Friedrich Tiedemann

[99] In dem westlichen Stadtteil, zwischen der Hauptstraße und der Brunnengasse, stand bis zum Beginn des Jahrhunderts ein Dominikanerkloster im Garten; Kurfürst Friedrich der Siegreiche hatte es 1476 gestiftet, Kurfürst Max Josef, später König von Bayern, 1799 aufgehoben, Karl Friedrich von Baden um 11000 fl. angekauft und der Universität übergeben. Sämtliche medizinischen und naturwissenschaftlichen Anstalten wurden in den Räumen des Klosters untergebracht und sein Garten zum botanischen umgeschaffen. – Die Zeit war noch billig für die Hochschulen.

Als ich 1840 die Universität bezog, befand sich in dem ehemaligen Kloster von den medizinischen Anstalten nur noch die gemeinsame für Anatomie und Physiologie; die Kliniken mit der Entbindungsanstalt waren schon lange ausgezogen und hatten im Marstallgebäude ein besseres Unterkommen gefunden. Auch der Botanische Garten war vor die Stadt gelegt; die naturwissenschaftlichen Institute für Physik, Chemie und Zoologie waren in dem Kloster geblieben.

Dem anatomischen Unterricht diente die Klosterkirche; man konnte ihre frühere Bestimmung und ihre einzelnen Teile noch leicht erkennen. Das Chor war zu einem hellen Amphitheater und Hörsaal geworden, von drei Seiten strömte das Tageslicht frei herein; das Schiff war Präpariersaal, die Sakristei Leichenkammer.

Diese Einrichtung der Kirche für anatomische Zwecke hatte der Vorgänger Tiedemanns getroffen: Jakob Fidelis Ackermann, vorher Professor an der Mainzer Hochschule und 1805[99] von da nach Heidelberg berufen, ein tüchtiger Mann. Er führte die anatomischen Präparierübungen in Heidelberg ein und erteilte zugleich den ersten praktischen, zunächst nur poliklinischen Unterricht in Medizin und Chirurgie. Die Stadt schätzte ihn als geschickten Arzt, er stand noch in den vierziger Jahren bei der Bevölkerung in gutem Andenken.

Wie man sieht, vertrat Ackermann vier Hauptfächer der Heilkunde: Anatomie, Physiologie, Innere Medizin und Chirurgie mit Einschluß der Augenheilkunde. Der damalige Umfang dieser Wissenschaften gestattete der Kraft eines einzigen auszuführen, was heute nur der vereinten Tätigkeit von fast einem Dutzend Professoren gelingt.

Am meisten kann man erstaunen und erschrecken über die Verbindung der Anatomie und Chirurgie in einer Professur. Wenn dieselbe Hand morgens Leichen präparierte, kurz bevor sie Abszesse eröffnete, Glieder abnahm oder Wunden verband, so lief der Kranke Gefahr, daß ihm tödliches Gift vom Leichentisch in die Wunde übertragen wurde. Der Chirurg beraubte sich so selbst durch seinen weiteren Beruf als Anatom der Frucht seiner Arbeit. Man steckte eben noch in der tiefsten Unwissenheit über die Natur und die Quellen der Wund- und Blutvergiftungen, der Infektionen durch faulige Stoffe und Eiter. Glücklicherweise bestand diese Vereinigung von Anatomie und Chirurgie in Heidelberg nur bis zu Ackermanns Tod 1815. Schon 1816 wurden die beiden Professuren getrennt, die Anatomie nebst der Physiologie Tiedemann, die Chirurgie nebst der Augenheilkunde Chelius zugewiesen. So geschickt auch Chelius war, den Ruf einer glücklichen Hand verdankte er doch zum guten Teil dem Umstand, daß er nur in dem kurzen Sommersemester, wenn er den Operationskurs erteilte, mit Leichen zu tun hatte. – Anders war es z.B. in Göttingen, wo Martin Langenbeck Professor der Anatomie und Chirurgie bis zum Ende der vierziger Jahre in einer Person war. Er empfand es als eine schwere Kränkung, als man ihn endlich in seinem 72. Lebensjahr nötigte, das chirurgische Lehramt aufzugeben, denn er fühlte sich noch kräftig genug zur Besorgung der beiden Professuren.[100]

Unter Tiedemanns Leitung verschaffte sich die Heidelberger Anatomische Anstalt bald einen großen Ruf im In- und Ausland. Beim großen Publikum verliehen der anatomischen Sammlung hauptsächlich die Gerippe des Schinderhannes und schwarzen Peters ein besonderes Ansehen, bei den Anatomen von Fach die Präparate Tiedemanns und seiner Prosektoren Fohmann und Arnold. Am berühmtesten waren die Saugader-Präparate Fohmanns, die als einzig in ihrer Art gepriesen wurden. Auch der größte anatomische Kenner Deutschlands, Johannes Müller, nannte sie »herrlich und unübertrefflich«, obwohl er mit dem Bedenken nicht zurückhielt, es möchten nicht alle diese von Fohmann eingespritzten feinen Wege wirklich Saugadern sein.

Heute würde die Anstalt den bescheidensten Ansprüchen eines öffentlichen Lehrers der normalen Anatomie des Menschen nicht mehr genügen, in meiner Studienzeit dienten ihre Räume noch außerdem zum Unterricht in der Physiologie, der vergleichenden und pathologischen Anatomie und zur Aufnahme sämtlicher anatomischen Sammlungen. Die Physiologie machte freilich kaum andere Ansprüche, als den der Mitbenützung des Hör- und Präpariersaals, ein Instrumentarium besaß sie noch nicht. – Im Anfang seiner Heidelberger Tätigkeit hatte Tiedemann neben den drei anatomischen Lehrzweigen und der Physiologie noch die Zoologie gelehrt, 1822 aber diese letzte abgetreten, 1835 auch die Physiologie, die vergleichende und pathologische Anatomie. Bronn dozierte seit 1821 Zoologie und Theodor Bischoff seit 1835 die drei letztgenannten Fächer. – Wie haben sich doch diese Verhältnisse seitdem anders gestaltet! Die fünf Fächer, die einst Tiedemann an der neugegründeten Universität ganz allein, unterstützt von einem Prosektor und einem Diener, bewältigte, sind heute selbständig; jedes besitzt seine besondere Lehrkanzel und verfügt über eigene Gebäude, eigene Sammlungen, Dotationen, Professoren, zahlreiche Assistenten und Diener.

Wir Studenten hielten unser anatomisches Institut für sehr großartig, schon deshalb, weil wir seine Bedeutung nach der unseres berühmten Lehrers maßen, er aber kannte dessen Unzulänglichkeit[101] und plante einen besseren und größeren Neubau. Auch dieser sollte für Anatomie und Physiologie zugleich eingerichtet werden. In der Tat wurde er 1846 bis 1848 aufgeführt. Tiedemann hätte jedoch besser getan, seinen jüngeren, gleichfalls für Anatomie und Physiologie berufenen Kollegen Henle die Einrichtungen zu überlassen, da dieser mit den neuen Bedürfnissen der beiden Lehrfächer besser vertraut war als er. Das Gebäude, das den Anforderungen Henles nicht entsprach, wurde hinter der alten Anstalt aufgestellt und hat im Laufe der Zeit noch manche Änderungen bis zu seiner jetzigen, lediglich anatomischen Zwecken dienenden, Einrichtung erfahren. An der Stelle, wo das alte, aus der Dominikanerkirche eingerichtete Anatomiegebäude gestanden hat, steht jetzt der Friedrichsbau für Physik und Mineralogie.

In Landshut hatte sich Tiedemann bereits durch zoologische, vergleichend anatomische und durch bildungsgeschichtliche Arbeiten über das Gehirn großes Ansehen verschafft, seinen Weltruf aber verdankte er hauptsächlich drei in Heidelberg ausgeführten wissenschaftlichen Werken. Es waren: seine prächtigen, bei den Ärzten sehr beliebten, Kupfertafeln über die Schlagadern des Menschen (1822), ferner die mit Leopold Gmelin herausgegebenen zwei Bände: »Die Verdauung nach Versuchen« (1826), endlich seine Schrift: »Über das Hirn des Negers, verglichen mit dem des Europäers.« – Das große Werk über die Verdauung hatten Tiedemann und Gmelin der Pariser Akademie eingereicht, die 1823 eine Preisaufgabe über diesen Gegenstand ausgeschrieben hatte. Als die Akademie aber den beiden Gelehrten 1500 fr »à titre d'encouragement«, also zur Aufmunterung, wie studierenden Anfängern, zuschickte, wiesen sie diese ihrer unwürdige Anerkennung zurück. – Der Schrift über das Negerhirn waren wichtige vergleichende Untersuchungen über den Hirnbau der Säugetiere, namentlich der Affen und besonders des Orang-Utan, vorausgegangen. Sie erschien 1838 zuerst in englischer Sprache und fiel in die Zeit der unermüdlichen Tätigkeit von Wilberforce und anderen Negerfreunden, die 1838 zur Freilassung sämtlicher Sklaven in den britischen Kolonien geführt hat.[102]

Ungeachtet seiner 59 Jahre war Tiedemann noch immer ein schöner Mann, hoch und schlank gewachsen, von regelmäßiger Gesichtsbildung und vornehmer Haltung.

Er machte auf mich, das Füchslein, in der ersten Vorlesung einen großen Eindruck. In schwarzem Talar und Barett trat er wie ein Hohepriester der Wissenschaft in das Amphitheater, nahm uns Hörern gegenüber an einem kleinen Tisch Platz, breitete ein Heft vor sich aus, las und gab zunächst eine Auseinandersetzung des Wesens der Anatomie und ihres Nutzens. Eindringlich ermahnte er uns, das Kollegium nicht zu schwänzen und uns in jeder freien Stunde im Präpariersaal fleißig zu üben. Noch heute klingen mir seine Worte am Schlusse der Vorlesung in den Ohren: »Ärzte ohne Anatomie gleichen den Maulwürfen. Sie arbeiten im Dunkeln, und ihrer Hände Tagewerk sind – Erdhügel.«

Seine Vorlesungen waren Vorlesungen im wahren Sinne des Worts, sorglich ausgearbeitet und das Pensum für jede Stunde niedergeschrieben. Blatt für Blatt, Wort für Wort las er es ab, bedächtig und deutlich, mit etwas näselnder lauter Stimme. Gewissenhaft kam jeder Muskel, auch der kleinste an der Wirbelsäule, zu seinem Rechte, wurde genau beschrieben nach Lage und Gestalt, Anheftung und mutmaßlicher Bestimmung, nicht das winzigste Körnlein des trockenen Futters durfte verlorengehen. Es war oft zum Sterben langweilig. – Erläuternde Tafelzeichnungen, wie sie schon Henle übte, unterbrachen die Vorlesung nicht, wohl aber zahlreiche Demonstrationen meist frisch verfertigter Präparate. Der Beschreibung des Muskels, des Gefäßes oder des Nervs folgte dessen Vorweis. – Tiedemann winkte dem Diener Jakob, der mit dem Präparat bereit stand, erhob sich und wandelte, von ihm gefolgt, im Halbkreis durch das Amphitheater, mehrmals machte er halt und erläuterte genau mit den Worten des Heftes den beschriebenen Teil. – Waren solche Demonstrationen in Aussicht, so rüstete man sich im voraus mit Lesestoff; ich wählte mir einen medizinischen: Dr. Katzenbergers Badereise von Jean Paul.

Eine große Überraschung, ein Meisterstück anatomischen Anschauungsunterrichts, erwartete uns, als die Anatomie des[103] Darms an die Reihe kam. Die große Länge dieses häutigen Schlauches wurde uns in unvergeßlicher Weise vor Augen geführt. Beim Eintritt in den Hörsaal sahen wir das Amphitheater bekränzt mit einer Riesengirlande, gebildet aus diesem wichtigen Organ, dessen unzählige Schleimhautzöttchen als die Wurzeln unseres Leibs in die verdaute Nahrung eintauchen und diese als Milchsaft (chylus) dem Blute zuführen. – In der Erinnerung an jenes Bild begriff man in der späteren Praxis leicht, daß es unendlich schwer hält, den vielgewundenen Schlauch mit den zahllosen Falten, Zotten und Nischen von eingedrungenem giftigem Staube oder gar von Myriaden mikroskopischer Lebewesen zu säubern.

Obgleich Tiedemann die Physiologie an Bischoff abgegeben hatte, liebte er es doch, einen und den andern lehrreichen physiologischen Versuch in die anatomische Vorlesung einzuflechten. – Ebenso berühmt als drollig war der Versuch zum Nachweis des Übergangs flüchtiger, eingeriebener Öle von der Haut in die Nieren. Dazu diente Terpentinöl, das sich rasch durch Veilchenduft des Nierensekrets verrät. Beim Beginn der Vorlesung stand Jakob mit dem Ölfläschchen gerüstet bereits im Hintergrund. Tiedemann las uns zuerst an seinem Tische den Gang des kommenden Versuches vor, besah seine Uhr und winkte. Sofort rieb sich Jakob die Hände mit dem Öl ein und ging dann zur Seite. Von zehn zu zehn Minuten kam er und brachte in offenem Gefäße beweisende Substanz, die zur Prüfung in den Bänken von Hand zu Hand ging, während die Vorlesung über die Anatomie der Nieren ihren Gang nahm.

Mit unbegrenztem Wohlwollen kam Tiedemann fleißigen Schülern entgegen. Der fleißigste von allen war ein origineller Frankfurter, der es später zum berühmten Physiologen gebracht hat: Moritz Schiff. Schon das Äußere des kleinen Mannes war auffallend. Er trug abweichend von den Kommilitonen den Hals ganz frei und über dem Rock einen breit herausgelegten Hemdkragen. Sein Wissensdurst war unstillbar. Hatte Tiedemann ein Präparat zuerst vorlesend beschrieben und dann noch mehrmals in denselben Worten vor den Bänken demonstriert, so ließ es ihm keine Ruhe, bis er den unermüdlichen Lehrer nach der[104] Vorlesung dazu gebracht hatte, das Präparat zum fünften oder sechsten Male zu beschreiben. Tiedemann war bei den Luftwegen angelangt und hatte einen freigelegten Kehlkopf nebst der Luftröhre mit den Worten vorgewiesen: »Sie sehen hier, meine Herren, den menschlichen Kehlkopf mit der Luftröhre; er enthält das Stimmorgan in Gestalt der unteren oder echten Stimmbänder; sie geraten in tönende Schwingungen, wenn sie gespannt und angeblasen werden. In der Tat, würde ich sie bis zur Bildung einer feinen Ritze spannen und durch die Luftröhre kräftig anblasen, so entstünde ein – Ton!« Die Vorlesung war zu Ende, die Hörer verließen den Saal, nur Schiff blieb zurück, lief zu dem Präparat und schaute flehend auf Tiedemann. Freundlich lächelte der ehrwürdige Herr: »Herr Schiff, es scheint Ihnen die Sache noch nicht hinreichend klar zu sein. Nun wohlan! Sie sehen hier den menschlichen Kehlkopf mit der Luftröhre usw.« Schiff hing mit feurigen Augen an seinen Lippen, bis er zu den Worten gekommen war: »und würde ich durch die Luftröhre kräftig blasen« – da hielt er nicht länger mehr an sich und brach heraus: »Ach! Herr Geheimer Rat, blasen Sie!« – Tiedemann wurde nicht böse und lächelte dem wißbegierigen Schüler freundlich zu: »Herr Schiff, das geht nicht an, ich würde mich beschmutzen.«

Leider trafen den verdienten Meister an seinem Lebensabend schwere Schicksalsschläge. Sein ältester Sohn beteiligte sich 1849 an der badischen Revolution und wurde standrechtlich erschossen, die beiden andern wanderten nach Amerika aus. Er verließ Heidelberg, ging zuerst nach Frankfurt, dann nach München, wo seine mit dem Anatomen Bischoff verheiratete Tochter lebte. Ich besuchte dort meinen alten verehrten Lehrer kurz vor seinem Tode im Oktober 1860, was ihm, wie mir Bischoff mitteilte, große Freude machte. – Er starb am 22. Januar 1861.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 99-105.
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