichnete Frau hier ein wahres Juwel für mich ist; ihr feiner Geist unterscheidet trefflich alles Bedeutende, und so ersetzt sie mir viele Lücken, die, zumal nach Tiecks Weggange, so sehr sich hier fühlbar machten.« Nahm sie doch gewissermaßen selbst an meinem Briefwechsel mit Regis teil, indem ich ihr oft die mitunter sehr merkwürdigen und in einem höchst eigentümlichen Stile geschriebenen Briefe desselben vorlegte. So erinnere ich mich z.B., daß ich mit diesem damals einen Streit hatte über Goethes »Tasso«, von dem er durchaus nicht so groß denken wollte, als mir es nach meinem Maßstabe unerläßlich schien, so daß ich endlich ihm ganz in Übereinstimmung, mit jener Freundin erwiderte: »Die verschiedene eigene Individualität ist es ja immer, welche am Ende auch alle Verschiedenheit der Auffassung bedingt! Deshalb eben unsere Diskrepanz über ›Tasso‹! Man müßte, wie der Pater Seraphicus im ›Faust‹, die Möglichkeit haben, jemand in sich zu nehmen und durch seine Augen sehen zu lassen, um sich ihm ganz deutlich zur machen! Wenn Sie aber nur meinem nach Tiecks Lesung des ›Tasso‹ skizziert hingeworfenen Gedanken weiter nachdenken wollen, ›daß im Vergleich zu dieser Tragödie in allen andern nur der Leib verwundet und getötet zu werden scheint, während hier der Geist wirklich seinen tiefinnerlichsten Ichor verblute‹, so werden Sie auch empfinden, was das sei, wodurch ich genötigt werde, dies Werk als das vollendetste anzusehen, sowie der ›Faust‹, unbestritten das mächtigste und tiefsinnigste der ganzen neuern Literatur bleibt. Und was wäre denn überhaupt ein Vortrefflichstes und nicht immer nur in seiner Art! Das ist ja eben so herrlich, daß das Schöne nicht die eine Spitze einer Pyramide ist, sondern daß es[122] sich als eine ganze Cordillerenkette mit unzähligen Piks dahinstreckt. Ich finde, daß Sie, Ihrer Individualität nach, vollständig im Recht sind, sich das Ihnen Gemäßeste anzueignen; mir aber steht der ›Tasso‹ in seiner Art gerade ebenso hoch als ›Julius Cäsar‹ und ›Ödipus auf Kolonos‹.«


So ging denn allmählich also auch dieses mir so merkwürdig gewordene Jahr zu Ende, und mein Reisetagebuch war in den langen Abenden bis dahin doch noch so weit vorgerückt, daß es bereits verschiedene Male zu größern Lektüren dienen konnte, wie ich denn z.B. schon in den ersten Tagen des November die Einleitung über allgemeine Eigentümlichkeit Englands abends bei der Königin vorlas und vielen Beifall darüber erntete. Dabei bemerke ich denn auch noch, daß unser Königshaus die Freude hatte, in diesen Wintermonaten die vielgeliebte Schwester unsers Königs, die verwitwete Großherzogin Marie von Toscana, hier verweilend zu sehen, und wie denn die hohe Frau auch jetzt noch sich mir stets huldvoll geneigt zeigte, so kamen mir hierdurch zugleich vielfältige Erinnerungen an meinen zweiten Aufenthalt in Florenz wieder zu lebhaftester Vorstellung. Auch die musikalischen Genüsse dieses Vorwinters zu vermehren, gab die Anwesenheit jener liebenswürdigen Fürstin erwünschte Gelegenheit; denn der König hatte eigens für sie Mendelssohn von Leipzig herüberkommen lassen, und eines Abends fand ich mich daher, nebst nur einigen wenigen Auserwählten, auf dem Schlosse eingeladen, um diesen trefflichen Meister in einer Weise spielen zu hören, wie ich ihn noch nie gehört hatte und auch später nie wieder gehört habe. Mendelssohn war der einzige Vortragende dieses Abends. Nach einer größern Beethovenschen Sonate fragte er die Frau Großherzogin, was sie wohl als Thema für ein freies[123] Phantasieren bestimme. Nicht lange zuvor war die »Vestalin« gegeben worden, und es wurde daher aus ihr ein Thema befohlen. Es ist mir nun unvergeßlich, wie Mendelssohn nach einer genialen Einleitung zuerst wie von fern den Marsch des Triumphators hören ließ; näher und näher rückte dann das Chor heran, und auf einmal mischte sich unter jene Klänge, wie abermals nur von weitem, die Ouvertüre des »Sommernachtstraum«. Nun entstand vor den Ohren der erstaunten Hörer ein wahres Blumengewinde beider Melodien; bald floh die eine in die Ferne, die andere trat vor, bald kehrte sich das Verhältnis wieder um, bis denn endlich alles in einem einzigen harmonienreichen Kranze schloß und nun noch einige »Lieder ohne Worte« die Soiree beendigten. Der Freude und des Lobes wollte jetzt kein Ende nehmen, und der Künstler wurde mit wohlverdienten Lorbeeren reichlich überhäuft.

Auch in der Singakademie kamen noch einige treffliche alte Sachen von Palestrina, Allegri und Durante zur Aufführung, und so hätte ich eigentlich sagen dürfen, daß das Jahr 1844 einen sehr harmonischen Abschluß gefunden habe, wäre nicht überall in der Tiefe unsers öffentlichen Lebens bereits damals ein gewisser unheimlicher Zustand von Unzufriedenheit und Gegenwirkung der untern Schichten gegen die obern und gegen die Regierung selbst sichtbar geworden, der freilich erst vier Jahre später in helle Flammen ausbrechen sollte, indes doch auch jetzt schon das reine Behagen der Existenz einigermaßen zu stören geeignet war und das Vertrauen zur künftigen sichern Führung des Staatsschiffs erschütterte, für welches mir früher unser Bernhard von Lindenau eine so wohltuende Bürgschaft gegeben hatte.

Wenig Wochen später [1845] erhielt ich abermals die Nachricht vom Abscheiden eines vieljährigen Freundes,[124] d.h. vom Tode Ottos, den ich im vorigen Jahre noch einmal hier so leidlich hatte herstellen können. Er unterlag, wie so häufig Brustkranke, der Rauhigkeit eines echten deutschen Winters, und Regis verschaffte mir noch allerhand Lebensnotizen und nachgelassene Papiere von den Seinen, aus denen ich sofort nicht verfehlte, eine Art von Elogium auszuarbeiten, welches ich in unserer Gesellschaft für Natur- und Heilkunde im Anfang März mit Beifall vortrug. Hatte er doch, wie schon mehrfach erwähnt, ohne mir innerlich und geistig eigentlich nahezustehen, lange an meinen Arbeiten treulich teilgenommen und mit insbesondere die Fortsetzung meiner großen »Erlaüterungstafeln für vergleichende Anatomie« dadurch sogar allein wesentlich möglich gemacht, was ich denn ihm und den Seinen stets durch nicht minder treue Gesinnung und vielfältige ärztliche Beratung zu vergelten gesucht habe. Es war mir merkwürdig, da er übrigens durchaus nie zu denen zählte, die man poetische Naturen nennen muß, unter den Papieren, die man mir aus seinem Nachlaß sendete, nun doch auch einige Gedichte zu finden, weshalb schon Regis schrieb, daß ihm darin eine Ähnlichkeit mit Albrecht von Haller sich herausstelle. Allerdings war indes der durchgehende wirklich poetische Drang hier weniger fühlbar als bei dem großen schweizerischen Physiologen, aber immer gab es mir doch abermals den Beweis, daß auch die trockenste Natur nie sicher ist, plötzlich einmal von einem gewissen Bedürfnis nach Poesie gepackt zu werden und dabei denn freilich mitunter ebenso leicht alles Gleichgewicht zu verlieren, wie wir dies zuweilen gewahr werden, wenn gewisse sehr auf sich zurückgezogene und abstrakte Naturen mit einemmal von Liebe hingerissen und verwandelt wurden. Daß unter Juristen so häufig ein poetisierender Dilettantismus bemerkt wird, konnte ich mir immer nur aus einer solchen[125] unausbleiblichen Forderung des Gegensatzes in der menschlichen Seele zurechtlegen.

Es ist bekannt, daß in diesem Jahre an vielen Orten und so auch in Dresden große Überschwemmungen sich ereigneten, welche dadurch veranlaßt wurden, daß ungeheuere, großenteils noch im März gefallene Schneemassen gegen das Frühlingsäquinoktium durch plötzliches warmes Regenwetter zum schnellen Schmelzen gelangten, und die Flüsse somit weit über ihre gewöhnliche Höhe steigerten. So geschah es denn auch mit der Elbe, aber ich ahnte anfangs nicht, daß ich selbst dadurch in eine eigene Kollision gebracht werden sollte. In der zweiten Hälfte des Märzmonats nämlich erhielten wir die Nachricht, daß unsere vieljährige, früher schon mehrfach genannte Freundin Gräfin Einsiedel, welche seit anderthalb Jahren Witwe geworden war und diesen Winter nicht in Dresden, sondern mit ihren Kindern auf Milkel bei Bautzen lebte, von einer so heftigen fieberhaften Krankheit ergriffen sei, daß ärztlicher Beistand von hier dringend notwendig werde. Am andern Tage reiste ich nun zurück, gewahrte schon, als ich ins Elbtal eintrat, die ganz ungewöhnliche Höhe des Stroms, wurde jedoch noch weit mehr überrascht, als ich, angekommen auf der Esplanade von Neustadt-Dresden, alle Passage gehemmt, den Platz vor der Brücke unter Wasser gesetzt, die Brücke selbst aber gesperrt und von großem Volksauflauf umgeben antraf. Bereits hatten die wütenden Fluten den vorspringenden Brückenpfeiler, welcher das große metallene Kruzifix trug, samt diesem weggerissen, Spaltungen an einigen Bögen waren bemerkt worden, man fürchtete weitern Einsturz, und alle Passage war sonach streng verboten. Die Situation war sehr unangenehm, denn ich sah mich auf einmal von den Meinigen gänzlich abgeschnitten und mußte nur froh sein, nicht mit eigenem Wagen und[126] Pferden gefahren zu sein, als welche voraussichtlich in vielen Tagen nicht hätten übergesetzt werden können. Jetzt schritt ich nun über die gelegten Stufen und Bretter allein hin bis zum Blockhause (der Kommandantenwohnung), sah, daß die Brücke selbst noch stand, sah aber auch alles durch Militär besetzt und jedes Überschreiten der Brücke untunlich. Meine einzige Hoffnung war nunmehr auf meine bei der hohen Wöchnerin – Prinzeß Johann – nötig werdende Visite gesetzt; ich traf unter der herumstehenden Menge den Hofrat und Oberbibliothekar Falkenstein, einen guten Bekannten und zugleich mit dem gegenwärtigen Gouverneur und Kriegsminister von Nostitz einigermaßen befreundet, erzählte ihm meine Lage und folgte seinem Rate, mit ihm direkt zum Minister selbst zu gehen und von ihm die Gestattung meines Überganges zu erbitten. So stiegen wir hinauf in die Kommandantenwohnung, trafen Herrn von Nostiz glücklicherweise sogleich an, und die Rücksicht auf die Prinzeß bestimmte denn auch sofort die Erlaubnis. Er selbst hatte die Güte, mit hinabzugehen und mich durch die Wachen zu führen, mit dem Wunsche, »daß mich die Brücke noch wohl tragen möge«! Und in Wahrheit, dieser Übergang war seltsam genug! Die hoch aufrauschenden, trübgelben, mit Eisschollen gemischten Wogen leckten bis über den Schluß der Bögen herauf und bildeten überall eine schwindelerregend rasch dahinziehende, allerhand Trümmer mit sich führende, weite und breite tosende Fläche, die Brücke selbst war ganz öde und leer, aber am Ufer hüben und drüben stand, zumal auf den Brüstungen der Brühlschen Terrasse, eine unzählbare, neugierige Volksmenge; verschwunden war das hohe Kreuz, das mir so oft bei Abendgängen über die Brücke seine Formen schön auf den geröteten Wolken hingezeichnet hatte, eine graue Wolkendecke wölbte sich über das ganze unheimliche Bild, und[127] wie ich nun so allein von vielen tausend Blicken gefolgt über die Brücke fortschritt, glaubte ich oft ein eigenes Schüttern unter meinen Füßen zu fühlen. Indes ich kam glücklich hinüber, fand drüben den Platz vor der Katholischen Kirche ebenfalls überschwemmt, aber auch hier und da durch Bretter überbrückt, und so gelangte ich endlich auf die Terrasse und von da glücklich zu Hause in die Arme der Meinigen, die nicht geringe Unruhe indes um mich überstanden hatten, nun aber freilich auch mit um so mehr Freude den Wiedergekehrten begrüßten.

Nur nach und nach verliefen sich in den folgenden Tagen die Gewässer, aber noch lange Zeit hatten wir statt unserer schönen Elbbrücke eine halbe, kaum oder gar nicht zu passierende Ruine und daneben eine dürftige Schiffbrücke; ja anfänglich mußte selbst das Dampfboot den Dienst des täglichen Übersetzens versehen, und ich hatte reichliche Gelegenheit, all die sonderbaren Zustände zu beobachten und zu erfahren, die in einer volkreichen Stadt sogleich hervortreten, sobald in die gewöhnliche Flucht allgemeinen Verkehrs ein unerwartetes Hemmnis plötzlich geworfen wird. Für all dergleichen Elend zog indes im April ein schöner blühender Frühling ein, die Wiese vor meinen Fenstern ergrünte ungewöhnlich zeitig, die Vögel sangen, schon am 21. aßen wir wieder im Freien, und so waren denn jene überstandenen Kalamitäten bald, wenn auch nicht vergessen, doch weit in den Hintergrund getreten.

Um die Mitte Mai wanderte mein Porträt von Hübner auf die Ausstellung nach Breslau, wir aber zogen wieder nach Pillnitz, allwo denn freilich diesmal, wie sooft in unserm Klima, das schöne, Frühlingswetter wieder für einige Zeit in eine Art von grünem Winter sich wandelte, der ganz ordentlich zum Heizen nötigte, mich aber doch nicht hinderte, teils auf alle Weise die Herausgabe des[128] englischen Tagebuchs zu fördern, teils nach vielfältigem Vorlesen und Besprechen dir »Psyche« weiter und weiter durchzuführen, ja sie der Vollendung zu bringen.


Was fremde Arbeiten betraf, so kann man denken, daß keine mehr meine Aufmerksamkeit damals in Anspruch nahm als der »Kosmos« von Alexander von Humboldt, dessen erster Band in diesem Jahre erschienen war. Die Einleitung und manches über den Plan des Ganzen kannte ich allerdings teils aus Humboldts eigener Vorlesung zwölf Jahre früher in Breslau, teils aus manchen besondern mündlichen Mitteilungen; aber welchen Eindruck mir nun das Werk an sich manchen werde, darauf war ich natürlich im höchsten Grade gespannt. Es verstand sich von selbst, daß die außerordentliche Belesenheit, die große Umsicht und (wenn so zu sagen erlaubt ist) Reinlichkeit der Arbeit schon in diesem ersten Teile mir die vollkommenste Anerkennung aufdrang, aber ich konnte mir zugleich nicht verbergen, daß ich eine gewisse Begeisterung in Auffassung des Ganzen vermisse und daß ich vergebens hier jene gesunde Andacht der Seele suchte, welche, indem sie selbst so durchaus bei der Sache ist, auch den Leser fortreißt in die Tiefen des Materials und ihn dadurch für jedes einzelne der Aufgabe in ebenso lebendigem Interesse erhält.

Gegen die Mitte des Juli zogen wir nun zur Stadt, und wenn dort irgend etwas den im ganzen wieder so glücklichen Kreis unsers Familienlebens stören konnte, so war es, daß mein geliebtes Mütterchen, welche durch ihr eigentümlich geistvolles heiteres Wesen noch in ihrem 82. Jahre uns allen stets ein wahres Musterbild geblieben war, jetzt sichtlich körperlich schwächer wurde und somit wohl auf eine nicht allzu ferne Trennung uns vorbereitete. Dagegen durfte ich mich an dem kräftigen gesunden[129] Wesen meines ältern Sohnes freuen, der als Arzt sich überall tüchtig zeigte und eben zu einer Reise nach Schweden und Dänemark sich vorbereitete; der jüngere setzte in Leipzig unter Erdmanns Leitung seine chemischen Studien mit mehr Erfolg fort als in Jena die Wakkenroders pharmazeutischem Institut, wo ich den Mangel an strenger Aufsicht und geistiger Förderung einige Zeitlang gar sehr zu beklagen gehabt hatte, während meine Töchter, jene in eigentümlichem, aber immer gutem und liebevollem Wesen sich mehr und mehr entwickelnd, alles aufsuchten, was uns irgend Freude zu bereiten imstande war. Schließlich die damalige Lebensauffassung in mir selbst betreffend, so schrieb ich darüber an Regis, im Gegensatz zu dessen dunkelm und zurückgezogenem Wesen: »Es gibt mir oft eigene Gedanken, wie unsere Ansichten doch so weit auseinander liegen! Mir treibt das Leben immer neue Begegnungen, neue Verhältnisse, neue Bestrebungen heran, die mich zwingen, stets von neuem der Wirklichkeit mich rüstig zugewendet zu erhalten, ja die mir kaum Zeit gestatten, das, was im Innern rastlos empordringt, sattsam zu formen und zu verarbeiten, während Sie – still und fast regungslos einfach – ein immer gleiches Lebenswerk abspinnen und alle breite Muße auf Literatur und innerliches Treiben zu wenden imstande sind. Am Ende begegnen sich jedoch gewissermaßen auch so verschiedene Richtungen, indem man wohl sagen möchte, daß, wenn ich an den Gegenständen vorbeifahre, Sie doch nicht hindern können, daß dafür die Gegenstände rastlos an Ihnen vorübergleiten. So kann ich also nicht bergen, daß es mich wahrhaft schmerzlich berührt hat, in Ihren Briefen zu lesen, daß Sie sagen: ›Die Zeit des Schlafens hielten Sie jetzt für die glücklichste.‹ Dergleichen sollte doch nicht über die Lippen des rüstigen, aller Poesie und Welt frei ins Auge schauenden Mannes[130] kommen! Warum sollte es nicht die echte Freude des Wissenden sein, den Tag als Tag zu gebrauchen! – Auch was Sie vom Alter – Ihrem Alter – sagen, will mir nicht behagen. Ist in unsern Jahren die Zeit zum Verholzen? Im Gegenteil, ich versichere Ihnen, daß die höhere Jugendlichkeit des Geistes erst jetzt mir recht anfängt aufzugehen!«

Und so war es wirklich! Ein volles Gefühl der Gesundheit in den höhern fünfziger Jahren, der meinem innern Leben zugekommene Reichtum durch die Menge neuer Vorstellungen und Gedanken, welche die englische Reise mir entwickelt hatte, und der engere Verkehr mit mancher interessanten und lieben Persönlichkeit gab dem Dasein einen frischen, durchaus belebten Charakter! In Beziehung auf Begegnungen mit Fremden gedenke ich denn auch noch gern des Besuchs des russischen Staatsrats Turgenjew, eines bejahrten, geistvollen und vielerfahrenen Mannes, welcher früher mit Joukowski (dem oben schon mehrfach genannten Erzieher des Großfürsten-Thronfolgers) längere Zeit in Dresden lebte und auch unsern Friedrich noch oft gesehen hatte. Er selbst stand eine Zeitlang an der Spitze des Ministeriums des Kultus in Rußland, hatte lange in Italien und Frankreich gelebt und war zumal tätig gewesen, für die neuere russische Geschichte manches bis dahin verborgene Material zu sammeln. Im ganzen mehr Mann des Salons als der Wissenschaft und übrigens nebst seinem Bruder etwas kompromittiert bei den Unruhen der Thronbesteigung des Kaiser Nikolaus, hatte er fast alle Summitaten der Neuzeit kennenlernen und fand sich dadurch mit so viel speziellen und merkwürdigen Notizen ausgerüstet, daß mannigfaltige und interessante Gespräche mit ihm sich ergaben. Wir fanden uns eines Mittags zusammen eingeladen zu Frau von Lüttichau, welche er ebenfalls schon[131] früher gekannt hatte, ich fuhr dazu mit ihm hinaus nach Pillnitz, und wir genossen einer um so reichern und abwechselndern Unterhaltung, als er eine Anzahl Briefe von Benjamin Constant an Frau von Staël mitbrachte und vielerlei Interessantes von diesen und andern Verhältnissen zu erzählen wußte.

In diese Zeit fällt es auch endlich, daß beinahe über mein Haus ein schweres und tränenreiches Geschick hereingebrochen wäre, hätte nicht eine höhere Hand gnädig es abgewendet! In der zweiten Hälfte des August nämlich erschütterte uns plötzlich die Nachricht von den bei der Anwesenheit des Prinzen Johann in Leipzig ausgebrochenen Unruhen, wobei die Truppen auf dem Platze vor dem Peterstor Feuer gegeben hatten und mehrere, und zwar fast lauter unschuldig dort Vorübergehende getötet worden waren. Auch mein Wolfgang, wie ich oben erwähnte damals in Leipzig Chemie studierend, befand sich gerade dort auf einem Abendspaziergange in jenen Promenaden, als die Salve erfolgte und die Kugeln über seinem Haupte hinwegflogen. Der Prinz mußte aus Leipzig flüchten, die Ruhe stellte sich nach und nach wieder her, aber es ist nicht zu sagen, welch Elend es in meiner Familie erregt hätte, wenn jene Kugeln nicht so glücklich abgelenkt sich fanden!

Geht ja doch immer, wo solche Volksbewegungen sich entzünden, eine sonderbare gewitterhafte Stimmung durch alle Geister! Vergeblich glaubt man sich dabei ganz frei und ruhig verhalten zu können, die Bewegung ist wunderbar ansteckend, und etwas davon teilt sich selbst dem Abgemessensten mit. So hatten denn auch damals alle aufs neue sich hervordrängenden Fragen der Verfassung, alles Widerstreben gegen bloß durch Verjährung gutgeheißene Einrichtungen usw. so viel allgemeine Aufregung verbreitet, daß, wo irgend einzelne unerwartete tragische Ereignisse[132] hinzutraten, es gar nicht abzusehen blieb, wie weit dann oft traurige Nachwirkungen sich verbreiten konnten.

Doch glücklicherweise war diesmal das Schreckliche gnädig an uns vorübergeführt worden, die Gemüter beruhigten sich nach und nach wieder, und so schien in einigen Monaten die Glut verschwunden und gedämpft, obwohl sie in Wahrheit nur so weit verdeckt war, um einige Jahre später dann um so gewaltsamer und zerstörender hervorzubrechen!

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 121-133.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Elixiere des Teufels

Die Elixiere des Teufels

Dem Mönch Medardus ist ein Elixier des Teufels als Reliquie anvertraut worden. Als er davon trinkt wird aus dem löblichen Mönch ein leidenschaftlicher Abenteurer, der in verzehrendem Begehren sein Gelübde bricht und schließlich einem wahnsinnigen Mönch begegnet, in dem er seinen Doppelgänger erkennt. E.T.A. Hoffmann hat seinen ersten Roman konzeptionell an den Schauerroman »The Monk« von Matthew Lewis angelehnt, erhebt sich aber mit seiner schwarzen Romantik deutlich über die Niederungen reiner Unterhaltungsliteratur.

248 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon