Das Heidelberger Lyzeum

[48] Bei dem Tausch des Mannheimer Lyzeums mit dem Heidelberger bin ich nicht gut gefahren, aus einer Schule mit idealem Streben kam ich in eine mit handwerksmäßigem Betriebe. Lehrer ersten Rangs hatte Heidelberg nicht. Leider mußte ich hier noch ein halbes Jahr in Quinta und zwei Jahre in Sexta zubringen, ehe ich zur Universität abgehen konnte.

In Quinta herrschte ein böser Geist. Obwohl die Schüler im Alter von 16 bis 18 Jahren standen, gefielen sich die meisten noch in Knabenstreichen, wie sie in Mannheim kaum in Quarta vorkamen. Am schlimmsten trieben es die ältesten; es waren rohe Burschen darunter, die man schon aus den unteren Klassen hätte entfernen sollen. Vergeblich regnete es Mahnungen, Verweise und tagelange Karzerstrafen. – Mit den Schulstrafen geht es, wie mit manchen Arzneien, ihr allzu häufiger Gebrauch stumpft dagegen ab.

Hauptlehrer der Quinta und alternierender zweiter Direktor des Lyzeums war ein alter pedantischer Herr in weißer Halsbinde, über das unbewegliche Gesicht mit immer gleicher, würdiger Miene kam nie ein flüchtiger Strahl heiteren Lächelns. Und doch war auch dieses ausgetrocknete Männchen einmal jung gewesen, hatte Romane geschrieben, sogar erlebt, freilich war es schon lange her. Wie die meisten unserer älteren Professoren hatte er Theologie und Philologie studiert; er lehrte Latein und Griechisch und erteilte den evangelischen Schülern den Religionsunterricht. Wir lasen mit ihm kursorisch das Neue Testament im griechischen Urtext und übersetzten es ins Deutsche. Da er nie ein erläuterndes Wort dazu sprach, so war diese sogenannte Religionsstunde nichts als eine weitere griechische Stunde, wir hätten ebensogut den Hesiod mit ihm lesen können. Sie unterschied sich von den andern lediglich[48] durch das Gebet, was ihr vorherging. Er hatte zwei Gebete verfaßt, die er abwechselnd auf dem Katheder vorlas, das eine schloß mit den Worten: »hegen mögen«, das andere mit »Glauben rauben«. Nach dem Amen erhob er das gesenkte Haupt und schaute andächtig zur Stubendecke.

Als er nun eines Morgens gerade das »Hegen-mögen-Gebet«, wie wir es nannten, geendet hatte und in gewohnter Weise zur Decke aufsah, blieb er starr vor Entsetzen. Über dem Katheder tanzte eine lustige Figur aus steifem Papier in der Luft. Ohne ein Wort zu verlieren, eilte er fort und holte den ersten alternierenden Direktor, der alsbald kam und mit gelassenem Ernste den Frevel beschaute. Eine Untersuchung folgte. Der Täter, der älteste und roheste Schüler der Klasse, wurde rasch zum Geständnis gebracht. Mit Hilfe eines feuchten Ballens gekauten Papiers am Ende eines Fadens, woran er die Figur befestigt, hatte er sie kurz vor Beginn der Stunde geschickt über das Katheder an die Decke geschleudert. – Die Direktoren beriefen eine Konferenz sämtlicher Lehrer, und der Missetäter wurde ausgestoßen.

Pedanten sind lebhafte Zielscheiben mutwilliger Jungen. Der alte Herr verstand es wenigstens, sein Ansehen bei der Jugend durch seine ernste Würde so zu wahren, daß nur die frechsten Burschen sich an ihn wagten. Schlimmer erging es einem andern unserer Lehrer. Der Unglückliche, im übrigen ein wohlmeinender Mann, hatte ein reizbares Temperament und explodierte wie trockenes Pulver auf die albernste Neckerei hin, obwohl er bereits in den Fünfzigen stand. Die Jungen benützten deshalb jede Gelegenheit, ihn »grün und blau« zu ärgern. Ließ er sich zuletzt dazu hinreißen, sie mit Kosenamen, wie »Troßbuben, Stallknechte, Pferdejungen« und dergleichen zu belegen, so war ihr sehnlichster Wunsch erfüllt, und sie nickten einander befriedigt zu.

Direktor Brummer leitete die oberste Klasse. Er stand im Rufe eines guten Philologen und wurde von den Schülern sehr respektiert; aber auch bei ihm blieben uns die idealen Grundsätze der Alten Welt verschlossen, über die rein grammatische Schulung kamen wir nicht hinaus. Nur durch eigenen Trieb[49] und privates Studium habe ich mich mit den Meisterwerken der griechischen und römischen Literatur und dem Geiste, der sie durchweht, bekannt gemacht.

Gar übel stand es um unsern mathematischen Unterricht. Die Schulbehörde hatte damit einen Dozenten der Universität betraut, dessen wissenschaftliche Arbeiten bei seinen Fachgenossen recht geschätzt waren, seine Lehrmethode aber taugte nichts. Von meinen sämtlichen Mitschülern konnte ihm nur einer folgen, der bei einem Privatlehrer besondere Stunden nahm. Ebensowenig taugte sein Unterricht in der Physik; wir bekamen keine Versuche, keine Apparate zu sehen, nur mathematische Formeln auf der Schultafel. Die Unzufriedenheit der Schüler war groß. Sie führte bald nach meinem Abgang vom Lyzeum zu einer Verschwörung. Die Jungen wollten seine Entfernung aus dem Lyzeum durchsetzen und blieben deshalb bei der öffentlichen Schulprüfung auf alle seine Fragen die Antwort schuldig. Die Verabredung lag offen zutage. Man wies die Rädelsführer aus dem Lyzeum, den Zweck ihres Komplotts haben sie nicht erreicht.

In der Sexta war Philosophie vorgeschrieben. Die Schulbehörde hatte einen Fachgelehrten dafür gewonnen und eben angestellt, einen Schüler Krauses. Er muß sich eines gewissen Ansehens erfreut haben, denn bald nachher wurde er als Lehrer der Philosophie an eine Universität berufen. Wir waren voll Erwartung; er sollte uns in Logik, Psychologie und Metaphysik unterrichten, und er ließ es an Eifer und Mühe nicht fehlen, aber doch lag die Schuld nicht an uns, wenn wir von der höchsten aller Wissenschaften nur wenig begriffen. Unser Lehrer war schwerfällig und ungelenk, leiblich und geistig. Er diktierte uns stundenlang in die Feder, war aber nicht imstande, seine Lehrsätze mündlich klar zu entwickeln. Am besten gefiel mir seine Metaphysik; er versuchte es, dem Übersinnlichen mit dem Kreidestift durch bildliche Darstellung beizukommen. Er malte Gott und die Welt mit sämtlichen Kräften, die das All bewegen und zusammenhalten, in Form von ineinandergeschachtelten Kreisen an die Schultafel. Diese Zeichnung leuchtete mir ein, und vor Freude dichtete ich ein[50] metaphysisches Trinklied nach Baggesens Beispiel, und wir sangen es nach der Melodie: »Die Welt ist rund und muß sich dreh'n«, Samstagabends im Bremeneck; man hatte uns erlaubt, in dieser, durch die Rodenstein-Lieder jetzt so berühmt gewordenen Bierwirtschaft einmal in der Woche heitere Gesellschaft zu pflegen.

Endlich, im Herbst 1840, schlug die Stunde meiner Erlösung aus dem verhaßten Froschteiche. Als erster mußte ich die lateinische Abgangsrede halten. Außer dem Prüfungskommissar achtete von den vielen Teilnehmern und Gästen niemand auf mein schönes Latein, und es kam mir vor, als ob dieser einzige nicht sonderlich davon erbaut wäre.

Nach meiner, wie ich glaube, berechtigten Überzeugung habe ich das letzte Jahr auf dem Lyzeum nutzlos verloren; ich hätte es besser für neue Sprachen, Zeichnen, Mathematik und Naturwissenschaften verwendet.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 48-51.
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