Im Pfarrhaus zu Buch am Ahorn

[22] Das Dörfchen dieses Namens lag, abgeschieden von der Welt, mit seiner Gemarkung größtenteils eingeschlossen in einem an Buchen- und Ahornbäumen reichen Walde.

In den zwei Jahren, die ich dort zubrachte, sah ich kaum andere Fremde als Wallfahrer, die »vom heiligen Blut« in Walldüren kamen, und Zigeuner, die ebenso plötzlich erschienen als verschwanden. – Die Wallfahrer zogen betend und singend, mit Kruzifix und Fahnen, durch den ganzen evangelischen Ort,[22] ohne sich aufzuhalten. Wenn die Prozession nahe genug ans Dorf kam, eilten die Kinder herbei, stellten sich zu beiden Seiten der Dorfstraße auf, streckten die Hände gegen die Wallfahrer aus und erhielten von ihnen kleine Stücke eines gelblichen, faden Gebäcks. – Die Zigeuner verweilten einige Tage draußen vor dem Dorfe und schlugen am Waldsaum ein Lager auf; die Weiber und Kinder liefen in die Häuser zu den Bauern, wahrsagten und holten Brot, Speck und Eier, Milch und Butter. Ich ging mit den anderen Kindern hinaus an den Wald. Sie lagerten ums Feuer und brieten gerade ihr Lieblingsgericht am Spieße – fette Igel.

Der große Forst, der das Dorf umgab, hatte abgelegene Stellen, wo, nach Versicherung des Försters, der in dem nahen Ahornhofe einsam wohnte, echte Wildkatzen im Dickicht hausten. Ich selbst sah eines Tages tief im Wald eine riesige Katze sich in einer mächtigen Ahornkrone von Zweig zu Zweige schwingen.

Pfarrer Ganz und seine Frau standen beide im Beginn der Dreißiger und waren herzgute Leute. Sie hatten keine Kinder und behandelten mich wie ihr eigenes. So kam ich leicht über das Heimweh weg und fühlte mich bald zu Hause.

Einen besseren Erzieher hätte ich nicht haben können als diesen kleinen, klugen und nie verdrossenen Landpfarrer. Er war ein vergnügter Student gewesen und im Predigerrock kein Kopfhänger geworden; er liebte Kinder und verstand es ausgezeichnet, mich den ganzen Tag zu beschäftigen. Ein großer Kanzelredner war er sicherlich nicht, doch besaßen seine Predigten eine Eigenschaft, die der badische Prälat und Dichter Hebel als die beste bezeichnet, sie waren – kurz. Auch seine Gelahrtheit reichte nicht weit, für mich jedoch weit genug.

Wie bei dem Pfarrer war ich auch bei der Pfarrerin gut aufgehoben. Sie sorgte für mein leibliches Gedeihen, und ihre Mehlspeisen waren köstlich. Fleisch kam nicht täglich auf den Tisch, und ich vermißte es nicht; Mehlspeisen und Obst zog ich dem besten Braten vor.

Mein größtes Leibessen waren ihre zarten Kartoffelklößchen, sie sah mir liebevoll zu, wenn ich sie vom Teller verschwinden[23] machte, doch konnte sie zuletzt dem Gatten zurufen: »Lieber Ganz, wird es nicht doch des Guten zuviel?« Er aber lachte, weil er besser wußte, was der gesunde Magen eines Knaben zu leisten vermag und wie man ihn bei außergewöhnlichen Zumutungen leicht vor Schaden behütet: Er dehnte den Spaziergang nach Tische ein Stündchen länger aus.

Der Unterricht meines Mentors erstreckte sich auf Latein und Französisch, im zweiten Jahr auch auf Griechisch, er lehrte mich Rechnen und Geometrie, Naturlehre, Geschichte und Erdkunde, diese gefiel mir am besten. In den freien Stunden wurde regelmäßig spazierengegangen, ich spielte in Hof und Garten, las und zeichnete; mit besonderer Vorliebe kolorierte und zeichnete ich auch Landkarten nach Anweisung meines Lehrers. Spielend erwarb ich mir dadurch geographische Kenntnisse; ich fertigte sogar geschichtliche Karten der Weltreiche Alexanders des Großen, der Römer und Karls des Großen. Er gab mir aus seiner wohlbestellten Bibliothek Zimmermanns mehrbändige Länder- und Völkerkunde in die Hand, an der ich mich nicht satt lesen konnte.

In der letzten Zeit meines Aufenthaltes ergriff mich eine gefährliche Lesewut. Der Pfarrer bewarb sich um die Pfarrstelle in Unterschüpf, mußte mehrmals verreisen, und ich wurde deshalb weniger überwacht. Ich hatte bisher nur die Fabeln Äsops, Hagedorns munteren Seifensieder und die unverfänglichen Gedichte eines Lichtwer und Gellert kennengelernt. Die lebhafte Schilderung der greulichen Katzenmusik in Lichtwers lehrsamer Erzählung mit der Nutzanwendung: »Blinder Eifer schadet nur« versetzte mich in ein krampfhaftes Lachen, aus dem ich den ganzen Abend nicht herauskam. Während des Pfarrers Abwesenheit machte ich mich nunmehr hinter Zschokkes Abällino und seine Novellen, die meine Phantasie mehr als gut erregten, zuletzt ritt ich sogar auf Wielands Hippogryphen ins alte romantische Land, wozu es noch mindestens sechs Jahre Zeit gehabt hätte.

Unsere Spaziergänge richtete der Pfarrer ebenso unterhaltend als nützlich ein. Er lehrte mich alle Sträucher und Bäume des Waldes kennen; wir gruben Pflanzen aus und versetzten sie in[24] den Garten am Pfarrhaus, schrieben ihre botanischen Namen auf kleine Schilder und befestigten sie an Stäben, die wir daneben steckten.

Die Leute in den großen Städten halten das Leben auf dem Lande für einförmig und langweilig, es bietet jedoch für Kinder bessere und gesundere Unterhaltung als die Stadt. Zugleich lernen sie eine Menge nützlicher Dinge kennen, die dem Stadtkinde häufig zeitlebens bis zur Lächerlichkeit fremd bleiben. In das hastige, aufregende Treiben der Städte können sie später noch frühe genug eingeführt werden. Ich betrachte es noch heute als ein Glück, daß ich den größten Teil meiner Kindheit auf dem Lande verlebt habe. In jeder Jahreszeit gab es Neues zu schauen: im Frühling pflügen und säen, Stecklinge setzen, pfropfen und Bäume schneiden, im Sommer Heu und Getreide ernten, im Herbste zahlreiche Früchte von Feld und Garten einheimsen, im Winter Arbeit genug in Scheune und Stall. In den Weingegenden kommen noch die Freuden des Rebenherbstes dazu; in Buch am Ahorn gab es keine Rebgärten, man kelterte, wenn ich mich recht erinnere, nur Äpfel und Birnen.

Wie stolz war ich, wenn ich im Sommer hochthronend auf dem Erntewagen mit den vorgespannten Kühen in den Pfarrhof einziehen durfte, und welch ein Vergnügen, in der Scheune von hoch oben herabzuspringen in das duftende Heu! – Herrlich war es auch in der Erntezeit nach der Heimkehr vom Felde, wenn ich müde und hungrig mit dem Gesinde das köstliche Roggenbrot und Wurst oder Käse teilen durfte und den säuerlichen Wein dazu kosten. Was ist gegen solchen Genuß das Zuckerbrot des städtischen Konditors? – Das Feinste aber brachte das Schlachtfest im Winter, wenn es würzige Metzelsuppe gab mit zartem Wellfleisch und die Dorfjugend in den Pfarrhof kam, um die Brühe und die leckeren Bissen mitzukosten.

Jedoch nicht immer ruht idyllisches Glück auf den ländlichen Hütten. – An einem Herbstabend war der Pfarrer mit mir nach dem nahen Dorfe Brehmen spazierengegangen. Die Sonne begann eben unterzusinken, als wir aus dem Walde tretend das Örtchen vor unseren Füßen liegen sahen. Plötzlich schlugen[25] Flammen aus dem Dachgiebel eines der Häuser, und in wenigen Minuten flog das Feuer, vom Winde getrieben, von Haus zu Haus, von Scheune zu Scheune. Heu und Frucht lagen aufgespeichert darin, das gierige Element verzehrte die mühsame Arbeit eines ganzen Jahres; die rote Lohe sprühte hoch gen Himmel. Mit Furcht und Grauen sah ich das traurige Schauspiel. Die armen Leute eilten hilflos auf der Brandstätte umher. Gelassener, als es eine städtische Bevölkerung zu tun vermocht hätte, nahmen die Bauern ohne Geschrei und Lärm ihr Unglück hin.

Eilend waren zwei Jahre bei dem Pfarrer dahingegangen, er riet meinem Vater, mich nunmehr auf ein Gymnasium zu bringen. Ungern schied ich von ihm und seiner Gattin. Was mir beide gewesen, habe ich erst als Mann völlig würdigen gelernt. Aus dem Pfarrhaus wurde mir durch Gewöhnung an geregelte Arbeit ein Segen für das ganze Leben mitgegeben. – Ich sollte leider die guten Leute niemals wiedersehen. Der Pfarrer wurde nach Schüpf versetzt, einer weit angenehmeren Pfarrei als die von Buch am Ahorn, aber er durfte das Glück nicht lange genießen. Die Ruhr, die 1834 im Herbste die Gegend heimsuchte, raffte beide in einer Woche hinweg.

Das Einkommen der Pfarrei Buch am Ahorn bestand größtenteils, wenn nicht ganz, aus dem Ertrage des Zehnten und der Gülten. Zwar ist der Zehnte schon in den fünf Büchern Mosis angeordnet, und die Römer hießen das eroberte Land rechts am Oberrhein die agri decumates, das Zehntland, aber trotz Mosis und der Cäsaren Gebot wollte den Bauern diese Einrichtung wenig einleuchten. Es war der Zehnte eine unerschöpfliche Quelle von Ärger und Verdruß für Geistlichkeit und Bauernschaft. Beide empfanden fast allenthalben seine Ablösung, die auf Antrag der Zweiten Kammer in den dreißiger Jahren ins Werk gesetzt wurde, als eine Wohltat. – Das Gedächtnis des Zehnten ist nahezu erloschen, darum sei ihm ein Wort der Erinnerung geweiht; er hat mir als Knaben frohe Stunden bereitet.

War die Ernte- oder Herbstzeit gekommen, so meldete sich der Zehnter, dem das Eintreiben des Zehnten oblag, beim Pfarrherrn.[26] Er kam mit einem mehr als mannshohen spitzen Stabe, dem Zehntstabe, und zeigte dem Geistlichen an, daß er aufs Feld gehe, um seines Amtes zu warten. Ich durfte ihn mitunter auf seinen Gängen begleiten. Die Bauern waren gehalten, die Getreidegarben in Reihen, Flachs und Hanf in Büscheln, Heu und Öhmd, Kartoffeln, Rüben, Bohnen u. dgl. in Haufen und Häufchen bereitzulegen und liegenzulassen, bis der Zehnter mit seinem Stab erschien, nachsah und jede zehnte Garbe, jedes zehnte Büschel oder Haufen wegnahm, auf den Wagen lud und wegführte.

Der Zehnter, ein ehemaliger Soldat, ein Vierziger, war ein stattlicher, heiterer Mann und mir freundlich zugetan. Er wahrte getreu des Pfarrers Vorteil und kannte die Bauernschliche von Grund aus. War er doch selbst aus dem Bauernstande hervorgegangen und führte das Sprichwort im Munde: »Der Bauer ist ein Lauer.« Nach Grimms Wörterbuch bedeutet Lauer einen Schelm und ist im 18. Jahrhundert ausgestorben. Im Munde des Zehnters war es aber noch im 19. lebendig. Er ließ sich nicht hinters Licht führen, und ich half ihm eifrig nachzählen und aufladen und freute mich seines Lobs. Heimgekehrt, teilte er im Pfarrhof das Mahl mit dem Gesinde und würzte es mit Scherzen und lustigen Geschichten.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 22-27.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Jugenderinnerungen Eines Alten Arztes (German Edition)
Jugenderinnerungen Eines Alten Arztes. Mit Dem Bildnis Des Verfassers Nach Einem Gemalde Von Franz Lenbach, 2 Jugendbildnissen Und Einer Abbildung Der
Jugenderinnerungen eines alten Arztes. Mit dem Bildnis des Verfassers nach einem Gemälde von Franz Lenbach, 2 Jugendbildnissen und einer Abbildung der Denkmalbüste von B. Volz (German Edition)

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die beiden Schwestern Julchen und Lottchen werden umworben, die eine von dem reichen Damis, die andere liebt den armen Siegmund. Eine vorgetäuschte Erbschaft stellt die Beziehungen auf die Probe und zeigt, dass Edelmut und Wahrheit nicht mit Adel und Religion zu tun haben.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon