Das Mannheimer Lyzeum

[37] Man unterschied im Großherzogtum Baden bis in die fünfziger Jahre Gymnasium und Lyzeum; der Studiengang der fünf unteren Klassen war in beiden der gleiche, dem Gymnasium aber fehlte die sechste Klasse des Lyzeums mit den neu hinzutretenden Lehrfächern der Philosophie und Physik. Man zählte die Klassen nicht von oben nach unten wie heute, sondern aufsteigend von der Prima zur Sexta, wie es in Bayern noch jetzt geschieht.

Ich wurde in Mannheim für die Tertia reif befunden, hatte aber einige Schwierigkeit mitzukommen, namentlich in der Mathematik, weil meine Aufnahme in die Mitte des Schuljahrs fiel. Mit Hilfe eines gefälligen Mitschülers holte ich das Versäumte leidlich nach und wurde im Herbst in die Quarta befördert.

Während ich in dieser Klasse war, ließ mir mein Vater durch einen Schulmeister Unterricht im Schönschreiben erteilen, woran er sehr wohl tat. Eine alte Klage lautet: Docti male pingunt, zu deutsch: Gelehrte haben eine schlechte Handschrift. Auf den Mittelschulen geschieht zu wenig für Schönschreiben. Schon aus Höflichkeitsgründen sollte man die Jugend wenigstens leserlich schreiben lehren, denn es ist unhöflich, dem Leser zuzumuten, seine kostbare Zeit mit der Enträtselung abscheulicher Hieroglyphen zu verderben. – Im ersten Jahre meines Aufenthalts in Mannheim benützten wir noch Federkiele, und die erste Schönschreibstunde verwendete der Schulmeister zum Unterricht im Schneiden, Spalten und Spitzen der[37] Kiele. Bald nachher kamen die Stahlfedern in Gebrauch; sie waren anfangs steif und zerkratzten das Papier, glitten aber bald leicht und biegsam darüber hinweg.

Viele Schüler besuchten das Lyzeum nur deshalb, weil es noch an höheren Realschulen fehlte, und verließen es schon in Tertia und Quarta.

In der Tertia erhob sich in der Pause vor der letzten Stunde des Sommerhalbjahrs 1834 ein schon älterer, 15jähriger Schüler von kräftigem Gesichtsausdruck und nahm von uns Abschied mit den Worten: »Lebt wohl und bleibt bei eurem dummen Latein! Ich weiß Besseres und werde Schlosser!« Er strahlte von Zuversicht. Der junge Mensch hieß Karl Metz, ging wirklich zunächst in eine Mannheimer Schlosserwerkstätte und später nach Mülhausen im Elsaß, wo er ein geschickter Mechaniker wurde. Dann ließ er sich in Heidelberg nieder, gründete eine berühmte Fabrik für Feuerspritzen und organisierte das freiwillige deutsche Feuerwehrwesen. – Am Aufgang des Fahrwegs zum Schlosse steht ein Denkmal zu seinem Andenken, das ihm die deutschen Feuerwehren errichteten. Die Fremden, die vorbeigehen, halten den ausdrucksvollen Kopf der bronzenen Büste für den Kopf Bismarcks. – Ein anderer solcher Mitschüler, der erst später austrat, galt für ganz talentlos; mitleidig wurde ihm prophezeit, aus ihm könne nichts werden. Er hat es in Mannheim vom unbemittelten Manne zum Großindustriellen und vielfachen Millionär gebracht. – Wie manches arme Kerlchen, das es in der Werkstätte oder im Kontor weiter brächte, wird unbarmherzig gezwungen, sich an Homer und Cicero abzuquälen.

Als Quartaner schloß ich Freundschaft mit drei Kameraden, die eifrigst botanisierten: Dettmar Alt, Franz Goerig und Fritz Sauerbeck. Sie begnügten sich nicht mit Ausflügen in die Pfalz links und rechts vom Rhein, sie dehnten zuletzt ihre Fahrten ins Elsaß und den Schwarzwald aus und knüpften Verbindungen an mit den ersten Botanikern des Oberrheins.

Von diesen drei Jünglingen wurde Alt, nachdem er lange Assistent bei Chelius gewesen, ein sehr beschäftigter Arzt in Mannheim, wo er leider in den besten Mannesjahren starb. –[38] Auch Goerig studierte Medizin, praktizierte lange in Schriesheim an der Bergstraße und beschloß als Siebziger sein Leben in Mannheim. – Merkwürdigerweise blieb Sauerbeck allein zeitlebens der Botanik treu, obwohl er Jurist wurde. Er bereicherte die Algenkunde und vollendete nach dem Tode von August Jäger in Freiburg dessen großes Werk: »Adumbratio Florae muscorum totius orbis terrarum, St. Gallis, 1870–1879.« Der gutherzige, von seinen juristischen Kollegen hochgeschätzte und von seinen Freunden warm geliebte Sauerbeck starb als Oberlandesgerichtsrat 1882.

Der talentvollste und fleißigste Schüler dieser Klasse ist später von allen der berühmteste Mann geworden, der nachmalige badische Staatsminister Julius Jolly. Er war der Sohn des Bürgermeisters von Mannheim, Ludwig Jolly, und der jüngere Bruder des in München verstorbenen Professors der Physik, Philipp Jolly. Obwohl der jüngste in der Klasse, war er stets der erste, einen Tag wie den andern in allen Fächern gleich sorgfältig vorbereitet, dabei auffallend selbständig im Urteil.

Jolly war ungewöhnlich nüchtern und ernst für sein Alter, obgleich ihm der Sinn für Humor nicht abging. Eine lustige kleine Geschichte, die mit unserer Schulzeit zusammenhing, erzählte er mir in den siebziger Jahren, als ich ihn eines Tages amtlich in Angelegenheiten der Freiburger medizinischen Fakultät in Karlsruhe aufsuchte; er war damals Staatsminister und Exzellenz. – »Du wirst dich«, begann er lächelnd, »an unsern Schulkameraden B. aus W. erinnern. Er ist Theologe geworden und jetzt Landpfarrer im Unterland. Ich habe ihn seit den Universitätsjahren nicht mehr gesehen, bis er gestern in Sachen seiner Gemeinde bei mir war. Er kam in mein Büro, verbeugte sich beinahe bis auf den Boden und begann: ›Exzellenz geruhten ...‹ Ich unterbrach ihn mit den Worten: ›Lieber B., laß die Exzellenz, wir sind alte Schulkameraden, teile mir dein Anliegen ohne weitere Umstände mit!‹ – Er verbeugte sich noch tiefer und fing wieder an: ›Exzellenz haben geruht ...‹ – Da mußte ich lachen und sagte: ›Nun gut, wie du willst, nenne mich Exzellenz und Sie, ich bleibe bei dem alten Du.‹«

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 37-39.
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