Die Burschenwelt

[61] Der Handschlag des Prorektors hatte mich zum akademischen Bürger, zum freien Burschen gemacht; nicht länger mehr durch Schulzwang, sondern freier Herr meiner Kraft sollte ich von nun an selbst meine Zukunft schmieden.

Ich trat in eine neue Welt. Inmitten der Alltagswelt der Philister hatte sich der deutsche Student eine eigene geschaffen, die Burschenwelt mit eigentümlichen Sitten und Gebräuchen, Festen und Waffen, Liedern und Melodien, ja mit eigener Sprache. Man hatte ihm zwar das Recht genommen, farbige Bänder um Brust und Mütze zu tragen, aber auch die einfarbige Mütze wußte er so zu richten, daß man aus ihr und dem leichten Gruß, womit er dem Kommilitonen über die Straße zunickte, den Musensohn sofort erriet.

Wie diese Welt entstand, war in Dunkel gehüllt. Auch heute weiß, soviel mir bekannt, niemand zu sagen, wie und wann der Fuchsenritt und das Fuchsrennen aufgekommen sind, das Kommersieren beim Schlägerklang, die prächtige Melodie des Landesvaters, und der feierliche Schwur beim Durchbohren der Mütze:
[61]

»Ich durchbohr' den Hut und schwöre,

Halten will ich stets auf Ehre

Und ein braver Bursche sein.«


Und immer noch ist der Student erfinderisch in neuen wunderbaren Bräuchen. Um die Mitte des Jahrhunderts ersann er zum Trinkspruch bei dem Bierkrug, dem der helle, fröhliche Klang des Weinglases beim Anstoßen abgeht, das donnernde Exerzitium des Salamanders, aber wer es ersann, und wo und wann der erste Salamander gerieben worden, die Gelehrten haben es nicht ergründet.

Trotz unaufhörlichen Wechsels der Burschengeschlechter hat diese Welt einen festen Bestand. Alte Sitten und Sprüche, Melodien und Lieder vergehen und neue kommen, das gaudeamus aber wird niemals untergehen. Und damit die Burschenwelt auf festem Grunde durch alle Zeiten treibe, hat sie sich den Komment geschaffen, eine Verfassungsakte und ein Gesetzbuch zugleich, nach dessen Richtschnur sie Freiheit und Ehre wahrt, die Waffen wählt und führt, und den Humpen hebt und leert. Als Hieb-, Verrufs- und Trinkkomment scheiden sich die sorglich bestellten Teile dieses, mit den ehrwürdigen leges barbarorum germanischer Urzeit wetteifernden Gesetzbuchs.

Die Seele des Burschenlebens, ohne die es unterginge, sind die Verbindungen. Man hat sie auf Tod und Kerker verfolgt, immer sind sie, kaum vernichtet, wieder erstanden. Der Trieb unserer Jugend, an den Hochschulen sich in Brüderschaften zusammenzuschließen und füreinander fest und treu einzustehen, muß im deutschen Blute liegen. Die Jünglinge lieben farbige Abzeichen, und das Band, das ihre Brust umschlingt, ist das Symbol der innigen Vereinigung, die dem einzelnen die gesammelte Kraft der Brüder zur Verfügung stellt. Wie der Bund dem einzelnen Stärke verleiht, so sichert die vereinte Macht der Verbindungen dem Burschentum kräftigen und dauernden Bestand. Und solange der Student Ehre und Vaterland auf seine Fahne schreibt, wird die deutsche Nation unter den Völkern in Ehren bestehen.[62]

Ein verlockender Zauber schimmert auf dieser romantischen Welt. Unzählige Jünglinge voll Lebensmut und Tatenlust hat er gefesselt, und wer den wirbelnden Reigen auf sicheren Beinen mittanzt, wird weder Reue noch dauernden Schaden davontragen. Ein goldner Schatz heitrer Erinnerungen begleitet ihn durch die wechselnden Schicksale des Lebens.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 61-63.
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